Читать книгу Die Macht der Mehrsprachigkeit - Olga Grjasnowa - Страница 8

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Als ich mit elf Jahren nach Deutschland kam, konnte ich außer dem Ausdruck »Hände hoch!«, den ich in alten sowjetischen Filmen aufgeschnappt hatte, kein Wort Deutsch. Eine Woche nach unserer Ankunft in der tiefsten hessischen Provinz wurde ich in die Schule geschickt – ohne irgendeine Vorbereitung. Ich wurde in die vierte Klasse der örtlichen Grundschule gesteckt, obwohl ich in Baku bereits die sechste Klasse besucht hatte. Anscheinend sollte die Rückstellung mir beim Spracherwerb helfen, sie sorgte aber auch dafür, dass ich mich in der Folge jahrelang für den Umstand schämte, älter als die meisten anderen in meiner Klasse zu sein. Ich betonte immer wieder, nicht sitzen geblieben zu sein. In meiner Klasse waren etliche andere Kinder aus meinem Asylbewerberheim, einige davon sogar noch älter als ich. Wir konnten uns untereinander auf Englisch verständigen. Ich hatte die Sprache seit der zweiten Klasse gelernt und konnte nun zwar nicht beim flüssigen Englisch der Mädchen aus Afghanistan mithalten, aber immerhin war mir eine eingeschränkte Kommunikation möglich. Meine deutschsprachigen Mitschüler*innen konnte ich dagegen erst einmal überhaupt nicht verstehen. Ich konnte dem Unterricht nicht folgen, lange wusste ich nicht einmal, welches Fach wir gerade durchnahmen. Nur während des Mathematikunterrichts fühlte ich mich auf sicherem Terrain – auch wenn ich verwundert darüber war, dass Algebra und Geometrie zusammen unterrichtet wurden und nicht als zwei getrennte Fächer wie in Baku. Genauso wie Deutsch und Literatur – ich hatte einfach nicht verstanden, dass ich wieder in der Grundschule gelandet war.

Meine Lehrer*innen konnten mir kaum helfen, sie hatten weder die Mittel noch die Ausbildung dafür. Zudem mussten sie auch noch den Regelunterricht halten. Das Einzige, was sie fanden, war ein Ringordner mit etwa 150 Karteikarten, auf denen Alltagsszenen und Gegenstände dargestellt und die dazugehörigen deutschen Bezeichnungen notiert waren. So lernte ich Deutsch. Ich wünsche es niemanden sonst.

Eine ähnliche Erfahrung beschreibt die in Sarajewo geborene Journalistin Melisa Erkurt in ihrem Buch Generation Haram. Ihre Mutter war mit ihr während des Jugoslawienkrieges nach Österreich geflohen. »[I]ch hörte eine Zeitlang komplett auf zu sprechen, zum Teil aus Angst davor, ausgelacht zu werden, wenn ich ein Wort auf Deutsch falsch ausspreche.«9

Wie Melisa Erkurt habe auch ich die ersten Jahre im neuen Land überwiegend geschwiegen. Ich fühlte mich zu unsicher, Deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen, und zugleich vergaß ich auch meine Englischkenntnisse. Nach einigen Monaten wechselte ich an eine neue Schule, und dort gab es niemanden, mit dem ich mich auf Englisch verständigen konnte. Sogar mein Russisch wurde zunehmend schwächer.

Nach etwa einem Jahr war ich schließlich in der Lage, die Menschen in meiner Umgebung zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. Zeitgleich fing ich an, mich durch die Bestände der öffentlichen Bibliothek zu lesen. Obwohl ich auf Russisch bereits Hemingway, Émile Zola, Tolstoi und Balzac las, konnte auf Deutsch natürlich keine Rede davon sein. Ich las stattdessen alle verfügbaren Bände der Hanni und Nanni-Reihe – nicht unbedingt, weil ich sie so sehr mochte, sondern weil ich es konnte. Mein Deutsch verbesserte sich spürbar. Dennoch dauerte es selbst noch auf dem Gymnasium lange, bis ich mich in puncto Rechtschreibung und Grammatik sicher fühlte. Ich hatte großes Glück, dass meine damalige Deutschlehrerin, Frau Heuberger, mir Zeit gab, mich zu entwickeln. Sie benotete vor allem den Inhalt und den Stil meiner Klausuren.

Doch nicht alle Erlebnisse beim Erlernen der deutschen Sprache waren so erfreulich. Am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist mir eine andere Lehrerin, die mir kurz vor dem Abitur erklärte, ich könnte keine Höchstnote in Deutsch bekommen, da ich mit einem Akzent spräche. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einen Literaturwettbewerb in meiner Region gewonnen – außer mir war niemand von meiner Schule unter den Preisträger*innen. Ein Umstand, der nicht zu meinen Gunsten ausgelegt wurde. Meine Deutschlehrerin nannte mich vor den anderen aus der Klasse fortan süffisant »die Schriftstellerin«. Sie tat es, um mich zu demütigen.

Wenige Monate später machte ich Abitur. Als Prüfungsleistung schrieb ich eine Arbeit über die moderne israelische Gesellschaft, die mit der Note »sehr gut« bewertet wurde. Meine Schule nahm damals an dem Projekt »Jugend schreibt« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung teil. Ich galt nie als »gut« oder »begabt« genug, um für dieses Projekt auch nur in Betracht gezogen zu werden. Allerdings schlug mir die Lehrerin, die auswählte, wer mitmachen durfte, vor, meine Arbeit ihrem Schüler zu geben. Er sollte sie in einem Artikel für die FAZ zusammenfassen – ohne allerdings meinen Namen oder meine Arbeit zu erwähnen. Die Lehrerin fand das völlig normal. Ich habe abgelehnt.

Dieselbe Lehrerin fragte damals eine Schülerin, die ein Kopftuch trug, ob diese wisse, dass sich viele Frauen daran erhängen würden, und dabei zog sie leicht am Tuch. Diese Schülerin studierte später als Erste in ihrer Familie – Anglistik und Germanistik auf Lehramt. Beides schloss sie mit der Bestnote ab. Als sie im Rahmen ihres Studiums für ein pädagogisches Pflichtpraktikum an ihre alte Schule zurückkehrte, war die besagte Lehrerin dort immer noch tätig. Sie sprach der jungen Frau im Lehrerzimmer die Fähigkeit ab, Deutsch zu unterrichten, und erinnerte an die »wallenden Gewänder«, die diese angeblich während ihrer Schulzeit trug. Diesmal schritt jedoch eine jüngere Kollegin ein.

Wie viele andere Einwandererkinder wünschte ich mir damals nichts sehnlicher, als genauso zu sein wie alle anderen: nicht aufzufallen, Annika oder Christine zu heißen, akzentfrei Deutsch zu sprechen. Ich wollte möglichst gewöhnlich sein, was auch immer das genau hieß.

Die Wiener Sprachwissenschaftlerin Brigitta Busch geht in ihrem Buch über Mehrsprachigkeit unter anderem auf eine empirische Untersuchung ein, wonach Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien sehr oft von ihren Eltern zu Dolmetscherdiensten herangezogen werden. Von den 42 befragten Jugendlichen gaben 41 an, gelegentlich oder häufig für ihre Eltern gedolmetscht zu haben – im Arbeitsamt, im Krankenhaus, in der Schule, in Verwaltungen oder bei der Polizei. Die Jugendlichen seien allerdings oft überfordert, beispielsweise wenn es um medizinische Diagnosen oder um Fragen des Aufenthaltsstatus geht oder wenn sie mit Kontexten und Inhalten konfrontiert werden, die den altersgemäßen Erfahrungshorizont überschreiten. Zudem werde den Jugendlichen eine zu große Verantwortung aufgebürdet, denn ihre Übersetzungen und vor allem mögliche Fehler dabei könnten für ihre Familien fatale Konsequenzen haben. Die Eltern könnten wegen ihrer vermeintlich falschen Übersetzung eine Falschaussage machen, den Aufenthaltsstatus aberkannt bekommen oder eine falsche Behandlung im Krankenhaus riskieren. Doch auch der Informationsvorsprung, den die Jugendlichen gegenüber ihren Eltern hätten, könnte für sie zu einer Belastung werden. Die Behörden würden als übermächtig erlebt, die eigenen Eltern dagegen als hilflos und ohnmächtig.10

Auch ich schrieb für meine Eltern viele Briefe an die Behörden, begleitete sie zu den Elternsprechtagen, weil sie Hilfe brauchten, um die Lehrer zu verstehen. Während dieser Termine war ich fast das einzige Kind auf dem Schulgelände. Ich schämte mich, und zugleich fühlte ich mich hilflos.

Eine völlig andere Erfahrung machte ich viel später in Polen, als ich in Warschau mein Erasmus-Semester absolvierte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, Polnisch zu sprechen – und ich sprach es sehr schlecht –, ließ man mich ausreden. Einmal eröffnete ich sogar ein Konto auf Polnisch – zwei Stunden lang und mit einem Wörterbuch bewaffnet. Es war ein krasser Gegensatz zu meinen Erlebnissen in Deutschland, und ich vermute, es hatte damit zu tun, dass ich als »Expat« und nicht als »Ausländerin« gelesen wurde. Über die Freundlichkeit der Menschen in Warschau staune ich bis heute.

Die Scham, fehlerhaftes Deutsch zu sprechen, hat sich tief in mich eingeschrieben. Ich habe meiner eigenen Sprache sehr lange nicht vertraut. Erst mit Mitte zwanzig – ich studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war für ein Austauschsemester in Moskau – hörte ich auf, mich für mein Deutsch zu schämen. Ich stand für Studentenkarten am Bolschoi-Theater an, als vor mir ein Mann auf Fantasie-Englisch mit der Kartenverkäuferin radebrechte. Aus Mitleid fragte ich ihn auf Deutsch, ob ich ihm helfen könnte. Er nahm meine Hilfe an, bekam seine Karte und erklärte mir mit einer beeindruckenden Portion Herablassung, ich würde zwar mit einem Akzent Deutsch sprechen, aber immerhin gar nicht so schlecht. Danach schämte ich mich nie wieder.

Der einzige Bildungsort, an dem mein Deutsch nicht als defizitär betrachtet wurde, war das eben erwähnte Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Dort spielte meine Herkunft keine Rolle mehr. Mein vermeintlicher Akzent wurde nicht thematisiert, und die Unzulänglichkeiten meines Schreibens wurden zu keinem Zeitpunkt auf meinen Spracherwerb geschoben. Ich durfte mich einfach im Schreiben ausprobieren.

Migrantische Erfolgsgeschichten sind leider eine Sache für sich. Sie versichern etwas, das selbstverständlich sein sollte, und markieren zugleich die eigene Nichtzugehörigkeit. Sie sind der vermeintliche Beweis dafür, dass es in Deutschland wirklich jede*r schaffen kann – wenn man sich nur genügend Mühe gibt. Die Verantwortung wird so dem Einzelnen übertragen, und man muss sich nicht mehr mit dem großen Ganzen, wie etwa der strukturellen Benachteiligung, befassen. Wenn immer wieder vonseiten der Mehrheitsgesellschaft betont wird, dass es der oder die aus einer benachteiligten Gruppe »geschafft« habe und es also nicht so schwer sei, muss man sich weniger damit auseinandersetzen, dass man selbst einen solchen Aufstieg oder auch nur den Erhalt der eigenen Privilegien und des sozialen Status geschafft hat, ohne dass es einer vergleichbaren Anstrengung oder überhaupt eines Aufstiegs bedurft hätte.

Eine Freundin von mir sprach mit ihrer Tochter seit ihrer Geburt Russisch. Das Kind besuchte eine bilinguale Krippe und später die musikalische Früherziehung in Prenzlauer Berg, einem Stadtteil von Berlin, der für seine überfürsorglichen Mütter mit schwäbischer Binnenmigrationsgeschichte bekannt ist. Meiner Freundin wurde dort mitgeteilt, dass ihre zweijährige Tochter schlecht Deutsch verstehen würde. Sie wollte nicht, dass auch ihre Tochter als eine »Ausländerin« gelesen wurde. Das Kind sollte dazugehören und es leichter haben als sie selbst. An diesem Tag fing meine Freundin an, mit ihrer Tochter nur noch Deutsch zu reden.

Bekannte erzählten mir einmal verstört von einem Elternabend, an dem eine Deutschlehrerin mit einem türkischen Vornamen den Eltern lang und breit erklärte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten: Sie sei in Deutschland geboren, habe hier studiert und sei mit einem Deutschen verheiratet. Vor allem die Wahl ihres Ehemanns sollte offenbar ihre Qualifikation unterstreichen. Die Situation in Deutschland ist eine merkwürdige: Zum einem werden gute, wenn nicht sogar ausgezeichnete Deutschkenntnisse vorausgesetzt, zum anderen sind die Menschen doch überrascht, wenn diese dann von einer Person of Colour erbracht werden. Die Lehrerin glaubte, die ethnische Zugehörigkeit ihres Mannes bemühen zu müssen, weil sie davon ausging – wahrscheinlich hatte sie bereits entsprechende Erfahrungen gemacht –, dass ihr Lehramtsstudium und ihr Staatsexamen sie in den Augen der Eltern ihrer Schüler*innen nicht genügend qualifizierten.

Die Macht der Mehrsprachigkeit

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