Читать книгу Zeitbomben auf der Autobahn - Oliver Bernsen - Страница 4

Оглавление

1. Vorgeschichte

"Zwicken Sie mich mal in den Oberarm", bat ich den Krankenhauspfarrer. "Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich noch lebe!"

"Ja", sagte er, "da haben Sie wirklich zwei Schutzengel gehabt!"

Ich blickte von der Krankenhauskantine im obersten Stockwerk der Klinik weit ins elsässische Land hinaus. Am Horizont, in weiter Entfernung, sah ich die Autobahn, ich konnte weiße Planensattelzüge erkennen, wie sie Richtung Luxemburg fuhren.

So einen Sattelzug hatte ich auch gefahren – bis gestern. Jetzt stand er auf dem Schrottplatz, in Nancy – Totalschaden! Auch der Auflieger war kaputt. Der Gurt und einige glückliche Umstände hatten mein Leben gerettet. Es hatte an einem seidenen Faden gehangen.

Vor mir dampfte frisch gebrühter Kaffee, je ein halbes Mett- und Käsebrötchen standen vor mir, vom französischen Krankenhauspfarrer spendiert. Kantinengeräusche von klapperndem Geschirr und helle Mädchenstimmen begleiteten unser Gespräch.

"Ja", sagte er, "die Wege des Herrn sind unergründlich. Wegen Leuten wie Ihnen habe ich meinen Job hier! Wir können den ganzen Tag sprechen, wenn Sie wollen."

Nachdem er mir das Sterbehospiz gezeigt hatte, gingen wir hinunter in den Krankenhausgarten und zur Kapelle. Blaue Fliederblüten und die bunte Pracht von Hyazinthen und Tulpen umgaben uns. Schmetterlinge flatterten umher. Alles war so ruhig und entspannt. Warum war das nicht vorher so gewesen, fragte ich mich.

"Wie soll es für mich nur weitergehen?", fragte ich den Pfarrer.

"Nehmen Sie's als Geschenk", sagte er, "der liebe Herrgott wollte Sie noch nicht haben."

"Ich werde nie wieder Lkw fahren", sagte ich, "das wird mir nie wieder passieren, denn eine zweite Chance bekomme ich nicht."

"Ja", sagte er, "vielleicht war das ein Zeichen. Die Zeit wird die Wunden heilen."

"Wie soll ich bloß damit fertig werden?", fragte ich ihn noch einmal.

"Wissen Sie was", sagte er in gebrochenem Deutsch, "Sie sind doch ein gebildeter Mensch. Schreiben Sie einfach alles auf, vielleicht hilft es Ihnen, das Erlebte zu verarbeiten."

"Ja", sagte ich. "Ich werde ein Buch schreiben! Vielleicht ist es auch für andere Menschen gut, davon zu erfahren, was mein Beruf alles mit sich bringt." Mein Entschluss stand schnell fest, wahrscheinlich, weil ich vorher schon manchmal daran gedacht hatte, mir all das, was ich erlebte, von der Seele zu schreiben.

Der Weg zum Fernfahrer

Zum Lkw–Fahren war ich gekommen wie die Jungfrau zum Kinde.

Eigentlich hatte ich nie daran gedacht, Lkw-Fahrer zu werden. Mein Lebensweg war auf akademische Bahnen gerichtet. Ich hatte ein pädagogisches Studium absolviert und wollte Heimleiter in einem Erziehungswohnheim werden. Nach Beendigung des Studiums fand ich jedoch keine Anstellung. Der Arbeitsmarkt war wie leergefegt. Nur durch den Krieg in Jugoslawien und die damit einhergehenden Flüchtlingsströme fand ich zunächst eine Stelle als Heimleiter in einem privaten Asylantenwohnheim.

Leider verlor ich diese Stelle nach einem Jahr, weil das Heim wegen Korruption des Geschäftsführers geschlossen wurde. Zudem merkte ich, das mir die Bürotätigkeiten und die Quengeleien der Kinder nicht bekamen.

Vielleicht kam das plötzliche Desinteresse am Beruf des Erziehers auch durch meine Vergangenheit, weil ich als Sohn eines Oberförsters, der auch einen Waldlehrpfad mit zu betreuen hatte, keine guten Erfahrungen mit Kindererziehung gemacht hatte. Meine Fähigkeiten lagen, wie ich feststellte, eher im künstlerischen Bereich.

Ich war groß, blond, sah immer gut aus. Deshalb hatte ich mich auch schon früh einer Laienspielschar angeschlossen. Ich bewarb mich als Statist bei Theatern und wirkte in einer Fernsehsendung mit. Ich entdeckte das Musizieren und nahm an Talentshows in Diskotheken teil, wobei ich mehrmals dritte Plätze belegte. Zu Hause standen überdimensionale Ölgemälde mit abstrakten und exotischen Motiven, die ich angefertigt hatte.

Leider erhielt ich in der Familie wenig Rückhalt für meine künstlerischen Aktivitäten. Da zählten nur akademische Berufe wie Ingenieur oder Architekt.

Um meine Fähigkeiten weiter auszuloten, entschied ich mich, mich zunächst einmal für zwei Jahre als Zeitsoldat zu verpflichten. Die Bundeswehr bescherte mir eine Prestigeaufbesserung.

Ich landete in einer Nachschubkompanie und dort im Transportzug. Gleich am ersten Tag hieß es in der Kompanie: "Abiturienten zwei Schritte vortreten!" Es gab nur drei Abiturienten in der Kompanie, und die wurden direkt in den Offizierslehrgang geschickt.

Ich entwickelte mich gut in meinem Transportzug. Als Offiziersanwärter, Fahnenjunker und Fähnrich war ich geachtet. Ich konnte den Lkw–Führerschein hier machen, auch wenn das für mich nicht einfach war. Den Bauernjungs fiel dies oft leichter.

Oft schrie der Oberfeldwebel in der Fahrschulausbildung mich mit den Worten an: "Bernsen, du taugst nur zum Kanalarbeiter!" Das traf mich immer sehr, jedoch waren die alten Unteroffiziere mit Portepee immer schlecht auf Jung-Abiturienten und Offiziersanwärter zu sprechen, da sie eifersüchtig auf die zukünftigen Offiziere waren.

Meine Dienstzeit versah ich zuletzt als Zugführer, ich hatte sieben Tank-Lkw unter meinem Kommando, für die ich Fahrbefehle ausarbeitete und die ich bei Einsätzen verantwortlich begleitete. Nach zwei Jahren wurde ich in einer Übung zum Leutnant der Reserve befördert.

Nach der Bundeswehrzeit begann ich dann ein Studium für das Lehramt mit den Fächern Kunst und Geschichte an der Universität Hamburg. Da ich nie genügend Geld hatte, begann ich, neben dem Studium Lkw zu fahren.

Irgendwie begann mich diese Arbeit zu begeistern – ich empfand es als angenehmer, als immer nur in den Bibliotheken über alten verstaubten Büchern herumzuhängen.

Als Lkw-Fahrer verdiente ich schnell gutes Geld, kam viel herum und hatte Verantwortung für ein relativ großes Gerät und die Ladung. Ich kam immer in viele verschiedene Firmen, wo ich mit den Disponenten und Lagerarbeitern ein Schwätzchen halten konnte. Alles war zwangloser und unkomplizierter als die anderen Jobs, die ich bisher gemacht hatte.

Nach einem Jahr wechselte ich den Studiengang von Lehramt zu Erziehungswissenschaft und schaffte das Studium auch noch, doch konnte ich mich mit der pädagogischen Arbeit nicht anfreunden. Stattdessen fand ich eine andere Berufung: Ich wollte "Trucker" werden, "ehrliches" Geld verdienen, etwas von der Welt sehen und Spaß am Leben haben, und sei es als Fahrer!

Zeitbomben auf der Autobahn

Подняться наверх