Читать книгу Perry Rhodan 3087: Lausche der Stille! - Oliver Fröhlich - Страница 6
ОглавлениеSchweigen ist die
unerträglichste Erwiderung.
(Gilbert Keith Chesterton)
Die Stille stellt keine Fragen,
aber sie kann uns auf fast alles
eine Antwort geben.
(Ernst Ferstl)
»Ich habe keine Angst«, sagte Aipu. »Ich bin das letzte Ereignis vor dem Horizont. Ich bin die Neige.«
»Die Neige wovon?«, fragte Bouner Haad.
»Die Neige der HATH'HATHANG.«
1.
Einzelgänger
Interner Datenspeicher des TARA-Psi, 10. Juli 2046 NGZ
Ein Roboter, der Tagebuch führt. Hat es das schon einmal gegeben?
Manchmal frage ich mich, wozu ich diese Aufzeichnungen erstelle, verschlüsselt und abgelegt in den Tiefen meines Speicherkerns. Niemand wird sie jemals zu sehen bekommen. Niemand wird erfahren, dass sie existieren. Und das ist gut so.
Denn es geht niemanden etwas an, wie es in mir aussieht.
Die meisten halten mich für einen Roboter, für ein seelenloses Stück Technik, das seiner Programmierung folgt.
Einige wenige wissen, dass in mir ... ja, was? Der Geist? Die Seele? Die Erinnerung? ... eines Menschen steckt. Und sie glauben, dass ich mich mit der Situation abgefunden habe. Nennen mich manchmal sogar bei dem alten Namen: Sallu.
Wie sehr sie sich doch irren!
Ich bin kein Posbi, der nie ein anderes Lebensmodell kannte. Ich bin kein künstlich erschaffener Androide, dem auf die eine oder andere Weise etwas Biologisches eingehaucht worden ist. Ich bin ein Mensch, der sein Leben über 50 Jahre in einer Hülle aus Fleisch und Blut verbracht hat. Ein Mensch der geliebt, Fehler gemacht, verloren, aber auch viel gewonnen hat. Und doch bin ich das nicht mehr.
Es ist schwer zu sagen, wie weit meine älteste Erinnerung zurückreicht. Bis 50 Jahre vor meinem körperlichen Tod? Vielleicht.
Was kam danach?
Beinahe 290 Jahre der unbewussten Gefangenschaft in einem Brocken aus PEW-Metall.
Und inzwischen gut 40 Jahre der bewussten Gefangenschaft im Prototyp eines Kampfroboters.
Der fleischliche Leib ist vergangen.
Die Erinnerungen sind geblieben.
Wer, der nicht selbst über diese Erfahrung verfügt, könnte mich verstehen? Könnte begreifen, wie es sich anfühlt, wenn man denkt, man würde gehen, während man in Wirklichkeit schwebt? Welche Abscheu man empfindet, wenn man im Spiegel statt des Menschen, als den man sich betrachtet, einen schmalen, hohen Kegelstumpf mit gemasertem, grünlich schillerndem Ortungskopf erblickt?
Vielleicht ist das der wahre Grund für diese Aufzeichnungen. Sie gehen zwar kaum über die Daten hinaus, die in meinem Hauptspeicher abgelegt werden. Zugleich sind sie für mich aber sehr viel mehr: mein verborgenes Innerstes, meine Menschlichkeit. In ihnen kann ich mir alles von der Seele reden und zu jemandem sprechen, der mich wirklich versteht. Zu mir selbst.
Die Welt sieht in mir einen Prototypen.
Ich sehe in mir einen Einzelgänger, einen Sonderling.
Vermutlich deshalb hat dieser Cairaner-Junge etwas in mir geweckt, das ich selbst nur schwer benennen kann. Mitleid? Empathie?
Oder gar Vatergefühle?
Und das von mir? Wie gerne hätte ich mit Aura Kinder gehabt. Mit der Liebe meines vergangenen und gegenwärtigen Lebens, selbst Jahrhunderte nach unser beider Tod. So oft hatte ich von einer großen Familie geträumt, es aber stets hinausgeschoben. Nach meiner TLD-Dienstzeit, hatte ich mir immer wieder gesagt.
Ein wunderbarer Vorsatz. Vielleicht hätte ich ihn verwirklicht, wäre mein zeugungsfähiger Leib nicht bei einem Angriff der Ladhonen in die Tiefe gestürzt und gestorben.
Ja, womöglich sind es väterliche Gefühle, die ich Aipu entgegenbringe.
Während ich hier stehe – nein: schwebe – und mich, umgeben von den Wassermassen des Meers von Ghibona, in Gedanken verliere, kauert der Junge an der durchsichtigen Bootshülle und starrt mich an.
Ein Einzelgänger wie ich.
Fühlt auch er die Verbindung? Oder rede ich mir das nur ein?
Gerne würde ich mich ihm offenbaren, ihm mein Geheimnis erzählen. Aber das darf ich nicht. Und so tue ich, was ich während der vergangenen Jahrzehnte so oft getan habe. Ich schweige, lausche und spiele den Roboter.
Doch genug der Grübelei!
Um die Aufzeichnungen lückenlos zu halten, muss ich zunächst berichten, was nach Aipus Befreiung und der Flucht geschah.
*
Nach seinem rätselhaften Satz verfiel der junge Cairaner in Schweigen.
»Was meinst du damit? Das letzte Ereignis vor dem Horizont? Die Neige?« Chione McCatheys Tonfall erinnerte mich an den von Aura, wenn ich mich von meiner Begeisterung für Hyperkristalle hatte hinreißen lassen und ihr in blumigen, für sie jedoch unverständlichen Worten deren Schönheit vermitteln wollte. Liebevoll, mit aufrichtigem Interesse, zugleich aber ein wenig besorgt. »Wie kannst du die Neige einer Superintelligenz sein?«
Aipu antwortete nicht. Ein Zucken um den verhornten, lippenlosen Mund, ein trauriges Lächeln womöglich, aber ansonsten: nur Stille.
Er wirkte verloren und einsam.
Schutzbedürftig.
Ich merke, dass ich wieder Gefahr laufe, mich in Gefühlsduselei zu verlieren. Deshalb schildere ich die nächsten Stunden im Schnelldurchlauf:
Wir gingen davon aus, dass die Cairaner es nicht einfach hinnehmen würden, dass wir ihnen Aipu unter den zahlreichen Fingern weggeschnappt hatten. Vermutlich suchten sie längst nach uns, deshalb beschlossen wir, so viel Distanz wie möglich, aber nicht mehr als nötig zwischen uns und sie zu bringen. Und trotzdem sollte seine Mutter uns finden können. Ich persönlich hätte ihn eher als Druckmittel behalten, aber McCathey und Haad gaben da die Richtung vor.
Lionel Obioma schlug vor, dass wir einen Unterschlupf bei dem gut bewachten Raumhafen Brushain suchen sollten oder zumindest in Mezzedaik, einer Mischung aus Stadt und Kaserne in der Nähe. Niemand, so argumentierte er, würde uns ausgerechnet dort vermuten.
»Oder vielleicht gerade deshalb«, wandte Chione McCathey ein. »Weil sie uns diese Denkweise unterstellen.« Sie nannte es umgekehrte Psychologie.
Ich war geneigt, ihr in dieser Einschätzung zuzustimmen, behielt es aber für mich.
So verschlug es uns schließlich ans Ufer des Flusses, der Mezzedaik querte.
Etwa 50 Kilometer südlich der Stadt fanden wir eine Stelle, wo ein dichter Wald aus Bäumen mit silbrigen spiralförmigen Nadeln bis ans Wasser reichte. Meine Sensoren identifizierten Duftstoffe, die Galbanum und Labdanum ähnelten, gemischt mit einem Hauch von Zeder. Wie gerne hätte ich es tatsächlich gerochen.
Das Wasser rauschte vorbei, der stete Fluss gebrochen von unzähligen Stromschnellen. Er brodelte und versprühte seine Gischt.
Unterwegs hatte Schlafner immer wieder vergeblich versucht, über den Multikom – oder besser: über den damit gekoppelten Psailer – Dupa Emuladsu zu erreichen, Aipus Mutter, um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen.
Sie hatte uns diesen Kommunikator unter anderem deshalb übergeben, um uns einen so gut wie nicht anmessbaren Funkkontakt mit ihr zu ermöglichen.
Eine gute Sache. Allerdings beunruhigten mich drei Wörter.
So.
Gut.
Wie.
Schließlich bedeuteten sie nichts anderes, als dass eine Anmessung möglich war.
Antwortete Dupa Emuladsu deshalb nicht auf Schlafners Anrufe? Oder steckte etwas anderes dahinter? Etwas weitaus Beunruhigenderes?
Uns blieb vorerst nichts übrig, als abzuwarten.
Während die beiden Haluter Bouner Haad und Kro Ganren das Gelände sondierten, einige Steine und Bruchholz verspeisten und hin und wieder kleine pelzige Vierbeiner mit spitzer Nase und Tellerohren aufscheuchten, steckten Dancer und Schlafner die Köpfe zusammen. Die beiden Mutanten diskutierten, was wir tun sollten, falls wir keinen Kontakt zu Dupa bekamen.
Chione McCathey kümmerte sich nach besten Kräften um Aipu, wich ihm nicht von der Seite, beteuerte, dass alles gut werden würde, ließ ihn zusehen, wie sie auf einem flachen Stein ein Mosaik aus ihren Wyrrdsteinen legte, sprach mit ihm. Nein: Sie sprach zu ihm, denn der Junge schien ihr zwar zu lauschen, blieb aber weiterhin still und teilnahmslos.
Lionel Obioma stand am Fluss und starrte auf das tosende Wasser.
Und endlich, nach Stunden des Wartens, meldete sich der Psailer.
»Das wurde aber auch Zeit!«, sagte Schlafner. »Warum hast du nicht auf meine Anrufe reagiert?« Er weitete das Akustikfeld so weit aus, dass alle dem Gespräch folgen konnten.
»Wie geht es ihm?«, erklang Dupa Emuladsus Stimme.
Aipus Kopf ruckte hoch, als er seine Mutter sprechen hörte.
»Dein Sohn ist wohlauf. Es hat alles bestens geklappt.«
»Sehr gut.« Die Erleichterung war ihr selbst über Funk anzumerken. »Ich konnte mich nicht eher melden. Sicher bin ich mir nicht, aber ich fürchte, Nuanit Takkuzardse hat Verdacht geschöpft. Sie fragt sich, wie ihr die Falle durchschaut habt, die sie euch gestellt hat. Sie ist außer sich vor Wut.«
Ich rief das Bild der schlafenden Cairanerin aus dem Speicher ab. Mit Aipu als Lockvogel hatte sie uns in einen Gleiter locken und dort narkotisieren wollen. Aber wir hatten den Spieß herumgedreht und Aipu befreien können.
»Wieso glaubt sie, dass du etwas damit zu tun hast?«, fragte Schlafner.
»Vielleicht tut sie es nicht. Aber wir haben uns lange unterhalten. Es hat mich sehr an ein Verhör erinnert. Sie wollte noch einmal jedes Detail darüber wissen, wie ihr mir zuvor entwischen konntet. Am Ende beharrte sie darauf, dass auch ich in Gefahr schwebe. Ich versuchte, es ihr auszureden, wagte aber nicht, zu sehr zu insistieren, um ihren Verdacht nicht noch mehr zu schüren. Wie dem auch sei, sie hat mich gebeten, für meine Sicherheit sorgen zu dürfen. Ich habe akzeptiert. Und nun sitze ich in der Suite eines Hotels fest, mit einigen Kampfrobotern vor der Tür.«
»Zu deiner Bewachung?«
»Zu meiner Sicherheit. Angeblich.«
»Hört sie die Räumlichkeiten ab?«
»Denkbar. Im Augenblick stehe ich auf der Terrasse und hoffe, dass das ausreicht.«
»Was schlägst du vor?«, fragte Schlafner.
Dupa Emuladsu sagte es ihm.
Illustration: Swen Papenbrock
*
Die Hände des Friedens.
Ein blumiger Name für ein Hotel in Mezzedaik, in dem normalerweise hochrangige Persönlichkeiten des Sternenrads ein Quartier fanden, wenn sie zu Besuch in der Stadt weilten. Aktuell diente es als luxuriöses, verkapptes Gefängnis für Dupa Emuladsu.
Doch stimmte das wirklich?
Zumindest Lionel Obioma meldete Zweifel an. »Was, wenn es sich um eine neue Falle handelt?« Er sprach so leise, dass Aipu ihn nicht hören konnte. Hoffentlich.
»Warum sollte sie uns plötzlich hintergehen?«, fragte Dancer. »Sie will ihren Sohn zurückbekommen.«
»Ich weiß es nicht«, gestand Obioma. »Vielleicht, weil Nuanit Takkuzardse nicht nur Verdacht geschöpft, sondern Dupa überführt hat? Weil sie ihr während des Gesprächs mit uns eine Waffe an den Kopf gehalten hat? Weil sie ihr gedroht hat, Aipu nie wieder zu sehen, falls sie nicht kooperiert?«
»Das glaube ich nicht.«
»Ich auch nicht. Dürfen wir es deshalb ausschließen? Kam es euch nicht merkwürdig vor, dass sie genau wissen wollte, wie wir sie rausholen?«
»Sie möchte vorbereitet sein.«
»Oder Nuanit Takkuzardse möchte vorbereitet sein.«
Für einige Sekunden kehrte Schweigen ein. Ich hasste Schweigen, war ich doch die vergangenen 40 Jahre überwiegend dazu gezwungen gewesen.
In meinem Speicher fanden sich zahlreiche, wenngleich größtenteils nutzlose Informationen. Beispielsweise Zitate von klugen Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte – sofern man sich auf ihre Authentizität verlassen mochte. Was nach der Datensintflut einem Glücksspiel glich.
Einer dieser klugen Sätze stammte von einem Schauspieler, Großwildjäger oder Trinkkünstler – die Datenbank war in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig – namens Ernest Hemingway. Angeblich hatte er gesagt, man bräuchte zwei Jahre, um sprechen zu lernen, aber 50, um schweigen zu lernen.
Er kannte mich nicht, dieser Hemingway, dachte ich. Ich war bereits nach einem Jahr ziemlich perfekt darin.
»Dann ist es ja eine gute Sache«, durchbrach Schlafner schließlich die Stille und meine Gedanken, »dass ich es Dupa Emuladsu nicht verraten habe.« Er sah zu den Halutern. »Falls – und ich sage ausdrücklich: falls – Lionel recht hat, rechnen die Cairaner wahrscheinlich mit euch. Wenn sie durchschauen, wie wir Aipu aus dem Gleiter befreit haben, vielleicht auch mit Dancer und mir.«
»Diese Einschätzung ist korrekt«, pflichtete Bouner Haad ihm bei. Er war der Anführer unseres kleinen Kommandotrupps wider Willen. »Und deshalb ...« Er sah zu mir. »... wirst nur du gehen.«
Schlafner nickte beifällig.
Obwohl dieser Plan bedeutete, dass Dupa ein Teil meines Geheimnisses offenbart würde, hatte ich keine Einwände.
Im Schutz des Deflektors teleportierte ich nach Mezzedaik. 50 Kilometer, gerade mal ein Zehntel meiner Reichweite. Kein Problem.
Unbemerkt ging – schwebte, verdammt noch mal! – ich durch das, was die Cairaner unter einer Stadt verstanden. Weiße Gebäude aus weißen Stielen, auf denen weiße Kugelelemente saßen. Manche kurz und voluminös, andere hoch und schlank. Dazwischen verspiegelte Plätze und Straßen, einige von ihnen – als sollten sie etwas Abwechslung in die weiße Ödnis bringen – in Schwarz gehalten.
Ich dachte an Kaor, den Planeten, auf dem ich einige Jahre meines biologischen Lebens verbracht hatte, an die wilde Vegetation, die Vielfalt aus Farben und Gerüchen, an die grünen Seen, die roten, gelben und violetten Früchte. Dieser Planet hatte einem etwas zu erzählen. Das Weiß der Cairaner hingegen empfand ich als das farbliche Äquivalent des Schweigens.
Dank Dupa Emuladsus Wegbeschreibung fand ich Die Hände des Friedens sofort. Das Gebäude stand auf einer kreisrunden schwarzen Spiegelfläche von vielleicht 500 Metern Durchmesser. Deutlich hob es sich von den Häusern in der üblichen Bauweise ab, die es umgaben.
Das Hotel bestand aus 16 einzelnen Stielen, leicht gekrümmt und angeordnet in Vierergruppen zu je zwei langen Stielen in der Mitte und zwei kürzeren links und rechts davon. Jede Gruppe erinnerte an die gen Himmel ragenden Finger einer Cairanerhand. Nur die weißen Kugeln, in die sie mündeten, ruinierten den Eindruck ein wenig.
Mich erinnerte das Ensemble eher an einen tristen weißen Blumenstrauß als an vier nach oben geöffnete Cairanerhände, die den Frieden empfingen. Aber was verstand ich schon von Architektur im Allgemeinen und der cairanischen im Besonderen?
Jede Wohnkugel durchmaß etwa 50 Meter und bot somit reichlich Raum für Gästequartiere. Dupas Gefängnissuite lag am Äquator der Kugel auf dem äußersten linken Finger der rechten Hand, gut 200 Meter über dem Boden.
Ich zoomte sie heran und erkannte eine Aussparung in der Kugeloberfläche. Das musste die Terrasse sein, von der aus sie uns angerufen hatte. Ich ortete ein Prallfeld, das die offene Seite abschloss. Vermutlich zum Selbstschutz der Gäste und weniger dazu gedacht, mit einem Flugaggregat ausgestattete Eindringlinge fernzuhalten. Die Cairaner fühlten sich in ihrem Sternenrad – normalerweise zu Recht – sicher.
Allerdings entdeckte ich vor anderen Terrassen keine Prallfelder, obwohl bestimmt nicht alle Zimmer leer standen. Nuanit Takkuzardse hatte also den eigentlich zum Schutz vor Unfällen gedachten Energieschirm dauerhaft aktivieren lassen. Untermauerte das Dupas Vermutung, Takkuzardse hätte Verdacht geschöpft?
Oder sollte es Dupas Lüge glaubhafter machen, falls es sich tatsächlich um einen Hinterhalt handelte?
Glücklicherweise erstreckte sich das Prallfeld nur über die Terrassenaussparung.
Ich peilte die ungeschützte Wand links neben der Terrasse an und teleportierte.
Im nächsten Augenblick schwebte ich im menschenleeren Schlafzimmer von Dupa Emuladsus Suite. Auch dort herrschte Weiß vor: Liegefläche, ein Tisch, Sitzmöbel, Boden, Wände. Was die Cairaner nur an dieser Schweigefarbe fanden?
Ein weiterer Kurzdistanzsprung brachte mich nach nebenan in den Wohnraum. Dupa saß auf einer lehnenlosen weißen Liege. Über dem Tisch am Fußende schwebte ein Holo über der gemaserten Platte – durch das Alabasterweiß zogen sich Schlieren aus Elfenbeinweiß –, das eine Nachrichtensendung zeigte.
Vier Cairaner oder Cairanerinnen – wenn meine Sensoren keine Duftstoffe auffingen, konnte ich den Unterschied nicht erkennen – debattierten über die Versetzung einer arkonidischen Welt namens Tschirmayn in den Leerraum.
»Selbst die Legatin«, sagte einer der Diskutanten, »vertritt die Meinung, dass die Deplatzierung richtig war.«
»Und das in mehrfacher Hinsicht«, ergänzte ein anderer. »Man kann Tschirmayn beispielsweise als Pfand einsetzen und den Arkoniden den Retransfer anbieten. Vorausgesetzt freilich, dass sie sich in unserem Sinne verhalten.«
Ich achtete nicht weiter darauf. Stattdessen schwebte ich neben Dupa Emuladsu und desaktivierte den Deflektorschirm.
Als ich so unvermittelt vor ihr auftauchte, zuckte sie zusammen, sprang auf und wich einige Schritte zur Seite, doch die Liege versperrte ihr den Weg.
»Alarm!«, schrie sie. »Eindring...!«
Ich packte sie mit zwei Armen und zog sie heftig zu mir heran, dass sie den Rest des Wortes verschluckte.
Sie strampelte, schlug mir gegen den Körper, trat nach mir. Doch so sehr sie sich auch wand, gegen meine Kraft kam sie nicht an.
Meine Sensoren registrierten, wo sie mich traf, aber Schmerzen verspürte ich nicht. Manchmal hat so ein Roboterkörper seine Vorteile.
Die Tür der Suite glitt zur Seite, und drei Wachroboter eilten herein. Humanoid wirkende Modelle mit zwei Beinen und zwei kräftigen Armen, die wie bei ihren Erbauern jeweils zwei Hände aufwiesen. Ich bezweifelte allerdings, dass Gefühlshände darunter waren. Die würden vermutlich nicht in Strahlermündungen enden. Kaum zu glauben, aber selbst ihre künstlichen Körper waren in strahlendem Weiß gehalten.
Ehe ihre Positroniken die Situation vollständig erfassen konnten, feuerte ich aus den beiden freien Armen Thermostrahlen auf sie ab, die ihre Schutzschirme nicht durchdrangen, aktivierte in der nächsten Millisekunde den Deflektor, schloss Dupa mit ein, schwebte drei Meter zur Seite, bugsierte unterdessen die Cairanerin in den Transportkorb auf meinem Rücken und teleportierte.
Vom Augenblick des Erscheinens der Wachroboter bis zu unserem Verschwinden waren knappe zwei Sekunden vergangen. In dieser Zeit hatten sie nicht einen einzigen Schuss abgefeuert. Zuerst vermutlich aus der einprogrammierten Sorge heraus, dass sie trotz exakter positronischer Zielgenauigkeit bei einer unvorhergesehenen Bewegung meinerseits Dupa treffen könnten. Anschließend, während unserer Unsichtbarkeit, boten wir ihnen ohnehin kein Ziel mehr.
Um uns erschien der Wald. Flussrauschen ertönte.
Ich desaktivierte den Deflektor, hievte meine Passagierin aus dem Transportkorb und setzte sie ab.
»Das ging ... überraschend schnell«, sagte sie. Dann entdeckte sie Aipu neben Chione McCathey. Im gleichen Moment spielte ihre Verblüffung über meine Fähigkeiten keine Rolle mehr. Sie rannte zu ihrem Sohn und schloss ihn in die Arme. Mit den Innenhänden strich sie ihm über den Kopf.
»Ist alles glattgelaufen?«, fragte Schlafner.
»Wie geplant.« Ich achtete darauf, nicht kommunikativer als ein normaler Roboter zu erscheinen. Dupa Emuladsu brauchte schließlich nicht all meine Geheimnisse zu kennen. »Bis auf das Zielobjekt war die Suite leer. Kein Hinterhalt.«
»Hast du dafür gesorgt, dass ihr gesehen werdet?«
»Wie geplant«, wiederholte ich. »Nach ihrem Hilferuf und der vorgetäuschten Wehrhaftigkeit waren drei Wachroboter Zeugen der Entführung.«
Mit Aipu an ihrer Seite kam Dupa auf Schlafner zu. Im Hintergrund bemerkte ich Chione, die den beiden nachsah. Nun wirkte sie ein wenig verloren.
»Ich fürchte trotzdem«, sagte die Cairanerin, »Takkuzardse könnte die Aktion als Finte durchschauen.« Sie sprach zu Schlafner. Mich ignorierte sie. Warum auch nicht? Ich war ja nur ein Roboter. »Um sie glaubhafter erscheinen zu lassen, solltet ihr gelegentlich eine Art Forderung an die offiziellen Stellen funken. Beispielsweise ungehinderten Abzug aus dem Sternenrad für eure kleine Gruppe.«
»Gute Idee.«
»Am besten richtet ihr sie an die Legatin des Planeten. Purai Noinolidse.«
Dancer und Lionel Obioma gesellten sich zu uns.
»Wie geht es nach dieser erfolgreichen ... Familienzusammenführung nun weiter?«, fragte Obioma.
»Zunächst brauchen wir ein besseres Versteck«, antwortete Dancer.
Dupa Emuladsu trat zwischen den Bäumen hindurch ans Flussufer. »Der Roanad«, stellte sie fest. »Wie weit von Mezzedaik sind wir entfernt?«
»Fünfzig Kilometer südlich«, antwortete Schlafner.
»Der Roanad fließt auf nahezu gerader Linie ins Meer. Ich kenne eine Insel, Goinad, ungefähr hundertfünfzig Kilometer entfernt. Meine Mutter hat dort die letzten Lebensjahre verbracht. Da sollten wir vorerst sicher sein.« Sie sah mich an, dann wieder Schlafner. »Kann er uns dorthin bringen?«
»Nein. Zu viele Leute.«
Und zu große Leute, dachte ich mit Blick auf die Haluter, die mit etwas Abstand der Unterhaltung lauschten.
»Verstehe«, sagte sie. »Im Delta des Roanad liegt eine kleine Hafenstadt. Fünf oder sechs Kilometer von hier entfernt. Dort gibt es eine Meeresforschungsstation, wo wir genau das finden dürften, was wir brauchen.«
*
Das, was wir brauchten, entpuppte sich eine Stunde später als transparentes U-Boot.
Diese Fahrzeuge, so erklärte uns Dupa, wurden nicht nur von den Wissenschaftlern zur Erforschung des Ozeans eingesetzt, sondern auch an interessierte Besucher verliehen, die den Planeten Ghibona aus einem anderen Blickwinkel kennenlernen wollten.
Eines der Boote zu beschaffen, erwies sich als erstaunlich unproblematisch. Einmal mehr nutzte Schlafner den SERUN-TT, um sich ein cairanisches Erscheinungsbild zu geben. Mit Dupa und Aipu betrat er den öffentlichen Bereich der Forschungsstation, behauptete, er und seine Gefährtin wollten ihrem Sohn die Wunder des Ozeans zeigen, und keine 30 Minuten später saßen wir in dem ringförmigen Gefährt.
Das U-Boot erinnerte mich ein wenig an einen cairanischen Augenraumer, nur im Miniaturformat und ohne Energiesphäre im Zentrum des Rings. Und eben transparent, zumindest wenn man von dem weißen Boden absah, unter dem sich die gesamte Technik verbarg.
Das Innere der Röhre war so beengt, dass Dupa Emuladsu, wenn sie aufrecht stand, mit dem Kopf beinahe bis an die Decke reichte. Deshalb blieb den Halutern nichts anderes übrig, als nebenher zu schwimmen.
Zu große Leute, dachte ich erneut.
Aber immerhin zu große Leute in Kampfanzügen, die sie bestens vor Ortung schützten.
Dupa bediente die Steuerung über ein kleines Pult, an dem sie saß. Dancer, Schlafner, Chione McCathey und Lionel Obioma hatten sich in den drehbaren Sitzen niedergelassen, die über den gesamten Ring verteilt waren.
Nur Aipu wollte keinen dieser Sitze benutzen. Stattdessen kniete er auf dem Boden und presste das Gesicht gegen die durchsichtige Wandung. Offenbar faszinierten ihn die vorbeiziehenden Fischschwärme in den buntesten Farben, die zahlreichen unterseeischen Algenwälder, die über uns glitzernde Wasseroberfläche.
Der Junge wirkte wie ausgewechselt.
»Wie lange dauert die Fahrt?«, fragte Chione nach einem Kilometer.
»Einige Stunden«, antwortete Dupa. »Das Boot ist nicht allzu schnell.«
»Genügend Zeit für ein paar Antworten also.«
»Antworten worauf?«
Chione sah zu Aipu. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah einem riesigen Plattfisch mit beachtlichem Gebiss und drei langen Stacheln nach, der gerade über das U-Boot hinwegschwamm.
»Nach seiner Befreiung hat er nicht viel gesprochen. Doch das, was er gesagt hat, klang ... mysteriös. Um es vorsichtig auszudrücken. Er meinte, er sei das letzte Ereignis vor dem Horizont. Die Neige der HATH'HATHANG. Hast du eine Vorstellung, was er damit gemeint haben könnte?«
»Erinnerungen«, sagte Aipu plötzlich. Nun kniete er nicht mehr vor der Bootswandung, sondern kauerte mit dem Rücken dagegen. »So viele und doch nicht genug.«
»Woran erinnerst du dich?«, fragte seine Mutter.
»An die HATH'HATHANG. Es sind ihre Erinnerungen. Nicht meine.«
Ich betrachtete den cairanischen Jungen. Wirkte er deshalb so verloren? Weil er über die Erinnerungen einer abberufenen – für menschliche Maßstäbe also: toten? – Superintelligenz verfügte, die er nicht einordnen konnte, die ihn überforderten und desorientierten?
Aber was bedeutete »tot« bei einer solchen Entität? Auch bei Menschen war das Sterben kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess.
Einer, der sogar angehalten werden konnte, beispielsweise wenn sich der Geist eines Menschen aus seinem zerschmetterten Leib in einen Brocken PEW-Metall flüchtete und Jahrhunderte später im Körper eines Roboters wiederfand. Und der jeden Tag das Gefühl hatte, ein bisschen mehr zu sterben, ohne dem Ziel dabei näher zu kommen.
Warum sollte das bei einer Superintelligenz anders sein? Konnte es sich angesichts ihrer beträchtlichen Lebensspanne nicht über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinziehen?
»Aber ich verstehe die Erinnerungen nicht«, klagte Aipu. »Sie sind wie ...«
Er brach ab, sackte in sich zusammen, sah sich hilflos um. Plötzlich deutete er auf einen Schwarm Fische, der das Boot begleitete.
»Sie sind wie sie! Jeder Fisch eine Erinnerung. Jede für sich wunderschön. Und doch gibt es so viele Lücken dazwischen, so viel ... Wasser, dass ich glaube, darin zu ertrinken. Ich will das nicht! Ich will, dass sie weggehen!«
Chione sah Dupa an. »Darf ich?«
»Ja.«
Chione stand von ihrem Sitz auf und hockte sich neben Aipu an die Glaswand. »Wir sind bei dir. Wir wollen dir helfen. Wir lassen nicht zu, dass du ertrinkst.«
»Aber ... wie?«, fragte der Junge mit leiser Stimme.
»Vielleicht hilft es dir, wenn du die Erinnerungen nicht allein mit dir herumtragen musst. Wenn du sie mit uns teilst.«
Aipu schaute auf. Blickte zu seiner Mutter am Steuerpult.
»Sie hat recht«, sagte Dupa. »Erzähl uns davon!«
In diesem Augenblick sah Aipu zu mir. Er starrte mich an, als würde er mich durchschauen und genau erkennen, dass auch in diesem Roboterkörper Erinnerungen gespeichert waren, die zu einem anderen Leben gehörten.
Oder ich bildete es mir nur ein, weil auch ich mich danach sehnte, jemanden zu finden, der mich verstand. Jemanden wie Aura, vor Hunderten von Jahren.
Und da sind wir also nun: Aipu und ich. Zwei Einzelgänger, zwei Sonderlinge.
Mit einem Mal fühle ich den Drang in mir, den Jungen ebenfalls zu ermutigen, von den fremden Erinnerungen zu berichten.
Doch ehe ich mich wirklich dazu hinreißen lassen kann, wendet er den Blick von mir. Die Verbindung zwischen uns reißt. Dann erzählt er ...