Читать книгу WAS BLEIBT, IST DAS LEBEN - Oliver Klamm - Страница 5
ОглавлениеAmors Altlast
Am frühen Abend des achten Septembers 2012 sitzt Dalisay Dinguinbayan an ihrem Tisch auf der Terrasse des Frankfurter Cafés Hauptwache. Wie lange sitzt sie dort schon? Seit Stunden? Sie weiß es nicht. Heute ist ihr zwanzigster Geburtstag. Ihre großen, mandelförmigen Augen jedoch haben keine Spur von Lebensfreude. Sie sind tief traurig, seitdem ihre Mutter im Dezember des vergangenen Jahres am Geheimen Strand einer kleinen Insel bei Palawan spurlos verschwunden ist. Wo liegen Mamas sterblichen Überreste nun? Treiben sie irgendwo in der unendlichen Weite des Pazifischen Ozeans? Warum ist Mama verschollen? Ist sie einem Mord zum Opfer gefallen oder von einem Tsunami mitgerissen worden? Tatsache ist, dass man nur ihre Kleider und den gelben Bikini am legendären Strand von Matinloc gefunden hat. Wie dem auch sei: Alle Mutmaßungen um den Tod der Mutter sind müßig.
Barfuß sitzt Dalisay auf ihrem Stuhl, eine attraktive, junge Frau in einem roten Sommerkleid. Sie lässt ihre nackten Beine lässig baumeln. Wunderschöne, lange, glatte, dunkelbraune Haare bedecken ihre Schultern. Ihre sinnlichen Lippen hat sie rot geschminkt, als ob sie sich für ein Blind-Date zurechtgemacht hätte.
Dalisay hätte fröhlich mit ihren Freunden in ihrer zweiten Heimat London feiern können. Doch nun ist sie in Frankfurt. Und das ist gut so. Auch zu Deutschland hat Dalisay eine besondere Beziehung. Schließlich hatte sie einen deutschen Vater namens Marian, den sie noch nie gesehen hat. Sie will nicht ungerecht sein. Papa ist mehr als nur ein Erzeuger. Er hat bis jetzt für ihren Unterhalt gesorgt und ihr stets liebevolle E-Mails geschrieben. Hier und da hat er ihr auch Geschenke geschickt. Stofftiere. Puppen. Teddybären. Später auch Kinderbücher und noch später modische Kleider. Doch er hat all dies sicher nicht ohne schlechtes Gewissen getan. Denn er ist nur ein Schatten aus der Ferne. Aus welchen Gründen auch immer will er bis jetzt nicht, dass sich ihre Wege kreuzen, denn er hat sie weder besucht noch eingeladen. Sie ist wohl seine Altlast, jemand, der ihm und seiner Familie zur Last fällt. Schließlich könnte ohne sie alles so schön sein mit seiner Frau Lesley und seiner ersten Tochter Eliza. Ja, sie hat ihm schon immer die Suppe versalzen. Und heute Abend wird sie, Dalisay, seine leibhaftige Tochter, ihn zur Rede stellen. Sie wird ihn zum ersten Mal in ihrem Leben sehen, heute, an ihrem zwanzigsten Geburtstag. Ihr Herz klopft wild wie ein Trommelwirbel, als sie daran denkt.
Vor Aufregung wird sie keinen Satz sprechen können. Dabei hat sie ihm so unendlich viel zu erzählen. Unmotiviert löffelt sie in der Suppe herum, das Glas ist noch halb voll. Und ihr Blatt zwischen Zitronenlimonade und Kartoffelsuppe? Das ist weiß. Immer noch. Mein Gott, wie schwer ist es, ihre Gefühle auszudrücken! Warum kann sie keinen klaren Gedanken fassen?
Schließlich trifft sie die Entscheidung. Nach alldem, was geschehen ist, kann sie kein ungezwungenes Gespräch mit Papa führen wie ihre blutjungen Freundinnen mit ihren Vätern. Wie sehr sehnt sie sich nach ihrem Vater! Welch unbeschreiblichen Wunsch hat sie, ihn endlich zu umarmen, seine Hände, seinen Atem und sein Herz zu spüren und ihm ihre Tochterliebe zu bekunden. Doch das wird erst möglich sein, nachdem sie mit ihm gesprochen hat. Sie weiß jedoch beim besten Willen nicht, was sie ihm sagen soll. Deshalb will sie schreiben und ihre Gedanken ordnen, bevor sie ihn zur Rechenschaft zieht.
Nun ist es schon sieben Uhr abends. Es ist noch immer schwül warm, fast heiß. Auch die mittlerweile etwas mattere Sonne scheint immer noch. Tollkühne, halbnackte Jugendliche auf Skateboards machen akrobatische Luftsprünge, küssende Liebespaare sitzen auf den Treppen vor dem immer noch gut besuchten Café. Knisternde Erotik und Lebensfreude, die zu einer neuen Version von Love Is In The Air inspirieren würde. Doch Dalisay sitzt versunken in ihrer eigenen Welt, entrückt wie auf einer einsamen Insel, auf der nur sie allein wohnt. Sie schenkt der sie umgebenden Lebensfreude keine Beachtung. Sie wird ihn zur Rede stellen. Doch wie? Mit welchen Worten?