Читать книгу MIRANDA - Inside The Sickness - Oliver S. - Страница 5
SAINT HADELIN
Оглавление„Hast du schon alles gepackt?“, fragte James, als er gehetzt ins Schlafzimmer kam.
„Ich bin gerade dabei und fast fertig“, antwortete Alyssa. „Warum bist du so außer Atem?“
„Ich muss noch mal weg, einen Auftrag erledigen, der kurzfristig hereinkam. Ich wollte mir nur eben frische Sachen anziehen und dir schnell Bescheid sagen, dass ich etwas später komme.“
„Ach neeeiiin, du bist doch gerade erst von der Arbeit zurück“, antwortete Alyssa mit ihrer süßen und unschuldigen Stimme während sie auf James zuging und ihn umarmte. Jedes Mal, wenn sie so vor ihm stand, merkte er, wie sein Herz fester schlug.
„Ein Autohaus hat mich angerufen. Sie brauchen dringend neue Fotos von ihrer neuen angebauten Verkaufshalle. Der dafür engagierte Fotograf hat eine Grippe. Sie brauchen die Fotos für ihren neuen Katalog und das am besten schon in diesem Moment.“
„Wann bist du wieder hier?“, fragte sie und gab ihm einen Kuss.
„Ich schätze, dass es nicht länger als 3 Stunden dauern wird. Oh, und bevor ich es vergesse, leg dein Handy bitte weit entfernt von dir weg. Nicht, dass du auf die Idee kommst, es mitzunehmen. Weder deines noch meines möchte ich in den nächsten zwei Wochen klingeln hören.“
„Ooookeeey“, antwortete sie enttäuscht. „Dann werde ich noch mal die Koffer auspacken und alles kontrollieren, ob ich nicht etwas vergessen habe.“ Kurz darauf sprang sie mit einem Satz auf das mit blauer Bettwäsche bezogene Bett, während sich James eilig umzog. Sie sah ihm auf dem Bett liegend zu, blickte ihn verführerisch an und fragte mit einem Lächeln auf ihre Lippen: „Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?“
„Ich kann es mir denken“, antwortete er schmunzelnd, „aber damit müssen wir wohl noch etwas warten. Ich hab es wirklich eilig.“
„Na guuut, dann gehe ich ruuunter in die Küüüche, mache mir einen Kaffee und betrete das Schlafzimmer erst wieder, wenn du weg bist“, sagte sie im Vorbeigehen und gab ihm einen Klaps auf die Backen. „Mmmh, süßer Hintern“, flüsterte sie lächelnd, drehte sich mit dem Gesicht zu ihm, zwinkerte und war im selben Moment aus dem Schlafzimmer verschwunden.
Man, immer wenn man es eilig hat, dachte er sich und versuchte, seinen Gürtel zu zukriegen. Er hätte ihr am liebsten sofort das gegeben, worauf sie gerade Lust hatte, wäre da nicht der verdammte Auftrag.
Alyssa saß bei ihrem Kaffee, als James eilig durch den weiß möblierten Korridor an der Küche vorbeiging und versuchte, sein weißes Hemd hektisch in seine Hose zu stecken. Die Autoschlüssel hielt er zwischen seinen Zähnen, sodass Alyssa sein Gemurmel nicht verstehen konnte. Aber sie deutete es als ein „bis gleich“.
Eine kurze Weile saß sie noch am Küchentisch, trank ihren Kaffee und durchblätterte ihr neues Gotikfotobuch, das vor wenigen Tagen vom Verlag herausgebracht wurde. Sie und James reisten viel und besonders zu den Orten, wo sich eine altertümliche Kirche befand, um sie zu fotografieren. Sie war so stolz auf ihr 500 Seiten dickes Fotobuch. Beide lebten in der 4500 Seelenstadt Lockerbie, Schottland. Hundert Kilometer südöstlich von Glasgow und ganz in der Nähe der englischen Grenze. International bekannt wurde Lockerbie im Jahre 1988, als dort eine Pan Am Maschine durch einen Sprengstoffanschlag abstürzte und dabei 270 Menschen ums Leben kamen. Alyssa und James, beide Anfang dreißig, lernten sich bei einem Fotokurs kennen. Er war der Fotograf und sie besuchte seinen Workshop, um sich in der Fotografie fortzubilden. Die Liebe kam schnell und es dauerte keine sechs Monate und sie waren verheiratet. Fotografisch waren beide aber weit von einander entfernt. Alyssa liebte ihre altertümlichen Objekte, während er für Autohersteller und Autohäuser fotografierte. Unter einem Pseudonym, von dem seine Frau wusste, machte James aber auch noch ganz andere Fotos für diverse Zeitschriften. Doch Letzteres war für ihn rein beruflich. Es gab immer nur eine Frau für ihn. Alyssa.
Während sie die Koffer kontrollierte, fing es draußen an zu regnen. Der plötzliche Donner und Blitz jagten ihren beiden Katzen so sehr einen Schrecken ein, dass sich beide wie immer unter Alyssas Bettdecke verkrochen. Es dauerte jedes Mal eine lange Zeit, bis Cowboy und Bonny, so hießen die Beiden, wieder hervorgekrochen kamen. Zuerst der halbe Kopf, dann der ganze. Deren Ohren kreisten dabei wie ein Radar und die Augen wie auch die Haltung sahen nach „Vorsicht“ aus. Alyssa musste in solchen Momenten immer lachen und beruhigte sie, wie es eine Mutter mit ihrem Kind tun würde. Nachdem sie die Koffer unten im Korridor fertig gepackt hingestellt hatte, trank sie noch eine Tasse Kaffee, den sie allerdings mit durchs Haus trug, um die Fenster zu kontrollieren, dass auch alle geschlossen waren. Auf die Katzen würde ihre Mutter die nächsten zwei Wochen täglich achten und für sie sorgen.
Nach nicht ganz drei Stunden hörte sie das Auto von James. Kurze Zeit später fiel die Haustür hinter ihm zu und er rief: „Hat hier jemand ein Taxi nach Saint Hadelin bestellt?“ Er hörte ein kreischendes „IIIIICH“, das aus der oberen Etage kam und sah kurz darauf, wie Alyssa die Treppe herunter spurtete und ihn umarmte.
„Sind Sie bereit, Madame?“
„Bereit“, antwortete sie, und wischte ihm sanft mit ihren Daumen eine Fluse aus seinem Gesicht, als sie dicht vor ihm stehen blieb.
Für ihn war es wieder solch ein Moment, in dem sein Herz vor lauter Liebe zu ihr hätte zerspringen können. Alyssa war eine liebe, fürsorgliche, lustige, sehr attraktive wie auch natürliche Frau, die an dementsprechenden Stellen gut geformt war. Eigentlich, so kam es ihm vor, war sie keine richtige Frau. Äußerlich schon, doch sie hatte in ihrer ganzen Art etwas Kindisches. Etwas, das er so sehr liebte.
Wie jedes Jahr fuhr James die ganzen zehn Stunden nach Saint Hadelin mit einer einstündigen Pause durch, während Alyssa ihm zwischendurch ein Brot oder etwas zu trinken reichte. Kleine Scherze konnte sie sich aber währenddessen nicht verkneifen und jetzt, da James beide Hände am Steuer hatte, gab sie ihm mit ihrem von Schokolade beschmierten Mund einen Kuss auf die Wange. James schmunzelte, während sie sich darüber amüsierte. Doch dann wurde sie wieder ernst, beugte sich zu James und schleckte die Schokolade mit ihren Lippen und ihrer Zunge von seiner Wange.
Die letzten Jahre hatten beide Glück und sie konnten bei Sonnenschein die Fahrt über den Kanal an Deck der Fähre genießen. Doch nicht dieses Mal. Es regnete, seitdem sie von zu Hause losfuhren in einer Tour durch. Als die Fähre auf der anderen Seite des Kanals andockte und ihr Mercedes wieder Festland unter den Rädern bekam, hatte Alyssa bereits ihre Füße auf das Armaturenbrett gelegt und sich mit ihrem Kopf an James Schulter gelehnt, um bei leiser Chilloutmusik einzuschlafen.
Nach so vielen Stunden Autofahrt und mit anschließender großer Müdigkeit freuten sich beide, als sie immer noch im strömenden Regen weit nach Mitternacht ihren Mercedes vor der Pension parkten. Besonders James. Er brauchte unbedingt eine warme Mahlzeit und freute sich anschließend nur noch auf das Bett.
„Verdammt, da ist man so weit gefahren und es regnet immer noch. Als wenn uns das Wetter verfolgt“, fluchte er, als beide ausstiegen. „Na ja... warum sollte das Wetter in Belgien auch anders sein?“, ärgerte er sich weiter.
Von der Fahrt erschöpft, wurden sie mitten in der Nacht auf das Herzlichste von dem Pensionsbesitzer empfangen, der sie nach einem kurzen Plausch wie jedes Jahr hinauf zu ihrer Ferienwohnung führte.
„Endlich“, stöhnte James, der die Koffer im Schlafzimmer fallen ließ und sich aus einer der Taschen, die Alyssa hinauf trug, eine Fertigsuppe auspackte, um sie in der kleinen Küche warm zu machen. Auch in dieser Nacht schaffte er es nicht mehr, ihr das zu geben, dass sie schon am Tag, als beide in ihrem Schlafzimmer standen, wollte. Beide fielen wenig später ins Bett und schliefen eng umschlungen ein. Der Tag darauf begann mit zärtlichem und hemmungslosem Sex, kurz nachdem beide ihre Augen geöffnet hatten und sich aneinanderschmiegten.
Völlig durchgeschwitzt stand Alyssa anschließend als Erste auf, um unter die Dusche zu springen. Jedoch beugte sie sich zuerst vor dem Bett stehend, in kurzen Abständen nach vorne, um sich frische Wäsche aus dem Koffer zu nehmen. James lag hinter ihr, stützte den Kopf auf seine Hand auf und genoss ihre schöne, zierliche, nackte Rückansicht. Alyssa hatte nicht nur perfekte Formen, sondern ihr Körper war völlig durchtrainiert. Darauf legte sie besonders Wert, drei Mal pro Woche ins Fitnessstudio zu gehen. Nicht zu viel, sondern nur um die Muskeln etwas aufzubauen, sodass ihr Körper straff blieb. James hingegen war genau das Gegenteil. Er war zwar nicht dick, doch einen kleinen Rettungsring konnte man an ihm erkennen.
Mit ihrem Höschen und ihrem BH in der Hand drehte sie sich um, beugte sich auf allen vieren auf das Bett und schaute James verführerisch an. Er sah sofort ihre einladende Stellung und am liebsten wäre er in diesem Moment von hinten zwischen ihre gespreizten Beine gesprungen, mit denen sie sich kniend aufs Bett aufstützte.
„Na? Hat der Herr Lust auf eine zweite Runde unter der Dusche?“
Dabei wackelte sie sachte mit ihrem Kopf zu den Seiten, den sie auf beiden Händen aufstützte und James mit einem Knutschmund fragend ansah. Doch nicht nur ihr Kopf bewegte sich zu den Seiten. Ihre Füße, die sie nach oben hielt, wippten hoch und runter. Und ihr Po, der dabei auch in Bewegung war, ragte einladend in die Höhe. James sprang auf und schnappte sich Alyssa. Während sie sich mit ihren Beinen an seinen Hüften umklammerte, küssten sie sich wild, als er sie an den Wänden tastend zum fensterlosen Bad trug, wo nur ein kleines, sanftes Licht schien. Die großen, graubraunen Steinfliesen gaben der Atmosphäre noch mehr Romantik, als beide unter der Dusche standen und sich liebten. Ein sanfter Strahl mit heißem Wasser lief aus der Dusche und verteilte sich über ihre Körper. Doch nicht nur deswegen stand das Badezimmer nach kurzer Zeit unter Dunst. Wassertropfen liefen im gesamten Bad an den Fliesen hinunter, so „heiß“ war es da drin.
Nur mit einem weißen Bademantel bekleidet, räumte James dreißig Minuten später die Koffer aus, während Alyssa sich zum ersten Mal in diesem Urlaub ihre kleine gemeinsame Ferienwohnung ansah, ob sich etwas verändert hatte. Dabei kämmte sie ihre nassen, bis zu den Schulterblättern langen Haare nach hinten.
Ihre Wohnung lag direkt unter dem Dach. Die Wände waren schräg und die kleinen Fenster waren vom Fußboden aufwärts, nur kniehoch. Man konnte aus dem Schlafzimmer ausschließlich auf dem Bett liegend hinaus schauen oder man setzte sich direkt vor eines der Fenster auf dem Fußboden. Alles schien wie die Jahre zuvor beim Alten zu sein. Nichts hatte sich verändert. Es standen immer noch dieselben altertümlichen Gegenstände sowie Möbel im Zimmer, die aus unterschiedlichen Naturhölzern zusammen gestellt wurden. Alyssas Lieblingsmobiliar befand sich auch noch ihrer Wohnung: Eine kleine, dunkle, alte Kommode mit zwei Seitentüren sowie zwei Schubladen pro Seite und einem mit Naturholz umrahmten Spiegel, der auf dieser Kommode befestigt war. Jahr für Jahr saß vor den Spiegel und machte sich zurecht, wann immer sie dort ihren Urlaub verbrachten.
Doch als Alyssa sah, wie James die Kleidung lieblos in den Schrank legte, griff sie sofort ein. „Hey, was machst du da?“
„Nach was sieht das denn aus?“, antwortete James.
„Du kannst doch nicht einfach meine Sachen so in den Schrank „werfen“.“
Schnell holte sie ihre Sachen wieder heraus und legte sie ordentlicher hinein.
*
Gut gelaunt packten beide ihre Sachen, die sie für den bevorstehenden Tag brauchten und machten sich auf nach Celles, das ca. 50 Kilometer von Saint Hadelin entfernt lag. Kurz nachdem sie dort ankamen, betraten auch beide als Erstes das Restaurant in der Nähe der Rue de St. Hadelin, das im Laufe der Jahre zu ihrem Stammlokal wurde. Es war, wie auch ihre Ferienwohnung mit altertümlichen Möbeln eingerichtet, bestehend aus hellen und dunklen Naturholz. Der kleine Speisesaal, dessen Wände zum größten Teil aus grauem Naturstein bestanden, schimmerte im sanften Licht. Goldene Rahmen mit alten Bildern hingen jeweils an der bordeauxroten Tapete, die an zwei Wänden den Raum schmückte. Das ganze Restaurant wurde optimal zusammengestellt.
Nachdem es am Vortag regnete, schien plötzlich wie herbei gewünscht die Oktobersonne. Es war ein perfekter Herbsttag, ein perfekter Urlaubsanfang.
Alyssa atmete tief durch, als beide nach Verlassen des Restaurants vor dem Gebäude standen. Dabei schaute sie sich mit einem Lächeln im Gesicht um und ließ alles auf sich wirken. Dann packten sie ihre Fotoausrüstung aus ihrem Auto, die in Rucksäcken verstaut war, schnallten diese um und spazierten anschließend durch Celles, das eines der schönsten wallonischen Dörfer für sie war. Nur ein paar Dutzend Häuser reihten sich um den mit Kopfstein gepflasterten Platz. Rinder grasten auf den Hängewiesen und der örtliche Gasthof präsentierte sich wie jedes Jahr mit ländlicher Blümchentapete und guter Küche. Die Dorfkirche des Ortes gilt noch heute als Paradebeispiel der maasländischen Romantik. Auch diese befand sich in Alyssas Fotobuch. Sie waren umgeben von Natur, die sie so liebten und in der sie sich frei fühlten.
„Sag mal, sollen wir nicht doch hierher ziehen?“, fragte Alyssa ihren Mann zum wiederholten Male.
„Hör´auf. Das Thema hatten wir oft genug. Ich glaube, du fragst mich so lange, bis ich „Ja“ sage, kann das sein?“
Sie lächelte und antwortete: „Ich weiß, aber ich liebe diesen Ort so sehr, dass ich schon fast jeden Augenblick diesen Wunsch habe.“ Alyssa atmete tief durch, legte ihren Kopf etwas in ihren Nacken und schloss ihre Augen.
„Lass uns diesen Ort weiterhin als etwas Besonderes für uns sehen. Es soll weiterhin ein ganz besonderer Ort bleiben. Nur für uns.“
Sie stand dort immer noch mit ihrem Lächeln und nickte nur, als James ihr das liebevoll sagte und ihr dabei über die Wange streichelte.
Nachdem sie den Ort wie zuvor Jahr für Jahr neu erkundeten, machten sie noch einen Abstecher zum Château de Noisy, das ganz in der Nähe in einem Waldgebiet in der Provinz Namur stand. Im Parc de Noisy. Alyssa wollte es an diesem Tag unbedingt sehen. Es war ihr Prachtschloss. Nie zuvor hatte sie ein schöneres Schloss gesehen und wollte es, wie bei jedem Urlaubsanfang mit einem Foto begrüßen. Ein gewisser Edward Millner war der Architekt und legte 1860 den Grundstein für das Schloss. Die Fertigstellung um 1907 bekam er allerdings nicht mehr mit. Er verstarb während der Bauarbeiten.
Am Park angekommen, gingen sie in den Wald hinein, wo sie die restlichen Meter auf matschigem Boden, dem „Laternenweg“ bis zum Schloss folgten. Sanft hörten sie die noch wenigen Blätter, die an den Herbst Bäumen hingen, im Wind rascheln. James hatte bereits im Hotel seine Kamera vorbereitet, während Alyssa ihr neues Objektiv auf dem Weg zum Château installierte. Beiden lief ein Schauer über den Rücken, als sie schließlich stehen blieben und das Schloss in hundert Meter Entfernung vor sich sahen. Genau das war Alyssas Welt. Sie brauchte diesen Kick, den sie bei keinem anderen Schloss bekam. Jedes Mal, wenn sie sprachlos davor stand, wurde es ihr unheimlich, aber gleichzeitig stieg auch die Neugierde. Kein anderer Ort zog sie so magisch an.
Dreißig Meter von ihnen entfernt sahen beide den Wachdienst, der Jahr für Jahr um das Schloss spazierte und der sich an diesem Tag nicht weit von den Schlossmauern entfernt, mit dem Förster unterhielt.
Seitdem immer wieder Unbefugte versucht haben, das Schloss zu betreten und sogar Jugendliche einmal den Dachstuhl anzündeten, entschied sich der Schlossherr bzw. entschieden sich die Erben, einen Wachdienst zu engagieren.
Gemeinsam mit ihren Kameras und Stativen gingen Alyssa und James auf das graue alte Gemäuer zu. Wie in einem Film kamen sie sich Jahr für Jahr vor, als sie vor dem maroden Bauwerk standen. Nicht nur vor dem über 50 Meter hohen Uhrenturm hatten sie Respekt. Jedes Jahr versuchten Alyssa und James, die Geschichte des Schlosses neu zu lesen. Immer wieder aufs Neue.Früher diente es mit über hundert Räumen und über fünfhundert Fenstern als Sommerresidenz einer Grafenfamilie. Doch seit 1991 steht das Schloss nun leer und ist dem Verfall ausgeliefert.
Alyssa war nicht nur begeistert von der Gotikfotografie, sondern war auch eine Lost Places Fotografin. „Man tut vieles und verstößt dabei gegen das Gesetz, um DAS Foto zu kommen, das man möchte. Dabei geht es aber nicht um das Foto alleine, sondern man möchte diesen Ort und seine Geschichte spüren und welche Schicksale sich dort abspielten. All das sollte ein Foto auch erzählen“, sagte sie jedes Mal zu ihrer Mutter, die hier und da schon ein wenig Angst um ihre Tochter hatte, wann immer sie einen Lost Place betrat.
„Lass uns dieses Jahr versuchen, ins Schloss zu gehen, um von innen Aufnahmen zu machen“, sagte sie zu James und fügte hinzu, „ich denke, dort warten viele sehr interessante Dinge auf uns.“
„Sollten wir nicht lieber mit dem Besitzer oder wenigstens mit dem Wachdienst zuallererst sprechen und uns eine Erlaubnis holen?“, fragte James nachdenklich.
„Sie werden es uns nie erlauben“, antwortete Alyssa und stand wie hypnotisiert neben James mit Blick aufs Schloss. „Wir können doch ganz einfach hinein gehen. Sieh doch, alle Fenster wurden eingeschlagen, jede Tür zum Schloss steht offen und manche Eingänge haben keine Tür mehr. Bitte, lass uns dieses Jahr hinein gehen. Die ganzen Jahre hast du immer „ja“ gesagt, doch nie bist du mit mir rein gegangen“, sagte sie und blickte immer noch starr zum Schloss.
James überlegte eine Weile, folgte ihrem Blick, schaute wieder zu Alyssa und antwortete: „Ok, aber nicht heute. Wir müssen erst mal schauen, wie viel Wachleute hier herum laufen und wo wir am besten, und vor allem am schnellsten und unbemerkt, hinein kommen. Sobald wir gleich im Hotel sind, machen wir einen Plan.“
Wie hypnotisiert drehte sie ihren Kopf langsam zu James, sah ihn mit einem starren Blick an und sagte im ernsten und schon fast drohenden Ton: „Versprich es mir.“
Ihr Gesichtsausdruck machte ihn unsicher und er erschrak ein wenig. So ernst kannte er sie nicht.
„Versprochen“, antwortete James.
Sie gingen näher ans Gemäuer heran und unterhielten sich freundlich mit dem Wachdienst, während ihre Blicke abwechselnd zu den kaputten Fenstern wanderten, die sich dicht neben ihnen befanden. Die meisten Scheiben wurden schon vor Jahren mit Steinen eingeschlagen. Da, wo sie nun mit dem Wachmann standen, brauchte man nur eine kleine Trittleiter, um ins Schloss zu gelangen.
Der Wächter, der gerne von seiner Arbeit auf diesem Gelände erzählte und am Tage alleine das Château bewachte, war so redefreudig, dass beide erfuhren, wie viel Wachleute das Gelände unter die Lupe nahmen. Und das es in der Nacht von zwei und nicht wie am Tag von einer Person bewacht wurde. Sie würden allerdings die meiste Zeit im Auto sitzen und nur ab und zu gemeinsam ihren Rundgang um das alte Gemäuer machen. Im Schloss selber würden sie nichts kontrollieren.
„Siehst du, so einfach ist das“, sagte Alyssa lächelnd auf ihrer kindischen süßen Art, als sie sich beide wieder auf dem Weg zurück ins Hotel machten. Sie rieb ihre Hände, hob ihre Schultern, blickte aus kurzem Abstand zu James und sagte: „Uuuuh, ich freue mich schon darauf.“
Abends im Hotel war der Plan schnell gemacht und James hatte sogar einen besonderen Tag im Kopf. Er wollte mit Alyssa an ihrem fünften Hochzeitstag ins Schloss einsteigen. Diesen Gedanken behielt er allerdings für sich. Zu seinem eigentlichen Geschenk, eine Schachtel belgische Schokopralinen, sollte es eine weitere Überraschung werden.
Alyssa mochte eher die kleinen Dinge im Leben und hatte für Schmuck nicht viel übrig. Sie fand zwar gewisse Schmuckstücke ganz schön, aber hätte sie die Wahl zwischen einer goldenen Kette und die aller leckersten Schokopralinen, würde sie immer die Pralinen vorziehen. Auch wenn sie nicht danach aussah, sie stopfte diese in sich fast jeden Abend hinein.
Nach dem Abendessen machten sich beide auf zu ihrem ersten Abendspaziergang in diesem Urlaub, der in den ganzen Jahren schon zu einem abendlichen Ritual geworden war. Alyssa lehnte, während beide gemütlich und anschmiegsam durch die kleine Stadt spazierten, ihren Kopf an James Oberarm und hakte sich mit beiden Händen in seinem Arm ein. Sie fühlte sich wie immer sehr wohl, jedes Mal, wenn James in ihrer Nähe war. Da sie schon Stammgäste in diesem Ort waren, wurden sie von so manche Bewohner des Ortes erkannt, die sie freundlich grüßten. Einige Einwohner kamen lächelnd auf sie zu und unterhielten sich eine Weile mit ihnen. Alyssa und James hatten jedes Mal den Eindruck, dass sie wie immer herzlich willkommen waren. Anschließend wärmten sich beide im Restaurant mit einem herzhaften Getränk auf und machten sich wieder auf den Heimweg. In ihren vier Wänden angekommen, zogen sie sich sanft und mit vielen Streicheleinheiten gegenseitig aus und liebten sich mit langsamen Bewegungen auf ihrem Bett.
„Noch zwei Tage“, sagte Alyssa, als sie anschließend mit ihrem Kopf auf James Brust lag, „dann sind wir fünf Jahre verheiratet.“
James spielte mit ihrem Haar und rollte es an seinem Zeigefinger auf, als er lächelnd und verträumt eine Stelle des Schlafzimmers mit seinem Blick fixierte.
„Ich habe keinen Tag bereut“, fügte Alyssa hinzu und küsste seinen Bauch. Sie streichelte ihn sanft, machte ihre Augen zu und irgendwann waren beide eingeschlafen. Niemand wollte aus der Romantik fliehen, die in diesem Moment im Raum schwebte, und so machte niemand von ihnen das kleine Licht, das auf ihrem Nachttisch stand, aus.
Am Tag darauf wurde James alleine im Bett wach. Keine Spur von Alyssa. Er rief sie leise, um nicht die restlichen Mitbewohner der Pension zu stören, doch es kam keine Antwort. Aus dem Fenster schauen, wie das Wetter an diesem Tag sein würde, brauchte er nicht, denn man konnte schon die Regentropfen hören, die heftig auf die Scheiben prallten. Er stand auf und lief unausgeschlafen durch die kleinen Zimmer. Keine Spur von ihr. Er ging ins Bad, duschte sich ab, putzte sich die Zähne und erschrak, als er mit seinem Kopf wieder hochkam und in den Spiegel sah. Hinter ihm hatte doch gerade jemand zwischen den Türrahmen geschaut. Es ging alles so schnell, dass er nicht erkennen konnte, wer es war. Er wusste nur, da war jemand.
„Alyssa?!“
Niemand antwortete.
„Hallo, ist da jemand?!“
Wieder keine Antwort.
Unten herum war er nur mit einem weißen Handtuch bedeckt, als er mit geballten Fäusten das Bad verließ und sich nochmals vorsichtig umschaute. In dem Moment, als er sich umdrehen und ins Schlafzimmer gehen wollte, stand plötzlich jemand vor ihm. James erschrak so sehr, dass er mit einem kurzen Aufschrei rückwärts in die kleine Garderobe flog. Dabei versuchte er, sich festzuhalten und riss Alyssas Mantel vom Haken. Erschrocken und mit großen Augen sah er anschließend die Person panisch an.
Vor ihm stand Alyssa. Sie war völlig durchnässt und sah ihn mit fragendem Blick an. Ihre Haare waren zu einem Zopf gebunden, trotzdem klebten ein paar nasse Strähnen in ihrem Gesicht.
„Das wollte ich nicht“, sagte sie in Sorge und beugte sich zu ihm hinunter, um ihm wieder hoch zu helfen, nachdem sie ihre Kopfhörer aus den Ohren nahm.
„Wo warst du?“, fragte er.
„Ich konnte nicht mehr schlafen. Der Regen, der an den Scheiben prasselte, hat mich dazu gebracht, mich nur noch nach links und rechts zu drehen. Also zog ich mich an und ging joggen.“
„Mensch, hast du mir einen Schrecken eingejagt!“
„Entschuldigung.“
„Ich hatte dich einige Male gerufen. Wieso hast du mir nicht geantwortet?“
Sie nahm wortlos ihren Walkman in die Hand, hielt ihn hoch und zeigte mit einem süßen Lächeln mit dem Finger drauf.
„Deswegen. Ich hatte ihn nicht ausgemacht und als du im Bad warst, wollte ich mich nicht von hinten anschleichen. Du hättest wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen.“
„Na rate mal, was ich gerade hatte“, antwortete er im knurrigen Ton.
„Habe ich schon Entschuldigung gesagt?“
„Ja, hast du.“
„Also komm, sei jetzt nicht mehr so und knurr nicht weiter rum.“
Sie beugte sich zu ihm runter, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn gut gelaunt und in sehr kurzen Abständen gefühlte hundert Mal überall ins Gesicht. „Lass uns frühstücken, ich habe einen großen Hunger“, sagte sie anschließend gut gelaunt und ging mit kleinen Schritten ins Bad um zu duschen. Die Tür wie auch die Duschtür ließ sie extra auf, weil sie genau wusste, wie sehr es James mochte, sie in ihrer natürlichen Pracht von oben bis unten anzuschauen. Mittlerweile stand er wieder aufrecht, mit der Schulter angelehnt, am Türrahmen des Badezimmers, als sie sich langsam auszog und sich anschließend unter der Dusche einseifte. Verführerisch sah sie ihn ununterbrochen an. Sie presste ihre Hände auf ihre Brüste und spielte mit ihrem Körper. Wann immer solch ein Augenblick kam, beide genossen ihn und es war auch nicht das erste Mal, dass sie James auf dieser Weise zum Kochen brachte. Doch an diesem Morgen wollte er einfach nur da stehen und ihr zu schauen, wie sie sich es selber macht. Sie zwinkerte mit ihrem Auge, lächelte und biss sich sanft mit ihren Oberzähnen auf ihre Unterlippe, als sie ihn, mit leicht gesenktem Kopf, ansah. Sie duschte wie eine Stripteasetänzerin und befriedigte sich anschließend vor James, während das warme Wasser von oben herab über ihren Körper floss.
„Was machen wir heute?“, fragte sie, als sie sich anzog.
„Eigentlich hätte ich Lust zu wandern, aber da du schon joggen warst, denke ich, dass du daran nicht interessiert bist.“
„Wandern? Da bin ich dabei“, rief sie ihm aus dem Badezimmer zu.
James wollte noch etwas sagen, aber da ging auch schon der Föhn an und von einem Zimmer zum anderen zu schreien, hatte er keine Lust. An diesem Tag hatte er schon genug Aufregung gehabt.
„Liebling“, rief sie, „kommst du mal?“
Herab schauend, und an seinem Gürtel fummelnd ging er zum Bad und blieb an der Tür stehen. Als Alyssa ihn im Spiegel sah, machte den Föhn aus, tat ihn beiseite, drehte sich zu ihrem Mann, der immer noch an seinem Gürtel fummelte, und hauchte ihm aus naher Entfernung zu, als sie ihre Hände um ihn legte: „Ich liebe dich.“ Ihr Blick durchdrang ihn und der Gedanke an seinen verfluchten Gürtel war völlig verschwunden, als sich ihre Köpfe näherten. Doch bevor sie sich küssten, bemerkte Alyssa, dass noch etwas Rasierschaum in seinem Gesicht klebte. Mit einem Wisch machte sie es weg. Noch eine Weile standen beide küssend und eng umschlungen im Badezimmer, in dem nur das sanfte Licht einer Röhre über dem Spiegel schien und den Bereich am Waschbecken erhellte. „Das reicht jetzt“, sagte sie plötzlich, lächelte und drehte sich wieder zum Spiegel um ihre Haare weiter zu föhnen. Dabei lies sie ihren Mann im Spiegel nicht aus den Augen, der sie, hinter ihr stehend, auch ansah. Ihre Blicke trafen sich so intensiv, dass beide das Gefühl hatten zu schweben. Alyssa grinste und fing an, langsam mit ihrem nackten Po zu wackeln. Als ob sie tanzen würde. James lächelte und sah sie verträumt an. Dann kam in ihm wieder der Gedanke hoch, dass er noch etwas mit seinem Gürtel zu erledigen hatte.
Durch den Wandspiegel konnte Alyssa ihn weiterhin beobachten, wie er schon wieder versuchte, seinen Gürtel zu zukriegen und musste über sein fluchen, lächeln. „Dieser verdammte Gürtel! Wie viel Nerven der mich schon gekostet hat“, rief er.
Sie legte den Föhn zur Seite und half ihm. Im Nu war der Gürtel geschlossen. „Bitte schön“, sagte sie lächelnd und schaute ihn kurz dabei in sein fragendes Gesicht. Einen Augenblick später kümmerte sie sich weiter um ihre Haare und James genoss wieder ihren Anblick. Doch lange hielt er es nicht mehr aus. Egal ob sie angekleidet oder splitterfasernackt vor ihm stand, Alyssa war wie ein Magnet. Wie auch James ein Magnet für sie war. Er machte zwei Schritte vor und fing an, ihre Schultern zu streicheln. Ihre Blicke trafen sich dabei wieder im Spiegel. Sanft gab er ihr einen Kuss auf ihren Schultern und sah, dass ihre Augen mittlerweile geschlossen waren, ihren entspannten Gesichtsausdruck und dass sie es in diesem Moment genoss, wie er sie anfasste und streichelte. Sie bewegte sich nicht und hielt den Föhn, den sie mittlerweile ausgemacht hatte, weiterhin in Kopfhöhe. Wie in einer Starre. „Ich liebe dich von ganzem Herzen“, sagte er ihr leise ins Ohr. „Vergiss das nie.“
Beide genossen das Knistern der Gefühle, bis James ihr nach einiger Zeit einen sanften Klatsch auf ihren Po gab, und sagte: „So, und nun mach hin, ich habe Hunger.“
Nach dem gemeinsamen Frühstück, dass sie dieses Mal in ihrer Pension zu sich nahmen, besorgte Alyssa noch ein paar belegte Brote wie auch eine Kanne Kaffee. Dann schnappten sie sich ihre Rucksäcke und machten sich auf den Weg durch die Provinz Namur. Sie wanderten den ganzen Tag durchs Gelände und nutzten jede Minute, in der es nicht regnete, um Fotos zu machen.
An einer Weide, wo sie Rast machten, standen Kühe auf der Wiese und Alyssa gefiel sofort die einzig graue Kuh, die in einer Herde von braunen und schwarzen Kühen stand. Aus der Entfernung sah sie aus, als wenn sie eine Mischung aus Esel und Kuh wäre und als wenn diese Gedanken lesen konnte, kam sie auf Alyssa zu und stoppte erst kurz vor dem Zaun. Dabei schaute sie mit einem neugierigen Blick über den Stacheldraht und wartete vielleicht darauf, dass man ihr etwas Leckeres reichen würde. Alyssa war nicht nur Fotografin, sie wusste auch, wie man sich vor der Kamera positionierte und James blieb nichts anderes übrig, als von den beiden ein paar witzige Fotos zu machen. Ein Foto, auf dem sie mit gespreizten Beinen und Händen lachend in die Luft sprang. Ein Foto, auf dem sie seitlich in die Szene, wieder mit gespreizten Armen und Beinen hineinsprang. Ein Foto, auf dem sie im Profil zu sehen war und sie der Kuh einen Kuss von ihrer Handfläche zu pustete. James stand nur da, drückte auf den Auslöser und befolgte ihre Ideen.
Nach mehreren Stunden Wanderschaft kehrten sie zurück in ihre Pension, nahmen eine warme Dusche und genossen jeder für sich, bei einer heißen Tasse Kaffee ein Buch. Plötzlich musste James lachen.
„Seit wann stehen in Geschichtsbücher Witze?“, fragte Alyssa.
„Mir ist nur gerade einer eingefallen, den mir Henry letzte Woche erzählt hat.“
„Ach ja?“, fragte sie neugierig. „Na dann lass mal hören.“
Sie drehte sich aus der waagerechten in die seitliche Position, stützte ihren Kopf auf ihre Hand und war gespannt.
„Also pass auf: Zwei Freundinnen sitzen in einem Café, da sagt die eine zur anderen: Mein Mann hat immer nur seine Fotografie im Kopf. Doch gestern habe ich meine Koffer gepackt und bin ausgezogen.
Da fragt die andere: Und wie hat er es aufgenommen?
Da sagt die eine: Mit Weitwinkelobjektiv, Blitz, ISO100, Blende8 und 1/30 Sekunden Verschlusszeit, damit die Bewegungsunschärfe zu sehen war.“
„Boah“, sagte Alyssa, „wie gemein“, und musste trotz-dem laut lachen. „Auf solch einen Blödsinn kann nur Henry kommen“, fügte sie lachend hinzu, als sie sich wieder in die Waagerechte begab.
*
Die Zeit verging wie im Flug. Sie wanderten durch das Gelände, durch die nahe liegenden Dörfer, besichtigten das Schloss und machten unzählige Fotos. Mittags aßen sie meistens eine Kleinigkeit in ihrer Pension oder nahmen für ihre Wanderschaft ein paar Brote mit, aber seitdem sie dort jährlich ihren Urlaub verbrachten, aßen sie zu Abend in ihrem kleinen gemütlichen Restaurant in Celles. Am zweiten Tag zogen sich beide festlich an und fuhren gegen Abend zu „ihrem“ Restaurant. Alyssa trug ein schwarzes, eng anliegendes, schlichtes und fußlanges Trägerkleid mit einem tiefen Ausschnitt. Sie mochte es immer schlicht und sexy und zeigte gerne ihre Figur, wie auch ihr Dekolleté. James, der eine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd trug, dessen Ärmel halb hoch umgekrempelt waren, ging ihr im kurzen Abstand hinterher, als sie das Lokal betraten. Kaum saßen beide an ihrem Tisch Platz, schaute sich James plötzlich irritiert um. „Was machen denn die ganzen Rosenblätter auf dem Tisch?“
Er sah auf seine Uhr, um das Datum abzulesen und um sicher zu gehen, dass er nicht ihren Hochzeitstag verpasst hatte.
„Ich dachte mir, wieso immer am Hochzeitstag essen gehen. Wieso nicht mal am Vorabend ein schönes Abendessen genießen und in den Hochzeitstag hinein feiern“, antwortete sie. „Das mit den Rosenblättern war meine Idee. Ich habe sie dem Ober gestern schon gegeben.“
James musste lächeln und fragte: „Wieso ist mir das eigentlich nie eingefallen?“
Sie lächelte schelmisch und sagte: „Na ja, diese Idee kannst du mir jetzt nicht mehr nehmen.“
Kurz darauf kam der ältere und Jahr für Jahr immer freundliche Ober an ihren Tisch und brachte ihren Lieblingswein. Nach ihrer Bestellung und einem charmanten Gespräch mit dem Ober kam Alyssa auf ein altbekanntes Thema. „Sag mal Schatz, wann wollen wir denn zum Château Dracula?“
James sah sie wortlos und mit vollem Mund an. Er hatte sich kurz vorher ein kleines Pizzabrötchen mit Knoblauch in den Mund gestopft, die jemand vom Personal an ihren Tisch gebracht hatte.
„Du hast es mir versprochen, dass wir es dieses Jahr gemeinsam von innen fotografieren“, fügte Alyssa im brummigen Ton hinzu und sah James mit einem drohenden Blick an.
Er wusste nicht, in welche Ecke er das Brötchen in seinem Mund „legen“ sollte, stotterte und suchte schnell nach Worten, um die Überraschung für den morgigen Tag nicht vorzeitig platzen zu lassen. Aber Alyssa erkannte sofort seine Gedanken. Er war nie gut darin, etwas zu verbergen, sobald er darauf angesprochen wurde. Sie freute sich so sehr, dass sie Händen zappelnd, wie ein Kleinkind in seinem Hochstuhl, genauso vor James saß. Dabei klatschte sie immer wieder sanft in ihre Hände.
„Hihihihihihi, ich bin so aufgeregt und freue mich so sehr.“
„Kann ich mir gut vorstellen“, antwortete Jemas verlegen. „Denn ich fühle mich nicht anders. Eher geht es mir in Sachen Aufregung schlimmer als dir. Es ist schließlich etwas Ungesetzliches, was wir tun.“
„Was werden wir dort wohl alles entdecken? Es stehen noch bestimmt alte Möbelstücke im Schloss. Vielleicht auch Spielzeug. Ich bin so aufgeregt.“
Alyssa war ganz außer sich, doch James saß da und machte sich fast in die Hose. Nicht, dass er ein Feigling war, doch es gab Sachen, die machte er einfach nicht. Wie z.B. ins Schloss einsteigen, erwischt zu werden und anschließend eine Anzeige zu bekommen, weil er gegen das Gesetz verstoßen hatte. Doch er wollte es unbedingt dieses Jahr tun. Für Alyssa.
Gemeinsam tranken sie nach dem Essen einen Kaffee zusammen, zogen sich ihre Mäntel über und machten sich auf zum abendlichen Spaziergang durch Celles. Plötzlich blieb Alyssa vor dem Restaurant stehen. „Riechst du das“, fragte sie James und fügte hinzu: „Es ist wie früher, als ich noch Kind war. All die Leute verbrannten in ihren Gärten ihr altes Holz und es roch nach Herbst. Ab diesem Moment fing bei mir die Vorfreude auf Weihnachten an.“
Beide genossen jeden Atemzug, als sie unter klarem Sternenhimmel standen. Der Regen machte an diesem Abend eine Pause und nur eine leichte Brise fühlten sie auf ihren Gesichtern. Eine ganze Weile noch genossen sie den Geruch von verbranntem Holz.
Kurz vor Mitternacht machten sie sich wieder auf dem Weg zurück zur Pension, vor der sie noch eine kleine Weile stehen blieben, weil der Anblick so schön war. Aus den kleinen Fenstern schien ein warmes, gelbes Licht, das zur Gemütlichkeit einlud. Zehn Minuten später betraten sie auch ihre kleine Dachgeschosswohnung und hingen ihre Mäntel an der Garderobe auf. Ein kleines, gelbliches Licht schien seit frühem Abend durchgehend durchs Schlafzimmer und zwei Schatten tanzten plötzlich an den weißen Wänden, da James zuvor bei Betreten des Zimmers Alyssa in den Arm nahm und dabei das Lied „When I See You Smile“ summte. Es war ihr Hochzeitslied. Beide sahen sich an, wie am ersten Tag, mit leuchtenden Augen und mit starkem Herzklopfen. Ihre Blicke ließen den anderen nicht aus den Augen. Auch dann nicht, als James anfing, Alyssa auszuziehen. Sie schaute ihn ins Gesicht, als ob sie es gar nicht merken würde, was er mit ihr machte. Beide waren wie hypnotisiert, als sie begann, sein Hemd zu öffnen, während sie weiterhin von seinem Blick angezogen wurde. Sie machte seinen Hosengürtel, schneller als er es jemals geschafft hatte, auf und er musste deswegen für einen kurzen Augenblick lächeln. Beide merkten, wie tief der gegenüber Stehende atmete und wie das Verlangen immer größer wurde. „Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich keinen Tag mit dir bereue?“, hauchte sie ihm entgegen. James lehnte seine Stirn an ihre und sah ihr aus sehr kurzer Distanz in die Augen, während er seine Hände auf ihre Wangen legte und diese mit beiden Daumen sanft streichelte. „Ja, das hast du“, antwortete er leise mit sanfter Stimme und fügte einen Augenblick später hinzu: „Habe ich dir schon mal gesagt, wie sehr ich dich liebe?“
„Ja, das hast du. Doch ich kann es nicht oft genug hören von dir.“
Sie fingen an, sich zärtlich zu küssen. Dabei schlang sie langsam ihre Beine um seine Hüften und hielt sich mit ihren Armen fest umschlungen an seinem Nacken fest. Sie saß auf seinen Händen, als seine Fingerspitzen es fühlen konnten, wie erregt sie war und wie sie sich auf ihn freute. Sie genoss es, ihn dabei anzusehen und merkte gar nicht, dass sie mittlerweile nur noch auf einer Handfläche saß. Doch seine andere Hand bemerkte sie umso mehr, wie sie ihren Körper streichelte. Es kam ihr vor, als ob er unzählige Hände hätte. Sie liebten sich an diesem Abend, als ob sie vorher den schlimmsten Streit miteinander gehabt hätten und sich beide so sehr vermissten, weil sie sich wegen des Streites eine Zeit lang nicht sahen.
Nach einer langen Liebesnacht und kurzem Schlaf wachte James morgens wieder alleine im Bett auf. Dieses Mal lag ein Zettel auf Alyssas Kopfkissen:
Mache dir keine Sorgen.
Ich bin joggen und gleich wieder da.
Ich liebe Dich.
P.S. Bitte nicht erschrecken,
solltest du wieder ein Gesicht sehen,
das im Bad um die Ecke schaut
oder wenn plötzlich wieder jemand vor dir steht.“
Darunter machte sie, wie immer, einen kleinen lachenden Smiley. James lächelte und lag noch eine Weile waagerecht im Bett, wobei er seine Hände unter seinem Kopf gelegt hatte. Er dachte daran, wie schön das Leben ist und er das wahre Glück, ob beruflich oder in der Liebe, gefunden hatte. Schöner kann es gar nicht sein. Jedes Mal, wenn er Alyssa sah, klopfte sein Herz bis zum Hals. Jedes Mal, seitdem sie sich kannten, waren die Gefühle wie auch der Sex, wie beim allerersten Mal, als sie sich damals in Alyssas Wohnung näher kamen. Kein Funken war verloren gegangen. Es war der Himmel, in dem beide schwebten. Mitten in seinen Gedanken flog ein Hubschrauber über das Hotel, der so viel Lärm machte, dass er James „aufwachen“ ließ.
Auf dem Weg zum Bad, um sich frisch zu machen, kochte er sich zuallererst in der Küche einen Fertigkaffee. Dabei merkte er, wie sein Verlangen nach einer Zigarette größer wurde. Mittlerweile war er seit sechs Monaten von den Glimmstängeln weg, doch er hatte immer eine Packung für den eventuellen Notfall dabei. Oft genug schaute er in den letzten Monaten auf die noch verpackte Schachtel und oft genug kämpfte er gegen den Drang an. Würde er sich jetzt eine anzünden, würde Alyssa nicht gerade erfreut sein darüber und ihn einen Kopf kürzer machen. Sie hasste die Suchtstängel und noch mehr hasste sie es, wenn die Wohnung nach Rauch stank. Nervös, um ja nicht eine Kippe anzuzünden, lief er nur bekleidet mit seinem weißen Bademantel durch die Wohnung und nippte zwischendurch an seinem Kaffee. Im Schlafzimmer fiel sein Blick auf die Sachen, die sie sich in der Nacht gegenseitig auszogen hatten. Alyssas schwarzes fußlanges Kleid, dessen Vorderseite einen nicht gerade kleinen Ausschnitt hatte, lag über dem Stuhl. Ihre schwarzen Pumps standen davor, wobei einer von ihnen auf der Seite lag und ihr pinkfarbenes Spitzenhöschen lag immer noch da, wo sie es fallen gelassen hatte. Der Gedanke an eine Zigarette war völlig verschwunden. Er ließ sich quer aufs Bett fallen und schlief vor lauter Müdigkeit wieder ein. Die Nacht zuvor war wirklich zu kurz.
Völlig aus dem Schlaf gerissen wachte er nach 60 Minuten orientierungslos auf. Jemand klopfte an die Tür und es hörte sich an, als ob dieses Klopfen nicht mehr aufhören würde. Mit einem leichten Stöhnen kroch er aus seinem Bett.
„Jaaaa ich komm´ ja schon“, rief er und legte mit seiner rechten Hand seine dunklen, glatten Haare nach hinten, sodass sie ihm nicht mehr ins Gesicht hingen. Oft genug wollte er sich seine Haare abschneiden lassen, doch auch davor hatte ihn Alyssa gewarnt. Sie mochte seinen dunklen Dreitagebart und seinen dichten Haarwuchs. Besonders seinen langen Pony, der ihm an den Seiten entlang bis zu den Wangenknochen hing.
Kurz vor der Wohnungstür rief James nochmals: „Jahaaa, ich bin ja da“ und fügte etwas gereizt hinzu, als er die Tür aufgemacht hatte „was ist denn los???“
Vor ihm standen ein Herr, der schon die 50 weit überschritten hatte und eine Dame, die ungefähr, wie James, um die dreißig war. Im Gegenteil zum älteren Herrn, der einen dunkelblauen Anzug anhatte, trug sie eine Jeans, ein paar weiße Adidasschuhe sowie ein grünes Hemd und eine braune Lederjacke. „Sind Sie Monsieur Steel?“, fragte der grauhaarige Herr.
„Ja, bin ich. Sie wünschen?“
„Dürften wir Sie einen Augenblick sprechen?“
„Das tun Sie ja schon“, antwortete James und lächelte.
Die beiden Beamten sagten nichts und sahen ihn einfach nur an.
„Zuerst sagen Sie mir doch bitte mal, worum es überhaupt geht. Wären Sie so nett, hm?“
James fing an etwas provokant den beiden gegenüber zu werden.
„Das ist Kommissar Louis Levevre und ich bin Hauptkommissarin Gabriele Dumond“, sagte die Dame und hielt James ihren Ausweis entgegen.
Für kurze Zeit war er sprachlos und überlegte, ob er sein Auto richtig geparkt hatte oder ob es in der Nacht gestohlen wurde und die Pensionsbesitzer die Polizei informiert hatten.
„Monsieur Steel, dürfen wir bitte rein kommen?“, fragte die Dame nochmals.
James ging zur Seite und sagte stotternd: „Ja, ja, bitte, aber ich bin gerade erst aufgestanden und meine Frau ist joggen. Ich kam noch nicht dazu, die Wohnung aufzuräumen.“
Zurück in der Wohnung fiel sein erster Blick aus dem Fenster, um zu sehen, ob sein Auto noch stehen würde, sah dann beide Kommissare an und überlegte, was sie genau wollten.
„Können Sie mir nun vielleicht mal verraten, was los ist?“
„Monsieur“, sagte der Herr und stoppte, sah seine Kollegin, die neben ihm stand an, blickte kurz zum Boden und suchte nach Worten. „Es fällt mir nicht leicht, Ihnen das zu sagen. Es geht um Ihre Frau. Sie... Sie hatte... einen Unfall. Sie liegt im Hospital.“
„Was ist mit ihr?“, fragte James und war sich in diesem Moment nicht sicher, ob man ihm einen bösen Streich spielen wollte. Als er aber merkte, mit welchen ernsten
Blick die Kommissare ihn ansahen, wurden seine Falten im Gesicht immer tiefer. „Was ist nun mit meiner Frau?“, fragte er nochmals und sah beide abwechselnd und fragend an.
„Ihre Frau hatte einen Unfall. Sie liegt im Hospital“, antwortete die junge Kommissarin.
Sprachlos stand er vor den Beamten. Dann fragte er ungläubig: „Unfall? Was für einen Unfall und wieso?“ „Was ist mit ihr passiert? Wie geht es ihr?“
„Setzen Sie sich bitte, Monsieur Steel und wir werden Ihnen alles, was wir bis zum jetzigen Zeitpunkt wissen, erklären“, sagte die Beamtin mit ruhiger und fürsorglicher Stimme.
„Ihre Frau liegt im Universität Hospital Leuven und es geht ihr den Umständen entsprechend“, fuhr der ältere Kommissar fort, als er sich vor James auf einen freien Stuhl setzte.
„Den Umständen entsprechend? Was heißt denn, „den Umständen entsprechend““, rief James und die Beamten merkten, dass er langsam die Kontrolle verlor. „Und wieso in Leuven? Können Sie mir bitte sagen, was mit meiner Frau ist und wie es ihr geht?“
Ihre Frau hatte einen schweren Unfall.“
„Einen schweren Unfall?“, fragte er gereizt. „Sie war doch nur kurz raus, um zu joggen“, rief er.
„Das wissen wir bereits von Zeugenaussagen. Doch Ihre Frau musste einem Auto ausweichen.“
„Einem Auto ausweichen? Verdammt sagen Sie mir jetzt endlich, was mit meiner Frau passiert ist und wie es ihr geht und hören Sie auf, mir scheibchenweise zu erzählen.“
James Tonlage wurde immer höher.
„Monsieur, ich verstehe Ihre Reaktion, doch bitte versuchen Sie, Haltung zu bewahren“, sagte der Kommissar und versuchte James zu beruhigen. Die Stimme des Beamten ähnelte der eines Seelentrösters. Psychologie stand für die Kommissare nun an erster Stelle.
„Ein Auto kam ihrer Frau auf der Au Château de Saint Hadelin entgegen. Laut Augenzeugen kam dieses immer mehr von seiner Fahrtrichtung ab. Ihre Frau konnte nur noch rechts in eine Böschung springen, um nicht erfasst zu werden.“
Dann war es für kurze Zeit still, in der James beide Kommissare weiterhin fragend ansah.
„Was Ihre Frau nicht wusste, Monsieur, war ...“, der Kommissar machte wieder eine kleine Pause und sprach anschließend aus näherer Entfernung und mit einem tiefen Blick auf James gerichtet weiter, „...was sie nicht wusste, war, dass sich hinter dieser Böschung eine Baustelle befand und dass es dort ca. 4 Meter in die Tiefe geht.“
James sagte nichts mehr und sein Blick wanderte nervös in alle Richtungen.
„Wäre sie an einer anderen Stelle von der Fahrbahn gesprungen, hätte sie, wenn überhaupt nur leichte Prellungen gehabt, da es dort ohnehin nur Weiden und Wiesen gibt. Aber es passierte ausgerechnet an dieser Stelle.“
Der Kommissar machte wieder eine kleine Pause, damit James all das erst mal verstehen konnte, was er bis dahin gesagt hatte. Seine Begleiterin stand mit besorgtem Blick hinter James und sah sich immer wieder ein wenig im Zimmer um.
„Ihre Frau schlug sehr unglücklich mit dem Kopf auf“, fügte der Beamte noch hinzu. „Ein Hubschrauber brachte sie auf dem schnellsten Weg ins Universitäts- Krankenhaus.“
„Wie geht es ihr?“, fragte James mit leiser Stimme.
„Viel wissen wir nicht, doch wir wissen, dass sie lebt. Die Ärzte konnten uns noch keine große Auskunft geben, doch sobald es Neuigkeiten geben sollte, werden wir Sie schnellstens benachrichtigt.“
„Ich möchte zu ihr.“
„Leuven liegt über hundert Kilometer entfernt. Meinen Sie, Sie schaffen das, dorthin zu fahren? Oder möchten Sie sich nicht besser hinlegen und sich erst einmal beruhigen? Ich könnte Ihnen einen Arzt kommen lassen, der Ihnen was zur Beruhigung gibt.“
„Wie kann ich mich jetzt beruhigen, wo meine Frau hundert Kilometer weiter weg im Krankenhaus liegt und mich braucht, können Sie mir das verraten? Würden Sie das können?“
Der Kommissar sagte nichts und an seinem Kopfnicken konnte James erkennen, dass der Beamte ihm recht gab. Dann reichte er James seine Karte. „Wann immer Sie noch Fragen haben, zögern Sie nicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Sollten wir Neuigkeiten erfahren, so lassen wir Ihnen diese umgehend zukommen. Wir gehen davon aus, dass Sie nicht nach Schottland zurückkehren und Ihrer Frau in Leuven beistehen wollen. Bitte benachrichtigen Sie uns aber, sobald Sie Ihren Aufenthaltsort wechseln.“
James nahm seine Karte und nickte wortlos. „Eines noch“, fragte er abschließend. „Was ist mit dem Fahrer? Warum ist er von der Straße abgekommen?“
Mit seiner kratzigen Stimme antwortete der Kommissar: „Er hatte während der Fahrt einen Zuckerschock und verlor die Kontrolle über sein Auto. Er ist soweit unverletzt.“ Beim Verlassen des Zimmers fügte er noch hinzu: „Viel Glück, Monsieur.“
Einen Augenblick später hörte James, wie die Tür sanft zugezogen wurde. Er ließ alles noch einmal sacken und konnte es immer noch nicht richtig glauben. Um sich etwas zu beruhigen, griff er zu seinen Zigaretten, riss die Schachtel auf und zündete sich eine an. Dabei zitterten seine Hände vor lauter Aufregung und er schmiss, nach Anzünden einer Zigarette, das Feuerzeug in die hinterste Ecke des Raumes. Dann schnappte er sich das Telefon und fragte beim Pensionsbesitzer nach, ob sie vielleicht ein Hotel in Leuven für ihn ausfindig machen könnten und bat gleichfalls, die Rechnung fertigzustellen. Die Besitzer, ein liebevolles Ehepaar, erklärten sich selbstverständlich dazu bereit. Normalerweise bestanden sie auf die komplette Rechnung für die gebuchte Wohnung, sollte ein Gast vorzeitig abreisen, doch nicht in diesem Notfall. Außerdem kannten sie das Ehepaar Steel sehr gut.
James packte nervös die Koffer, fiel in Gedanken und stoppte, als er Alyssas Kleider aus dem Schrank in den Koffer legen wollte. Sie war es, die alles sorgfältig am Tag nach ihrer Ankunft noch mal in den Schrank gelegt hatte, nachdem sie mit James meckern musste, wieso er die Kleider und seine Anzughosen sowie Hemden ohne System in den Schrank legte bzw. hing. Sie bestand immer darauf, dass die Kleidung fein und säuberlich aufgehängt wurde.
Mit den Taschen um seine Schultern und in jeder Hand einen Koffer ging er hektisch zum Auto und verstaute alles im Kofferraum. Nachdem er die Rechnung für die letzten fünf Tage Urlaub mit seiner Karte bezahlt hatte, wünschten ihm die Besitzer alles erdenkliche Gute und überreichten ihm die Adresse eines Hotels, wo sie bereits ein normales Zimmer für James gebucht hatten. Es fiel ihm schwer, ihnen etwas Freundlichkeit entgegenzubringen und machte sich sofort auf dem schnellsten Wege ins über 100 Kilometer entfernte Leuven.
Unzählige Zigaretten qualmte er, als er die E411 entlang fuhr und musste zwischendurch etwas schmunzeln, da er Alyssas Stimme innerlich hörte, er solle das verfluchte stinkende Ding ausmachen. Aber diese Gedanken hatte er nur für Bruchteile von Sekunden und schnell waren auch die Gedanken wieder da, die überwogen. Wie ging es Alyssa? Seine Augen waren feucht und seine Wangen zuckten. Er musste mehrmals einen Weinkrampf zurückhalten und drehte die Musik auf volle Lautstärke. Obwohl er nicht wirklich wusste, wie es Alyssa ging, kam in ihm ein Gefühl des Verlusts auf. James ging vom Schlimmsten aus und machte sich selbst verrückt. Sein Haar wehte im kalten Wind, doch frische Luft brauchte er jetzt und ließ das Fenster weiterhin halb runter. Er zitterte vor Kälte und Schock, als er zwischendurch auf den kleinen Zettel sah, worauf die Wegbeschreibung stand, die ihm das freundliche Pensionspaar aufschrieb. Das kleine Stück Papier flatterte leicht zwischen seinen Fingern, bis er es wieder weglegte und die nächste Zigarette anmachte.
Die halbe Schachtel Zigaretten war schon leer, als er vor dem Pentahotel in Leuven parkte. Es lag auf dem Weg zum Krankenhaus und er wollte sich wenigstens eben anmelden. Er sprang aus seinem schwarzen Mercedes, eilte zur Rezeption, erklärte den Pagen seine Lage und bekam mit den Worten „Sie können jeder Zeit Ihr Zimmer nutzen“ den Schlüssel überreicht. Nachdem der Page die Kreditkartennummer in den Computer eingegeben hatte, stieg James schnell wieder ins Auto und fuhr zum Universitäts-Krankenhaus.
Als er dort ankam, sah er ein riesiges Gebäude und ihn nervte die anschließende Parkplatzsuche.
Schnell sprang er aus seinem Auto und rannte ins Krankenhaus. An der Anmeldung informierte er sich schon über seine Frau und wurde ohne Information und nach einer kurzen Wartezeit von einem Arzt empfangen. „Monsieur Steel?“, fragte jemand im weißen Kittel, der plötzlich vor James stand.
James saß in einer Sitzecke auf einer Bank wie ein Häufchen Elend. Mit gesenktem Kopf, der fast auf seinen Knien lag, und auf dem im Nacken seine Hände zusammen gefaltet waren.
„Ja, hier“, rief er verstört und sprang von der Bank auf.
Sein weißes Hemd ragte teilweise zerknittert aus seiner schwarzen Anzughose und frisch sah er auch nicht mehr aus.
„Ich bin Dr. de Broqueville“, sagte ein grau haariger älterer Herr und gab James seine Hand. „Bitte kommen Sie, wir gehen in mein Büro.“
Für James dauerte es eine halbe Ewigkeit bis sie endlich dort ankamen.
„Setzen Sie sich doch bitte“, sagte der freundliche Arzt, nachdem sie sein kleines Büro betraten und zeigte mit seiner Hand auf den dunkel gepolsterten Stuhl, der vor seinem Tisch stand.
James brauchte gar nicht nachfragen, wie es um Alyssa stehen steht, Dr. de Broqueville klärte ihn im selben Atemzug auf.
„Ihre Frau hat schwerste Kopfverletzungen. Wir haben sie in eine Langzeitnarkose versetzt.“
„Langzeitnarkose?“, fragte James.
„Ein künstliches Koma. Durch diese Bewusstseinsminderung wird ihr Organismus entlastet, sodass der Körper besser mit dieser Stresssituation, in der er sich gerade befindet, fertig werden kann.“
„Und das heißt?“
„Sehen Sie, Monsieur Steel... bei schweren Unfällen reagiert der Körper oft panisch. Natürliche Rettungssysteme, die der Körper herstellt, werden durch Anforderung an Heilung lebenswichtiger Prozesse völlig überfordert. Im Körper kommt es zum schweren Stress, sodass ein lebensbedrohlicher Zustand eintreten kann. Manche Opfer werden dadurch bewusstlos, aber mit dieser natürlichen Reaktion schützt sich der Körper nur selbst. Todesängste und Gedanken werden nicht mehr wahrgenommen und der Körper kann sich daher auf Wichtiges konzentrieren. Nämlich auf Heilung und Reparatur. Das gleiche erfüllt auch eine Langzeitnarkose, sprich ein künstliches Koma.“
„Also brauche ich mir nicht allzu große Sorgen machen?“
„Lieber Monsieur. Ein Schädelhirntrauma ist eine Schädelverletzung mit Gehirnbeteiligung. Ihre Frau hat schwere Blutungen im Gehirn und wurde bereits operiert. Wir können jetzt nur noch warten, wie es sich entwickelt und das Bestmögliche für sie tun. Momentan ist es aber für uns sehr schwierig, die Sache abzuschätzen. In der Akutphase und fast vollständiger Genesung gibt es eine große Bandbreite, und da die Auswirkung der Verletzung so unterschiedlich sein können, wird jedes Trauma nach Schweregrad eingeteilt. Wenn Ihre Frau Glück hat, und das hoffen wir alle für Sie, Monsieur, kommt sie mit Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörungen davon.“
„Und im schlimmsten Fall?“, fragte James.
„Lassen Sie uns positiv an die Sache herangehen.“
Er wusste sofort, was der ältere Herr ihm damit sagen wollte und fragte: „Darf ich zu ihr?“
„Ich bringe Sie gleich hin, einen Moment bitte.“
Nachdem der Arzt einige Unterlagen sortiert hatte, machte er Anzeichen, dass ihn James folgen solle. Auf der Intensivstation angekommen, zog James sich, nach Aufforderung des Arztes, einen weißen Anzug über, um keine Bakterien zu verbreiten.
„Eines noch“, sagte de Broqueville, „wenn Sie das Zimmer betreten, müssen Sie stärker als stark sein. So, wie sie ihre Frau kennen, so sieht sie zurzeit nicht aus. Ihr Gesicht, wie auch ihre Augen sind angeschwollen. Dazu ist 90 % ihres Gesichts blau, rot und gelb von all den Blutergüssen und Schnittwunden. Bitte erschrecken Sie nicht allzu sehr und seien Sie stark. Natürlich wird all das, was ich Ihnen gerade aufgezählte habe, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu sehen sein, wenn sie sich erholt hat und gesundet ist.“
James nickte nur, holte tief Luft, zog sich seinen Mundschutz über und betrat gemeinsam mit dem Chefarzt Alyssas Einzelzimmer.
„Um den Organismus möglichst zu schonen, werden bei einem künstlichen Koma wesentlich weniger Narkosemittel verabreicht, als bei einer echten Narkose. So können wir Schlaf- Wachrhythmus einigermaßen beibehalten. Da die Narkose nur leicht ist, ist die Wahrnehmung nicht vollständig ausgeschaltet. Reden Sie mit Ihrer Frau, Monsieur. Wir wissen, dass es eine Wirkung auf sie haben wird, da uns schon einige Opfer berichteten, dass sie Nahestehende wahrgenommen haben.“
James Blick ging schon lange nicht mehr zum Arzt sondern nur noch auf Alyssa, wie sie dort im Bett mit senkrecht ausgestreckten Armen auf ihrem Rücken lag. Er nahm alles um sich herum doppelt so wahr wie sonst, so aufgewühlt war er. Am liebsten wäre er weinend auf Knien vor ihrem Bett gefallen, doch er musste sich zusammen reißen um positiv zu denken.
„Ich lasse Sie jetzt allein mit ihrer Frau“, sagte der Arzt mit leiser Stimme und verließ das Zimmer.
Eine Weile blieb James noch an der Stelle stehen, wo er und Dr. de Broqueville standen. Es war unfassbar für ihn und er stand kurz vor einer Ohnmacht.
„Schatz, ich bin´s, James“, sagte er, als er sich nach einer Minute zu ihr an das Bett setzte. „Ich weiß, du hörst mich. Alles wird wieder gut, nur du musst dich ein wenig ausruhen.“ Er stoppte, um leise zu weinen, riss sich aber sofort wieder zusammen und sprach weiter: „Als ich dir heute Nacht sagte, dass ich dich liebe, war es nicht die Wahrheit. In Wirklichkeit liebe ich dich so unbeschreiblich. Egal, was kommen wird.
Ich werde immer an deiner Seite sein. Immer.“
Er streichelte ihre Hand und sah jetzt erst, wie viele Zugänge in dieser steckten, durch die jede Menge Medikamente flossen. Sanft streichelte er ihre Finger während er sie ansah. Ihre oberste Kopfhälfte war bis unter den Augenbrauen verbunden und sie sah aus, wie der Doktor sie vorher beschrieben hatte. Ihr Gesicht und vor allem ihre Augen waren so sehr angeschwollen, wie er es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.
Auf der dünnen weißen Bettdecke reflektierte das Tageslicht, das durch das kleine Fenster auf der gegenüberliegenden Seite hinein schien. Ihr Brustkorb bewegte sich im Takt der Beatmungsmaschine und James sprach innerlich zu Gott: „Warum hast du ihr das angetan?“
In Gedanken saß er vor ihr und wünschte, dass beide ihre Plätze tauschen könnten und er, anstatt sie, dort liegen würde. Aber würde ihm das wirklich gefallen, dass Alyssa an seiner Stelle dort weinend sitzen würde um ihm seine Hand zu halten? Nein! Egal, welches Szenario ihm vorschwebte. Er könnte Alyssa niemals in all den Qualen und in sich zusammen gesunken, weinend vor ihm sitzen sehen. Genauso wenig konnte er es sehen, wie sie dort in ihrem Bett lag und litt.
„Weißt du noch, als wir uns kennenlernten? Als wir uns zum ersten Mal ansahen? Ich denke jeden Tag daran.“
Dann weinte er leise vor sich her.
„Und... und du weißt, womit du mich heute immer noch aufregen kannst“, sagte er lachend und zog seine Nase hoch. „Wie oft habe ich dir gepredigt, dass, wenn du Fotos machst, du nicht das Objektiv zwischen Staub und dem sonstigen Dreck wechseln sollst.“
Er lachte mit feucht roten Augen.
„Jedes Mal, egal wo, hast du dein Objektiv erst an Ort und Stelle installiert, anstatt, wie es vernünftig ist, im geschlossenen Raum in dem es sauber ist. Ich glaube, du hast es immer extra getan, damit du über meine Art lachen konntest, wie ich mich darüber aufregte, nicht wahr? Ich weiß, selbst jetzt lachst du darüber, aber es zählt zu den Dingen, die ich an dir liebe. Deine kleine kindische und störrische Art.“
Nach einer kurzen Pause wurde sein Weinen unkontrolliert lauter.
„Ich liebe dich, bitte komm wieder zu mir. Bitte, mach deine Augen wieder auf. Ich möchte, dass alles wieder so ist wie es war.“
Langsam legte er seinen Kopf auf den Rand des Bettes und fühlte seine Erschöpfung. Es war, als wäre er an einem Punkt, an dem er nichts mehr verkraften könnte und innerlich um Hilfe schrie.
„Weißt du noch unser erster gemeinsamer Urlaub auf Kreta? Wir hatten uns am ersten Tag verlaufen, als wir zum Meer wollten, und ich musste dich auf meine Schulter nehmen, weil du keine Schuhe getragen hattest und der Asphalt immer heißer wurde. Wenn ich heute noch daran denke, spüre ich meine Schulter nicht mehr. Ganze vier Kilometer hattest du auf mir gesessen.“
James lächelte gequält und erzählte leise weiter: „Oder, als wir mit unseren geliehenen Motorrollern durch die Berge fuhren, und ich am anderen Tag wie eine Qualle aussah. Klar, es war bewölkt, doch ich ahnte ja nicht, dass man sich solch einen Sonnenbrand in den Bergen zuziehen kann. Und ich wunderte mich zuvor, warum du eine lange Jeanshose und ein Longshirt angezogen hattest. Die Tage danach lag ich wie eine Qualle am Strand im Schatten, weißt du noch?“
Für einen Moment war James wieder in einer normalen Welt, wenn auch nur gedanklich. Aber als er aufhörte, sich zu erinnern, fiel er wieder zurück in die Realität und ihm ging das kleine verträumte Lächeln in seinem Gesicht verloren.
Plötzlich ging die Tür auf. Eine Schwester kam hinein und überprüfte die Geräte und Anschlüsse. „Alles in Ordnung, Monsieur?“, fragte sie behutsam, als sie neben ihm stand. „Möchten Sie hier schlafen?“
„Ja, würde das denn gehen?“
„Ich müsste es nur wissen, damit ich Ihnen einen Schlafplatz zurechtmache.“
„Das wäre sehr nett von Ihnen. Vielen Dank, Schwester.“
Mittlerweile war schon Mitternacht vorüber und James lag auf halber Höhe auf seinen Liegesessel gegenüber von Alyssas Bett. Nur mit einer weißen Decke bedeckt und blickte er starr auf seine Frau. Er lag direkt neben dem Fenster und, obwohl es geschlossen war, hörte er, wie das Wetter draußen immer stürmischer wurde und wie der Regen gegen die Scheiben peitschte. Ein sanftes kaltes Licht fiel auf Alyssas Gesicht von der Lampe, die über ihrem Kopf an der Wand hinter ihrem Bett befestigt war. Ansonsten war der restliche Raum dunkel. James sah sie an und wartete auf den Moment, in dem sie ihre Augen bewegen würde oder sonst einen Körperteil. Er fixierte sie mit seinen Augen, doch tief in der Nacht schlief er vor lauter Erschöpfung ein und bemerkte nicht mal, wenn die Nachtschwester stündlich zur Kontrolle das Zimmer betrat und das Licht an machte. Selbst die Geräusche der Beatmungsmaschine konnten ihn nicht hindern durchzuschlafen. Seine Psyche quälte ihn mit den allerschönsten Träumen, die man haben kann, doch die in dieser Situation niemand leicht verkraftet. Egal, von was er träumte, Alyssa spielte die Hauptrolle.
Am nächsten Morgen wachte er auf, setzte sich an ihr Bett, begrüßte sie, gab ihr einen Kuss auf ihre Wange und sprach mit ihr. Ohne sich etwas frisch zu machen, ging er anschließend nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Sollen die Leute über mich denken, was sie wollen, dachte er sich, als er völlig zerknittert unausgeschlafen und mit durchwühlten Haaren vor dem Krankenhaus stand. Auf dem Rückweg suchte er ein Münztelefon auf, um Alyssas Mutter zu benachrichtigen. Es war ihr einziges Kind und egal, was Alyssa je seit ihrer Kindheit an Krankheiten hatte, ihre Mutter machte sich schon bei der kleinsten Kleinigkeit allergrößte Sorgen. Und nun bekam sie solch eine Nachricht und fiel während des Telefonats in Ohnmacht. Ihr Glück war, dass ihr Mann, Alyssas Vater, zu Hause war, der sich sofort um sie kümmern konnte. Nach dem Gespräch mit seiner Schwiegermutter ging James zurück zu seiner Frau, doch dort ließ man ihn nicht rein.
„Halt, Sie können da jetzt nicht rein“, sagte eine Schwester und hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
„Warum?“, fragte er verwundert, „Ich war doch die ganze Nacht am Bett meiner Frau.“
„Ich weiß, aber dort findet gerade eine Untersuchung statt. Bitte setzen Sie sich dort auf den Stuhl und sobald die Ärzte heraus kommen, können Sie denen auch Ihre Fragen stellen.“
Wortlos setzte sich James kerzengerade auf den dunkelblauen Plastikstuhl, der an einer beige gestrichenen Wand montiert war, legte seine Hände auf seine Knie und starrte, Kerzen gerade sitzend, auf die Zimmertür. Zwanzig Minuten lang saß er dort. Zwanzig Minuten, in denen er nur für kurze Zeit drei Mal nach links und rechts schaute. Ansonsten starrte sein Blick immer nur auf die Tür des Krankenzimmers. Dann wurde sie geöffnet und es kamen drei Ärzte und zwei Schwestern heraus, doch Dr. de Broqueville war nicht dabei. Schnell stand er auf und ging mit zwei Schritten auf sie zu. „Guten Morgen“, sagte er mit einer erschöpften, aber doch freundlichen Stimme. „Ich bin James Steel. Können Sie mir bitte etwas Neues über meine Frau sagen?“, fragte er flehend.
„Guten Morgen, Monsieur. Insgesamt können wir froh sein, dass wir ihre Temperatur halten können. Ich kann Ihnen leider nichts Neues sagen.“
James nickte, während der Arzt langsam an ihm vorbeiging um zum nächsten Patientenzimmer zu gelangen. Ohne auch nur einen Gedanken stand er einsam und verlassen auf dem langen schmalen Flur vor Alyssas Zimmer und hörte durch die Lautsprecher, wie eine Frauenstimme nach einem Arzt ausrief. Es war für ihn ein Gefühl, als ob er der einsamste und hilfloseste Mensch auf der ganzen Welt sei. Langsam, betrat er das Zimmer, machte die Zimmertür zu und ging in den Raum. Während er mit seiner Frau sprach und dabei tat, als ob seine ganze Welt in Ordnung sei, öffnete er den Schrank, worin sich eine weiße Plastiktüte befand. Als er diese öffnete, überkam ihn ein Schauer. In dieser befand sich Alyssas Kleidung und oben drauf lag ihr Walkman, den sie ihm zwei Tage zuvor noch mit einem Lächeln unter die Nase hielt. Richtig in die Tüte hinein zu schauen traute er sich nicht und machte die Schranktür schnell wieder zu. Dann setzte er sich wieder zu ihr ans Bett und streichelte ihre Hand. Obwohl er in der Nacht geschlafen hatte, machte er einen müden und fertigen Eindruck, als er, wie am Vortag, neben Alyssa saß und ihr Erinnerungen aus naher Entfernung erzählte.
*
Drei Tage saß James an ihrem Bett, bis er schließlich am vierten Tag zu seinem Hotel fuhr, wo er zum ersten Mal sein Zimmer betrat. Er brauchte unbedingt eine Dusche und musste sich frische Sachen anziehen. Die Koffer stellte er inmitten des Hotelzimmers ab, das sehr stilvoll eingerichtet war. Zwar stand dort nicht viel Mobiliar drin, aber es hatte etwas von Luxus. Drei Wände waren schlicht in Weiß, die Kommode, wie auch die beiden Stühle, die daneben standen, waren schwarz. Auf der anderen Seite des schwarzen Bettes befand sich ein dunkelbrauner Wandschrank, dessen Türen man seitlich aufziehen musste. Der Panoramablick aus seinem Zimmer auf die Stadt Leuven war unglaublich, denn direkt gegenüber des Bettes, worauf weißes Bettzeug lag, befanden sich riesige Fensterscheiben, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, wie auch von der einen bis zur anderen Wand. Vom Zimmer aus rief James seine Schwiegereltern noch einmal an, um nachzufragen, wann sie nach Leuven kommen würden und wie es seiner Schwiegermutter ginge. Er erfuhr, dass Alyssas Mutter, wie sie im Krankenhaus liegt, aber dass es ihr schon wieder besser ginge. Seinem Schwiegervater musste er alles noch mal ohne etwas auszulassen, erklären, wie der Unfall nur passieren konnte und wie der Zustand seiner Tochter war. „Ich muss wieder ins Krankenhaus“, sagte James am Ende des Gesprächs. „Ich werde mich sofort bei euch melden, sobald es etwas Neues gibt. Das Wichtigste wisst ihr ja nun.“
Ohne zu wissen, wann und ob seine Schwiegereltern nun kommen würden, verabschiedete er sich und legte den Hörer auf.
Auf dem Weg ins Krankenhaus machte er einen kurzen Stopp, um für Alyssa eine kleine Stereoanlage zu kaufen, damit sie etwas Musik hören konnte. Einen Tag ohne Musik kam bei ihr niemals vor. Der Arzt riet ihm, mit ihr zu sprechen, also warum sollte da nicht auch Musik helfen?
Gerade, als er ihr Zimmer betreten wollte, kam ein Herr im weißen Kittel dort heraus. Wieder ein neues Gesicht, dachte sich James.
„Ah, Sie sind Monsieur Steel?“
„Ja, der bin ich.“
„Ich bin guter Hoffnung, dass es Ihrer Frau bald wieder gut gehen wird. Machen Sie sich keine großen Sorgen“, sagte der noch recht junge Arzt und ging wieder.
Völlig erleichtert betrat James das Zimmer, atmete einmal tief ein und mit dicken Wangen wieder aus. Er freute sich über diese Nachricht. Lieber Gott, ich danke dir, war sein Gedanke und überbrachte die neue Nachricht seiner Frau. Euphorisiert packte er das kleine Stereogerät aus und stellte es auf den kleinen Tisch, neben dem er schlief und worauf eine Vase mit frischen Blumen stand. Er war so froh über diese Nachricht und dachte an Alyssas Worte, dass sie bisher keinen Tag mit ihm bereut hatte. Er holte ihren Walkman aus der Tüte, nahm die CD heraus, legte diese in die kleine Anlage und drückte auf Play. Aus den Lautsprechern hörte er ihr Hochzeitslied und in Gedanken versunken sah er jeden Tanz, den sie mit ihm auf dieses Lied tanzte. Er saß neben Alyssas Bett und lächelte ihr verträumt zu. Er wusste nun, dass alles wieder gut werden wird und sich seine alte Welt bald wieder in der richtigen Bahn drehen würde. Als das dritte Lied der CD anfing, wunderte sich James, denn es war schon wieder ihr Hochzeitslied. Er stand mit dem Gedanken auf, dass die CD vielleicht defekt sei, aber als er auf das Display sah, stand dort Track 3. Irgendwann hatte er 10 Tracks gehört und davon fünf Mal „When I see you smile“. Er drückte jeden weiteren Track weg, um sich den nächsten anzuhören und immer wieder war der jeweilige zweite Track von „Bad English - When I see you smile“. Insgesamt befanden sich 42 Lieder auf der MP3 CD davon 21 Mal ihr Hochzeitslied. Er schüttelte lächelnd seinen Kopf, beugte sich vorsichtig über ihr Gesicht und gab ihr einen Kuss auf ihrer blauen Wange.
Wieder war er kurz davor zu heulen.
Der Tag ging schneller vorüber als die letzten drei, an denen er nicht wusste, wie es um seine Frau stehen würde. Es fiel ihm leichter, etwas zu essen und der Schlaf kam am Abend schneller über ihn als die Tage zuvor, so müde war er.
Am anderen Tag wachte er auf, begrüßte wie jeden Morgen Alyssa mit einem Kuss, redete mit ihr und ging eine rauchen. Auf dem Weg zurück besorgte er sich einen Kaffee und nutzte anschließend die Treppe zur Station, weil es ihm zu lange dauerte, bis der Aufzug kam. Jedoch stolperte er auf der letzten Treppenstufe und begoss sein frisches Hemd mit seinem Kaffee. „Du bist aber auch ein Tollpatsch.“ Dieser Satz, den Alyssa immer sagte, wann immer er sich bekleckerte, kam ihm sofort in den Kopf geschossen. Genau das Tollpatschige war unter anderem, was Alyssa an ihm liebte.
Am Nachmittag, als zwei Ärzte das Zimmer betraten, fragte James nach Dr. de Broqueville.
„Oh, der Doktor ist zurzeit im OP. Tut mir leid“, antwortete einer der Ärzte.
Sie kontrollierten Alyssas Medikamente, sahen sich die Anzeigen auf den Maschinen an und machten ein paar Notizen. „Bitte verlassen Sie für eine Weile das Zimmer, da wir Ihre Frau untersuchen möchten und auch ihre Verbände wechseln müssen“, bat eine junge Krankenschwester.
„Oh...OK ... ich fahre dann am besten kurz ins Hotel, um mir ein frisches Hemd anzuziehen. Wie Sie sehen, meines habe ich heute eingesaut“, antwortete James und deutete dabei auf seinen Fleck. „Ich bin schon so erschöpft, dass ich den Kaffee nicht mehr halten kann.“
„Tun Sie das“, antwortete die Schwester und lächelte freundlich.
Nach Verlassen des Zimmers schaute er sich noch einmal um, und verabschiedete sich mit einem Blick von Alyssa, bevor er die Tür schloss zog. Freundlich meldete er sich im Schwesternzimmer ab und fuhr ins Hotel, wo er sich ein frisches Hemd anzog, die gute Nachricht seinem Schwiegervater überbrachte, die ihm der Arzt am Vortag mitteilte und legte sich auf sein Bett auf dem er erst viele Stunden später hochschreckte. Hektisch sah er zur Uhr und kurz darauf aus dem Fenster. Es war schon dunkel draußen und außerdem stürmisch. Er konnte es nicht glauben, dass er so lange geschlafen hatte.
Sofort machte er sich auf dem Weg. Es regnete heftig, als er vor dem Krankenhaus parkte.
Freundlich grüßte James jeden Arzt und jede Schwester, die an ihm vorbei kamen, als er auf den Fahrstuhl wartete. Auf der Station angekommen, kam ihm eine junge Schwester entgegen, die ihn bat, sich zu allererst bei Dr. de Broqueville im Büro zu melden. Er bedankte sich für die Auskunft und klopfte wenig später an die Tür des Doktors.
„Monsieur Steel, kommen Sie bitte herein“, sagte er, als er James an der Tür empfing.
„Guten Abend, Doktor de Broqueville.“ James lächelte freundlich. „Eine Schwester sagte, ich solle mich bei Ihnen melden. Können Sie mir was Neues über meine Frau sagen? Gestern kam ein Arzt aus ihrem Zimmer und sagte, er sei guter Dinge und ich bräuchte mir keine großen Sorgen machen.“
„Nun... Monsieur Steel“, sagte de Broqueville im ruhigen Ton, „es ist egal, wie ich Ihnen das jetzt sage, ...aber Ihre Frau ist vor zwanzig Minuten verstorben.“
„W... Was?“
James schluckte, als ihm alles aus seinem Gesicht fiel.
„Ihre Frau hat gekämpft, das kann ich Ihnen ohne Zweifel sagen. Aber ihr Herz hörte plötzlich auf zu schlagen.“
„Das... das kann... nicht sein. Bitte... bitte sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist. Der Arzt sagte mir doch...“
Wieder saß James dort wie ein Häufchen Elend, wollte immer wieder etwas sagen, doch brachte außer einem Stottern keinen Ton heraus. Er wusste nicht, ob er weinen oder durchdrehen sollte. Sollte er das Büro des Doktors auseinandernehmen oder sollte er schreien? Sollte er Gott danken, dass er sie erlöst hatte oder sollte er Gott verfluchen, dass er sie ihm genommen hatte? Alles ging durch seinen Kopf. Auch Gedanken, dass er alles nur träumen würde. Ein Albtraum.
Eine Zeit lang sah der Arzt ihn an.
„Monsieur, wir haben alles Erdenkliche versucht, Ihre Frau zu retten.“
De Broqueville fiel auf, dass sich James vor ihm veränderte. Seine Gesichtszüge waren plötzlich wie die eines anderen Menschen und sein Blick war eher Furcht einflößend, voller Hass. Sofort rief der Chefarzt durch seine Sprechanlage eine Schwester zu sich, sie solle doch Promethazin Tropfen bei ihm vorbei bringen. Nicht mal eine Minute später, betrat sie das Zimmer und stellte das Medikament auf den Tisch.
„Bleiben Sie bitte, Schwester Marie“, forderte der Arzt die junge Schwester auf.
„Monsieur? Hören Sie mich?... Monsieur??“
James schaute mit gesenktem Kopf auf den Fußboden. Nur sein eiskalter, leerer Blick ging zum Arzt.
„Sie müssen stark sein James. Hören Sie?“
De Broqueville merkte, dass er etwas aus seinem Privatleben erzählen sollte, um James, soweit es ging, ein vertrauteres Gefühl zu geben.
„Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen, ich habe vor zwei Jahren meine Frau verloren. Sie hatte einen Schlaganfall. Es fällt mir vielleicht etwas leichter, mit dem Tod umzugehen, aber ich habe auch Gefühle. Es ist immer schwer, jemanden gehen zu lassen, wenn man eine glückliche Zeit hatte. Vor allem, wenn man noch so jung ist wie Sie.“
James schwieg immer noch, aber schaute de Broqueville weiterhin durchgehend an.
„Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel mit. Nehmen Sie das, sobald sie in Ihrem Hotel angekommen sind. Hören Sie, James? Nehmen Sie sofort 50-60 Tropfen, doch fahren Sie danach unter keinen Umständen mehr Auto. James? Hören Sie mir zu??“
Immer noch saß er schweigend vor dem Arzt.
„Ich stelle Ihnen noch ein Rezept aus. Es ist dasselbe Medikament, nur als Tabletten. Besorgen Sie sich diese. Ich werde Ihnen 100 Stück aufschreiben à 50mg. In Akutsituationen nehmen Sie die Tropfen. Die Wirkung verläuft schneller.“
Niemand sagte mehr etwas. Schwester Marie, wie auch der Arzt, beobachteten James besorgt.
„Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?“
Stille.
*
Als James am Tag darauf in seinem Hotelzimmer aufwachte, wusste er nicht mehr, wie er dort hingekommen war. Er hatte einen Filmriss, nachdem er seine Augen öffnete und noch komplett angezogen über Kreuz auf seinem Bett lag. Krampfhaft versuchte er, sich zu erinnern, doch es gelang ihm nicht. Es kam ihm vor, als wenn er all das geträumt hätte, was ihm Dr. de Broqueville erzählte und dass Alyssa noch am Leben wäre. Ja. Es konnte nicht anders sein. Es war alles nur ein Traum. Wie konnte es anders sein, dass er plötzlich, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen war, in seinem Hotelzimmer aufwachte? Er erinnerte sich, ein frisches Hemd anziehen zu wollen. Auch erinnerte er sich an das Telefonat mit seinem Schwiegervater und dass er sich danach auf sein Bett legte. Lieber Himmel, dachte er sich, was für ein Albtraum. Bitte, lieber Gott, quäle mich nicht weiter.
Er atmete tief durch, schüttelte kräftig seinen Kopf, um klarer zu werden und fühlte sich innerlich entspannter, nachdem er davon überzeugt war, alles nur geträumt zu haben. Auch wenn er gerade den schlimmsten Albtraum hinter sich hatte, den er je in seinem Leben träumte und nie mehr träumen wollte.
Bevor er zum Krankenhaus fahren wollte, machte er sich im Bad noch etwas frisch, indem er sich kaltes Wasser ins Gesicht schlug, seinen Nacken abkühlte und eine Handvoll Wasser in seinen Haaren verteilte. Dann schaute er mit seinen Händen auf dem weißen Waschbecken abgestützt, in den Spiegel, während das Kranwasser weiter lief. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er sich tagelang nicht mehr rasiert hatte. Und nachdem er sich seine Augen genauer ansah, fielen im sofort die roten kleinen Äderchen wie auch seine dicken Tränensäcke auf. James sah völlig fertig aus. Er begutachtete sich weiter im Spiegel und sah, wie das Wasser an seinem Bart und seinen dichten Haaren abperlte und ins Waschbecken tropfte. Er brauchte etwas, um fitter zu werden und machte sich einen Fertigkaffee, den er aus seinem Koffer kramte. Völlig leer, ohne Gedanken, aber doch mit einer Vorfreude gleich wieder Alyssa sehen zu können, ging er mit seiner Tasse Kaffee durch sein Zimmer und erschrak. Zuvor wollte er seine Tasse zu den Lippen führen, doch blieb nun wie erstarrt auf der Stelle stehen. Er stand vor der schwarz glänzenden Kommode, auf der seine Papiere, seine Autoschlüssel, seine Zigaretten und sein silbernes Gasfeuerzeug lagen. Doch etwas konnte und durfte von ihm aus da nicht liegen. Es konnte nicht wahr sein und er wollte es nicht glauben, dass er seinen Albtraum nur dieses Mal im Wachzustand wieder erlebte. Neben seinen Sachen standen die Tropfen, die ihm Dr. de Broqueville gegeben hatte. Daneben lag das Rezept. Er hatte plötzlich das Gefühl, die drei Schlucke Kaffee wieder auskotzen zu müssen, so heftig schlug es ihm auf dem Magen. Sein Gesicht fing an zu zucken und ohne einen Ton von sich zu geben, stand sein Mund auf. Als ob er jeden Moment schreien würde. Durch seine Augen sah er fast nichts mehr, weil sie sich mit Tränen füllten und aus seinem verzerrten Mund tropfte an den Seiten der Speichel. Dann jammerte er leise und wurde ein klein wenig lauter, bis es aus ihm heraus sprudelte. Sein Schrei hörte sich unendlich an, als er kerzengerade und hilflos vor der Kommode stand. Seine Tasse Kaffee hielt er in seiner rechten Hand, während seine linke herunter hing. Dann ließ er auch den anderen Arm hängen und der Kaffee verteilte sich vor ihm auf dem Boden. Er weinte bitterlich wie ein kleines Kind, das vor seiner Mutter steht und Zuneigung und vor allem Hilfe braucht. Er fühlte sich leicht, obwohl es ihm so schwer um sein Herz war. Als ob er im Boden versinken würde. Wie eine Ohnmacht.
*
Es war schon Nachmittag, als es plötzlich an seiner Zimmertür klopfte. Seit Stunden saß er auf seinem Bett und rührte sich nicht. Dabei sah er immer wieder auf Alyssas Foto, das er zuvor aus seiner Brieftasche nahm.
Wieder klopfte es an seiner Tür.
Mit langsamen Bewegungen stand James auf, als ob ihm alles egal wäre, und ging nachsehen, wer ihn störte.
„Guten Tag. Sind Sie Monsieur Steel?“
Zwei Männer in lockerer Kleidung standen vor der Tür. Beide trugen Jeanshosen und Turnschuhe. Einer von ihnen hatte eine Lederjacke an und der andere einen dicken Parker.
„Wir möchten gerne mit Ihnen reden, dürfen wir hereinkommen?“
„Wer sind Sie?“, fragte James und sah aus, als ob er sich vorher eine Valium genommen hätte. Ihm fiel es schwer, seine Augen aufzuhalten und er lehnte sich an den Türrahmen, um sich abzustützen. Er war mehr als nur erschöpft.
„Oh, Entschuldigung Monsieur. Ich bin Kommissar Simon Vink und das ist Kommissar Lars Blom. Bitte sehr, unsere Ausweise.“
Ihrer Kleidung nach sahen beide nicht gerade wie zwei Polizisten aus. James warf nur einen kurzen Blick auf seinen Ausweis, und als ob es ihn nicht wirklich interessieren würde, wer die beiden waren, drehte er sich um und ging wortlos zurück ins Zimmer, in das ihm die beiden jungen Kommissare folgten. James machte den beiden Beamten einen betrunkenen und ziemlich fertigen Eindruck.
„Haben Sie getrunken?“, fragte Simon Vink behutsam.
„Nein“, antwortete James plump.
„Bitte Monsieur, setzen Sie sich doch“, forderte Kommissar Blom James auf. Im selben Moment nahm er seine Wollmütze von seinem Kopf und strich sich mit einer kurzen Handbewegung über seine Glatze. „Können Sie mir sagen, wo Sie heute Nacht waren?“, fragte er anschließend auf seinem Kaugummi kauend.
„In meinem Zimmer.“
„Und seit wann waren Sie in Ihrem Zimmer?“
James suchte nach einer Antwort, denn er wusste es selber nicht.
„Seitdem ich gestern aus dem Krankenhaus kam.“
„Aha, und wann war das?“
James schluckte nervös, weil er sich an nichts mehr erinnern konnte, und beobachtete den Kommissar wie er ein Taschentuch aus seiner Lederjacke nahm, dieses vor seinem Mund hielt, und sein Kaugummi dort verstaute.
„Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir?“, konterte er, um Zeit zu sparen und um sich krampfhaft daran zu erinnern, wann er ins Hotelzimmer kam. Er hoffte nur, dass es ihm schnellstmöglich wieder einfallen würde.
„Wir möchten nur wissen, seit wann Sie in ihrem Zimmer sind.“
James fiel immer noch keine Uhrzeit ein und sagte: „Es war irgendwann in der Nacht. Eine genaue Zeit kann ich Ihnen nicht sagen, da ich nicht auf die Uhr geschaut habe und ich auf meinem Bett eingeschlafen war. Bitte meine Herren, sagen Sie mir doch, was Sie von mir wollen, ich mache gerade eine schlimme Zeit durch.“
„Das wissen wir, Monsieur und es tut uns sehr leid“, antwortete Blom, der die ganze Zeit vor James stand und seine Hände in seinem Parka hielt.
Die Kommissare sahen sich kurz an und beobachteten dann wieder James, der elendig und zusammen gekrümmt auf seinem Bett saß und auf Alyssas Foto schaute.
„Monsieur, es tut uns sehr leid, Ihnen diese Nachricht zu überbringen, aber....“ Der Kommissar stoppte kurz.„...aber es geht um Ihre Frau.“
James schaute beide mit leerem Blick an und sagte erschöpft: „Ich weiß. Der Arzt hat mir gestern schon die Mitteilung gemacht.“
Die Polizisten sahen sich wieder kurz an.
„Dr. de Broqueville?“, fragte der glatzige Kommissar.
„Ja, der.“
„Was genau meinen Sie damit?“, fragte Blom der gleichzeitig seine Hände aus seinem Parka holte.
„Das... das meine Frau tot ist.“
„Das wissen wir und es tut uns wirklich sehr leid.“ Nach einer kurzen Stille fügte Kommissar Vink hinzu: „Aber wir sind aus einem ganz anderen Grund hier. Monsieur, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Frau seit heute Nacht aus dem Krankenhaus verschwunden ist.“
„Hä?“
Stille.
In James fing es an zu brodeln und er fragte: „Wollen Sie mich verarschen oder was? Haben Sie eine Ahnung was ich gerade durchmache und wie meine letzten Tage aussahen? Das ist mir langsam egal, wer Sie sind, aber ich poliere Euch gleich die Fresse, wenn Ihr Wichser nicht sofort mein Zimmer verlasst!“
James sprang vom Bett auf und zeigte mit hektischen Bewegungen auf die Tür.
„Beruhigen Sie sich, Monsieur. Wir sind ganz bestimmt nicht hier, um Ihnen eine Geschichte zu erzählen. Bitte setzen Sie sich wieder.“
„ICH WILL NICHT SITZEN!“, schrie er. „LOS RAUS, VERPISST EUCH!“
Die Kommissare redeten auf James ein, bis er sich wieder beruhigte. Er zündete sich eine Zigarette mit seinen zittrigen Händen an, die er vibrierend zwischen seinen Fingern festhielt und nahm zwischendurch mehrere tiefe Züge hintereinander.
„Monsieur, nachdem Ihre Frau in der Nacht in die Leichenhalle gebracht wurde, war sie dort heute Morgen nicht mehr aufzufinden.“
„Das kann ich nicht glauben. Ich träume ... es ist ein verdammter, beschissener Albtraum, den ich gerade durchmache“, jammerte James weinend.
„Wir müssen jedem Hinweis nachgehen ...“
„HINWEIS? WAS FÜR EINEN HINWEIS? VERDÄCHTIGEN SIE MICH ETWA?“, unterbrach er Kommissar Blom.
„Monsieur, wir sind hier um, Ihnen diese schreckliche Nachricht zu überbringen und um Ihnen zu sagen, dass wir alles Bestmögliche tun werden, um herauszufinden, was mit Ihrer Frau geschehen ist. Wir verdächtigen niemanden, aber wir brauchen und suchen Anhaltspunkte. Trotzdem fragen wir uns schon, warum ausgerechnet Ihre Frau verschwunden ist, denn in der Halle lagen noch zwei andere Leichen.“
„Bitte meine Herren, ich kann nicht mehr. Sie sehen doch, wie mein Zustand ist“, jammerte James weiter.
Beiden Kommissaren war es nicht entgangen, wie fertig James war, denn beide waren schon zu lange in ihrem Beruf, dass sie wussten, dass er ihnen nichts vor spielte.
„Können wir Ihnen irgendwie helfen?“, fragte der glatzige Kommissar. „Benötigen Sie einen Arzt?“
„Nein, lassen Sie mich einfach in Ruhe“, antwortete James und wankte auf die schwarze Kommode zu, griff zu den Tropfen und spülte sie mit einem Schluck lauwarmen Kaffee hinunter. Danach musste er sich kräftig schütteln, wegen des bitteren Geschmacks des Medikaments.
Nach knapp einer Stunde Befragung, in der James erfuhr, dass zwei Bestatter und ein Arzthelfer in der Leichenhalle eingesperrt wurden, gerade als sie Alyssa abholen wollten, verabschiedeten sich beide Kommissare mit den Worten: „Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte sofort bei uns. Egal, ob es für Sie eher unwichtige Sachen sind. Wir benötigen jeden Hinweis. Sobald wir etwas Neues erfahren, melden wir uns sofort Monsieur.“
Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.
James zündete sich die nächste Zigarette an, und stand vor seinem großen Zimmerfenster, von wo aus er die Dächer der Stadt mit seinem Blick fixierte. Der Himmel hing in Grau und die Regentropfen perlten an der Scheibe ab. Er nahm nur wenig wahr und die unterschiedlichen Farben der Lichter, die er draußen auf den Straßen sah, sahen alle eigenartig aus. Wie ein Foto, auf dem der Hintergrund unscharf gestellt wurde und sich dadurch Bokeh artige Lichter entwickelten. Nur die Regentropfen an den Fensterscheiben waren dabei klar zu erkennen.
*
Die Tage vergingen. Tage, an denen er nichts mehr von der Polizei hörte und die meiste Zeit auf seinem Zimmer verbrachte. Er ging nur zur Apotheke, um das Rezept einzulösen oder um etwas Luft zu schnappen.
Leuven durfte er vorerst nicht verlassen, um der Polizei jeder Zeit zur Verfügung zu stehen. Über zwei Wochen spazierte er von einer Ecke des Raumes in die andere. Am sechzehnten Tag klopfte es an seiner Tür.
„Guten Morgen, Monsieur Steel“, sagte Kommissar Blom. Als er von James hereingelassen wurde, fragte er: „Wie geht es Ihnen?“
James winkte nur ab und beide setzten sich.
„Gibt es was Neues?“, fragte James.
Der Beamte, der dieses Mal alleine war, schüttelte sachte den Kopf und presste dabei seine Lippen zusammen. Dann antwortete er: „Leider nein. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie wieder, natürlich wenn Sie möchten, nach Schottland zurückkehren können.“
„Sie haben nichts herausgefunden?“, fragte James verwundert. „Aber das kann doch gar nicht sein. Wie kann denn so was überhaupt passieren? Wie kann jemand aus einem Krankenhaus verschwinden? Können Sie mir das mal erklären?“ James war wieder auf dem Weg, rasend zu werden. „Es muss doch irgendjemand etwas gesehen haben.“
„Leider nein, Monsieur. Wir sind alle Anhaltspunkte nachgegangen, doch ohne jeglichen Verdacht. Niemand hat irgendetwas Verdächtiges gesehen oder sonstige Bemerkungen gemacht. Wir haben auch die drei Personen, die in der Leichenhalle eingesperrt wurden, befragt. Aber niemand konnte uns etwas sagen.“ Dann schwieg Kommissar Blom für eine kurze Zeit, sah James an und sagte fürsorglich: „Monsieur, ich möchte mir es nicht mal vorstellen, was Sie durchmachen. Seien Sie ehrlich, wie geht es Ihnen?“
James saß vor Blom wie ein kleines Kind und fing an zu erzählen. Nach kurzer Zeit weinte er nur noch.
„Brauchen Sie Hilfe? Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.“
„Bitte“, James legte seine Hand auf die des Kommissars, „bringen Sie mir meine Frau zurück. Ich bitte Sie inständig.“
Beide sahen sich aus naher Entfernung an und Blom nickte mit seinem Kopf.
„Sobald ich etwas Neues weiß, verständige ich Sie sofort. Das verspreche ich.“
Noch vier Tage beobachtete James das stürmische Wetter und den Regen von seinem Zimmer aus. Dann schnappte er seine Koffer und machte sich auf dem Heimweg nach Schottland, ohne etwas Neues erfahren zu haben.