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Hinter dem Papier – eine persönliche Einführung

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Ich arbeite seit gut 25 Jahren für die Justiz. Seit mehr als zwanzig Jahren bin ich Richter. Wenn ich gesund bleibe, trete ich nun ins letzte Drittel meines Erwerbslebens. Rechne ich die Zahl der bisher von mir geführten Verfahren hoch, werden bei meiner Pensionierung rund 15.000 Angeklagte auf mich als Richter getroffen sein. Es ist also genug Zeit vergangen, um eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Ich konnte mir als junger Mensch viele Berufe vorstellen, ohne mir einen davon fix in den Kopf gesetzt zu haben. Ich habe Jus studiert, um die Berufsentscheidung aufzuschieben. „Mit Jus hast du alle Möglichkeiten“, sagen viele. Vor allem die Juristen.

Das Studium war langweilig. Es bestand vorwiegend im Auswendiglernen. Eine praktische Anwendung des Vorgetragenen konnte ich mir nicht vorstellen. Das konnten wohl auch viele Universitätslehrende nicht, denn sie erörterten – wie der Rückblick zeigt – allzu oft Irrelevantes ausführlich und vergaßen das im Rechtsleben Relevante. Zwar erfuhr man im ersten Semester, die Rechtswissenschaft gehöre zu den Sozialwissenschaften. Im weiteren Verlauf des Studiums spielten Mensch und Gesellschaft nur noch eine geringe Rolle. Zwanzig Jahre in der Rechtsprechung machen klar, dass die Rechtswissenschaft selbstverständlich zu den Sozialwissenschaften zählt. Bei der Gestaltung und Anwendung des Rechts geht es laufend um Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Ich habe den Richterberuf nicht angestrebt. Er ist mir zugefallen. Ich bin dafür dankbar. Ich habe nach dem Studium das Gerichtsjahr begonnen, um die endgültige Berufswahl weiter hinauszuzögern. Die Arbeit bei Gericht hat mich sofort fasziniert. Der Einblick in menschliche Schicksale. Die Möglichkeit, ausgestattet mit der richterlichen Unabhängigkeit, gestaltend einzugreifen. Die Gesetze räumen Richterinnen und Richtern großen Spielraum ein. Das Gericht kann einen Ladendieb zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilen oder zu einer Psychotherapie während einjähriger Probezeit verpflichten. Eine breite Palette an Sanktionen steht im Strafrecht zur Verfügung. Der Gesetzgeber war so vorausschauend, maßgeschneiderte Lösungen für den Einzelfall zuzulassen.

An meinem Verhältnis zum Staat hat sich seit meinem Eintritt in die Justiz wenig geändert. Als Arbeitgeber hat mich der Staat gut behandelt. Er hat mich solide ausgebildet. Er stellt mir eine hervorragende Infrastruktur zur Verfügung. Er erlaubt mir internationale Einsätze und den Wechsel in verschiedene Arbeitsfelder. Dennoch bleibt jeder vernünftige Mensch gegenüber dem Staat misstrauisch. Staatliche Einrichtungen tendieren dazu, Bürgerinnen und Bürger zu kontrollieren. Sicherheitsapparate streben nach immer mehr Eingriffsmöglichkeiten. Traditionellerweise lehnt die Bürokratie Transparenz ab. Manchmal verletzt der Staat seine eigenen Regeln ‒ und neigt in der Folge dazu, diese Verstöße zu vertuschen, so wie auch jeder Betrüger und Dieb seine Tat verbergen will. Konkret: Es gibt im Rechtsstaat nichts Schlimmeres, als wenn ein Mensch durch Organe des Staates zu Tode kommt. Etwa durch Schüsse der Polizei, wie das in Österreich schon mehrmals geschehen ist. Doppelt schlimm ist es, wenn die Aufklärung zögerlich oder gar nicht erfolgt.

Ich habe das Glück, in meinem engsten beruflichen Umfeld seit Jahren mit durchwegs hoch motivierten Menschen zusammenzuarbeiten. Der Einsatz von Familienrichterinnen und Familienrichtern, die mit viel Geduld lange Gespräche mit Eltern führen, um eine Einigung im Sinn der Kinder herbeizuführen, nötigt mir Respekt ab. So wie die professionelle Abwicklung von Anlegerprozessen durch Zivilrichterinnen und Zivilrichter, die im Verhandlungssaal zwei Streitparteien in der Stärke von jeweils einer Fußballmannschaft gegenübersitzen, während sie den Prozessstoff allein bewältigen müssen. Und umgekehrt schmerzt es alle, Staatsangestellte genauso wie Bürgerinnen und Bürger, wenn Wirtschaftsstrafverfahren über Jahre zu keinem Ende kommen, wenn Justizorgane Formalismus vor Inhalt stellen oder schlicht unfreundlich auftreten. Es ist unerträglich, wenn Polizeibeamte einen Asylwerber foltern oder einem jugendlichen Einbrecher in den Rücken schießen, ohne dass solche Vorfälle schnelle und ernsthafte Konsequenzen haben. Und die heutige Republik muss sich eingestehen, dass die Nachkriegsjustiz viele mutmaßliche Kriegsverbrecher in die Demenz statt in den Gerichtssaal begleitet hat. Man wünscht sich, dass staatliche Behörden und Organe lernen, sich bei den Opfern ihrer Fehler zu entschuldigen.

Ich selbst habe meine lang hinausgeschobene Berufsentscheidung nie bereut. Die Überzeugung, an einer Verbesserung der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen mitzuwirken, bildet einen starken Antrieb. Staatliche Strukturen lassen sich von innen und von außen modernisieren. Mich begeistert es, am Entstehen des europäischen Rechtsraums mitzuwirken. Es war spannend, eine Korruptionsstaatsanwaltschaft und Justizombudsstellen zu entwickeln. Die eigentliche richterliche Tätigkeit wiederum ist befriedigend, weil sie gestaltend ist. Während die Arbeit vieler Beamter mangels politischen Umsetzungswillens in der Schublade landet, sehen Richterinnen und Richter täglich die Früchte ihrer Arbeit. Jeder gelungene Vergleich, jedes erfolgreiche Mediationsverfahren, jede gut angenommene, weil gut begründete Entscheidung motiviert. In den von mir geführten Verfahren habe ich jedes Jahr mit rund tausend Menschen zu tun. Diesen Personen in für sie schwierigen Lebenssituationen menschlich zu begegnen und konstruktive Lösungen zu finden ist Herausforderung und Aufgabe.

Unser Justizsystem verdient im internationalen Vergleich ein gutes Zeugnis. Die offenen Wunden indes dürfen über diese positive Bilanz nicht vergessen werden. Die Frage der Klassenjustiz bleibt aktuell. Sie lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Argument, mit Geld sei man in unserem Gesellschaftssystem eben immer besser dran: Man bekommt die bessere Ausbildung, die bessere Gesundheitsversorgung und die bessere Rechtsvertretung. Es gibt eine Empathie- und Mitleidlosigkeit, mit der unsere Strafrechtspraxis Schwachen begegnet, der mit aller Kraft entgegenzuwirken ist. Woher kommt die oft in der Anwendung von Gesetzen zutage tretende verstörende Bösartigkeit staatlichen Handelns? Schlägt man da auf die ein, die sich nicht wehren können, weil man gegen andere nicht ankommt? Prügelt man die kleinen Gauner, weil man die großen nicht kriegt? Die kleinen Gauner melden keine Berufungen an. Sie drohen nicht. Sie kommen nicht mit Rechtsvertretern, die unzählige Anträge stellen, sodass der Richter oder die Richterin das Wochenende mit der Familie verliert. Die kleinen Gauner schicken einem keine Privatdetektive hinterher und machen einem generell selten das Leben schwer.

Setzt man sich in den Verhandlungssaal eines Wiener Bezirksgerichts und hört sich einen halben Tag lang Strafverhandlungen an, so wird man Angeklagte sehen, die zu einem guten Teil psychisch krank oder sozial verwahrlost sind. Die Delikte liegen zum Großteil im Bagatellbereich. Es geht um den Diebstahl von Parfumtestern aus Drogeriemärkten, um die Beschädigung von Glücksspielautomaten, nachdem man in ein paar Minuten einige hundert Euro verloren hat, und Ähnliches. Wirft man einen näheren Blick auf die Biografien, so zeigen sich die immer gleichen Bilder: früher Verlust eines Elternteils, Tod eines Kindes oder Partners, Gewalterfahrungen. Das ist kein Plädoyer für die Straflosigkeit kleiner Vermögensdelikte, sehr wohl aber für verhältnismäßige Reaktionen darauf.

Allein das Wort „Strafverfolgung“ ist für viele der betroffenen Menschen unpassend. Das amerikanische Wissenschaftsprojekt „We are all criminals“ dokumentiert, dass die laut Strafregister ihr Leben lang unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger jede Menge Straftaten begangen haben. Unsere Praxis, sehr viel an Energie in die Aufklärung und Verfolgung kleinster Regelverstöße zu stecken, erscheint angesichts dieser Realität doppelt unsinnig. Unsere Gesellschaft, unser Staatssystem, unser Wohlstand sind von Vorgängen wie jenen rund um die Hypo Alpe Adria real bedroht; von einer Schwankung der Ladendiebstahlsstatistik um ein oder zwei Prozent bestimmt nicht.

Mehrere Jahre Haft für einen Wirtschaftskriminellen sind unangemessen, heißt es oft. Es sei doch niemand verletzt worden, wo bleibe denn die Verhältnismäßigkeit zu Körperverletzungsdelikten. Ich antworte dann zumeist mit Geschichten aus meinem Gerichtsalltag, denn das erste Ziel muss sein, vergleichbare Delikte gleich zu behandeln.

Zwei Fälle sollen das veranschaulichen. Da ist zunächst die junge Frau, die in Tschechien aufwächst und nach der Matura drogensüchtig wird, wir nennen sie Lena. Lena konsumiert jahrelang täglich ein Gramm Kokain oder Heroin. Trotz einer medikamentösen Entzugsbehandlung gibt es immer wieder Rückfälle. Ihre Drogensucht finanziert Lena durch kleine Diebstähle. Dafür wird sie in Tschechien 19-mal vorbestraft. Meistens werden Geldstrafen oder bedingte kürzere Freiheitsstrafen verhängt. 2008 fährt die damals 27-jährige Lena mit einer Freundin nach Österreich und begeht weitere Ladendiebstähle. Wieder sollen mit dem Gewinn Drogen für den Eigenkonsum angeschafft werden. Als die beiden Freundinnen erwischt werden, beträgt der Schaden an gestohlenen Kosmetika insgesamt 2900 Euro. Die Strafe dafür: drei Jahre und neun Monate Gefängnis.

Lena hat den Eindruck, dass ihrer Pflichtverteidigerin der Fall egal ist. Die Verteidigerin verzichtet auf eine Berufung gegen das enorme Strafausmaß. Lena verbringt die folgenden Jahre in österreichischen Haftanstalten. Sie, offenkundig hoch begabt, spricht nach Selbststudium heute ein nahezu perfektes Deutsch. Auch in der Haft pflegt sie sich, liest, versucht, den Anschluss an das Leben draußen nicht zu verlieren. Ihre Familie lebt bei Prag. Einmal im Monat kommt ein Angehöriger nach Wien, um Lena zu besuchen. Lena ist sozial angepasst und selbstreflektiert. Und doch ist sie durch die Haft seelisch gebrochen. Das Urteil spricht davon, dass in diesem Fall nur eine drakonische Strafe helfe. Unter dem Strich: knapp vier Jahre Gefängnis für einen Schadensbetrag von weniger als 3000 Euro für eine junge Frau, die so ihre Drogenkrankheit finanziert.

Oder eine Verhandlungssituation kurz vor Weihnachten. Zwei Angeklagte kommen in den Gerichtssaal: ein junger Bursch, nennen wir ihn Marko, und seine ebenfalls angeklagte Tante. Marko ist 16 Jahre alt, er besucht ein Gymnasium in Wien. Der Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe spricht davon, dass Marko mutmaßlich mehrere Jahre lang sexuell missbraucht wurde. Das Gericht möge das Thema nicht ansprechen, sondern eher eine Weisung zur Psychotherapie erteilen.

Im Bericht der Jugendgerichtshilfe heißt es: „Marko ist ein sensibler, reflektierter junger Mann. Die Kontrolle verliert er, wenn überhaupt, nur dann, wenn seine Familie angegriffen wird.“ Die Mutter ist vierzig Jahre alt. Sie hat Krebs mit einer schlechten Prognose. Die nächsten sechs Monate wird sie überwiegend stationär im Krankenhaus verbringen. Die gesamte Familie ist in Psychotherapie, um die Krankheit durchzustehen. „Marko hat fast lauter Einser, trotzdem“, sagt die Tante im Gerichtssaal. Marko weint, als sie das sagt.

Marko und seine Tante sind wegen Körperverletzung angeklagt: Markos kleiner Bruder hat im Park gespielt, die Kinder sind laut. Ein 18-jähriges Mädchen, das sich mit zwei Freundinnen im Park aufhält, ohrfeigt den Kleinen. Der Kleine blutet an der Lippe: Er ist Bluter, Marko und seine Tante geraten in Zorn und Panik, sie laufen in den Park. Es kommt zu einer Rangelei. Die Mädchen rufen immer wieder: „Zigeuner, Zigeuner“, denn Marko und seine Tante haben eine dunkle Hautfarbe. „Das war nicht in Ordnung“, sagt die Tante und fügt hinzu: „Aber ich bin eh stolz darauf.“ Schließlich rangeln rund 15 Personen im Park miteinander. Das Mädchen, das die erste Ohrfeige ausgeteilt hat, hat danach Kratzspuren am Hals und ein paar Haarbüschel weniger.

Marko und seiner Tante bringt das eine Anklage ein. Im Gerichtssaal kichern und lachen die Mädchen pubertär, während Marko noch immer weint. Eine harmlose Parkstreitigkeit, wie sie sich in Wien jeden Tag zigmal abspielt; wie sie von kompetenten Polizeibeamten in den meisten Fällen vor Ort beruhigt und ohne Anzeige geschlichtet wird oder von sensiblen Anklägern mit alternativen Maßnahmen geregelt wird, ohne sie vor Gericht zu bringen. Wer von uns weiß, wie sich die wochenlange Ungewissheit einer bevorstehenden Gerichtsverhandlung auf einen sensiblen 16-Jährigen auswirkt, der für die Familie sorgt und mit der lebensbedrohlichen Erkrankung seiner noch jungen Mutter umgehen muss?

Vor Gericht selbst lässt sich die Sache nach einer Entschuldigung und einer Schmerzensgeldzahlung von fünfzig Euro schnell mit einer Verfahrenseinstellung regeln. Die Mädchen, auch erschrocken von Markos Geschichte, wollen am Ende das Geld gar nicht recht annehmen.

Der oft sorglose Umgang mit Menschen und ihren Schicksalen in der Strafpraxis wird unseren Strafgesetzen nicht gerecht. Sie sind von aufgeklärtem Geist getragen und haben den Menschen im Fokus, egal ob es um Täter oder Opfer geht. Man braucht bloß auf die Strafzumessungsgründe zu sehen: Das Strafgesetzbuch nennt viel mehr Milderungs- als Erschwerungsgründe. Die Herausforderung liegt also in der sorgsamen Anwendung der Gesetze und im Verzicht auf Floskeln und Formalismen, die die Menschen hinter dem Papier vergessen.

Die große Herausforderung, vor der die Justiz steht, ist, für eine durchgehende Modernisierung, das heißt Humanisierung von Kommunikation und Justizabläufen zu sorgen. Wer sich darauf einlässt, Menschen zuzuhören, allen gleich viel Zeit und Chancen zu geben, sich wenigstens kurz in Schicksale hineinzudenken und möglichst viel davon in die Entscheidungen einfließen zu lassen, der wird in den Rechtsberufen Erfüllung finden. Und zugleich einen kleinen Beitrag zu einem besseren Zusammenleben leisten und feststellen, wie faszinierend die Lebenswege, denen man begegnet, in ihrer Buntheit, Skurrilität, aber auch in ihrer Traurigkeit sind.

Mut zum Recht!

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