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1. Der erste Irrtum

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Anfang April des Jahres 1813 verhieß ein Sonntagmorgen den Parisern einen jener schönen Tage, an welchen sie zum erstenmal im Jahr ihr Pflaster frei von Schmutz und den Himmel wolkenlos sehen. Kurz vor Mittag bog ein mit zwei feurigen Pferden bespanntes prächtiges Kabriolett aus der Rue de Castiglione in die Rue de Rivoli ein und machte hinter einer Reihe von Equipagen halt, die vor dem kürzlich neueröffneten Gitter mitten auf der Terrasse des Feuillants standen. Der zierliche Wagen wurde von einem kränklich und vergrämt aussehenden Mann gelenkt, dessen ergrauendes Haar nur spärlich den gelblichen Schädel bedeckte und ihn vor der Zeit gealtert erscheinen ließ. Er warf die Zügel dem Lakaien zu, der dem Wagen zu Pferde gefolgt war, und stieg ab, um ein junges Mädchen herunterzuheben, dessen liebliche Schönheit die Aufmerksamkeit der müßigen Spaziergänger auf der Terrasse erregte. Wie sie oben am Kutschrand stand, ließ sich die Kleine willig um die Taille fassen und umschlang den Hals ihres Führers, der sie auf das Trottoir hob, ohne den Besatz ihres grünen Ripskleides gedrückt zu haben. Ein Liebhaber hätte nicht sorgsamer sein können. Der Unbekannte musste der Vater des Mädchens sein, das, ohne ihm zu danken, vertraulich seinen Arm nahm und ihn ungestüm in den Garten zog. Der alte Vater bemerkte die verwunderten Blicke einiger junger Leute, und für einen Augenblick verflog die Trauer, die auf seinem Gesicht eingegraben war. Obwohl er längst das Alter erreicht hatte, wo sich die Männer mit den trügerischen Freuden der Eitelkeit bescheiden müssen, lächelte er. »Man hält dich für meine Frau«, sagte er dem jungen Mädchen ins Ohr, wobei er sich straffte und mit einer Langsamkeit dahinschritt, die die Kleine zur Verzweiflung brachte.

Er schien für seine Tochter kokett zu sein und genoss wohl mehr als sie die bewundernden Blicke, welche die Gaffer auf die kleinen Füße richteten, die in Schnürstiefeln aus flohbraunem Prünell stockten, auf die zierliche Taille, die sich unter dem schmalen Kleid abzeichnete, auf den frischen Hals, den ein gestickter Kragen leicht verhüllte. Bisweilen hob sich das Kleid des jungen Mädchens beim Gehen und zeigte oberhalb der Stiefelchen durch die durchbrochenen seidenen Strümpfe hindurch die Rundung eines feingeformten Beines. So überholte auch manch ein Spaziergänger das Paar, um das junge, von braunen Löckchen umspielte Gesicht noch einmal zu betrachten und zu bewundern, dessen weißer, rosig überhauchter Ton ebenso von dem Widerschein des rosafarbenen Atlasfutters eines eleganten Hutes wie von der aus allen Zügen der hübschen Kleinen leuchtenden Sehnsucht und Ungeduld vertieft wurde. Eine leise Schelmerei belebte die schönen, mandelförmig geschnittenen schwarzen Augen, die, unter sanft gewölbten Brauen von langen Wimpern beschattet, in einem feuchten Glanz schimmerten. Lebenslust und Jugendfrische hatten ihr Füllhorn über das mutwillige Gesicht ergossen und über eine Büste, die trotz des nach der damaligen Mode unterhalb des Busens angebrachten Gürtels doch von zierlicher Anmut war. Der Huldigungen nicht achtend, blickte das junge Mädchen mit einer gewissen Unruhe auf das Schloss der Tuilerien, das offenbar das Ziel ihres hastigen Spazierganges war. Es war Viertel vor zwölf. Trotz der frühen Stunde kamen schon einige Frauen, die sich in vollem Staat hatten zeigen wollen, vom Schloss und wandten den Kopf noch einmal missmutig zurück, um ihr Bedauern auszudrücken, dass sie zu einem ersehnten Schauspiel zu spät gekommen waren. Ein paar unwillige Worte, die der Enttäuschung der schönen Spaziergängerinnen entsprangen, waren von der hübschen Unbekannten im Vorbeigehen aufgefangen worden und hatten sie seltsam beunruhigt. Der alte Herr erspähte eher neugierig als spöttisch die Zeichen der Ungeduld und Furcht auf dem entzückenden Gesicht seiner Begleiterin, und er beobachtete sie wohl allzu genau, als dass der Hintergedanke des Vaters sich hätte verkennen lassen. – Dieser Sonntag war der dreizehnte des Jahres 1813. Zwei Tage später brach Napoleon zu jenem verhängnisvollen Feldzug auf, in dem er nacheinander Bessières und Duroc verlieren, die denkwürdigen Schlachten von Lützen und Bautzen gewinnen, sich von Österreich, Sachsen, Bayern und von Bernadotte verraten sehen und die schreckliche Schlacht von Leipzig ausfechten sollte. Die prachtvolle Parade, die der Kaiser selbst kommandierte, war die letzte von denen, die so lange die Bewunderung der Pariser und der Fremden erregt hatten. Die alte Garde sollte zum letztenmal die kunstvollen Bewegungen ausführen, deren Pracht und Präzision den Riesen bisweilen selber in Erstaunen zu setzen vermochten, den Riesen, der sich zu seinem Zweikampf mit Europa rüstete. Es war ein Gefühl von Trauer, das eine Menge Schaulustiger im Sonntagsstaat zu den Tuilerien hinführte. Jeder schien die Zukunft zu erraten und vielleicht zu ahnen, dass die Phantasie sich noch oft das Bild dieses Schauspiels zurückrufen würde, wenn diese heldischen Zeiten Frankreichs, wie es heute ist, schon einen fast sagenhaften Charakter angenommen haben würden.

»Lass uns doch schneller gehen, lieber Vater!« mahnte das junge Mädchen und zog den Greis mutwillig vorwärts, »ich höre die Trommler.« – »Das sind die Truppen, die in die Tuilerien einziehen«, beschwichtigte er. »Oder die defilieren ... es kommen schon alle zurück«, erwiderte sie mit einem kindlichen Missmut, der den Greis lächeln ließ. »Die Parade beginnt erst um halb eins«, begütigte der Vater, der seiner ungestümen Tochter kaum mehr folgen konnte.

Wie sie ihren rechten Arm schwang, hätte man meinen können, sie brauche das, um schneller vorwärts zu kommen. Ihre wohlbehandschuhte kleine Hand, die ungeduldig ein Taschentuch zerknitterte, glich dem Ruder eines Bootes, das die Wellen teilt. Der alte Herr lächelte hin und wieder, doch zuweilen verdüsterte auch flüchtig ein sorgenvoller Ausdruck sein hageres Gesicht. Seine Liebe für das schöne Geschöpf ließ ihn die Gegenwart ebenso genießen, wie sie ihn die Zukunft fürchten ließ. Er schien sich zu sagen: ›Heute ist sie glücklich, wird sie es immer sein?‹ Denn die Alten sind nur zu sehr geneigt, der Zukunft ihrer Kinder die Mitgift ihrer Sorgen aufzubürden. Als Vater und Tochter unter dem Säulengang des Pavillons angelangt waren, auf dessen Spitze die Trikolore flatterte und den die Spaziergänger auf ihrem Weg vom Tuileriengarten zur Place du Carrousel passieren müssen, riefen die Posten barsch: »Kein Durchgang mehr!«

Die Kleine stellte sich auf die Zehenspitzen und konnte eine Vielzahl geputzter Frauen sehen, die die beiden Seiten des alten Marmorbogens, durch den der Kaiser herauskommen musste, versperrten.

»Siehst du wohl, lieber Vater, wir sind zu spät von daheim weggegangen.«

Ihre betrübte Schmollmiene verriet, wie wichtig es ihr gewesen war, bei der Heerschau zugegen zu sein.

»Komm, Julie, lass uns gehen, du willst doch nicht zerdrückt werden!« – »Ach nein, bleiben wir, lieber Vater! Von hier aus kann ich immerhin noch den Kaiser sehen; wenn er im Feldzug umkäme, hätte ich ihn nie zu sehen bekommen.«

Der Vater erschrak, als er diese egoistischen Worte vernahm; seine Tochter hatte Tränen in der Stimme. Er sah sie an, und es kam ihm der Gedanke, dass die Tränen unter ihren gesenkten Lidern wohl weniger von diesem Verdruss als von einem jener ersten Bekümmernisse herrührten, deren geheimer Ursprung für einen alten Vater leicht zu erraten war. Plötzlich errötete Julie und stieß einen Ruf aus, den weder die Posten noch der Vater verstehen konnten. Ein Offizier, der aus dem Hof auf die Treppe zueilte, wandte sich bei diesem Ruf schnell um, kam bis zu der Gartenarkade heran, erkannte die junge Dame, die einen Augenblick von den großen Fellmützen der Grenadiere verdeckt gewesen war, und ließ sofort für sie und ihren Vater das Verbot, das er selbst erteilt hatte, aufheben. Dann zog er, ohne sich um das Murren der eleganten Menge, die das Tor belagerte, zu kümmern, die entzückte Kleine sanft an sich.

»Nun wundere ich mich nicht mehr, weder über ihren Zorn noch über ihr Ungestüm, da du hier Dienst tatest«, sagte der alte Herr mit einem Ton, der zugleich ernst und neckend war.

»Monsieur, wenn Sie einen guten Platz haben wollen«, antwortete der junge Mann, »dürfen wir jetzt nicht plaudern. Der Kaiser liebt es nicht zu warten, und ich bin vom Großmarschall zur Meldung befohlen.«

Während er sprach, hatte er mit einer gewissen Vertraulichkeit Julies Arm genommen und sie hastig zum Carrousel hin fortgezogen. Julie sah erstaunt, wie sich eine endlose Menge in den kleinen Raum zwischen den grauen Mauern des Palastes und den von Ketten gezogenen Schranken, mit denen man inmitten des Hofes der Tuilerien große sandbestreute Vierecke abgegrenzt hatte, drängte. Die Postenkette, die den Weg für den Kaiser und seinen Generalstab freihalten sollte, hatte die größte Mühe, die erwartungsvolle, wie ein Bienenschwarm surrende Menge nicht durchbrechen zu lassen.

»Es wird wohl sehr schön werden?« fragte Julie mit einem Lächeln. »Geben Sie doch acht!« rief der Offizier und fasste sie um die Taille, sie mit ebensoviel Kraft wie Schnelligkeit neben einer Säule in Sicherheit zu bringen.

Ohne diese rasche Entführung wäre seine neugierige Verwandte von der Kruppe eines Schimmels gequetscht worden. Dieses Pferd, das einen goldgewirkten grünen Samtsattel trug, wurde von dem Mamelucken Napoleons unmittelbar am Torbogen zehn Schritt hinter den übrigen Pferden, welche auf die hohen Offiziere warteten, die dem Kaiser zur Gefolgschaft dienten, am Zügel gehalten. Der junge Mann wies dem Vater und der Tochter neben der ersten Schranke, rechts vor der Menge, ihren Platz an und empfahl sie mit einer Kopfbewegung den beiden alten Grenadieren, zwischen denen sie standen. Als der Offizier sich wieder dem Palast zuwandte, war der Schreck, den ihm das Zurückweichen des Pferdes verursacht hatte, auf seinem Gesicht einem Ausdruck von Glück und Freude gewichen. Julie hatte ihm geheimnisvoll die Hand gedrückt, sei es, um ihm für den kleinen Dienst zu danken, sei es, um ihm zu sagen: ›Endlich sehe ich Sie also wieder!‹ Sie hatte sogar in Erwiderung des respektvollen Grußes, mit dem sich der Offizier vor seinem eiligen Verschwinden von ihr und ihrem Vater verabschiedete, sanft den Kopf geneigt. Der alte Herr, der die beiden jungen Leute absichtlich sich selbst überlassen zu haben schien, hielt sich in tiefstem Ernst dicht hinter seiner Tochter; doch beobachtete er sie heimlich und suchte ihr eine trügerische Sicherheit zu verleihen, indem er tat, als sei er von dem Anblick des prächtigen Schauspiels, den die Place du Carrousel bot, ganz hingerissen. Als Julie ihren Vater ängstlich wie ein Schüler seinen Lehrer anblickte, antwortete er ihr sogar mit einem heiter gütigen Lächeln; aber sein scharfes Auge war dem Offizier bis unter die Arkade gefolgt, und keine Einzelheit dieser flüchtigen Szene war ihm entgangen.

»Welch schönes Schauspiel!« sagte Julie leise und drückte ihrem Vater die Hand.

Der malerische und großartige Anblick, den das Carrousel in diesem Augenblick bot, entlockte denselben Ausruf Tausenden von Zuschauern, die alle vor Bewunderung in regloser Verzückung dastanden. Eine Menschenmasse, ebenso dichtgedrängt wie die, in der sich der Greis und seine Tochter befanden, stand in einer geraden Linie dem Schloss gegenüber auf dem engen, gepflasterten Raum, der am Gitter des Carrousels entlangläuft. Diese Menge brachte mit der Buntheit ihrer Damentoiletten das riesenhafte Rechteck, das die Gebäude der Tuilerien und das damals neuerrichtete Gitter bildeten, erst vollends zur Geltung. Die Regimenter der alten Garde, welche Revue passieren sollten, füllten den mächtigen Platz und bildeten dem Palast gegenüber zehngliedrige imposante blaue Linien. Parallel zu diesen hatten sich jenseits der Absperrung, im Carrousel, mehrere Infanterie- und Kavallerieregimenter formiert, bereit, durch den Triumphbogen zu defilieren, der die Mitte des Gitters ziert und auf dessen Spitze man zu jener Zeit noch die wundervollen venezianischen Pferde sah. Die Regimentskapellen, die unter den Galerien des Louvre postiert waren, wurden von den diensttuenden polnischen Ulanen verdeckt. Ein großer Teil des sandbestreuten Karrees blieb leer, wie eine für den Aufmarsch dieser lautlosen Marschblöcke vorbereitete Arena. Die mit militärischer Kunst symmetrisch verteilten Massen fingen die Strahlen der Sonne in den blitzenden dreieckigen Spitzen von zehntausend Bajonetten auf. In dem leichten Wind bewegten sich die Federbüsche der Soldaten wie die Bäume des Waldes unter einem heftigen Sturm. Diese alten Truppen boten schweigsam und glänzend in der Mannigfaltigkeit ihrer Uniformen, der Aufschläge, Waffen und Achselschnüre tausend Farbkontraste. Das riesenhafte Gemälde, das Miniaturbild eines Schlachtfeldes vor der Schlacht, mit all seinen Requisiten und bizarren Erscheinungen, wurde von den hohen, majestätischen Gebäuden, deren starre Ruhe sich auf die Offiziere und Soldaten zu übertragen schien, poetisch eingerahmt. Der Zuschauer verglich unwillkürlich die Mauern der Menschen mit den Mauern aus Stein. Die Frühlingssonne breitete verschwenderisch ihr Licht wie über die weißen, neuerbauten Mauern so über die schon jahrhundertealten und erhellte mit ihrer Strahlenfülle jene unzähligen wettergebräunten Gesichter, die alle von überstandenen Gefahren zeugten und die zukünftigen erst erwarteten. Die Obersten jedes Regiments schritten einzeln die Fronten dieser heldenmütigen Männer ab. Hinter den Massen der in Silber, Himmelblau, Purpur und Gold schimmernden Truppen konnten die Neugierigen die dreifarbigen Wimpel an den Lanzen von sechs unermüdlichen polnischen Reitern erkennen. Diese galoppierten, Hunden gleich, die eine Herde durch das Feld treiben, unaufhörlich zwischen den Truppen und den Zuschauern hin und her, um die letzteren daran zu hindern, den winzigen Raum, der ihnen neben dem kaiserlichen Gitter zugebilligt war, zu überschreiten. Abgesehen von diesem Hin und Her hätte man sich in Dornröschens Schloss versetzt glauben können. Der Frühlingswind, der über die langhaarigen Bärenfellmützen der Grenadiere strich, ließ die Unbeweglichkeit der Soldaten sichtbar werden, gleichwie das dumpfe Murmeln der Menge ihr Schweigen noch stärker hervorhob. Nur zuweilen erklang ein Schellenbaum oder ein versehentlicher leichter Schlag gegen eine große Trommel, den das Echo des kaiserlichen Palastes zurückwarf, was dem fernen Grollen des Donners bei einem aufziehenden Gewitter glich. Eine unbeschreibliche Begeisterung brodelte in der erwartungsvollen Menge. Frankreich schickte sich an, Napoleon am Vorabend eines Feldzugs, dessen Gefahren von dem einfachsten Bürger vorausgesehen werden konnten, Lebewohl zu sagen. Diesmal ging es um Sein oder Nichtsein des französischen Kaiserreichs. Dieser Gedanke schien Zuschauer wie Militärs zu bewegen, die sich gleicherweise schweigend in dem Umkreis zusammendrängten, über dem der Adler und das Genie Napoleons schwebten. Diesen Soldaten, der Hoffnung Frankreichs, diesen Soldaten, Frankreichs letzten Blutstropfen, galt vor allem die unruhige Neugier der Zuschauer. Die Mehrzahl der Anwesenden und der Soldaten sagten sich vielleicht auf ewig adieu. Alle Herzen aber, selbst die dem Kaiser feindlich gesinnten, richteten glühende Wünsche für den Ruhm des Vaterlandes zum Himmel. Selbst jene Männer, die des Kampfes, der sich zwischen Europa und Frankreich entsponnen hatte, ganz und gar müde waren, hatten ihren Hass abgetan, als sie durch den Triumphbogen zogen, wohl wissend, dass am Tag der Gefahr Napoleon ganz Frankreich war. Die Schlossuhr schlug halb eins. In diesem Augenblick verstummte das Surren der Menge, und die Stille wurde so tief, dass man das Wort eines Kindes hätte hören können. Da vernahmen der Greis und seine Tochter, die nur ganz Auge waren, das Klirren von Sporen und ein Rasseln von Säbeln, das unter dem hohen Säulengang des Schlosses laut widerhallte.

Ein kleiner, ziemlich fetter Mann, in hohen Reitstiefeln, mit einer grünen Uniform und einer weißen Hose bekleidet, erschien plötzlich, auf dem Kopf einen Dreimaster, der ebenso seltsam war wie der Mann selbst; das breite rote Band der Ehrenlegion flatterte auf seiner Brust, ein kleiner Degen hing an seiner Seite. Der Mann konnte von allen Augen und von allen Punkten des Platzes aus gleichzeitig gesehen werden. Sogleich schlugen die Trommeln den Fahnenmarsch, die beiden Orchester spielten einen Satz, dessen kriegerisches Thema von allen Instrumenten, von der zarten Flöte bis zur großen Trommel, aufgegriffen wurde. Bei diesem Kampfsignal erbebten alle Herzen; die Fahnen grüßten, die Soldaten präsentierten die Waffen mit einem einzigen gleichmäßigen Griff, durch welchen die Gewehre von der ersten bis zur letzten Reihe des Carrousels in einem Ruck emporgerissen wurden. Kommandoworte schallten von Reihe zu Reihe wie Rufe eines Echos. Die begeisterte Menge rief: »Es lebe der Kaiser!« Kurz, alles bebte, war in Bewegung, alles brodelte. Napoleon war zu Pferde gestiegen. Diese Bewegung hatte die schweigsamen Massen belebt, den Instrumenten eine Stimme gegeben, die Adler und die Fahnen zum Schwingen gebracht und auf allen Gesichtern Erregung hervorgerufen. Die Mauern der hohen Galerie dieses alten Schlosses schienen mitzurufen: ›Es lebe der Kaiser!‹ Es war nichts Menschliches mehr, es war ein Zauberwerk, ein Abbild der göttlichen Macht oder vielmehr ein vergängliches Bild dieser so vergänglichen Herrschaft. Der Mann, der von so viel Liebe, Begeisterung, Hingebung, Wünschen getragen wurde, für den die Sonne die Wolken vom Himmel gejagt hatte, saß auf seinem Pferde, drei Schritt vor dem kleinen, goldbetressten Stabe, der ihm folgte, mit dem Großmarschall zur Linken und dem diensttuenden Marschall zur Rechten. Inmitten all der Erregung, die er geweckt hatte, schien jeder Zug in seinem Gesicht völlig ungerührt.

»Bei Gott, ja! Bei Wagram mitten im Feuer, an der Moskwa zwischen den Toten, immer ist er unerschütterlich, der Kaiser!« Diese Antwort auf zahlreiche Fragen gab der Grenadier, der neben dem jungen Mädchen stand. Julie war eine Weile in der Betrachtung dieser Gestalt versunken, deren Ruhe ein so großes, sicheres Machtgefühl anzeigte. Der Kaiser bemerkte Mademoiselle de Chatillonest und neigte sich gegen den Marschall Duroc, um eine Bemerkung zu machen, die ein Lächeln bei diesem hervorrief. Die Heerschau nahm ihren Anfang. Während das junge Mädchen ihre Aufmerksamkeit bisher zwischen der kaltblütigen Miene Napoleons und den blauen, grünen und roten Reihen der Truppen geteilt hatte, beschäftigte sie sich in diesem Augenblick, angesichts der raschen und genauen Bewegungen der alten Soldaten, mit einem jungen Offizier, der zu Pferde durch die Marschkolonnen jagte und mit unermüdlichem Eifer zu der Gruppe zurückkehrte, an deren Spitze der schlichte Napoleon glänzte. Dieser Offizier ritt einen prächtigen Rappen und zeichnete sich, im Gegensatz zu der herausgeputzten Menge, durch die schöne himmelblaue Uniform des Ordonnanzoffiziers des Kaisers aus. Die Goldstickerei seines Rockes und der Reiherbusch seines schmalen, länglichen Tschakos funkelten so lebhaft in der Sonne, dass ihn die Zuschauer mit einem Irrlicht vergleichen mussten. Er war die sichtbar gewordene Seele des Ganzen, auf den Befehl des Kaisers dazu bestellt, die Bataillone zu beleben, zu führen, deren erhobene Waffen Blitze schleuderten, wenn auf einen Wink seiner Augen die Reihen sich teilten, sich wieder vereinigten, sich wie die Wellen eines Strudels im Kreise drehten oder wie die langen, geraden, hohen Wogen, die der empörte Ozean ans Ufer trägt, auf ihn zukamen.

Als die Heerschau zu Ende war, ritt der Ordonnanzoffizier mit verhängtem Zügel heran und hielt vor dem Kaiser, um seine Befehle zu erwarten. In diesem Augenblick war er zwanzig Schritt von Julie entfernt, vor der kaiserlichen Gruppe, in einer Haltung, ähnlich der, wie sie Gérard dem General Rapp auf dem Gemälde ›Die Schlacht von Austerlitz‹ gegeben hat. Es war dem jungen Mädchen vergönnt, den Mann ihres Herzens in seinem vollen militärischen Glanze zu bewundern. Der Oberst Victor d'Aiglemont, der kaum dreißig Jahre zählte, war groß, gut gewachsen, schlank. Sein wohlproportionierter Körper kam nie besser zur Geltung, als wenn er seine Kraft dazu gebrauchte, ein Pferd zu zügeln, dessen geschmeidiger, eleganter Rücken sich dann unter ihm zu biegen schien. Sein männliches, wettergebräuntes Gesicht hatte den unerklärlichen Reiz, den eine vollkommene Regelmäßigkeit der Züge jungen Gesichtern verleiht. Seine Stirn war breit und hoch. Seine feurigen Augen, von dichten Brauen beschattet und langen Wimpern umrandet, bildeten zwei weiße Ovale zwischen zwei schwarzen Linien. Seine Nase hatte die graziöse Biegung eines Adlerschnabels. Das Rot seiner Lippen trat unter den Krümmungen des unvermeidlichen schwarzen Schnurrbarts kräftig hervor. Breite Backen von lebhafter Farbe zeigten braune und gelbe Töne, die auf außerordentliche Kraft deuteten. Es war eins von jenen Gesichtern, denen die Tapferkeit ihr Gepräge verliehen hat, der Typus, auf den der Künstler heute aus ist, wenn er einen der Helden des kaiserlichen Frankreich darstellen will. Das schweißtriefende Pferd, dessen unruhig hin und her gehender Kopf äußerste Ungeduld ausdrückte, stand, die beiden Vorderfüße gespreizt und auf einer genauen Linie gehalten, unbeweglich da und ließ die langen Haare seines dichten Schweifes flattern; seine Hingebung versinnbildlichte auf eine greifbare Art die seines Herrn für den Kaiser. Julie empfand eine Regung von Eifersucht, als sie ihren Geliebten so beflissen sah, die Blicke Napoleons aufzufangen; sie dachte daran, dass er sie noch nicht angesehen hatte. Plötzlich, auf ein Wort des Herrschers, drückt Victor die Flanken seines Pferdes und galoppiert von dannen; aber der Schatten einer Schranke auf dem Sande erschreckt das Pferd; es scheut, weicht zurück und bäumt sich so jäh auf, dass der Reiter in Gefahr scheint. Julie stößt einen Schrei aus, sie erbleicht; alle Augen richten sich auf sie, sie sieht niemand; ihre Augen sind auf das wildgewordene Tier gerichtet, das der Offizier züchtigt, während er davonjagt, um die Befehle Napoleons weiterzugeben. Diese verwirrenden Szenen hatten Julie in solche Spannung versetzt, dass sie sich unbewusst an den Arm ihres Vaters geklammert hatte, dem sie so unwillkürlich durch den mehr oder weniger lebhaften Druck ihrer Finger ihre Gedanken mitteilte. Als Victor nahe daran gewesen war, von dem Pferd abgeworfen zu werden, hatte sie sich noch fester an ihren Vater geklammert, als ob sie selbst in Gefahr wäre zu fallen. Der Greis betrachtete mit finsterer, schmerzlicher Unruhe das liebliche Gesicht seiner Tochter, und über seine wie im Krampf zusammengezogenen Züge glitt ein Ausdruck von Mitleid, Eifersucht und Bedauern. Doch als der ungewohnte Glanz in Julies Augen, der Schrei, den sie ausgestoßen hatte, und die zuckende Bewegung ihrer Finger ihm vollends ihre heimliche Liebe enthüllten, mussten sich ihm wohl traurige Zukunftsbilder offenbaren, denn sein Gesicht spiegelte die Ahnung künftigen Unheils. In diesem Augenblick schien die Seele Julies in die des Offiziers übergegangen zu sein. Unter einem Gedanken, der an Grausamkeit alle bisherigen übertraf, krampfte sich das leidende Gesicht des Greises zusammen, als er d'Aiglemont, der an ihnen vorbeiritt, einen Blick des Einverständnisses mit Julie tauschen sah, deren Augen feucht schimmerten und deren Gesicht von Röte übergossen war. Er führte seine Tochter, ehe sie sich dessen versah, in den Garten der Tuilerien.

»Aber Vater«, sagte sie, »die Regimenter auf der Place du Carrousel werden noch weiter exerzieren.« – »Nein, mein Kind, alle Truppen defilieren.« – »Ich glaube, du irrst dich, lieber Vater, Monsieur d'Aiglemont sollte sie vorrücken lassen.« – »Wenn auch, liebes Kind, ich fühle mich nicht wohl und mag nicht mehr bleiben.«

Julie hätte ihrem Vater das ohne weiteres glauben können, wenn sie auf dieses von väterlichen Kümmernissen bedrückte Gesicht einen Blick geworfen hätte.

»Haben Sie starke Schmerzen?« fragte sie gleichgültig, so ganz war sie mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. »Ist nicht jeder Tag ein Gnadengeschenk für mich!« erwiderte der Greis. »Willst du mich wieder traurig machen, weil du von deinem Tode sprichst? Ich war so heiter. Verjage rasch deine bösen, schwarzen Gedanken!« – »Ach!« rief der Vater mit einem Seufzer, »verwöhntes Kind! Gerade die besten Herzen sind doch oft recht grausam! Dass man euch das Leben weiht, nur an euch denkt, für euer Behagen sorgt, seine Neigungen euren Launen opfert, euch vergöttert, das Blut für euch hingibt, ist das denn gar nichts? Ach ja, ihr nehmt alles unbekümmert hin. Man müsste allmächtig sein wie Gott, damit ihr einem immer euer Lächeln und eure herablassende Liebe zuteil werden lasst. Dann kommt schließlich ein anderer – ein Geliebter, und raubt uns euer Herz!«

Erstaunt sah Julie ihren Vater an, der langsam einherschritt und niedergeschlagen auf sie blickte.

»Ihr versteckt euch sogar vor uns«, fing er von neuem an, »aber vielleicht auch vor euch selber ...« – »Aber wie kannst du das sagen, lieber Vater!« – »Ich meine, Julie, dass du Geheimnisse vor mir hast. Du liebst!« sagte er lebhaft, als er sah, dass seine Tochter errötete; »ach, ich hoffte, du würdest deinem alten Vater treu bleiben bis zu seinem Tode; ich hoffte, dich glücklich und strahlend bei mir zu behalten, dich zu bewundern, so wie du noch eben warst. Solange mir dein Geheimnis unbekannt war, hätte ich an eine ruhige Zukunft für dich glauben können. Aber jetzt ist es unmöglich, dass ich eine Hoffnung auf Glück für dich mit mir fortnehme, denn du liebst noch mehr den Offizier als den Cousin. Ich kann nicht mehr daran zweifeln.« – »Warum soll ich ihn denn nicht lieben dürfen?« rief sie mit lebhafter Neugierde. »Ach, meine Julie, du würdest mich nicht verstehen!« sagte der Vater mit einem Seufzer. »Sage es nur!« erwiderte sie mit leisem Trotz. »Gut also, höre mich an, mein Kind! Die jungen Mädchen machen sich oft edle, berückende Bilder zurecht, ganz ideale Gestalten, und bilden sich phantastische Ideen über die Männer, die Gefühle, die Welt; dann statten sie in ihrer Unschuld irgendeinen Charakter mit allen Vollkommenheiten aus und vertrauen ihm; sie lieben in dem Mann ihrer Wahl diese eingebildete Gestalt. Aber später, wenn sie sich nicht mehr von dem Unglück losmachen können, verwandelt sich die trügerische Erscheinung, die sie so reich begabt haben, ihr erstes Idol, in ein abscheuliches Skelett. Julie, lieber sähe ich dich in einen Greis verliebt als in diesen Oberst. Ach, wenn du dich nur zehn Jahre älter sehen könntest, würdest du meiner Erfahrung Gerechtigkeit widerfahren lassen! Ich kenne Victor: seine Fröhlichkeit ist ohne Geist, eine Kasernenfröhlichkeit; er ist ohne irgendeine Begabung und verschwenderisch. Er ist einer von denen, die der Himmel erschaffen hat, um am Tage vier Mahlzeiten einzunehmen und zu verdauen, zu schlafen, die erste beste zu lieben und sich zu schlagen. Er versteht das Leben nicht. Sein gutes Herz, denn ein gutes Herz hat er, wird ihn vielleicht dazu bringen, einem Unglücklichen, einem Kameraden seine Börse zu geben; aber er ist leichtfertig, er hat nicht die Feinheit des Herzens, die dem Glück einer Frau Opfer bringt; er ist unwissend, egoistisch ... es gibt da sehr viele Aber.« – »Nun, Vater, er muss doch wohl etwas Geist und Begabung haben, da man ihn zum Oberst gemacht hat.« – »Meine Liebe, Victor wird sein ganzes Leben Oberst bleiben. – Ich habe noch keinen gesehen, der mir deiner würdig erschienen wäre«, sagte der alte Vater mit einer gewissen Begeisterung.

Er hielt einen Moment inne, sah seine Tochter an und fügte hinzu: »Meine liebe, arme Julie, du bist noch zu jung, zu zart, zu empfindsam, um die Leiden und Mühseligkeiten der Ehe zu ertragen. D'Aiglemont ist von seinen Eltern verwöhnt worden, ebenso wie du von deiner Mutter und mir verwöhnt worden bist. Wie ist es denkbar, dass ihr beide euch solltet verstehen können, da jeder von euch seinen eigenen Willen hat, der mit dem des anderen unvereinbar ist? Du wirst dich entweder tyrannisieren lassen oder selbst Tyrann sein. Das eine wie das andere bringt gleichermaßen Unglück in das Leben einer Frau. Doch du bist sanft und bescheiden, du wirst dich also zuerst beugen. Du hast«, sagte er mit zitternder Stimme, »eine Herzensanmut, die man nicht zu würdigen wissen wird, und dann ...« Er beendete den Satz nicht, die Tränen übermannten ihn. »Victor«, fing er nach einer Pause wieder an, »wird die unschuldigen Regungen deiner jungen Seele verletzen. Ich kenne die Soldaten, meine Julie; ich habe unter ihnen gelebt. Es ist selten, dass das Herz dieser Leute stark genug ist, um über die Gewohnheiten Herr zu werden, die sie inmitten all des Unglücks, das sie umgibt, und in den Zufällen ihres abenteuerlichen Lebens angenommen haben.« – »Du willst dich also meinen Gefühlen entgegensetzen und mich für dich und nicht für mich verheiraten?« versetzte Julie in einem Ton, der zwischen Ernst und Scherz lag. »Dich für mich verheiraten!« rief der Vater überrascht, »für mich, dessen freundlich warnende Stimme du bald nicht mehr hören wirst. Ich habe immer gesehen, dass die Kinder die Opfer, die ihnen ihre Eltern auferlegen, einem eigennützigen Gefühle zugeschrieben haben. Heirate Victor, meine Julie! Eines Tages wirst du seine Nichtigkeit, seine Liederlichkeit, seinen Egoismus, sein fehlendes Zartgefühl, seine Unfähigkeit zur Liebe und soundsoviel anderes Ungemach, das er dir bereiten wird, bitter beweinen. Dann erinnere dich, dass unter diesen Bäumen dich die prophetische Stimme deines Vaters vergeblich gewarnt hat!«

Der Greis schwieg, er hatte bemerkt, wie seine Tochter trotzig den Kopf schüttelte. Die beiden schritten auf das Gitter zu, wo ihr Wagen hielt. Während dieses schweigsamen Ganges beobachtete das junge Mädchen verstohlen das Gesicht ihres Vaters und gab ihre schmollende Miene allmählich auf. Der tiefe Schmerz, der auf dieser herabgeneigten Stirn eingegraben war, machte einen lebhaften Eindruck auf sie. »Ich verspreche dir, lieber Vater«, sagte sie mit sanfter und bewegter Stimme, »dir nicht mehr von Victor zu reden, bevor du von den Vorurteilen, die du gegen ihn hegst, abgekommen bist.« Der Greis betrachtete seine Tochter mit Erstaunen. Zwei Tränen rannen ihm über die gefurchten Wangen. Er konnte Julie vor der Menge, die sie umgab, nicht umarmen, aber er drückte ihr zärtlich die Hand. Als er den Wagen bestieg, waren alle sorgenvollen Gedanken, die seine Stirn umwölkt hatten, verflogen. Die ein wenig traurige Haltung seiner Tochter beunruhigte ihn weit weniger als die unschuldige Freude, deren geheime Ursache sie bei der Revue verraten hatte.

In den ersten Märztagen des Jahres 1814, knapp ein Jahr nach dieser Heerschau des Kaisers, rollte eine Kalesche auf dem Wege von Amboise nach Tours. Beim Verlassen des aus Nussbäumen gebildeten grünen Domes, unter welchem das Postgebäude von La Frillière versteckt lag, wurde das Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit dahingetragen, dass es im Nu an der Brücke, die über die Cise ging, bei der Mündung dieses Flusses in die Loire anlangte, wo es halten musste. Infolge der ungestümen Eile, zu der ein junger Postillion auf Befehl seines Herrn die vier schnellsten Pferde der Poststation angefeuert hatte, war einer der Zugriemen gerissen. So hatten die beiden Personen, die sich im Innern der Kalesche befanden, durch einen Zufall Musse, bei ihrem Erwachen eine der schönsten Landschaften, die die reizvollen Ufer der Loire bieten können, zu bewundern. Zur Rechten umfasst der Reisende mit einem Blick alle Krümmungen der Cise, die sich wie eine silberne Schlange durch das junge Gras der Wiesen windet, dem der erste Lenztrieb zu dieser Zeit einen smaragdenen Ton verlieh. Zur Linken erscheint die Loire in ihrer ganzen Pracht. Auf der weiten, vom frischen Morgenwind leichtgekräuselten Wasserfläche, die dieser majestätische Fluss entfaltet, werden die Sonnenstrahlen von unzähligen Facetten gebrochen. Wie die Edelsteine eines Halsbandes reihen sich hier und da grünende Inseln auf den schier unendlichen Wassern. Auf der anderen Seite des Flusses breiten die schönsten Landschaften der Touraine, soweit das Auge reicht, ihre Herrlichkeit aus. In der Ferne ist der Blick nur von den Hügeln des Cher begrenzt, dessen Gipfel sich zu dieser Stunde in leuchtenden Konturen von dem durchsichtigen Blau des Himmels abhoben. Durch das zarte Laubwerk der Inseln gesehen, scheint Tours, im Hintergrund des Bildes, sich wie Venedig aus dem Schoß des Wassers zu heben. Die Glockentürme seiner alten Kathedrale ragten in die phantastischen Gebilde eines weißlichen Gewölks hinein. Jenseits der Brücke, auf der der Wagen hielt, erblickt man längs der Loire bis gegen Tours eine Felsenkette, die die Natur aus einer Laune dahin gestellt zu haben scheint, um den Fluss einzudämmen, dessen Fluten unaufhörlich den Stein aushöhlen – ein Schauspiel, das stets das Staunen der Reisenden hervorruft. Das Dorf Vouvray liegt wie eingebettet in den Schlünden und Aushöhlungen dieser Felsen, die von der Brücke der Cise eine Biegung machen. Von Vouvray bis Tours hat ein Winzervolk seine Wohnstätten in den furchterregenden Klüften dieser zerrissenen Hügel. An mehr als einer Stelle sind drei Stockwerke hohe Häuser in den Felsen eingehöhlt und durch gefährliche, gleichfalls in den Stein gehauene Treppen miteinander verbunden. Oben von einem Dach aus läuft ein junges Mädchen im roten Unterrock in ihren Garten. Der Rauch eines Kamins steigt zwischen den sprossenden Reben und Ranken eines Weinbergs auf. Pächter arbeiten auf beinahe senkrecht abfallenden Feldern. Eine alte Frau sitzt mit ihrem Spinnrad ruhig auf einem eingestürzten Felsblock unter einem blühenden Mandelbaum und lächelt über das Erschrecken der Reisenden, die zu ihren Füßen vorüberziehen. Sie kümmert sich ebensowenig um die Risse, die im Boden klaffen, wie um die überhängenden Reste einer alten Mauer, deren Steinschichten nur noch von den krausen Wurzeln eines Efeumantels festgehalten werden. Der Hammer der Küfer tönt durch die in luftiger Höhe eingebauten Kellergewölbe. Das Land ist überall bestellt und fruchtbar, obwohl die Natur dem menschlichen Fleiß die Erdscholle versagt hat. Entlang der Loire ist nichts dem reichen Panorama vergleichbar, das die Touraine hier den Augen des Reisenden auftut. Das dreifache Bild dieser in ihrer Mannigfaltigkeit kaum angedeuteten Szenerie bereitet der Seele ein Schauspiel, das sie für immer in ihr Gedächtnis einprägt; und wenn ein Dichter dies genossen hat, so werden ihm seine Träume auf eine märchenhafte Weise immer wieder diese romantischen Eindrücke hervorzaubern.

Im Augenblick, wo der Wagen auf der Brücke der Cise angelangt war, tauchten zwischen den Inseln der Loire mehrere weiße Segel auf und verliehen dieser harmonischen Landschaft einen neuen Reiz. Der starke Duft der Weiden, die den Fluss begrenzen, vermischte sich mit dem Hauch der feuchten Brise. Die Vögel ließen ihr vielstimmiges Konzert ertönen, in welches der eintönige Gesang eines Ziegenhirten eine gewisse Schwermut mischte, während die Rufe der Schiffer eine ferne Regsamkeit ahnen ließen. Ein weicher Dunst, der launisch um die in die weite Landschaft gestreuten Bäume hing, lieh dem Bilde noch einen besonderen Zauber. Das war die Touraine in ihrer ganzen Pracht, der Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit. Dieser Teil Frankreichs, der einzige, den die fremden Armeen nicht stören sollten, war zu jener Zeit der einzig ruhige, und man hätte meinen können, dass er der Invasion Trotz biete.

Sowie die Kalesche nicht mehr weiterfuhr, zeigte sich ein Kopf mit einer Feldmütze; und sogleich öffnete ein ungeduldiger Offizier eigenhändig den Wagenschlag und sprang auf die Straße, um den Postillion zur Rede zu stellen. Doch die Geschicklichkeit, mit der dieser Mann aus der Touraine die zerrissene Zugleine wieder instand setzte, beschwichtigte den Obristen Comte d'Aiglemont, der an den Wagenschlag zurücktrat und die Arme streckte, um die steifen Glieder zu lockern. Er gähnte, betrachtete die Landschaft und legte die Hand auf den Arm einer jungen Frau, die sorgfältig in einen Pelzmantel eingehüllt war.

»Wach auf, Julie«, rief er mit heiserer Stimme, »sieh dir doch einmal die Landschaft an! Sie ist prachtvoll.«

Julie steckte den Kopf aus dem Wagen. Sie trug eine Marderpelzmütze, und der weite pelzgefütterte Mantel, den sie trug, verbarg ihre Gestalt so völlig, dass man nur das Gesicht sehen konnte. Julie d'Aiglemont glich schon nicht mehr dem jungen Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit freudig und glücklich zu der Parade in die Tuilerien geeilt war. Ihr noch immer zartes Gesicht hatte die rosigen Farben verloren, die es ehedem hatten so blühend erscheinen lassen. Ihr schwarzes, von der Feuchtigkeit der Nacht aufgelöstes Lockenhaar ließ das matte Weiß des Gesichts hervortreten, dessen Lebhaftigkeit erstarrt schien. Ihre Augen glänzten allerdings in einem übernatürlichen Feuer; doch unterhalb der Lider lagen dunkle Schatten auf den müden Wangen. Sie ließ ihre Blicke gleichgültig über die Landschaften des Cher, der Loire mit ihren Inseln, über Tours und die Felsenkette von Vouvray schweifen, dann sank sie schleunigst wieder in die Polster des Wagens zurück, ohne das entzückende Tal der Cise ansehen zu wollen, und sagte mit einer Stimme, die im Freien außerordentlich schwach klang: »Ja, es ist wunderbar.«

Sie hatte, wie man sieht, über ihren Vater gesiegt – zu ihrem Unglück.

»Julie, möchtest du nicht hier leben?« – »Oh, hier oder anderswo«, sagte sie leichthin. »Fehlt dir etwas?« fragte sie der Oberst d'Aiglemont. »Keineswegs«, erwiderte die junge Frau mit erzwungener Lebhaftigkeit. Sie blickte ihren Mann lächelnd an und fügte hinzu: »Ich möchte schlafen.«

Plötzlich ertönte der Galopp eines Pferdes. Victor d'Aiglemont ließ die Hand seiner Frau los und wandte den Kopf nach der Biegung, die der Weg an dieser Stelle machte. Sobald der Oberst von Julie wegblickte, schwand der heitere Ausdruck, den sie ihrem blassen Gesicht gegeben hatte, als wäre ein heller Schein plötzlich erloschen. Da sie weder den Wunsch hatte, die Landschaft wiederzusehen, noch die Neugier, zu wissen, wer jener Kavalier sei, dessen Pferd so wild dahergaloppierte, drückte sie sich in die Ecke des Wagens und hielt die Augen starr und ohne irgendein Gefühl zu verraten, auf die Kruppe der Pferde gerichtet. Sie hatte den stumpfen Blick eines bretonischen Bauern, wenn er die Predigt seines Pfarrers hört. Ein junger Mann auf einem kostbaren Pferde kam plötzlich aus einem Wäldchen von Pappeln und blühendem Hagedorn hervor.

»Das ist ein Engländer«, sagte der Oberst. »Ach Gott, ja, Monsieur le Général«, erwiderte der Postillion; »es ist einer von den Kerlen, die, wie man sagt, Frankreich fressen wollen.«

Der Unbekannte war einer jener Reisenden, die sich auf dem Kontinent befanden, als Napoleon in Erwiderung der Verletzung des Völkerrechts durch das Kabinett von Saint-James, das den Vertrag von Amiens gebrochen hatte, alle Engländer festnehmen ließ. Diese Gefangenen, die den Launen der kaiserlichen Macht unterstellt waren, blieben nicht alle an den Orten, wo sie festgenommen worden waren, noch an denen, die sie anfangs nach Belieben wählen konnten. Die meisten von denen, die zu dieser Zeit die Touraine bewohnten, waren aus den verschiedensten Teilen des Kaiserreichs, wo ihr Aufenthalt die Interessen der kontinentalen Politik hätte gefährden können, dorthin transportiert worden. Der junge Gefangene, der hier seine Vormittagslangeweile spazierenführte, war solch ein Opfer der bürokratischen Macht.

Vor zwei Jahren hatte er auf Befehl des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Montpellier, wo er sich zur Zeit des Friedensbruchs aufhielt, um eine Heilung von einem Lungenleiden zu erlangen, verlassen müssen. Im Augenblick, da der junge Mann in dem Comte d'Aiglemont einen Offizier erkannte, suchte er dessen Blicken auszuweichen und wandte den Kopf auffällig genug den Wiesen längs der Cise zu.

»Alle diese Engländer sind unverschämt, als ob die ganze Welt ihnen gehörte«, brummte der Oberst; »nun, Soult wird ihnen schon die Peitsche geben!«

Als der Gefangene an der Kalesche vorbeiritt, warf er einen Blick hinein. Trotz der Flüchtigkeit dieses Blicks konnte er auf dem nachdenklichen Gesicht der Comtesse der Melancholie gewahr werden, die ihm einen so unbeschreiblichen Reiz verlieh. Es gibt viele Männer, die durch den bloßen Anblick des Leidens einer Frau mächtig bewegt werden; in ihren Augen scheint der Schmerz eine Bürgschaft der Treue oder der Liebe zu sein. Julie, die ganz in die Betrachtung eines Wagenkissens versunken war, achtete weder auf das Pferd noch auf den Reiter. Der Riemen war rasch und fest ausgebessert worden. Der Comte stieg wieder in den Wagen. Der Postillion bemühte sich, die verlorene Zeit wieder einzuholen, und fuhr in raschem Trab auf dem Damm dahin, den die überhängenden Felsen begrenzten, an deren Hängen die Weine von Vouvray reifen und auf denen so viele hübsche Häuser emporragen. In der Ferne konnte man die Ruinen der berühmten Abtei von Marmontiers, den Zufluchtsort des heiligen Martin, erblicken.

»Was will dieser bleichwangige Lord eigentlich von uns?« rief der Oberst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Reiter, der seinem Wagen von der Cisebrücke an folgte, tatsächlich der junge Engländer war.

Da der Fremde damit, dass er auf dem Damm spazierenritt, kein Gebot der Höflichkeit verletzte, lehnte sich der Oberst in seine Ecke des Wagens zurück, nachdem er dem Engländer noch einen drohenden Blick zugeworfen hatte. Aber er konnte trotz seiner unwillkürlichen Feindseligkeit nicht umhin, die Schönheit des Pferdes und die Anmut des Reiters zu bewundern. Der junge Mann hatte ein typisch britisches Gesicht mit so feinem Teint und so glatter, weißer Haut, dass man meinen konnte, es gehöre einem schönen jungen Mädchen. Er war blond, schmal und groß. Sein Anzug hatte jenes Gepräge von Sorgfalt und Reinlichkeit, das die Fashionablen des prüden England auszeichnet. Es hatte den Anschein, als ob er mehr aus Schamhaftigkeit als vor Vergnügen beim Anblick der Comtesse errötet war. Ein einziges Mal hob Julie die Augen zu dem Reisenden empor; aber es war auf Veranlassung ihres Mannes, der wünschte, dass sie die Beine eines Rassepferdes bewundern sollte. Dabei begegneten ihre Augen dem schüchternen Blick des jungen Engländers. Von da an ließ er sein Pferd einige Schritte hinter der Kalesche hertraben, anstatt daneben zu reiten. Die Comtesse hatte den Fremden kaum angesehen. Sie bemerkte an Pferd und Reiter keine der Vollkommenheiten, auf die sie aufmerksam gemacht worden war, und sank mit einer leichten Bewegung der Augenbrauen, die eine Zustimmung bedeuten sollte, in den Wagen zurück. Der Oberst schlief wieder ein, und die beiden Gatten kamen nach Tours, ohne ein Wort gewechselt zu haben und ohne dass die reizenden Bilder der wechselnden Landschaft, durch die sie fuhren, ein einziges Mal Julies Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Während ihr Mann schlummerte, betrachtete ihn Julie hin und wieder. Bei dem letzten Blick, den sie ihm zuwarf, fiel durch einen Stoß des Wagens ein Medaillon, das sie an einer Trauerkette um den Hals trug, auf ihren Schoß und zeigte der jungen Frau plötzlich das Bild ihres Vaters. Bei diesem Anblick rannen ihr die bisher unterdrückten Tränen über das Gesicht. Vielleicht hatte der Engländer die feuchtglänzenden Spuren, die diese Tränen einen Augenblick auf den blassen Wangen der Comtesse zurückließen, gesehen, ehe sie trockneten. Der Oberst d'Aiglemont war vom Kaiser beauftragt worden, dem Marschall Soult, der Frankreich gegen die Invasion der Engländer im Béarn zu verteidigen hatte, Befehle zu überbringen, und benutzte die Gelegenheit, seine Frau den Gefahren zu entziehen, die Paris damals bedrohten, und sie nach Tours zu einer alten Verwandten zu führen. Bald rollte der Wagen über das Pflaster von Tours, über die Brücke und in die Grande Rue und hielt vordem alten Palast, den die ehemalige Marquisette Listomère-Landon bewohnte.

Die Marquise de Listomère-Landon war eine von den schönen, alten Frauen mit blassem Gesicht, weißen Haaren und feinem Lächeln. Ihr Kleid und ihr Kopfputz gehörten einer langst vergessenen Mode an. Sie verkörperte mit ihren siebzig Jahren das Zeitalter Ludwigs XV.; diese Frauen sind fast immer so zärtlich, als seien sie noch verliebt; sie sind weniger gottergeben als fromm, aber doch nicht so fromm, als man meinen könnte, und sie haben immer einen Duft von Puder à la marechale an sich. Sie können gut Konversation treiben, noch besser plaudern, und lachen eher über eine Erinnerung als über einen Scherz. Die Gegenwart missfällt solchen Frauen. Als eine alte Kammerfrau der Marquise (sie sollte bald wieder diesen Titel führen dürfen) den Besuch eines Neffen, den sie seit dem Beginn des Spanischen Krieges nicht gesehen hatte, meldete, nahm sie rasch ihre Brille ab, klappte ihr Lieblingsbuch, die ›Galerie de l'Ancienne Cour‹, zu und begab sich dann mit einer gewissen Behendigkeit auf die Freitreppe, deren Stufen die beiden Gatten eben herabstiegen.

Die Tante und die Nichte warfen sich einen raschen Blick zu. »Bonjour, liebe Tante«, rief der Oberst, indem er die alte Dame hastig umarmte; »ich bringe Ihnen meine junge Frau, dass Sie sie in Schutz nehmen. Ich vertraue Ihnen meinen Schatz an. Meine Julie ist weder kokett noch eifersüchtig, sie ist sanft wie ein Engel. Und ich hoffe, sie wird hier nicht schlimmer werden«, unterbrach er sich. »Taugenichts!« sagte die alte Tante und warf ihm einen spöttischen Blick zu.

Sie kam mit liebenswürdiger Anmut auf Julie zu, die in Gedanken versunken und eher verlegen als neugierig dastand, und wollte sie als erste umarmen.

»Wollen wir miteinander Bekanntschaft schließen, liebes Herz?« fragte die Marquise. »Fürchten Sie sich nicht zu sehr vor mir, ich bemühe mich stets, bei jungen Leuten nicht zu alt zu erscheinen.«

Bevor man sich in den Salon begab, hatte die Marquise für die beiden Gäste, wie es in der Provinz Sitte war, schon ein Frühstück angeordnet; aber der Comte tat der Beredsamkeit seiner Tante Einhalt, indem er in ernsthaftem Ton versicherte, dass er ihr nicht mehr Zeit schenken könne, als die Post zum Pferdewechseln brauche. Die drei betraten also eilig den Salon, und der Oberst konnte seiner Großtante nur knapp die politischen und militärischen Ereignisse schildern, die ihn nötigten, sie um ein Asyl für seine junge Frau zu bitten. Während dieser Erzählung blickte die Tante bald auf ihren Neffen, der ununterbrochen redete, bald auf die Nichte, deren Blässe und Traurigkeit sie dieser gewaltsamen Trennung zuschrieb. Sie machte eine Miene, als sagte sie sich: ›Ja ja, diese jungen Leute haben sich lieb.‹

In diesem Augenblick vernahm man in dem alten, stillen Hof, wo die Grasbüschel um die Pflastersteine herumwuchsen, das Knallen der Peitsche. Victor küsste die Marquise noch einmal und eilte hinaus. »Leb wohl, meine Liebe!« sagte er zu seiner Frau, die ihm bis an den Wagen gefolgt war, und schloss sie in die Arme. »Ach Victor, lass mich dich noch weiter begleiten«, bat sie mit schmeichelnder Stimme, »ich möchte bei dir bleiben ...« – »Was fällt dir ein?« – »Nun denn, leb wohl, da du es willst«, erwiderte Julie. Der Wagen fuhr davon. »Sie lieben meinen guten Victor wohl sehr?« fragte die Marquise ihre Nichte mit einem jener wissenden Blicke, wie sie die alten Frauen für die jungen haben. »Mein Gott, Madame«, antwortete Julie, »man muss doch wohl einen Mann lieben, wenn man ihn heiratet?« Dieser letzte Satz wurde in einem kindlichen Ton hervorgebracht, der von Herzensreinheit zeugte und auch auf etwas Verschwiegenes deuten konnte. Nun war es für eine Freundin von Duclos und dem Marschall Richelieu schwer, nicht zu versuchen, das Geheimnis dieser jungen Ehe zu ergründen. Die Tante und die Nichte befanden sich auf der Schwelle des Einfahrtstores und sahen dem davonrollenden Wagen nach. Die Augen der Comtesse drückten nicht die Liebe aus, wie sie die Marquise verstand. Die gute Dame war Provenzalin, und ihre Liebe war einst voller Glut gewesen.

»Sie haben sich also von meinem Taugenichts von Neffen betören lassen?« fragte sie ihre Nichte.

Die Comtesse zuckte unwillkürlich zusammen, denn Ton und Blick dieser in Liebesangelegenheiten erfahrenen Frau schienen eine tiefere Kenntnis von Victors Charakter zu verraten, als sie vielleicht selber hatte. Madame d'Aiglemont nahm beunruhigt also zu einer ungeschickten Verstellung ihre Zuflucht, wie es kindliche Herzen, die einen Kummer haben, zu tun pflegen. Madame de Listomère begnügte sich mit Julies Antworten; aber es war ihr angenehm, dass ihre Einsamkeit von einem Liebesgeheimnis belebt zu werden versprach, denn ihre Nichte schien ihr mit irgendeinem amüsanten Liebeshandel beschäftigt zu sein. Als Madame d'Aiglemont sich in einem großen Salon befand, dessen Wandbekleidung von vergoldeten Leisten eingerahmt war, und sie am Kamin vor einem großen Feuer saß, durch einen großen chinesischen Wandschirm vor dem Fensterzug geschützt, konnte sie sich ihrer Traurigkeit kaum erwehren. Unter so altmodischem Getäfel, zwischen den hundertjährigen Möbeln konnte schwer Heiterkeit aufkommen. Doch fand die junge Pariserin ein gewisses Vergnügen darin, von der tiefen Einsamkeit und dem feierlichen Schweigen der Provinz umfangen zu werden. Nach ein paar Gesprächsworten mit dieser Tante, der sie als jungverheiratete Frau einen Brief geschrieben hatte, blieb sie stumm sitzen, als lausche sie der Musik einer Oper. Erst nach zwei Stunden eines Schweigens, würdig eines La Trappe, wurde sie sich ihrer Unhöflichkeit gegen die Tante bewusst, und es fiel ihr ein, dass sie ihr nur ein paar frostige Antworten gegeben hatte. Die alte Dame hatte aus feinem Taktgefühl, wie es den Leuten der alten Zeit eigen ist, die Laune ihrer Nichte respektiert. Jetzt strickte sie. Ein paarmal war sie auch hinausgegangen, um nach einem gewissen ›grünen‹ Zimmer zu sehen, in dem die Comtesse schlafen sollte und wo die Bedienten das Gepäck unterbrachten. Darauf hatte sie sich wieder in den großen Lehnstuhl niedergelassen und die junge Frau verstohlen angesehen. Julie war beschämt, dass sie sich ihrer unwiderstehlichen Träumerei überlassen hatte, und wollte dafür Verzeihung erlangen, indem sie darüber scherzte. »Meine liebe Kleine, wir kennen den Witwenschmerz«, antwortete die Tante.

Man hätte vierzig Jahre alt sein müssen, um die Ironie, die um die Lippen der alten Dame spielte, zu verstehen. Am nächsten Tage war die Comtesse viel heiterer gestimmt, sie plauderte. Madame de Listomère fand es nun nicht mehr so aussichtslos, diese junge Frau, die sie zuerst für ein blödes und dummes Geschöpf gehalten hatte, dazu zu bringen, aus sich herauszugehen; sie unterhielt sie mit den Vergnügungen des Landes, den Bällen und den Familien, die sie besuchen könnten. Alle Fragen der Marquise waren während dieses Tages ebenso viele Fallen, die sie nach einer alten, am Hofe erlernten Gewohnheit ihrer Nichte stellte, um deren Charakter zu erraten. Julie widerstand mehrere Tage lang allem Drängen, außer dem Hause Zerstreuungen zu suchen. Schließlich verzichtete die alte Dame darauf, sie unter die Leute führen zu wollen, obwohl sie mit der hübschen Nichte gern Staat gemacht hätte. Die Comtesse hatte in dem Kummer um den Tod ihres Vaters, um den sie noch Trauer trug, eine Entschuldigung für ihr Einsamkeitsbedürfnis gefunden. Nach acht Tagen bewunderte die Marquise die engelhafte Sanftmut, die bescheidene Grazie, das nachgiebige Wesen Julies und interessierte sich nun erst recht für die geheime Schwermut, die an dem jungen Herzen nagte. Die Comtesse war eine von jenen Frauen, die zur Liebenswürdigkeit geboren und die wie geschaffen sind, Glück um sich zu verbreiten. Ihre Gesellschaft wurde Madame de Listomère so angenehm und wertvoll, dass sie ihre Nichte mehr und mehr liebgewann und sie nicht mehr von sich zu lassen wünschte. Ein Monat genügte, um eine dauernde Freundschaft zwischen ihnen zu begründen. Die alte Dame bemerkte nicht ohne Verwunderung die Veränderungen, die in dem Gesicht Madame d'Aiglemonts vor sich gingen. Die lebhaften Farben, die darin geglüht hatten, erloschen allmählich, und der Teint wurde matter und blasser. Aber so wie Julie das Aussehen der ersten Tage verlor, wich ihre traurige Stimmung. Manchmal gelang es der Marquise, bei ihrer jungen Verwandten einen Anflug von Heiterkeit zu wecken oder ihr auch ein frohes Lachen zu entlocken, das nur zu bald wieder von einem trüben Gedanken verscheucht wurde. Sie erriet, dass weder die Erinnerung an den Vater noch die Abwesenheit Victors die wahre Ursache der tiefen Melancholie war, die einen Schleier über das Leben ihrer Nichte warf. Sie hatte so verschiedene schlimme Vermutungen, dass es ihr schwer wurde, sich für die wirkliche Ursache des Übels zu entscheiden, denn das Wahre enthüllt sich uns oft nur durch Zufall. Eines Tages nun überraschte Julie ihre Tante dadurch, dass sie ihre Ehe völlig vergessen zu haben schien. Der Leichtsinn eines unbesonnenen jungen Mädchens war über sie gekommen, die Unbefangenheit und kindliche Harmlosigkeit, die bei feinen und oft tiefen Anlagen unter den jungen Mädchen Frankreichs nichts Seltenes ist. Madame de Listomère beschloss, den Geheimnissen dieser Seele auf den Grund zu kommen, deren seltene Natürlichkeit wie undurchdringliche Verstellung schien. Gegen Abend saßen die beiden Damen an einem Fenster, das auf die Straße ging. Julie war wieder nachdenklich geworden, als ein Reiter vorbeikam. »Da ist eins von Ihren Opfern«, bemerkte die alte Dame. Madame d'Aiglemont sah ihre Tante in einer Weise an, die Erschrecken und Erstaunen zugleich bekundete.

»Es ist ein junger Engländer, ein Edelmann, Baron Arthur Ormond, ältester Sohn von Lord Grenville. Seine Geschichte ist interessant. Er kam im Jahre 1802 nach Montpellier, wohin ihn die Ärzte geschickt hatten, in der Hoffnung, dass das Klima dieser Gegend ihn von einem Lungenleiden heilen würde, dem er zu erliegen schien. Wie alle seine Landsleute hatte ihn Napoleon bei Ausbruch des Krieges gefangennehmen lassen, denn dieses Ungeheuer kann nicht anders, es muss Krieg führen. Um sich zu zerstreuen, fing der junge Engländer an, seine Krankheit, die man für tödlich hielt, zu studieren. Nach und nach fand er Geschmack an der Anatomie, der Medizin; heute begeistert er sich leidenschaftlich für jene Wissenschaften, was für einen Mann von Stand etwas sehr Außergewöhnliches ist, obgleich der Regent sich ja auch mit Chemie beschäftigte. Kurz, Monsieur Arthur machte erstaunliche Fortschritte, sogar in den Augen der Professoren von Montpellier. Das Studium tröstete ihn über seine Gefangenschaft, und nebenbei hat er sich radikal auskuriert. Man behauptet, er habe zwei Jahre lang nicht gesprochen und möglichst wenig geatmet, habe in einem Stall gelegen, Milch von einer Schweizer Kuh getrunken und von Kresse gelebt. Seit er in Tours ist, hat er niemanden besucht, er ist stolz wie ein Pfau; aber Sie haben sicher eine Eroberung an ihm gemacht, denn meinetwegen kommt er nicht zweimal des Tages an unsern Fenstern vorbei, seit Sie hier sind. Wahrscheinlich ist er in Sie verliebt.«

Diese letzten Worte ließen die Comtesse, wie von einem Zauberschlag getroffen, auffahren. Ihre abwehrende Bewegung und ihr Lächeln überraschten die Marquise. Weit entfernt von der instinktiven Befriedigung, die auch die strengste Frau empfindet, wenn sie vernimmt, dass ein Mann ihretwegen unglücklich ist, war Julies Blick finster und abweisend geworden. Ihr Gesicht verriet einen Widerwillen, der an Abscheu grenzte. Es war nicht die Achterklärung einer liebenden Frau gegen die ganze Welt zugunsten eines einzigen – dabei hätte sie lachen und scherzen können –, nein, Julie war in diesem Augenblick wie jemand, den die Erinnerung an eine noch als gegenwärtig empfundene Gefahr schaudern macht. Die Tante, die überzeugt war, dass ihre Nichte ihren Neffen nicht liebte, war entsetzt, als sie entdeckte, dass sie niemanden liebte. Sie zitterte davor, in Julie ein gänzlich ernüchtertes Herz zu finden, eine junge Frau, bei der die Erfahrung eines Tages, einer Nacht vielleicht hinreichend gewesen war, Victors Bedeutungslosigkeit zu erkennen.

Wenn sie ihn durchschaut hat, ist alles klar, dachte sie, ›dann wird mein Neffe bald die Schattenseiten der Ehe kennenlernen.‹

Sie nahm sich vor, Julie zu den monarchischen Lehren des Zeitalters Ludwigs XV. zu bekehren; jedoch einige Stunden später erfuhr oder vielmehr erriet sie die in der Welt ziemlich alltäglichen Umstände, die an Julies Melancholie schuld waren. Julie, die auf einmal sehr nachdenklich geworden war, zog sich früher als gewöhnlich in ihr Zimmer zurück. Nachdem ihre Zofe sie entkleidet und sie nach beendeter Nachttoilette verlassen hatte, blieb Julie noch vor dem Feuer auf einem Ruhebett aus gelbem Samt sitzen, einem alten Möbel, das ebenso geeignet für bekümmerte wie für glückliche Menschen ist. Sie weinte, sie seufzte, sie sann nach. Dann zog sie ein kleines Tischchen zu sich heran, suchte Papier und machte sich ans Schreiben. Die Stunden vergingen rasch, die vertraulichen Mitteilungen, die Julie in diesem Brief machte, schienen sie viel Überwindung zu kosten; nach jedem Satz verlor sie sich in Träumereien. Mit einem Male zerfloss die junge Frau in Tränen und hielt mit Schreiben inne. Die Kirchuhr schlug gerade zwei. Ihr Kopf sank so schwer wie der einer Sterbenden auf ihre Brust. Als sie ihn wieder hob, stand plötzlich ihre Tante vor ihr, als hätte sich eine der Figuren aus der Wandbekleidung gelöst. »Was ist Ihnen, meine Kleine?« fragte die Tante; »warum sind Sie zu so später Stunde noch wach, und warum diese einsamen Tränen in Ihrem Alter?« Sie setzte sich ohne Umstände neben ihre Nichte und verschlang den angefangenen Brief mit den Augen. »Sie schreiben an Ihren Mann?« – »Weiß ich denn, wo er ist?« versetzte die Comtesse. Die Tante nahm das Blatt und las. Mit Vorbedacht hatte sie ihre Brille mitgebracht. Das arglose Geschöpf ließ sie den Brief ergreifen, ohne den geringsten Einwand zu machen. Es war weder ein Mangel an Würde noch ein heimliches Schuldgefühl, was ihr so alle Energie raubte, ihre Tante traf sie vielmehr eben in einer Krise, wo die Seele ohne Widerstand ist, wo alles gleichgültig ist, das Gute wie das Schlimme, das Schweigen ebenso wie das Vertrauen. Wie ein tugendhaftes junges Mädchen, das den Liebhaber zurückstößt, nun am Abend, wenn es traurig und verlassen ist, sich nach ihm sehnt und einem geliebten Herzen seinen Kummer anvertrauen möchte, so ließ Julie das Siegel verletzen, welches Feingefühl einem offenen Brief aufdrückt, und blieb in Gedanken versunken sitzen, während die Marquise las:

›Meine liebe Louisa, warum verlangst Du so oft die Erfüllung des unklügsten Versprechens, das sich zwei unwissende junge Mädchen geben können? Du fragst Dich oft, schreibst Du mir, warum ich seit sechs Monaten nicht auf Deine Fragen geantwortet habe. Wenn Du mein Schweigen nicht verstanden hast, so wirst Du heute vielleicht den Grund erraten, wenn Du die Geheimnisse erfährst, die ich enthüllen werde. Ich hätte sie für immer in meinem Herzen vergraben, wenn Du mir nicht Deine bevorstehende Heirat mitgeteilt hättest. Du willst Dich verheiraten, Louisa. Dieser Gedanke macht mich schaudern. Armes Kind, heirate; nach einigen Monaten wirst Du ein schneidendes Weh empfinden, wenn du daran denkst, was wir damals waren, als wir eines Abends in Écouen bei den höchsten Eichen des Berges zusammen das schöne Tal betrachteten, das zu unsern Füßen lag, und in den Anblick der untergehenden Sonne versunken waren, die uns in ihre letzten Gluten tauchte. Wir setzten uns auf einen Felsblock und gaben uns einem Entzücken hin, das sich allmählich in sanfte Melancholie verwandelte. Du fandest zuerst von uns beiden, dass uns die ferne Sonne von der Zukunft sprach. Wir waren neugierig und recht närrisch damals. Erinnerst Du Dich an alle unsere Tollheiten? Wir küssten uns, wie zwei Liebende, sagten wir. Wir schwören uns, dass die zuerst Verheiratete der andern getreulich alle Geheimnisse der Ehe erzählen sollte, jene Freuden, die unsere kindlichen Seelen uns so köstlich ausmalten. In der Erinnerung an diesen Abend wirst Du verzweifeln, Louisa. Damals warst Du jung, schön, sorglos, wenn nicht glücklich; ein Mann wird Dich in wenig Tagen so machen, wie ich schon bin: hässlich, leidend und alt. Wozu Dir sagen, wie ich stolz, eitel und voll Freude war, den Oberst Victor d'Aiglemont zu heiraten! Und wie könnte ich es Dir sagen, da ich mich kaum noch auf mich selbst besinne. In wenig Augenblicken ist mir meine Kindheit wie ein Traum geworden. Man fand mein Benehmen an dem feierlichen Tage, da ein Bund fürs Leben geweiht wurde, dessen Bedeutung mir verborgen war, tadelnswert. Mein Vater versuchte mehr als einmal meine Ausgelassenheit zu dämpfen, denn ich legte eine Freude an den Tag, die man unpassend fand. Meine Reden waren voll Mutwillen, gerade weil sie so arglos waren. Ich trieb ein kindisches Spiel mit dem Brautschleier, mit dem Kleid und den Blumen. Als ich in dem Zimmer allein war, in das man mich zeremoniell geführt hatte, sann ich auf einen Schabernack, um Victor zu necken; und während ich ihn erwartete, hatte ich Herzklopfen, wie früher als Kind am 31. Dezember, wenn ich mich, ohne gesehen zu werden, in den Salon geschlichen hatte, wo die Neujahrsgeschenke aufgehäuft waren. Als mein Mann eintrat und mich suchte, konnte ich unter den Schleiern, die mich einhüllten, ein ersticktes Lachen nicht zurückhalten, der letzte Ausbruch jener sanften Heiterkeit, die unsere kindlichen Spiele belebte ...‹

Als die Marquise diesen Brief zu Ende gelesen hatte, der, nach einem solchen Anfang, noch Trauriges mitzuteilen bestimmt war, legte sie ihre Brille bedächtig auf den Tisch, tat den Brief daneben und richtete auf ihre Nichte den Blick ihrer grünen Augen, deren heller Strahl noch nicht vom Alter geschwächt war. »Meine Liebe«, sagte sie, »es hieße die Schicklichkeit verletzen, wenn eine verheiratete Frau so an ein junges Mädchen schriebe...« – »Ich denke das auch«, unterbrach Julie ihre Tante, »und während Sie lasen, schämte ich mich.« »Wenn uns bei Tisch eine Speise nicht schmeckt, sollen wir sie niemandem verekeln, mein Kind«, sagte die alte Frau gutmütig, »besonders da sich seit Evas Zeiten die Ehe als eine so glänzende Einrichtung erwiesen hat ... Sie haben keine Mutter mehr?« fragte die alte Frau. Die Comtesse zuckte zusammen, dann hob sie sanft den Kopf und sagte: »Ich habe den Verlust meiner Mutter seit einem Jahre schon oft genug beklagt; aber ich habe das Unrecht begangen, der Abneigung meines Vaters gegen Victor, der ihn nicht zum Schwiegersohn wollte, kein Gehör zu schenken.« Sie sah die Tante an, und eine Regung von Freude tat ihren Tränen Einhalt, als sie den Ausdruck von Güte bemerkte, der auf diesem alten Gesichte lag. Sie streckte der Marquise ihre junge Hand hin, welche danach zu verlangen schien; und als sie einander die Hände drückten, verstanden sich die beiden Frauen ganz und gar. »Armes, verwaistes Kind!« sagte die Marquise. Das war ein letzter Lichtstrahl für Julie. Sie meinte die prophetische Stimme ihres Vaters zu vernehmen. »Sie haben so heiße Hände! Sind sie immer so?« fragte die alte Frau. »Ich hatte bis vor etwa acht Tagen immer Fieber«, antwortete sie. »Sie hatten Fieber und verbargen es mir?« – »Ich habe es schon seit einem Jahr«, sagte Julie mit einer gewissen verschämten Angst. »Dann ist also die Ehe für Sie bisher nur lauter Schmerz gewesen, meine liebe Kleine?« Die junge Frau wagte nicht, zu antworten, aber sie machte eine bejahende Bewegung, welche all ihre Leiden verriet. »Sind Sie denn unglücklich?« – »Ach nein, Tante, Victor liebt mich abgöttisch, und ich liebe ihn auch, er ist ja so gut!« – »Ja, Sie lieben ihn; aber Sie fliehen ihn, nicht wahr?« – »Ja ... bisweilen ... Er sucht mich zu oft.« – »Ist Ihnen in der Einsamkeit manchmal bange davor, dass er überraschend kommen könnte?« – »Ach ja, in der Tat, Tante. Aber ich bin ihm doch gut, ich versichere es.« – »Klagen Sie sich nicht insgeheim an, dass Sie es nicht verstehen oder nicht vermögen, seine Liebesfreuden zu teilen? Denken Sie nicht manchmal, dass die eheliche Liebe schwerer zu ertragen ist, als es eine verbotene Leidenschaft wäre?« – »Oh! das ist es«, brachte sie unter Tränen hervor; »Sie erraten ja alles, wo für mich alles Rätsel ist. Meine Sinne sind benommen, ich habe keine Gedanken, das Leben wird mir schwer. Meine Seele liegt unter dem Druck einer unerklärlichen Angst, die über meine Gefühle Erstarrung bringt und mich m einer beständigen Betäubung hält. Ich habe keine Stimme, mich zu beklagen, und keine Worte, meinem Kummer Ausdruck zu geben. Ich leide und schäme mich zu leiden, wenn ich Victor über das glücklich sehe, was mich zu Tode martert.« – »Kinderei, Albernheit das alles!« rief die Tante, deren abgezehrtes Gesicht von einem heitern Lächeln, dem Widerschein der Freuden ihrer Jugend, erhellt wurde. »Sie lachen also darüber?« rief die junge Frau verzweifelt. »Ich bin auch so gewesen«, gab die Marquise schnell zur Antwort, »jetzt, wo Victor Sie allein gelassen hat, sind Sie da nicht wieder zum jungen Mädchen geworden, ruhig, ohne Freuden, aber auch ohne Leiden?«

Julie machte große, verwunderte Augen. »Also; Sie lieben Victor, nicht wahr, mein Engel? Aber Sie möchten lieber seine Schwester sein als seine Frau, und die Ehe bekommt Ihnen schlecht?« – »Nun ja, wirklich, Tante. Aber warum lächeln Sie?« – »Oh, Sie haben recht, liebes Kind. All das ist nicht lustig. Ihre Zukunft könnte von manch einem Unglück bedroht sein, wenn ich Sie nicht unter meinen Schutz nähme und wenn meine lange Erfahrung nicht die sehr unschuldige Ursache Ihres Kummers erraten könnte. Mein Neffe verdient sein Glück nicht, der Dummkopf! Unter der Regierung unseres vielgeliebten Ludwig XV. hätte eine junge Frau, die sich in einer ähnlichen Lage wie Sie befunden hätte, ihren Mann, der sich so wie ein wahrer Landsknecht aufführt, schnell genug bestraft. Der Egoist! Die Soldaten dieses kaiserlichen Tyrannen sind alle abscheuliche Ignoranten. Sie halten Brutalität für Galanterie; sie kennen die Frauen ebensowenig, wie sie lieben können; sie glauben, dass, wenn sie am Tage darauf in den Tod gehen, sie nicht nötig haben, am Abend vorher Rücksicht gegen uns zu üben. Früher verstand man beides: zu lieben und angemessen zu sterben. Ich werde ihn Ihnen erziehen. Ich werde diesem traurigen Missklang, der natürlich genug ist, ein Ende machen; sonst werdet ihr euch noch schließlich gegenseitig hassen und eine Scheidung wünschen, wenn Sie nicht schon vorher aus Verzweiflung gestorben sind.«

Julie hörte ihrer Tante voller Erstaunen und Bestürzung zu, da sie Worte vernahm, deren Weisheit sie mehr ahnen als verstehen konnte. Sie war tief erschrocken, aus dem Munde einer Verwandten von reicher Erfahrung demselben Urteil, nur in etwas milderer Form, zu begegnen, das ihr Vater über Victor gefällt hatte. Es war, als hätte sie eine lebhafte Vorahnung ihres Geschicks und ahnte die Last des Unglücks, das sie niederdrücken würde; sie zerfloss in Tränen und warf sich der alten Dame mit den Worten in die Arme: »Seien Sie meine Mutter!«

Die Tante weinte nicht; die Revolution hat den Frauen der alten Monarchie wenig Tränen übriggelassen. Die Liebe und später die Schreckenszeit haben sie mit dem jähen Wechsel von Glück und Unglück vertraut gemacht, so dass sie inmitten der Gefahren des Lebens eine kühle Würde wahren und ihre aufrichtige, aber keineswegs überströmende Zuneigung niemals die Grenzen der Etikette überschreitet, und sie haben einen Adel der Haltung, über den sich die heutigen Sitten zu Unrecht hinwegsetzen. Die Marquise nahm die junge Frau in ihre Arme und küsste sie mit einer Zärtlichkeit und Anmut, die oft mehr in den Manieren und Gewohnheiten als im Herzen jener Frauen begründet sind, auf die Stirn; sie liebkoste ihre Nichte mit sanften Worten, verhieß ihr eine glückliche Zukunft, wiegte sie mit Liebesverheißungen ein und half ihr beim Zubettgehen, als ob sie ihre Tochter wäre, eine geliebte Tochter, deren Hoffnungen und Kummer sie teilte. Sie sah sich in ihrer Nichte wieder jung, unerfahren und schön. Die Comtesse schlief ein, beglückt, eine Freundin gefunden zu haben, eine Mutter, der sie künftig alles würde sagen können. Am nächsten Morgen, als sich Tante und Nichte mit tiefer Herzlichkeit und dem gegenseitigen Einverständnis begrüßten, das von einem gewachsenen Gefühl, einem vollkommeneren Zusammenklang der Seelen zeugt, vernahmen sie Pferdegetrappel, wandten beide zugleich den Kopf und sahen den jungen Engländer, seiner Gewohnheit gemäß, langsam vorüberreiten. Er schien das Leben der beiden einsamen Frauen gewissermaßen studiert zu haben, denn er verfehlte nie, sich während ihres Frühstücks und Abendessens einzufinden. Sein Pferd verlangsamte den Schritt schon von selber. Während er an den beiden Fenstern des Speisesaals vorbeikam, warf er einen melancholischen Blick hinein, der von der Comtesse, die ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, nur verächtlich aufgenommen wurde. Die Marquise hingegen, die an die armselige Neugier, die man zur Belebung des Provinzlebens an die geringfügigsten Dinge heftet und der sich auch die überlegeneren Menschen nicht ganz erwehren können, gewöhnt war, amüsierte sich über die schüchterne, ernsthafte Liebe, die der Engländer auf eine so schweigsame Weise ausdrückte. Sein regelmäßiges Heraufsehen war ihr wie zur Gewohnheit geworden, und sie machte jeden Tag mit neuen Scherzen auf Arthurs Vorbeireiten aufmerksam. Als sie sich zu Tisch setzten, blickten die beiden Frauen gleichzeitig auf den Engländer. Die Augen Julies und Arthurs begegneten sich diesmal mit einer solchen gefühlsmäßigen Bestimmtheit, dass die junge Frau errötete. Der Engländer trieb sein Pferd an und sprengte davon.

»Was ist da bloß zu tun?« sagte Julie zu ihrer Tante. »Für die Leute, die diesen Engländer vorbeikommen sehen, bin ich unzweifelhaft...« – »Ja«, unterbrach die Tante sie. – »Nun, könnte ich ihm nicht sagen lassen, er möchte anderswo spazierenreiten?« – »Damit würde man ihm ja zu verstehen geben, dass man ihn für gefährlich hält. Und übrigens kann man ihm doch nicht verbieten, zu reiten, wo es ihm beliebt. Wir werden morgen nicht mehr in diesem Zimmer essen; wenn uns der junge Herr nicht mehr sieht, wird er davon abstehen, Sie durch das Fenster zu lieben. Das ist die Art, mein liebes Kind, wie sich eine Frau der guten Gesellschaft benimmt.«

Doch Julies Unglück sollte vollkommen werden. Kaum waren die beiden Frauen vom Tisch aufgestanden, als der Kammerdiener Victors plötzlich anlangte. Fr war in fliegender Eile auf Umwegen von Bourges hergekommen und brachte der Comtesse einen Brief ihres Mannes. Victor, der den Kaiser verlassen hatte, zeigte seiner Frau den Sturz des Kaiserreichs und die Einnahme von Paris an und berichtete von dem Enthusiasmus, der in allen Teilen Frankreichs zugunsten der Bourbonen ausgebrochen war. Doch da es schwer sein werde, bis Tours vorzudringen, bat er sie, schleunigst nach Orléans zu kommen, wo er hoffte mit Pässen für sie versehen zur Stelle zu sein. Der Diener, ein alter Soldat, sollte Julie von Tours nach Orléans begleiten, welche Strecke Victor noch für passierbar hielt.

»Madame, Sie haben keinen Augenblick zu verlieren«, sagte der Alte, »die Preußen, die Österreicher und die Engländer werden sich in Blois oder Orléans zusammenziehen ...«

In wenigen Stunden war die junge Frau bereit und machte sich in einem alten Reisewagen, den ihr die Tante lieh, auf den Weg. »Könnten Sie nicht mit uns nach Paris kommen?« fragte sie, als sie sich von der Marquise verabschiedete; »jetzt, wo die Bourbonen wieder die Herrschaft erlangen, fänden Sie ...« – »Ich würde auch ohne diese unverhoffte Rückkehr hingegangen sein, meine Liebe, denn mein Beistand ist Ihnen und Victor sehr nötig. Ich werde alle Vorbereitungen treffen, um Ihnen nachzufolgen.«

Julie reiste in Gesellschaft ihrer Kammerfrau und des alten Soldaten, der an der Seite des Wagens einherritt, um über die Sicherheit seiner Herrin zu wachen. In der Nacht, als man kurz vor Blois in einer Poststation angekommen war, hatte Julie, die in Unruhe darüber war, dass sie einen Wagen hinter dem ihrigen hatte herfahren hören, der ihr von Amboise aus gefolgt war, aus dem Wagenfenster gesehen, um sich zu überzeugen, wer ihre Reisegefährten seien. Beim Scheine des Mondes sah sie, drei Schritte von sich entfernt, Arthur stehen, der die Augen auf ihren Wagen geheftet hielt. Ihre Blicke begegneten sich. Die Comtesse warf sich mit einer heftigen Bewegung, aber mit einem Gefühl von Angst, das sie zittern ließ, in ihren Wagen zurück. Wie die meisten jungen Frauen, die wahrhaft unschuldig und ohne Erfahrung sind, erblickte sie in der Liebe, die man einem Manne unwillkürlich einflößt, eine Schuld. Sie empfand ein instinktives Entsetzen, das vielleicht von dem Bewusstsein ihrer Schwäche gegenüber einem so kühnen Angriff herrührte. Die furchtbare Macht, eine Frau, deren Phantasie von Natur erregbar ist und vor einer Verfolgung zurückschreckt, so mit seiner Person zu beschäftigen, ist eine der stärksten Waffen des Mannes. Die Comtesse besann sich auf den Rat ihrer Tante und beschloss, während der Reise im Innern ihres Wagens zu bleiben und ihn nie zu verlassen. Aber an jeder Poststation hörte sie den Engländer um die beiden Wagen herumgehen; unterwegs klang dann wieder das lästige Geräusch seiner Kalesche unaufhörlich in Julies Ohren. Die junge Frau dachte, dass, wenn sie erst wieder bei ihrem Manne sein würde, dieser die eigentümliche Verfolgung schon von ihr abwehren würde.

»Wenn mich nun aber dieser junge Mann nicht liebte?«

Diese Betrachtung war die letzte, die sie machte. Als sie in Orléans ankam, wurde ihre Postchaise von den Preußen angehalten, in den Hof einer Herberge gebracht und von Soldaten bewacht. Widerstand war unmöglich. Die Fremden erklärten den drei Reisenden durch gebieterische Zeichen, dass sie den Befehl erhalten hätten, niemand aus dem Wagen herauszulassen. Die Comtesse blieb weinend ungefähr zwei Stunden als Gefangene in dem Wagen, der von den rauchenden, lachenden Soldaten, die sie ab und zu mit zudringlicher Neugier betrachteten, umringt war; doch schließlich hörte sie das Geräusch von Pferdehufen und sah, wie sich die Soldaten respektvoll vom Wagen entfernten. Gleich darauf umringte eine Anzahl ausländischer höherer Offiziere, an deren Spitze ein österreichischer General, die Kutsche.

»Madame«, sagte der General, »nehmen Sie unsere Entschuldigung entgegen, es war ein Irrtum; Sie können unbehelligt Ihre Reise fortsetzen, und hier ist ein Pass, der Ihnen weitere Belästigungen ersparen wird ...«

Die Comtesse nahm das Papier zitternd entgegen und stammelte verlegene Worte. Sie erblickte neben dem General in englischer Offiziersuniform Arthur, dem sie offenbar ihre rasche Befreiung zu verdanken hatte. Erfreut und traurig zugleich wandte sich der junge Engländer ab und wagte Julie nur verstohlen anzusehen. Mit Hilfe des Passes langte Madame d'Aiglemont ohne weitere Zwischenfälle in Paris an. Sie traf dort ihren Mann wieder, der von seinem Treueid gegen den Kaiser entbunden und von dem Comte d'Artois, den sein Bruder Ludwig XVIII. zum Generalstatthalter des Königreichs ernannt hatte, aufs schmeichelhafteste empfangen worden war. Victor erhielt einen hohen Rang in der Leibgarde und den Generalstitel. Inmitten der Feste, die die Rückkehr der Bourbonen feierten, wurde die arme Julie von einem tiefen Unglück, das auf ihr ganzes Leben Einfluss haben sollte, betroffen: sie verlor die Marquise de Listomère-Landon. Die alte Dame starb an der Freude und an einer Gicht, die aufs Herz geschlagen war, als sie in Tours den Duc d'Angoulême wiedersah. So war die Frau, die kraft ihres Alters das Recht gehabt hätte, Victor Vorstellungen zu machen, die einzige, die durch kluge Ratschläge ein besseres Einvernehmen zwischen Mann und Frau hätte herstellen können, dahingegangen, und Julie fühlte die ganze Tragweite dieses Verlustes. Sie war nun allein mit sich und ihrem Mann. Aber jung und zaghaft, wie sie war, verlegte sie sich zunächst auf das Dulden, anstatt zu klagen. Die Vornehmheit ihres Charakters verhinderte es ja eben, dass sie sich ihren Pflichten entzog oder nach der Ursache ihrer Leiden forschte; denn sie zu einem Ende zu bringen wäre eine zu delikate Sache gewesen: Julie hätte gefürchtet, gegen ihre mädchenhafte Schamhaftigkeit zu verstoßen.

Ein Wort über die Geschicke des Monsieur d'Aiglemont unter der Restauration.

Gibt es nicht viele Menschen, deren innere Nichtigkeit den meisten, die sie kennen, verborgen bleibt? Ein hoher Rang, eine illustre Abstammung, wichtige Ämter, ein gewisser weltmännischer Schliff, eine betonte Zurückhaltung im Benehmen oder das Blendwerk des Reichtums sind für sie Schutzmauern, die es verhindern, dass die Kritik bis zu ihrer eigentlichen Existenz vordringt. Diese Leute gleichen den Königen, deren wirkliche Beschaffenheit, Charakter und Sitten niemals wirklich gekannt und richtig beurteilt werden können, weil sie von zu weit oder von zu nahe gesehen werden. Solche Personen von trügerischem Verdienst fragen, anstatt zu reden, verstehen die Kunst, den andern eine Rolle zu geben, um nicht selbst vor ihnen hervortreten zu müssen; dann ziehen sie mit glücklicher Gewandtheit einen jeden am Draht seiner Begierden und Interessen, treiben ihr Spiel mit Männern, die ihnen in Wahrheit überlegen sind, machen Marionetten aus ihnen und halten sie für klein, weil sie sie bis zu sich herabgezogen haben. Ihre armselige, aber feststehende Denkweise erlangt dann einen Sieg über die Beweglichkeit der großen Gedanken. Um diese Hohlköpfe zu beurteilen und ihren negativen Wert abzuschätzen, muss der Beobachter einen mehr scharfsinnigen als überlegenen Geist haben, mehr Geduld als Weite des Blickes, mehr Schlauheit und Takt als Größe und Erhabenheit in den Ideen entfalten. Jedoch so viel Geschicklichkeit diese Usurpatoren auch anwenden, um ihre schwachen Seiten zu verteidigen, so ist es ihnen sehr schwer, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Kinder oder den Freund des Hauses zu täuschen. Nur dass diese Personen ihnen das Geheimnis meistens bewahren, weil es gewissermaßen ihre gemeinsame Ehre angeht, ja sie helfen noch dabei, der Welt etwas vorzumachen. Wenn nun, dank dieser häuslichen Verschwörungen, viele dumme Tröpfe als bedeutende Männer gelten, so gibt es anderseits eine Anzahl bedeutender Männer, die für dumme Tröpfe gehalten werden, so dass der Staat immer die gleiche Menge anscheinend fähiger Köpfe hat. Man bedenke nun, was für eine Rolle eine Frau von Geist und Gemüt neben einem Manne dieser Art spielen muss; wird man da nicht leidvoller Existenzen gewahr, die sich aufopfern und deren liebeerfüllte Herzen voller Zartgefühl sich durch nichts in dieser Welt entschädigen lassen können? Wenn ein starkes Weib sich in solch schrecklicher Lage befindet, so befreit es sich daraus durch ein Verbrechen, wie Katharina II., die nichtsdestoweniger die Große genannt wurde. Aber da nicht alle Frauen auf dem Thron sitzen, so nehmen sie zum größten Teil ihr häusliches Unglück auf sich, das nicht weniger schrecklich ist, weil es im Verborgenen bleibt. Diejenigen, welche für ihr Ungemach einen sofortigen Trost hienieden suchen, tauschen häufig nur das eine Leiden gegen ein anderes ein, wenn sie ihren Pflichten treu bleiben wollen, oder sie machen sich einer Verfehlung schuldig, wenn sie zugunsten ihrer Freuden die Gesetze verletzen. Diese Betrachtungen sind alle auf Julies heimliche Geschichte anwendbar. Solange Napoleon an der Macht war, erregte der Comte d'Aiglemont keinen Neid. Er war ein Oberst wie so viele andere, ein guter Ordonnanzoffizier, eignete sich vorzüglich, gefährliche Missionen auszuführen, war jedoch unfähig, ein Kommando von irgendwelcher Bedeutung zu übernehmen; er galt für einen der Tapferen, denen der Kaiser seine Gunst schenkte, und war, was man beim Militär gewöhnlich einen braven Burschen nennt. Die Restauration, die ihm den Titel ›Marquis‹ zurückgab, fand ihn nicht undankbar: er folgte den Bourbonen nach Gent. Dieser Akt der Logik und Treue strafte die Prophezeiung Lügen, die ihm sein Schwiegervater seinerzeit gemacht hatte, als er sagte, er würde sein Leben lang Oberst bleiben. Als Monsieur d'Aiglemont bei der zweiten Rückkehr zum Generalleutnant ernannt und wieder Marquis geworden war, hatte er den Ehrgeiz, nach der Pairswürde zu streben. Er nahm die Grundsätze und die Politik des ›Conservateur‹ an, hüllte sich in eine Verstellung, hinter der nichts steckte, setzte eine bedeutsame Miene auf, verlegte sich aufs Fragen, sprach wenig und wurde für einen tiefsinnigen Menschen gehalten. Da er sich stets hinter höflichen Phrasen verschanzt hielt, mit leeren Floskeln reich versehen war, mit Schlagworten um sich warf, die in Paris regelmäßig geprägt werden, um den Sinn der großen Ideen und Tatsachen in kleiner Münze an die Dummen auszugeben, wurde ihm in der Gesellschaft der Ruf eines Mannes von Geschmack und Wissen zuteil. Da er eigensinnig auf seinen aristokratischen Anschauungen beharrte, wurde er als ein fester Charakter gepriesen. Wurde er zufällig einmal wie früher harmlos und lustig, so hielten die anderen seine albernen und unbedeutenden Äußerungen für verborgene diplomatische Anspielungen.

›Oh! er sagt nur, was er sagen will‹, dachten brave biedere Leute. Seine guten Eigenschaften wie seine Fehler kamen ihm gleicherweise zustatten. Seine Tapferkeit hatte ihm einen hohen militärischen Ruf verschafft, der in nichts widerlegt wurde, da er ja nie ein Oberkommando geführt hatte. Sein männliches, distinguiertes Aussehen ließ auf kühne Gedanken schließen, und seine Physiognomie war nur für seine Frau eine glatte Täuschung. Indem alle Welt die Pseudotalente des Marquis d'Aiglemont bewunderte, kam dieser schließlich selbst zu der Überzeugung, dass er einer der bemerkenswertesten Männer des Hofes sei. Und wirklich wurden dort, wo er dank seiner äußeren Erscheinung zu gefallen wusste, seine verschiedenen Vorzüge ohne Widerspruch anerkannt.

Trotz alldem war Monsieur d'Aiglemont zu Hause bescheiden. Er fühlte instinktiv die Überlegenheit seiner Frau, so jung sie auch war, und aus diesem unwillkürlichen Respekt erwuchs eine heimliche Macht, zu deren Annahme sich die Comtesse gezwungen sah, obwohl sie die Last gern von sich abgewälzt hätte. Als Ratgeberin ihres Mannes lenkte sie seine Handlungen und seine Geschäfte. Dieser ungewollte Einfluss war für sie eine Quelle der Demütigung und vieler Schmerzen, die sie in ihrem Innern verschloss. Ihr zarter, weiblicher Instinkt sagte ihr, dass es weit schöner ist, einem Mann von Geist zu gehorchen, als einen Dummkopf zu leiten, und dass eine junge Gattin, die genötigt ist, als Mann zu denken und zu handeln, weder Mann noch Frau ist, dass sie der Grazie ihres Geschlechts entsagt und dafür keines der Privilegien eintauscht, die unsere Gesetze den Stärkeren zugebilligt haben. Ihre Existenz verbarg einen bitteren Hohn. War sie nicht genötigt, einen hohlen Götzen zu ehren, ihren Beschützer zu schützen, der, armselig wie er war, ihr zum Lohn für ihre stetige Hingebung die selbstsüchtige Liebe der Ehemänner zuwarf, nur das Weib in ihr sah, sich nicht die Mühe nahm, sich um das zu kümmern, was ihr Vergnügen machte, und, was beides eine gleich große Kränkung für sie war, der nicht wusste, woher ihre Traurigkeit und ihr Hinsiechen kam? Wie die meisten Ehemänner, die das Joch eines höher stehenden Geistes fühlen, beschwichtigte der Marquis seine Eigenliebe, indem er von der physischen Schwäche Julies auf ihre geistige Schwäche schloss und sich beim Schicksal darüber beklagte, dass es ihm ein kränkliches Mädchen zur Frau gegeben habe.

Kurz, er betrachtete sich als Opfer, während er der Henker war. Mit allem Ungemach dieser traurigen Existenz beladen, musste die Marquise noch ihrem einfältigen Gebieter zulächeln, ein Haus der Trauer mit Blumen schmücken und auf ihrem an heimlichen Qualen erblassten Gesicht das Glück zur Schau stellen. Dieses Ehrgefühl, diese großartige Selbstverleugnung verliehen der jungen Marquise allmählich eine weibliche Würde, ein Bewusstsein der Tugend, das ihr zum Schutz gegen die Gefahren der Welt diente. Im übrigen, um diesem Herzen auf den Grund zu gehen, mochte das verborgene Missgeschick, das ihrer ersten unschuldigen Mädchenliebe widerfuhr, ihr einen Widerwillen gegen die Leidenschaft eingeflößt haben; vielleicht auch begriff sie nicht die Selbstvergessenheit und die unerlaubten, sinnverwirrenden Freuden, die manche Frauen alle Gesetze der Vernunft und alle Regeln der Tugend, auf denen die Gesellschaft beruht, in den Wind schlagen lassen. Wie auf einen Traum verzichtete sie auf die Süßigkeit, die sanfte Harmonie des Daseins, wie sie ihr die weise Erfahrung der Madame de Listomère-Landon verheißen hatte; sie erwartete ergeben das Ende ihrer Leiden, indem sie jung zu sterben hoffte. Seit ihrer Rückkehr aus der Touraine war ihre Gesundheit von Tag zu Tag schwächer geworden, und das Leben schien ihr vom Leiden abgemessen zu sein; ein Leiden allerdings, das bei oberflächlicher Beurteilung einen eleganten, nahezu wollüstigen Anschein hatte und für die Laune einer Zierpuppe gelten konnte. Die Ärzte hatten die Marquise verurteilt, auf einem Diwan ausgestreckt zu liegen, wo sie inmitten der Blumen, die sie umgaben, verkümmerte und gleich ihnen dahinwelkte. Ihre Schwäche verbot ihr das Gehen und die freie Luft; sie fuhr nur im geschlossenen Wagen aus. So, umgeben von allen Wunderdingen des Luxus und der modernen Industrie, glich sie weniger einer Kranken als einer lässig-trägen Königin. Einige Freunde, die vielleicht in ihr Unglück und ihre Hinfälligkeit verliebt waren und auf eine künftige günstigere Gesundheit spekulierten, kamen, in der Gewissheit, sie immer zu Hause zu finden, ihr Neuigkeiten zuzutragen und die tausend kleinen Begebenheiten, die das Pariser Leben so abwechslungsreich machen, zu berichten. Ihre Melancholie, tief und ernst wie sie war, war immerhin doch die Melancholie des Überflusses. Die Marquise d'Aiglemont glich einer schönen Blume, deren Wurzel von einem schwarzen Insekt zernagt wird. Sie ging bisweilen in Gesellschaft, nicht aus Neigung, aber um den Anforderungen der Stellung, die ihr Mann anstrebte, zu gehorchen. Ihre Stimme und ihr vollendeter Gesang verschafften ihr den Beifall, der einer jungen Frau fast immer schmeichelt; aber was nützten ihr Erfolge, welche weder zu ihren Gefühlen noch zu irgendwelchen Hoffnungen eine Beziehung hatten? Ihr Mann liebte die Musik nicht. Sie fühlte sich fast immer befangen in den Salons, wo ihre Schönheit begehrliche Huldigungen auf sich zog. Ihre Lage erregte dort eine grausame Teilnahme, eine triste Neugierde. Sie litt an einer gefährlichen Krankheit, die häufig genug tödlich verläuft, die sich die Frauen ins Ohr sagen und für die unsere wissenschaftliche Terminologie noch keine Bezeichnung hat. Trotz der Stille, in der sich ihr Leben abspielte, war die Ursache ihres Leidens doch für niemanden ein Geheimnis. Sie war auch in der Ehe noch junges Mädchen geblieben und empfand Scham vor jedem Blick. Um nicht erröten zu müssen, wollte sie nur heiter und lachend erscheinen; sie heuchelte Freude, sagte stets, sie befände sich wohl, oder wich den Fragen über ihre Gesundheit mit schamhaften Lügen aus. Im Jahre 1817 jedoch trug ein Ereignis viel dazu bei, den beklagenswerten Zustand, in dem sich Julie bisher befunden hatte, zu ändern. Sie gebar eine Tochter und wollte sie selbst stillen. Zwei Jahre lang war ihr Leben dank der lebhaften Zerstreuungen und unruhigen Freuden der Mutterschaft weniger unglücklich. Sie konnte sich von ihrem Manne fernhalten. Die Ärzte prophezeiten ihr eine bessere Gesundheit; aber die Marquise glaubte nicht an diese hypothetischen Verheißungen. Wie alle Menschen, für die das Leben keine Annehmlichkeit ist, sah sie vielleicht im Tode eine glückliche Lösung.

Zu Anfang des Jahres 1819 gestaltete sich für sie das Leben grausamer denn je. Als sie eben anfing, sich über ein gewisses Scheinglück, das sie hatte erlangen können, zu freuen, taten sich schreckliche Abgründe vor ihr auf: ihr Mann hatte sich ihrer nach und nach ganz entwöhnt. Diese Abkühlung einer schon an und für sich lauen und ganz egoistischen Neigung konnte mehr als ein Unglück herbeiführen, das sie mit ihrem feinen Takt und ihrer Klugheit voraussah. Obwohl sie sicher war, eine große Macht über Victor zu behalten und für immer seine Achtung erlangt zu haben, so fürchtete sie doch den Einfluss der Leidenschaften auf einen so unselbständigen und eingebildeten Menschen. Oft fanden ihre Freunde Julie in Betrachtungen versunken; die weniger hell sehenden fragten sie scherzend nach dem Grund, als ob eine junge Frau nur an eitle Dinge denken könne und hinter den Gedanken einer Familienmutter nicht meistens der Ernst steckte. Das Unglück verführt ebenso zur Träumerei wie das wahre Glück. Oft, wenn Julie mit ihrer Hélène spielte, betrachtete sie diese mit finsterem Blick und antwortete nicht auf die kindlichen Fragen, die die Mütter so zu beglücken pflegen, weil sie von Gegenwart und Zukunft Aufschluss über ihr Schicksal forderte. Wenn sie sich dann zuweilen der Szene in den Tuilerien erinnerte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die vorahnenden Worte ihres Vaters klangen ihr von neuem im Ohr, und sie warf sich vor, seine Weisheit verkannt zu haben. Von diesem törichten Ungehorsam rührte alles Unglück her, und oft wusste sie nicht, welches von ihren Leiden am schwersten zu tragen war. Nicht nur, dass ihr Mann keine Ahnung von den Reichtümern ihres Herzens hatte, sie konnte sich mit ihm nicht einmal über die gewöhnlichsten Angelegenheiten des Lebens verständigen. Gerade zu der Zeit, als die Fähigkeit zu lieben sich stärker und lebhafter in ihr entwickelte, verflüchtigte sich die erlaubte, die eheliche Liebe inmitten schwerer seelischer und physischer Leiden. Schließlich hatte sie für ihren Mann nur mehr das an Verachtung grenzende Mitleid, das auf die Dauer alle Gefühle ankränkelt. Aus Unterhaltungen mit Freunden, aus Beispielen und mancherlei Abenteuern der Gesellschaft erriet sie wohl, welches unendliche Glück die Liebe in sich bergen musste; aber auch ihr verwundetes Herz selber überkam manchmal ein Vorgefühl der tiefen, reinen Freuden, in denen sich geschwisterliche Seelen vereinigen. In dem Bilde, das ihr Gedächtnis von der Vergangenheit erstehen ließ, erschien das treue Gesicht Arthurs mit jedem Tage reiner und schöner, aber flüchtig; denn sie wagte nicht, sich bei dieser Erinnerung aufzuhalten. Die schweigsame, schüchterne Liebe des jungen Engländers war das einzige Ereignis, das in der Zeit ihrer Ehe einige sanfte Spuren in ihrem traurigen, einsamen Herzen hinterlassen hatte. Vielleicht dass alle enttäuschten Hoffnungen, alle fehlgegangenen Wünsche, die nach und nach Julies Geist verdüsterten, sich durch ein natürliches Spiel der Phantasie auf diesen Mann bezogen, dessen Art, Gefühl und Charakter so viel Einklang mit den ihrigen aufzuweisen schienen. Doch dieser Gedanke kam ihr immer wie ein Traum, eine Laune vor. Sie erwachte aus diesen immer in Seufzern endenden Wahngebilden unglücklicher als zuvor und fühlte ihre verborgenen Schmerzen hernach um so stärker, wenn sie diese unter den Fittichen eines erträumten Glückes eingeschläfert hatte. Oft gewannen ihre Klagen einen Charakter von Torheit und Verwegenheit, sie wollte Glück um jeden Preis; aber öfter noch verharrte sie in irgendeiner stumpfen Betäubung, hörte zu, ohne zu verstehen, oder fasste so vage und unbestimmte Gedanken, dass sie keine Worte hätte finden können, sie auszudrücken. Sie war in ihren innersten Regungen verletzt, durfte ihr Leben nicht so führen, wie sie es als junges Mädchen erträumt hatte, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Tränen zu ersticken. Bei wem hätte sie sich beklagen sollen? Wer hätte sie verstanden? Überdies hatte sie jenes äußerste weibliche Zartgefühl, jene köstliche Schamhaftigkeit, die darin besteht, jede unnütze Klage zu unterdrücken und keinen Vorteil daraus zu ziehen, dass der Triumph den Sieger und den Besiegten in gleicher Weise beschämen muss. Julie versuchte, Monsieur d'Aiglemont mit ihren eigenen Tugenden und Gaben auszustatten, und rühmte sich, das Glück zu genießen, das sie entbehrte. Sie wandte ihre ganze weibliche Klugheit auf, ihren Mann zu schonen, der nie etwas davon erfuhr und im übrigen durch ihre Art nur noch mehr in seinem Despotismus bestärkt wurde. Zeitweise war sie wie trunken von Unglück, völlig gedankenlos, zügellos; zum Glück führte ihre aufrichtige Frömmigkeit sie dann über das Irdische hinaus; sie flüchtete sich in den Glauben an ein künftiges Leben und fand so die Kraft aufs neue, ihre schmerzliche Pflicht auf sich zu nehmen. Diese fürchterlichen Kämpfe, diese innere Zerrissenheit blieben unbemerkt, ihre tiefe Schwermut hatte keinen Zeugen. Niemand fing ihren stumpfen Blick auf, niemand sah die bitteren Tränen, die sie heimlich in der Einsamkeit vergoss.

Die Gefahren der kritischen Situation, in die die Marquise allmählich durch den Zwang der Verhältnisse gelangt war, enthüllten sich ihr in ihrer ganzen Schwere an einem Januarabend des Jahres 1820. Wenn zwei Gatten sich voll und ganz kennen und sich lange aneinander gewöhnt haben, wenn eine Frau die leisesten Gebärden eines Mannes zu deuten versteht und die Gefühle und Dinge, die er ihr verbirgt, erraten kann, dann werden zufällige, erst sorglos hingeworfene frühere Bemerkungen und Betrachtungen mit einem Schlag erhellt. Oft erwacht dann eine Frau plötzlich am Rande oder in der Tiefe eines Abgrunds. So wurde der Marquise, die glücklich gewesen war, ein paar Tage allein zu verbringen, mit einem Male das Geheimnis dieses Alleinseins klar. Sei es, dass ihr Mann treulos oder ihrer müde, großmütig oder mitleidvoll gegen sie war, er gehörte ihr nicht mehr. In diesem Augenblick dachte sie nicht mehr an sich noch an ihre Leiden und Opfer; sie war nur noch Mutter und hatte die Zukunft, das Glück, das Vermögen ihrer Tochter im Auge, ihrer Tochter, des einzigen Wesens, von dem ihr etwas wie Glückseligkeit kam, ihrer Hélène, des einzigen Gutes, das sie ans Leben fesselte. Jetzt wollte Julie leben, um von ihrem Kinde das schreckliche Joch fernzuhalten, unter das eine Stiefmutter das Leben des teuren Geschöpfes zwingen könnte. Als dieses düstere Zukunftsbild vor ihr aufstieg, verfiel sie in solch ein fieberhaftes Nachdenken, das ganze Lebensjahre aufzehrt. Zwischen ihr und ihrem Gatten sollte künftighin eine ganze Welt von Gedanken sein, deren Gewicht auf ihr allein lasten würde. Bis dahin hatte sie sich, in der Gewissheit, von Victor auf seine Weise geliebt zu werden, zu einem Glück hergegeben, das sie nicht teilte; nun aber, da sie nicht einmal mehr die Genugtuung hatte, dass ihre Tränen ihren Mann erfreuten, da sie allein in der Welt war, blieb ihr nur, unter den vielfachen Leiden zu wählen. Inmitten der Mutlosigkeit, die in der Stille der Nacht ihre Energie lähmte, in dem Augenblick, da sie von ihrem Diwan an dem fast erloschenen Feuer aufgestanden war, um im Schein einer Lampe sich mit trockenem Auge in den Anblick ihrer Tochter zu versenken, trat Monsieur d'Aiglemont sehr angeregt ins Zimmer. Julie hieß ihn die schlafende Hélène bewundern, doch er hatte für die Begeisterung seiner Frau nur eine banale Redensart.

»In diesem Alter«, sagte er, »sind alle Kinder niedlich.« Dann küsste er seine Tochter flüchtig auf die Stirn, ließ die Vorhänge der Wiege herab, blickte Julie an, nahm sie bei der Hand und ließ sie neben sich auf dem Diwan niedersitzen, auf dem sie soeben ihren trüben Gedanken nachgehangen hatte.

»Sie sind heute abend sehr schön, Madame d'Aiglemont!« rief er mit der unerträglichen Lustigkeit, deren Hohlheit die Marquise nur zu gut kannte.

»Wo haben Sie den Abend verbracht?« fragte sie ihn mit erheuchelter Gleichgültigkeit. »Bei Madame de Sérisy.«

Er nahm einen Lichtschirm von dem Kamin und betrachtete interessiert den durchsichtigen Stoff, ohne die Tränenspuren auf dem Gesicht seiner Frau zu bemerken. Julie schauerte zusammen. Die Sprache ist nicht imstande, die Gedanken auszudrücken, die wie ein Strom aus ihrem Herzen hervorstürzen wollten und die sie zurückhalten musste.

»Madame de Sérisy gibt nächsten Montag ein Konzert und wünscht brennend, dich kennenzulernen. Gerade weil du schon so lange nicht in Gesellschaft gegangen bist, möchte sie dich bei sich sehen. Es ist eine prächtige Frau, die dir sehr zugetan ist. Du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du hingingst, ich habe beinahe schon für dich zugesagt ...« – »Ich werde hingehen«, antwortete Julie.

Der Klang der Stimme, der Ausdruck und Blick der Marquise hatten etwas so Durchdringendes, Eigentümliches, dass Victor trotz seiner Sorglosigkeit seine Frau erstaunt ansah. Doch das war alles. Julie hatte erraten, dass Madame de Sérisy die Frau war, die ihr das Herz ihres Mannes geraubt hatte. Sie versank in ein verzweifeltes Brüten und starrte selbstvergessen ins Feuer. Victor drehte den Lichtschirm in den Händen hin und her und hatte das gelangweilte Aussehen eines Mannes, der anderswo glücklich gewesen ist und ermattet vom Vergnügen heimkommt. Er gähnte mehrmals, ergriff dann mit einer Hand einen Leuchter, tastete mit der andern lässig nach dem Hals seiner Frau und wollte sie küssen; aber Julie bückte sich, reichte ihm ihre Stirn und empfing den Gutenachtkuss, einen lieblosen, mechanischen Kuss, eine grimassenhafte Gebärde, die sie nur zu sehr hasste. Als Victor die Tür geschlossen hatte, sank die Marquise in einen Stuhl; die Knie wankten ihr, sie brach in Tränen aus. Man muss selbst ähnliche Qualen erlitten haben, um alles, was diese Szene Schmerzliches barg, zu verstehen, um einen Begriff von der langen, schrecklichen Tragödie zu bekommen, die sie herbeiführte. Diese einfachen, nichtssagenden Worte, das Schweigen zwischen den beiden Ehegatten, die Mienen, die Blicke, die Art, in der der Marquis vor dem Feuer Platz genommen hatte, die Haltung, mit der er versucht hatte, den Hals seiner Frau zu küssen, alles war zusammengekommen, dass diese Stunde zu einer tragischen Wende in dem einsamen, schmerzensreichen Leben Julies führte. In wildem Taumel warf sie sich vor ihrem Diwan nieder, grub ihr Gesicht in die Kissen, um nichts zu sehen, und flehte zum Himmel, wobei sie den gewohnten Gebetsworten einen innigen Klang, einen neuen Sinn verlieh, die das Herz ihres Mannes hätten zerreißen müssen, wenn er sie gehört hätte. Sie beschäftigte sich acht Tage lang unaufhörlich mit ihrer Zukunft, ging völlig in ihrem Unglück auf, studierte es, suchte nach Mitteln, ihre Macht über den Marquis wiederzugewinnen, ohne ihr Herz zu belügen, und lange genug zu leben, um über das Glück ihrer Tochter zu wachen. Sie beschloss alsdann, mit ihrer Rivalin zu kämpfen, sich wieder in der Gesellschaft zu zeigen, dort zu glänzen, für ihren Mann eine Liebe zu heucheln, die sie nicht mehr empfinden konnte: ihn zu verführen. Wenn sie ihn sich dann durch ihre Künste wieder unterworfen haben würde, wollte sie die Koketterie jener launischen Mätressen gegen ihn spielen lassen, die sich ein Vergnügen daraus machen, ihre Liebhaber zu quälen. Dieses widerwärtige Spiel erschien ihr als das einzige Mittel, sich gegen ihr Unglück zur Wehr zu setzen. Indem sie sich ihren Mann unterwarf und unter ein schreckliches Joch zwang, würde sie Herrin ihrer Leiden bleiben, ihnen gebieten können und ihre Anfälle seltener machen. Sie fühlte keine Gewissensbisse, ihm ein schweres Leben zu bereiten. Jählings stürzte sie sich in kaltblütige Berechnung. Um ihre Tochter zu retten, durchschaute sie mit einem Mal die Ränke und Lügen jener Geschöpfe, die nicht lieben, all den Trug der Koketterie, all die abscheulichen Schliche, die den Männern oft als angeborene Verderbtheit erscheinen und die ihnen die Frauen so verhasst machen. Ihre weibliche Eitelkeit, ihr Eigennutz und ein unbestimmter Wunsch nach Rache verbanden sich ihr unbewusst mit ihrer Mutterliebe, um sie auf einen Weg zu treiben, auf dem nur neue Schmerzen ihrer warteten. Doch sie war zu edel, zu zartfühlend und zu freimütig, um sich lange mit solchem Betrug abzugeben. Da sie gewohnt war, in ihrem Innern zu lesen, musste der Schrei ihres Gewissens beim ersten Schritt in das Laster – denn dies war Laster – die Stimme der Leidenschaft und Selbstsucht übertönen. In der Tat, bei einer Frau, deren Herz rein und deren Liebe jungfräulich geblieben ist, ist selbst die Mutterliebe dem Gefühl der Scham unterworfen. Ist nicht das Schamgefühl das ganze Weib? Doch Julie wollte keine Gefahr, keinen Irrtum in ihrem neuen Leben erkennen. Sie ging zu Madame de Sérisy. Ihre Rivalin erwartete eine blasse, welke Frau zu sehen. Die Marquise hatte Rouge aufgelegt und zeigte sich in dem Glanz einer prächtigen Toilette, die ihre Schönheit noch erhöhte.

Die Comtesse de Sérisy war eine jener Frauen, die sich anmaßen, eine Art Herrschaft über die Mode und die Gesellschaft in Paris auszuüben. Sie verkündete Urteilssprüche, die, wenn sie in dem Kreis, den sie beherrschte, angenommen wurden, für sie allgemeingültig zu sein schienen. Sie bildete sich ein, Schlagworte zu prägen und unumschränkte Richterin zu sein. Literatur, Politik, Männer und Frauen, alles unterlag ihrer Zensur; und Madame de Sérisy schien jeder Kritik der anderen Trotz zu bieten. Ihr Haus war in jeder Beziehung ein Muster des guten Geschmacks. Inmitten dieser Salons voll eleganter schöner Frauen triumphierte Julie über die Comtesse. Sie war geistreich, lebhaft, sprühend, und die vornehmsten Männer der Gesellschaft umringten sie. Zur Verzweiflung der Frauen war ihre Toilette tadellos. Alle beneideten sie um den Schnitt ihres Kleides, den Sitz ihrer Taille, und man schrieb den Eindruck, den sie machte, dem Genie einer unbekannten Schneiderin zu; denn die Frauen glauben lieber an die Macht des Putzes als an die Anmut und Vollkommenheit derer, die dazu geschaffen sind, ihn zur Geltung zu bringen. Als Julie sich erhob und zum Klavier ging, um die Romanze der Desdemona zu singen, kamen die Herren aus allen Salons herbei, um die berühmte Stimme, die seit so langer Zeit stumm geblieben war, zu hören. Tiefe Stille herrschte. Die Marquise war von heftigen Empfindungen bewegt, als sie die Köpfe sich an den Türen drängen und alle Blicke auf sich gerichtet sah. Sie suchte ihren Mann, warf ihm einen koketten Blick zu und sah mit Vergnügen, dass ihre Eigenliebe sich in diesem Augenblick aufs höchste geschmeichelt fühlen durfte. Glücklich über diesen Triumph, entzückte sie die Zuhörer mit dem ersten Teil des ›Al più salice‹. Nie hatte weder die Malibran noch die Pasta mit so vollendetem Gefühlsausdruck und Wohlklang gesungen. Aber, als Julie zur Wiederholung einsetzte, blickte sie in die versammelte Menge und bemerkte Arthur, dessen Blick unverwandt auf ihr ruhte. Sie zuckte zusammen, und ihre Stimme schwankte. Madame de Sérisy stürzte von ihrem Platz auf die Marquise zu.

Die Frau von dreißig Jahren

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