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An Madame la Comtesse Natalie de Manerville
ОглавлениеIch bin Deinem Wunsche nachgekommen. Es ist das Vorrecht der Frau, die wir mehr lieben als sie uns liebt, dass sie uns bei jeder Gelegenheit zwingen kann, Vernunftgründe außer acht zu lassen. Wir geben unser Blut her, wir verschwenden die Zukunft, nur um nicht sehen zu müssen, wie sich eine Falte in eure Stirn gräbt; wir überwinden wunderbarerweise alle Entfernungen, nur um den schmollenden Ausdruck eurer Lippen zu verwischen, der Lippen, die der geringste Widerstand betrübt. Du wünschst meine Vergangenheit zu kennen; hier ist sie. Aber Du sollst wissen und es bedenken, Natalie: als ich Dir gehorchte, musste ich einen großen, bis dahin niemals überwundenen Widerwillen besiegen. Sag, warum beargwöhntest Du auch die plötzlichen und langen Träumereien, in die ich manchmal, mitten in unserm Glück, verfiel? Wozu dieser schöne Zorn einer geliebten Frau, der keines andern Vorwandes bedurfte als eines Schweigens? Hättest Du Dich nicht spielend mit den Widersprüchen meines Charakters abfinden können, ohne nach Erklärungen zu suchen? Oder birgst Du in Deinem Herzen Geheimnisse, die Du Dir nicht verzeihen kannst, ohne die meinen zu kennen? Jedenfalls hast Du es erraten, Natalie, und vielleicht ist es besser, Du erfährst alles: ja, mein Leben wird von einem einzigen Bilde beherrscht; es erhebt sich in unbestimmten Umrissen beim geringsten Wort, das daran erinnert, und oft steht es, voll eines eigenen, unabhängigen Lebens, über mir und bewegt sich. Auf dem Grund meiner Seele sind gewichtige Erinnerungen begraben, gleich jenen unterseeischen Gewächsen, die bei ruhigem Wetter sichtbar sind und die der Sturm stückweise an den Strand wirft. Obwohl ich in der Arbeit, die immer nötig ist, um Gedanken in Ausdrücke zu verwandeln, alle jene früheren Empfindsamkeiten, die mir so weh tun, wenn sie allzu unerwartet erwachsen, gewaltsam eingeschlossen habe, so wäre es doch möglich, dass Du durch irgendeine unvorhergesehene Entladung meiner Gefühle verletzt werdest. Aber dann erinnere Dich, dass Du mich mit Drohungen gezwungen hast, Dir zu gehorchen. Und Du wirst mich doch nicht dafür bestrafen, dass ich Dir gehorcht habe? Ich wünschte, dass mein Vertrauen Deine Zärtlichkeit verdopple. Auf heute abend!
Felix
Welchem mit Tränen genährten Talent werden wir eines Tages die rührendste Elegie zu danken haben, die Schilderung schweigend gelittener Qualen, die jene Seelen erduldet haben, deren erste zarte Wurzeln nur auf harte Steine im mütterlichen Boden stoßen, deren erste Triebe von gehässigen Händen zerstört werden, auf deren eben erstandene Blüten sich der Frost legt? Welcher Dichter wird uns von den Leiden eines Kindes sprechen, dessen Lippen an bitteren Brüsten trinken und dessen Lächeln vom verzehrenden Feuer eines strengen Auges verscheucht wird? Die Erzählung, worin diese armen Herzen geschildert wären und ihre Unterdrückung durch ihre Nächsten, die doch in Wahrheit berufen sind, die Ausbildung der Empfindsamkeit in den Kleinen zu begünstigen: das wäre die wahrhafte Geschichte meiner Jugend. Welche Eitelkeit konnte ich Neugeborenes verletzen? War es ein körperlicher oder geistiger Fehler, der mir die Kälte meiner Mutter eintrug? War ich denn ein Kind der bloßen Pflichterfüllung, ein solches, dessen Geburt ein Zufall wollte, oder eins, dessen Leben einen Vorwurf bedeutet? Ich wurde zu einer Amme aufs Land gegeben und blieb dort drei Jahre, von meiner Familie vergessen. Als ich nach Hause zurückkam, galt ich für so wenig, dass alle Leute mich bemitleideten. Ich kenne weder die Empfindung noch den glücklichen Zufall, mit deren Hilfe ich mich von diesem ersten Verlust habe erholen können: das Kind in mir ist unwissend, und der Mann erinnert sich nicht. Mein Bruder und meine beiden Schwestern waren weit davon entfernt, mein Geschick zu mildern; es war ihnen ein Vergnügen, mich leiden zu machen. Das Bündnis, auf Grund dessen die Kinder ihre kleinen Sünden verbergen und das sie schon frühzeitig den Begriff der Ehre lehrt, galt nicht für mich. Im Gegenteil, ich wurde oft für die Vergehen meines Bruders bestraft, ohne mich dieser Ungerechtigkeit widersetzen zu können. War es der schon in den Kindern keimende Schmeicheltrieb, der ihnen riet, sich an den gegen mich gerichteten Verfolgungen zu beteiligen, um sich auf diese Weise die Gnade einer auch von ihnen gefürchteten Mutter zu sichern? War es nur Nachahmungstrieb? Verspürten sie das Verlangen, ihre Kraft zu erproben, oder fehlte es ihnen an Mitgefühl? Vielleicht hatten sich alle diese Gründe vereinigt, um mich der Süße geschwisterlicher Zuneigung zu berauben. Ein Enterbter aller Liebe, fand ich nichts, das ich hätte lieben dürfen, und die Natur hat mich zum Lieben geschaffen! Ob wohl die Engel die Seufzer einer unaufhörlich zurückgestoßenen Zärtlichkeit sammeln? Es gibt Seelen, in denen die verkannten Gefühle sich in Hass verwandeln; in der meinen schwollen sie bohrend an und schufen sich ein Bett, woraus sie sich später über mein Leben ergossen. Je nach den Charakteranlagen spannt die Gewohnheit zu zittern die Fibern ab, erzeugt die Furcht, und die Furcht zwingt sie zur Nachgiebigkeit. Daraus entsteht eine Schwäche, die den Menschen entnervt und ihm irgend etwas vom Sklaven aufprägt. Aber mich haben die ewigen Leiden daran gewöhnt, eine Kraft zu entfalten, die in der Übung wuchs und meine geistige Widerstandsfähigkeit gründete. In der steten Erwartung eines neuen Schmerzes, nicht anders, als wie die Märtyrer immer einen Schlag erwarten, musste mein ganzes Wesen natürlich eine stumpfe Ergebenheit ausdrücken, wovon die Anmut und die schönen Regungen eines kindlichen Gemüts erstickt wurden, eine Haltung, die für ein Merkmal der Blödigkeit angesehen wurde und die unheilkündenden Prophezeiungen meiner Mutter zu rechtfertigen schien. Dies Bewusstsein, unverdiente Qualen erdulden zu müssen, ließ vorzeitig in mir die Frucht der Erkenntnis, den Stolz, reifen und setzte sich zweifellos einer Entwicklung meiner schlechten Veranlagungen entgegen, die eine derartige Erziehung natürlich hätte begünstigen müssen. Obwohl meine Mutter mich vernachlässigte, scheine ich doch manchmal der Gegenstand ihrer Besorgnisse gewesen zu sein; sie sprach zuweilen von meiner Bildung und äußerte den Wunsch, sich darum zu kümmern. Schreckliche Schauer überliefen mich bei dem Gedanken, welche Qualen mir ein tägliches und langes Zusammensein mit ihr brächten. Ich segnete meine Vernachlässigung und war glücklich, dass man mich im Garten mit Kieseln spielen und die Insekten beobachten und in den blauen Himmel blicken ließ. Meine Einsamkeit musste mich wohl zum Träumer machen; aber mein ausgesprochener Hang, mit mir allein lange Betrachtungen anzustellen, rührt doch von einem Abenteuer her, das Ihnen meine ganze unglückliche Lage in jener Zeit beweisen wird. Ich galt so wenig, dass meine Gouvernante oft vergaß, mich ins Bett zu bringen. Eines Abends saß ich zusammengekauert unter einem Feigenbaum und betrachtete einen Stern mit der seltsamen Leidenschaftlichkeit, die sich eines Kindes bemächtigen kann und zu der noch, infolge meiner frühreifen Melancholie, eine Art sentimentaler Verständigkeit hinzukam. Meine Schwestern lachten und lärmten; ich hörte ihr fernes Rumoren wie eine Begleitmusik zu meinen Gedanken. Der Lärm hörte auf, und es wurde Nacht. Durch einen Zufall bemerkte meine Mutter meine Abwesenheit. Und weil unsere Gouvernante, eine furchtbare Mademoiselle Caroline, nicht wollte, dass man ihr Vorwürfe mache, schürte sie noch die falschen Besorgnisse meiner Mutter und behauptete, dass ich meine Familie hasste und ohne ihre Wachsamkeit schon längst entflohen wäre; dass ich kein Dummkopf, aber ein Heimtücker sei; niemals habe sie, so viele Kinder ihr auch schon anvertraut gewesen seien, einen Jungen mit so schlechten Anlagen angetroffen, wie sie täglich sie an mir beobachten müsse. Sie tat, als ob sie nach mir suchte, und rief. Ich antwortete, und sie kam zum Feigenbaum, wo ich, wie sie wohl wusste, lag und träumte.
»Was hast du hier getrieben?« fragte sie. »Ich habe einen Stern betrachtet.« – »Du hast keinen Stern betrachtet«, sagte meine Mutter, die auf dem Balkon zuhörte; »versteht man in deinem Alter etwas von Astronomie?« – »O Madame«, rief nun Mademoiselle Caroline, »er hat den Hahn des Wasserbehälters geöffnet, der Garten steht unter Wasser!«
Es herrschte große Aufregung. Meine Schwestern hatten sich damit belustigt, den Hahn zu öffnen, um das Wasser laufen zu sehen; aber ein hervorschießender Strahl hatte sie übergossen, sie hatten den Kopf verloren und waren davongelaufen, ohne den Hahn wieder schließen zu können. Nun wurde ich beschuldigt, diesen Streich ausgeheckt zu haben. Sowie ich meine Unschuld beteuerte, wurde ich ein Lügner genannt. Schon galt ich für überführt und wurde streng bestraft. Die schrecklichste Strafe aber war, dass man mich wegen meiner Vorliebe für Sterne aufzog und meine Mutter mir verbot, abends im Garten zu bleiben. Mehr noch als Männer werden Kinder durch tyrannische Verbote aufgebracht. Die Kinder haben vor den Männern voraus, dass sie ausschließlich an die verbotene Sache denken, die deshalb einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübt. So kam es, dass ich viel Prügel für meinen Stern erhielt. Da ich mich niemand anvertrauen konnte, klagte ich ihm meine Leiden, mit jenem entzückenden inneren Gemurmel, in dem ein Kind seine ersten Gedanken ausdrückt, auf dieselbe Weise, wie es einmal seine ersten Worte gestammelt hat. Im Alter von zwölf Jahren, auf der Schule, betrachtete ich ihn noch mit unsäglichem Entzücken; so tiefe Spuren lassen die Eindrücke zurück, die wir in der Frühe des Lebens empfangen haben.
Charles ist fünf Jahre älter als ich; er war ebenso schön als Kind, wie er als Mann ist; er war der Liebling meines Vaters, der Augapfel meiner Mutter, die Hoffnung der Familie. Also regierte er das Haus. Er war gut gewachsen, kräftig und hatte einen Hauslehrer. Ich dagegen, im Alter von fünf Jahren, war schmal und schwächlich und wurde als Externer in eine Stadtpension geschickt. Der Kammerdiener meines Vaters brachte mich morgens hin und holte mich abends wieder ab. Ich bekam einen wenig gefüllten Korb mit, indes meine Kameraden immer mit reichlichen Esswaren ankamen. Dieser Gegensatz zwischen meiner Ärmlichkeit und ihrem Überfluss hatte tausend Leiden zur Folge. Den Hauptbestandteil der Mahlzeit, die wir um Mittag, zwischen dem ersten Frühstück zu Hause und dem Mittagessen in der Anstalt, bei der Rückkehr aus der Schule abhielten, bildeten die berühmten Tourainer Schmalzklöße. Dies von einigen Feinschmeckern so geschätzte Gericht kommt in Tours selten auf eine aristokratische Tafel; und wenn ich von ihm schon vor meinem Eintritt in die Anstalt gehört hatte, so war mir doch nie das Glück des Anblicks zuteil geworden, wie diese braune Konfitüre für mich auf eine Brotschnitte gestrichen wird. Aber selbst wenn sie in der Pension nicht Mode gewesen wäre, meine Lust danach wäre doch nicht geringer gewesen; denn sie war für mich etwas wie eine fixe Idee geworden, so wie eine der elegantesten Fürstinnen von Paris vom Verlangen nach den Ragouts der Hausleute verzehrt wurde und als Frau auch nicht abzuhalten war, ihren Wunsch zu befriedigen. Kinder erraten die Begehrlichkeit in Blicken mit derselben Sicherheit, wie ihr darin Liebe lest: so wurde ich die ausgezeichnete Zielscheibe des Spottes. Meine Kameraden, die fast alle aus dem Mittelstand waren, hielten mir ihre köstlichen Klöße hin und fragten, ob ich wüsste, wie man sie zubereitete, wo sie verkauft würden, warum ich keine mitbrächte. Sie rühmten, wenn sie sich während der Mahlzeit mit der Zunge den Mund wischten, ihre Klöße, ein feingehacktes Schweinefleisch, das in seinem eigenen Fett geschmort wird und ähnlich aussieht wie gekochte Trüffeln. Sie untersuchten meinen Korb, fanden nichts als Käse aus Olivet oder trockene Früchte und marterten mich mit einem »Bist du so arm?«, das mich den ganzen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir ermessen ließ. Dieser Gegensatz zwischen meiner Ärmlichkeit und dem Glück der andern hat die Rosen meiner Kindheit beschmutzt und meine grünende Jugend geschändet. Das erstemal, als ich im Glauben an ein hochherziges Gefühl die Hand ausstreckte, um den so sehr begehrten Leckerbissen entgegenzunehmen, den mir jemand mit einer scheinheiligen Miene hinhielt, zog der Spaßvogel die Brotschnitte unter dem Gelächter der darauf vorbereiteten Kameraden zurück. Wenn selbst die hervorragendsten Geister der Eitelkeit zugänglich sind, warum sollte man einem Kinde nicht verzeihen, das weint, weil es sich verachtet und verspottet sieht? Wie viele Kinder wären dabei Schlemmer, Schnorrer, Feiglinge geworden! Um den Verfolgungen zu entgehen, schlug ich um mich. Die Wut der Verzweiflung machte mich gefürchtet; aber zugleich wurde ich eine Zielscheibe des Hasses und der Hinterlist. Eines Abends auf dem Heimweg erhielt ich rücklings einen Schlag mit einem Taschentuch, dessen Knoten Kieselsteine enthielt. Als der Kammerdiener, der mich ausgiebig gerächt hatte, meiner Mutter das Ereignis mitteilte, brach sie in die Worte aus: »Mit diesem verfluchten Kinde werden wir nichts als Sorgen haben.«
Ich verbohrte mich in ein ungeheures Misstrauen gegen mich selbst, als ich wahrnahm, dass ich in der Anstalt denselben Widerwillen einflößte wie zu Hause. Und so wie zu Hause zog ich mich dort in mich zurück.
Ein zweiter Schneefall hielt die Blüte der in meine Seele gesäten Keime auf. Ich sah, dass die, die geliebt wurden, ausgewachsene Taugenichtse waren; auf diese Beobachtung baute ich meinen Stolz: ich blieb allein. So war es mir immer versagt, die Gefühle auszuströmen, von denen mein armes Herz geschwellt war. Mein Lehrer, der sah, dass ich immer düster, verhasst und einsam war, bekräftigte die falschen Mutmaßungen meiner Familie und erklärte mich ebenfalls für einen schlechten Charakter. Sowie ich lesen und schreiben konnte, ließ mich meine Mutter nach Pont-le-Voy schaffen, einer von Oratorianern geleiteten Schule, die Kinder meines Alters in eine Klasse aufnahmen, die die Klasse der ›Lateinischen Schritte‹ hieß und in der auch die Schüler verblieben, deren schwerfälliger Verstand sich den Anfangsgründen widersetzte. Hier verbrachte ich acht Jahre, ohne jemand zu sehen, behandelt wie ein Paria, und zwar aus folgenden Gründen: Ich bekam nur drei Francs monatliches Taschengeld, eine Summe, die kaum für Federn, Federmesser, Lineale, Tinte und Papier ausreichte, die wir selbst anschaffen mussten. Ich konnte weder Stelzen noch Seile, noch eins der andern Dinge kaufen, mit denen Schüler sich vergnügen, und blieb deshalb von den Spielen ausgeschlossen. Um zugelassen zu werden, hätte ich den Reichen den Hof machen oder den Starken meiner Abteilung schmeicheln müssen. Die geringste solcher kleiner Feigheiten, zu denen sich Kinder so leicht verleiten lassen, widerte mich an. Ich blieb unter einem Baume liegen, in wehmütigen Träumen verloren; dort las ich auch die Bücher, die der Bibliothekar alle Monate austeilte. Wie viele Schmerzen lagen auf dem Grunde dieser ungeheuerlichen Einsamkeit verborgen, welche Ängste erstanden in meiner Verlassenheit! Denken Sie, was ich mit all meinem Liebesbedürfnis bei der ersten Preisverteilung empfinden musste, bei der ich die beiden am meisten geschätzten Preise erhielt: den für den Aufsatz und den für Übersetzungen. Als ich unter Beifallsrufen und Trompetengeschmetter auf die Bühne hinaufstieg, um die Preise entgegenzunehmen, fehlten mir ein Vater und eine Mutter, die mich gefeiert hätten, und doch war der ganze Raum dicht besetzt mit den Angehörigen meiner Kameraden. Es gehörte sich, dass man den Lehrer, der die Preise verteilte, küsste; ich aber warf mich an seine Brust und brach in Tränen aus. Am Abend verbrannte ich meine Lorbeeren im Ofen. Die Angehörigen der Schüler kamen die Woche vor der Preisverteilung, während der die Prüfungen stattfanden, in die Stadt, und so zogen meine Kameraden jeden Morgen fröhlich von dannen, wogegen ich, dessen Eltern nur wenige Stunden entfernt wohnten, allein mit den ›Überseeischen‹ in den Höfen zurückblieb; so nannte man die Schüler, deren Angehörige auf den Inseln und im Ausland wohnten. Am Abend, während des Gebets, rühmten sich die Barbaren vor uns der guten Mahlzeiten, die sie mit ihren Verwandten eingenommen hatten. Sie werden sehen, dass mein Unglück immer mehr anwächst, je größer der soziale Kreis wird, der mich aufnimmt. Was habe ich nicht alles versucht, um endlich dem Schicksal zu entgehen, das mich dazu verurteilt, immer nur auf mich allein angewiesen zu sein. Wie viele Hoffnungen habe ich, wie lange sie inbrünstig genährt, die an einem Tage zerrannen! Ich wollte meine Eltern bewegen, in die Schule zu kommen, und schrieb ihnen lange, gefühlvolle Briefe, deren Sprache vielleicht übertrieben war. Aber mussten denn diese Briefe mir gleich die Vorwürfe meiner Mutter zuziehen, die mir ironische Verweise wegen meines Stils erteilte? Ich ließ mich trotzdem nicht entmutigen und versprach, alle Bedingungen zu erfüllen, die Vater und Mutter an ihre Zusage knüpften; ich bat flehentlich um die Teilnahme meiner Schwestern, denen ich regelmäßig zu ihren Geburtstagen und Namensfesten schrieb, mit der Pünktlichkeit armer, verlassener Kinder und mit einer Geduld, die niemals belohnt wurde. Als der Tag der Preisverteilung herannahte, verdoppelte ich meine Bitten; ich sprach von Triumphen, die ich ahnte ... Schließlich ließ ich mich durch das Schweigen meiner Eltern täuschen; ich erwartete sie mit einer überschwenglichen Freude, die ich täglich höher schraubte, kündigte sie meinen Kameraden an, und wenn dann beim Eintreffen der Angehörigen der Schritt des alten Pförtners, der die Schüler benachrichtigte, in den Höfen widerhallte, verspürte ich ein krankhaftes Erzittern des Herzens. Niemals sprach der Alte meinen Namen aus. Am Tage, als ich mich anklagte, das Leben verflucht zu haben, wies mein Beichtvater in den Himmel, wo die Palme blühe, die uns durch das ›Beati qui lucent‹ des Erlösers versprochen ist. So warf ich mich denn bei meiner ersten Kommunion in die geheimnisvollen Abgründe des Gebets und überließ mich den religiösen Gedanken, deren moralische Zaubereien ein junges Gemüt entzücken. Ich war von einem inbrünstigen Glauben beseelt und bat Gott, er möge für mich die bestrickenden Wunder erneuern, von denen ich in der Geschichte der Märtyrer las. Mit fünf Jahren entflog ich zu einem Stern, mit zwölf Jahren klopfte ich an die Pforten des Allerheiligsten. Die Entzückung weckte in mir unsagbare Träume, die meine Einbildung bevölkerten, meine Zärtlichkeit vertieften und meine Denkkraft stärkten. Ich habe oft gedacht, dass diese erhabenen Gesichte mir von Engeln kamen, die nach göttlichem Ratschluss meine Seele formten: sie haben meinen Augen die Fähigkeit gegeben, den heimlichen Sinn der Dinge zu erkennen, und mein Herz mit jenen Zauberkräften ausgestattet, die aus dem Dichter einen Unglücklichen machen, wenn er die verhängnisvolle Gabe besitzt, seine Gefühle mit der Wirklichkeit, die großen Absichten mit dem Wenigen zu vergleichen, das er erreicht; sie haben in meinen Geist Worte und Sätze gegraben, die mir vorschrieben, was ich auszudrücken hatte; sie haben meine Lippen mit der feurigen Beredsamkeit des Erfinders begabt.
Meinem Vater stiegen über den Wert des Unterrichts bei den Oratorianern Zweifel auf; er nahm mich aus der Schule in Pont-le-Voy, und ich kam nun in eine Pariser Erziehungsanstalt, die im Marais gelegen war. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Nach einer eingehenden Prüfung wurde der Rhetorikschüler von Pont-le-Voy würdig erachtet, in die dritte Klasse einzutreten. Die Leiden, die ich in meiner Familie, in der Schule und im Internat durchgekostet hatte, erfuhr ich in erneuter Form während meines Aufenthalts in der Pension Lepître. Mein Vater hatte mir kein Geld gegeben. Es genügte meinen Eltern, zu erfahren, dass ich genährt und gekleidet sowie mit Latein und Griechisch überfüttert würde, und sie entschlossen sich, mich dort zu lassen. Im Laufe meines Schülerlebens habe ich etwa tausend Kameraden kennengelernt. Nie wieder habe ich ein solches Beispiel elterlicher Gleichgültigkeit gesehen. Als fanatischer Anhänger der Bourbonen hatte Monsieur Lepître Beziehungen zu meinem Vater gehabt zu der Zeit, als treue Royalisten Marie-Antoinette aus dem Temple zu retten versuchten. Sie hatten ihre Bekanntschaft erneuert. Monsieur Lepître glaubte sich daher verpflichtet, die Gleichgültigkeit meines Vaters wieder gutzumachen; aber die Summe, die er mir monatlich zur Verfügung stellte, war unzureichend; er konnte ja auch nicht wissen, was meine Familie mit mir vorhatte. Das Internat befand sich im alten Hôtel Joyeuse, das wie alle herrschaftlichen Häuser früherer Zeiten eine Portierloge hatte. In der Pause vor der Stunde, für die der Hilfslehrer uns ins Lycée Charlemagne begleitete, gingen meine begüterten Kameraden zu Doisy, dem Portier, um bei ihm zu frühstücken. Monsieur Lepître drückte ein Auge zu oder wusste überhaupt nichts von den Besuchen bei Doisy, einem ausgemachten Schmuggler, mit dem alle Schüler auf möglichst gutem Fuß zu stehen suchten: er deckte unsere heimlichen Ausschreitungen, er wusste um unser spätes Nachhausekommen, er vermittelte uns verbotene Lektüre. Eine Tasse Milchkaffee galt für einen aristokratischen Luxus, was sich daraus erklärt, dass Kolonialwaren zur Zeit Napoleons gewaltig im Preise gestiegen waren. Wenn der Genuss von Zucker und Kaffee schon bei den Eltern einen Luxus bedeutete, so war er bei uns Kindern nichts als eitle Großtuerei. Allein die Seltenheit des Genusses hätte unsere Begehrlichkeit reizen müssen, wenn nicht Nachahmungstrieb, Naschhaftigkeit und Modesucht genügt hätten. Doisy gab uns Kredit; er dichtete uns allen irgendwelche Schwestern oder Tanten an, die unsere Großmannssucht gutheißen und unsere Schulden bezahlen sollten. Ich widerstand lange den Lockungen des Ausschankes. Wenn meine Richter die Macht der Versuchung, die heldenhaften Anläufe meiner Seele zum Stoizismus, den verhaltenen Grimm meines langen Widerstandes gekannt hätten – sie hätten meine Tränen getrocknet, statt mich erst recht zum Weinen zu bringen. Doch wie konnte ich als Kind die seelische Größe haben, die uns die Verachtung anderer verachten lehrt? Zudem verspürte ich vielleicht schon damals die Symptome mehrerer sozialer Laster, deren Macht durch meine Begehrlichkeit noch gesteigert wurde.
Gegen Ende des zweiten Schuljahres kamen mein Vater und meine Mutter nach Paris. Der Tag ihrer Ankunft wurde mir von meinem Bruder mitgeteilt. Er lebte in Paris und hatte mich nicht ein einziges Mal besucht. Meine Schwestern nahmen an der Reise teil, und wir sollten zusammen Paris besichtigen. Am ersten Tage wollten wir im Palais-Royal zu Abend essen, um in nächster Nähe des Théâtre-Français zu sein. Trotz der Trunkenheit, die mich bei diesem unerwarteten Festprogramm erfasste, wurde meine Freude doch durch die Gewitterschwüle beeinträchtigt, die so gern auf den Gemütern der mit dem Unglück Vertrauten lastet. Ich hatte meinen Eltern hundert Francs Schulden einzugestehen, da Meister Doisy damit drohte, dass er selbst sich sonst an sie wenden werde. Ich ersann den Ausweg, meinen Bruder als Unterhändler mit Doisy, als Dolmetsch meiner Reue und als Fürsprecher für meine Verzeihung vorzuschieben. Mein Vater neigte zur Nachsicht, aber meine Mutter war unerbittlich. Der Blick ihrer dunkelblauen Augen ließ mich erstarren. Sie stieß schreckliche Prophezeiungen aus: Wo sollte es mit mir noch hinaus, wenn ich schon im Alter von siebzehn Jahren mir derartige Streiche zuschulden kommen ließe; ob ich tatsächlich ihr Sohn sei; ob ich meine Familie ins Unglück stürzen wolle; ob ich denn der einzige zu Hause sei; verlangte nicht die Laufbahn, die mein Bruder Charles eingeschlagen hätte, schon genügend große Geldopfer, deren er sich aber würdig gezeigt habe durch ein Betragen, das seiner Familie zur Ehre gereiche, während ich ihr Schandfleck sei? Ob etwa meine Schwestern ohne Mitgift heiraten sollten; ob ich denn den Wert des Geldes nicht kennte und nicht wüsste, wieviel ich kostete? Was denn Kaffee und Zucker mit meiner Erziehung zu tun hätten; sei ein solches Benehmen nicht aller Laster Anfang? – Im Vergleich zu mir war Marat ein Engel! ... Als ich diesen Sturzbach, der tausend Schrecknisse in meine Seele wälzte, über mich hatte ergehen lassen, führte mich mein Bruder in die Anstalt zurück. Ich kam um das Diner bei den Frères Provençaux und um das Vergnügen, Talma im ›Britannicus‹ zu sehen. Das war mein Wiedersehen mit meiner Mutter nach zwölfjähriger Trennung!
Als ich meine humanistischen Studien beendet hatte, überließ mich mein Vater auch weiterhin der Fürsorge des Monsieur Lepître. Ich sollte höhere Mathematik treiben, ein Jahr lang Jurisprudenz studieren und mich dann einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit widmen. Zwar war ich Interner, aber schulfrei, und so wagte ich zu glauben, dass zwischen dem Elend und mir ein Waffenstillstand eingetreten sei. Aber trotz meiner neunzehn Jahre oder vielleicht wegen meiner neunzehn Jahre blieb mein Vater bei dem System, wonach ich früher ohne Mundvorräte in die Schule geschickt, im Internat aller kleinen Freuden beraubt und zum Schuldner Doisys gemacht worden war. Ich hätte nur wenig Geld zur Verfügung. Was sollte ich in Paris ohne Geld anfangen? Übrigens wurde meine Freiheit mit Vorbedacht an die Kette gelegt. Monsieur Lepître ließ mich in die juristische Fakultät begleiten, durch einen Bonzen, der mich in die Hände des Professors ablieferte und wieder abholte. Ein junges Mädchen wäre mit weniger Sorgfalt gehütet worden. Aber die Sorge meiner Mutter um mein Seelenheil wollte es so. Freilich, die Angst meiner Eltern vor Paris war berechtigt; die Studenten beschäftigten sich im geheimen mit dem, was auch die jungen Mädchen in ihren Pensionaten in Anspruch nimmt. Wie man's auch anfängt, die Mädchen werden immer vom Liebhaber, die jungen Männer stets von Frauen reden. Aber im damaligen Paris waren die Gespräche unter Studiengenossen ganz beherrscht von den Bildern orientalischen Seraillebens, wie sie das Palais-Royal vorführte. Das Palais-Royal war ein Liebesdorado, wo des Abends ganze Berge Gold kreisten. Dort hörten die keuschesten Zweifel auf, dort konnten die entfachten Begierden Befriedigung finden. Das Palais-Royal und ich, wir waren zwei Pole, die einander anzogen, ohne sich treffen zu können. Folgendermaßen vereitelte das Schicksal meine Pläne: Mein Vater hatte mich bei einer meiner Tanten, die auf der Ile- Saint-Louis wohnte, eingeführt, und dort musste ich jeden Donnerstag und Sonntag zu Tisch erscheinen. Madame oder Monsieur Lepître, die an diesen Tagen ausgingen, begleiteten mich hin und holten mich abends auf dem Rückweg wieder ab – für mich ein zweifelhaftes Vergnügen! Die Marquise de Listomère war eine sehr formelle große Dame, die niemals auf den Gedanken kam, mir einen Taler zu schenken. Sie war alt wie eine Kathedrale, gemalt wie eine Miniatur, sehr reich gekleidet und lebte in ihrem herrschaftlichen Hause, als ob Ludwig XV. nie gestorben wäre. Sie empfing nur alte Damen, Herren von gutem Adel, eine Gesellschaft von Fossilien, in der ich mir wie in einer Gruft vorkam. Niemand richtete ein Wort an mich, und ich hatte nicht den Mut, jemand anzusprechen. Feindliche oder kalte Blicke beschämten mich, meine Jugend schien allen ein Ärgernis zu sein. Von dieser Gleichgültigkeit erhoffte ich das Gelingen meines Fluchtplanes: ich nahm mir vor, mich eines Tages gleich nach Tisch wegzuschleichen und zu den ›Holzgalerien‹ zu eilen. Wenn meine Tante erst einmal in das Whistspiel vertieft war, gab sie nicht mehr auf mich acht. Jean, ihr Kammerdiener, kümmerte sich wenig um Monsieur Lepître; aber solch ein unseliges Diner zog sich infolge des Alters der Kauwerkzeuge oder der Unvollkommenheit der künstlichen Gebisse furchtbar in die Länge. Endlich, eines Abends zwischen acht und neun Uhr, hatte ich die Treppe erreicht, vor Erregung zitternd, wie Bianca Capello am Tage ihrer Flucht. Aber als der Portier mir die Tür geöffnet hatte, sah ich den Wagen des Monsieur Lepître auf der Straße und ihn selbst, den Edeln, der mit keuchender Stimme nach mir fragte. Dreimal schob sich der Zufall in verhängnisvoller Weise zwischen die Hölle des Palais-Royal und das Paradies meiner Jugend. Am Tage, da ich, zwanzigjährig, mir mit Beschämung meine Unwissenheit eingestand, beschloss ich, allen Gefahren die Stirn zu bieten, um zum Ziel zu kommen. Im Augenblick, da ich Monsieur Lepître entwischte, als er eben in den Wagen stieg – und das war keine Kleinigkeit, denn er war so dick wie Ludwig XVIII. und hatte einen Klumpfuß –, ja, da erschien meine Mutter in der Postkutsche. Ihr Blick bannte mich, ich blieb bewegungslos wie der Vogel vor der Schlange. Durch welchen Zufall ich sie traf? Nichts ist leichter zu erklären. Napoleon wagte die letzten Entscheidungsschläge. Mein Vater, der die Rückkehr der Bourbonen ahnte, kam, um meinen Bruder, der schon im Dienste der kaiserlichen Diplomatie stand, zu warnen. Er hatte Tours mit meiner Mutter verlassen. Meine Mutter hatte es übernommen, mich dorthin zurückzubringen und mich so den Gefahren zu entziehen, die nach dem Dafürhalten aller intelligenten Beobachter die Hauptstadt bedrohten. In wenigen Minuten wurde ich aus Paris entführt, gerade als mir der dortige Aufenthalt verhängnisvoll werden sollte. Die Qualen einer Phantasie, die durch fortwährend zurückgedrängte Begierden überreizt war, die Mühsale eines Lebens, das ständige Entbehrungen verdüsterten, hatten mich gezwungen, im Studium unterzugehen, wie die ihres Geschickes Überdrüssigen sich früher in ein Kloster vergruben. Mir war das Studium zur Leidenschaft geworden; es konnte mir gefährlich werden, denn es schlug mich in Fesseln zu einer Zeit, wo junge Leute dem berauschenden Tatendrang ihrer jungen Kraft freien Lauf lassen sollten.
Diese leicht hingeworfene Skizze einer Jugend, die Sie zahllose Elegien erraten lässt, war nötig, um den Einfluss meiner ersten Jahre auf mein späteres Leben zu erklären. Durchseucht von so vielen Krankheitskeimen, war ich mit gut zwanzig Jahren noch klein, mager und blass. Meine Seele, voll von Willenskräften, rang mit einem scheinbar schwächlichen Körper, der aber, nach der Aussage eines alten Arztes von Tours, ein eisernes Temperament umschloss. An Körper ein Kind, an Geist ein Greis, hatte ich so viel gelesen, so viel geforscht, dass ich, theoretisch das Leben in seinen höchsten Höhen kannte, und jetzt erst sollte ich die schwierigen Wirrsale seiner Engpässe und die sandigen Pfade seiner Niederungen kennenlernen. Seltsame Schicksalsfügungen hatten mich in jener reizvollen Entwicklungsphase festgehalten, wo erste Wallungen die Seele aufrühren, wo sie zur Wollust erwacht, wo alles schmackhaft und frisch ist. Ich stand auf der Schwelle zwischen künstlich hingezogener Pubertät und einer Mannbarkeit, die erst spät trieb und grünte. Nie ward ein Jüngling besser vorbereitet zum Fühlen, zum Lieben. Um meine Erzählung gut zu verstehen, denken Sie sich zurück in jenes schöne Alter, da der Mund noch nicht durch Lügen entweiht und der Blick offen ist, wenn auch scheue Lider sich wie Schleier vor seine Begierden legen, da der Geist listiger Weltweisheit sich nicht fügen will und die Feigheit des Herzens ebenso groß ist wie die erste unwillkürliche Regung heldenhaft.
Ich will Ihnen nicht von der Reise nach Tours erzählen. Die kühle Zurückhaltung meiner Mutter drängte jede zärtliche Anwandlung in mir zurück. Nach jeder Unterbrechung der Fahrt nahm ich mir vor, zu sprechen; aber ein Blick, ein Wort jagten mir Sätze, die ich mir sorgfältig als Einleitung zurechtgelegt hatte, in die Kehle zurück. In Orleans, beim Gutenachtsagen, warf mir meine Mutter meine Einsilbigkeit vor. Ich ließ mich vor ihre Füße fallen, umklammerte ihre Knie und vergoss heiße Tränen; ich eröffnete ihr mein von Liebe überströmendes Herz. Ich suchte sie durch eine beredte Verteidigung zu rühren: meine Worte schrien nach Liebe und hätten in ihrer Eindringlichkeit eine Rabenmutter bis ins Mark erschüttern müssen. Meine Mutter antwortete, dass ich ein Schauspieler sei. Ich hielt ihr vor, sie habe mich vernachlässigt – da nannte sie mich einen entarteten Sohn. Mein Herz krampfte sich derart zusammen, dass ich in Blois zur Brücke lief und in die Loire springen wollte. Mein Selbstmord wurde nur durch die Höhe des Brückengeländers vereitelt.
Bei meiner Ankunft kamen mir meine Schwestern, die mich nicht kannten, eher neugierig als zärtlich entgegen. Immerhin erschien es mir später, als seien sie verhältnismäßig recht freundlich zu mir gewesen. Ich wurde in einem Zimmer im dritten Stockwerk untergebracht. Sie werden verstehen, wie ärmlich es mit mir bestellt war, wenn ich Ihnen sage, dass meine Mutter mir, dem Zwanzigjährigen, keine andere Wäsche als meine geringe Internatsausstattung bewilligte, keine andere Garderobe als meine Pariser Kleider. Wenn ich durch das ganze Wohnzimmer flog, um ihr Taschentuch aufzuheben, ward mir nur der kalte Dank zuteil, den eine Frau für ihre Diener übrig hat. Ich war darauf angewiesen, sie zu beobachten, um in ihrem Herzen etwa weicheren Boden zu entdecken, wo mein Zärtlichkeitsbedürfnis hätte Wurzeln schlagen können, sah aber in ihr nur eine große, hagere Frau, die spielerisch, selbstsüchtig, anmaßend war wie alle Listomères, bei denen die Anmaßung zur Mitgift gehört. Es gab für sie im Leben nur Pflichten zu erfüllen. Alle kalten Frauen, die mir begegnet sind, hatten sich, wie sie, eine Religion der Pflichterfüllung zurechtgezimmert. Sie ließ unsere Huldigungen zu sich emporsteigen wie der Priester in der Messe den Weihrauch. Mein älterer Bruder schien das bisschen Mütterlichkeit in ihrem Herzen aufgebraucht zu haben. Sie verletzte uns fortwährend mit den Pfeilen beißender Spöttelei, die ja die Waffe des Herzlosen ist und deren sie sich uns Wehrlosen gegenüber bediente. Trotz solcher abstoßenden Härten sind instinktive Empfindungen so tief eingewurzelt; die fromme Scheu vor einer Mutter, an der man nicht irre werden will noch kann, ist ein so festes Band, dass der erhabene Irrtum unserer Liebe fortdauert, bis wir eines Tages, durch das Leben gereift, dazu kommen, sie mit ganzer Überlegenheit zu verurteilen. Da beginnt die Rache der Kinder. Ihre Gleichgültigkeit, aus Enttäuschung geboren, schleppt traurige Trümmer gescheiterter Hoffnungen mit sich und wälzt sich, immer wachsend, bis zum Grabe. Die schreckliche und unbedingte Herrschaft meiner Mutter verscheuchte die wollüstigen Anwandlungen, denen ich Tor in Tours hatte freien Lauf lassen wollen. Ich verschanzte mich leidenschaftlich in der Bibliothek meines Vaters, wo ich anfing, alle mir unbekannten Bücher zu lesen. Meine langen Arbeitsstunden ersparten mir jegliche Berührung mit der Mutter, aber sie verschlimmerten meine Seelenverfassung. Manchmal versuchte meine ältere Schwester, die nämliche, die später unsern Vetter, den Marquis de Listomère, heiratete, mich zu trösten, aber ohne mich von meiner Verbitterung heilen zu können. Ich wollte sterben.
Damals bereiteten sich große Ereignisse vor, von denen ich übrigens nichts verstand. Der Duc d'Angoulême hatte Bordeaux verlassen, um in Paris mit Ludwig XVIII. zusammenzutreffen. Auf seiner Durchreise wurden ihm in jeder Stadt Ovationen dargebracht; denn Begeisterung erfasste bei der Rückkehr der Bourbonen das alte Frankreich. Die Touraine in Aufregung um ihrer angestammten Fürsten willen, die Stadt im Freudentaumel, die bannergeschmückten Fenster, die Bewohner im Sonntagsstaat, die Vorbereitungen zum Fest und ein unbestimmtes Etwas, das berauschend in der Luft lag, all dies weckte in mir die Lust, dem Ball, der dem Prinzen zu Ehren veranstaltet wurde, beizuwohnen. Als ich mir ein Herz fasste und vor meiner Mutter diesen Wunsch aussprach – sie selbst war zu krank, um das Fest zu besuchen –, geriet sie in große Wut: Ob ich etwa frisch vom Kongo her käme, dass ich gar nichts wüsste? Wie ich mir denn einbilden könnte, dass unsere Familie bei diesem Ball nicht vertreten sein werde? Ob es denn nicht an mir sei, in Abwesenheit meines Vaters und meines Bruders hinzugehen? Hätte ich nicht eine Mutter? Dächte sie nicht an das Glück ihrer Kinder? ... Im Handumdrehen wurde der bis dahin verleugnete Sohn eine gewichtige Persönlichkeit. Meine neue Würde verwirrte mich ebensosehr wie die Flut spöttischer Beweisgründe, womit meine Mutter meine Bitte beantwortet hatte. Ich befragte meine Schwester und erfuhr, dass meine Mutter, der solche Knalleffekte Spaß machten, sich schon eifrig um meine Toilette bemüht hatte. Die Schneider von Tours wurden von ihren Kunden derart bestürmt, dass keiner meine Ausstattung übernehmen konnte. Meine Mutter hatte dann ihre Schneiderin, die im Tagelohn arbeitete und nach Provinzsitte in jeder Art Näharbeit bewandert war, zu sich beordert. Ein kornblumenblauer Anzug wurde im geheimen, so gut es eben ging, zurechtgeschneidert. Seidene Strümpfe und neue Stiefeletten waren leicht aufzutreiben. Die Weste trug man damals kurz, und so konnte ich eine Weste meines Vaters anziehen. Zum ersten Mal in meinem Leben trug ich ein Hemd mit einem Jabot, dessen Streifen sich auf meiner Brust bauschten und sich in meiner Krawattenschleife verfingen. Als ich fertig angezogen war, glich ich mir selbst so wenig, dass erst die Komplimente meiner Schwestern mir Mut machten, vor der versammelten Touraine zu erscheinen. Schwieriges Unterfangen! Dieses Fest vereinigte zu viele Berufene, als dass viele Auserwählte hätten sein können. Dank meiner schmächtigen Figur schlängelte ich mich in ein Zelt, das in den Gärten des Hauses Papion errichtet war, und gelangte bis zum Thronsessel des Prinzen. Gleich war ich vor Hitze wie erstickt, geblendet von den Lichtern, den roten Zeltwänden, den vergoldeten Wappen, den Toiletten und den Diamanten des ersten öffentlichen Festes, dem ich beiwohnte. Ich wurde durch eine Menge von Männern und Frauen geschoben, die einander drängten und, in eine Staubwolke gehüllt, heftig aufeinanderstießen. Das Gellen der Beckenschläge, das Geschmetter der Militärmusik wurden überdröhnt von Hurrarufen: »Es lebe der Duc d'Angoulême! Es lebe der König! Hoch die Bourbonen!«
Dieses Fest war ein Begeisterungsausbruch, bei dem jeder bemüht war, es dem andern zuvorzutun und in wildem Übereifer die aufgehende Sonne der Bourbonen zu begrüßen; überall Parteiegoismus, der mich kalt ließ, mich demütigte und in mich selber zurückwarf.
Wie ein Strohhalm vom Strudel fortgerissen, empfand ich den kindlichen Wunsch, selbst der Duc d'Angoulême zu sein, mich unter diese Fürsten zu mischen, die vor dem staunenden Publikum umherstolzierten. Der kleinliche Neid meiner Landsleute rief in mir einen Ehrgeiz wach, den mein Charakter und die Zeitumstände veredelten. Wer hätte nicht Eifersucht empfunden vor dieser Anbetungsszene, die sich wenige Monate später in großartiger Weise von neuem mir darbot, als ganz Paris dem von Elba zurückkehrenden Kaiser entgegenjubelte? Diese Gewalt über die Massen, deren Gefühle und Lebensäußerungen sich in einer einzigen Seele zusammenziehen, trieb mich plötzlich der Ehrfurcht in die Arme, jener Priesterin, die heutzutage die Franzosen erwürgt, wie die Druidinnen ehedem die Gallier schlachteten. Und dann auf einmal traf ich die Frau, die meine ehrgeizigen Wünsche anstacheln und sie erfüllen sollte, indem sie mich in das monarchische Lager stieß. Da ich zu schüchtern war, eine Dame zum Tanz aufzufordern, und außerdem fürchtete, die Tanzfiguren zu stören, wurde ich naturgemäß bald sehr missmutig und wusste nichts mit mir anzufangen. Während ich mich treiben ließ und es unangenehm empfand, von der Menge geschoben zu werden und keinen Augenblick stillstehen zu können, trat mir ein Offizier auf die Füße, die durch den Druck des Leders und die Hitze angeschwollen waren. Diese letzte Unannehmlichkeit verleidete mir das Fest. Es war unmöglich, herauszukommen. Ich flüchtete mich in eine Ecke, setzte mich auf die Kante einer verlassenen Bank, wo ich starren Blickes, bewegungslos und mürrisch verharrte. Durch meine schmächtige Gestalt irregeführt, hielt mich eine Dame für ein Kind, das dem Einschlafen nahe war, während es auf seine Mutter wartete; sie setzte sich zu mir mit der Gebärde eines Vogels, der sich schützend auf sein Nest niederlässt. Alsbald streifte mich ein weiblicher Duft, der mich berauschte, wie mich später die orientalische Poesie berauscht hat. Ich blickte meine Nachbarin an: sie blendete mich, mehr als das ganze Fest mich geblendet hatte. Sie wurde mein ganzes Fest. Wenn Sie mein bisheriges Leben richtig beurteilt haben, werden Sie erraten, welche Gefühle da in meinem Herzen aufstiegen. Meine Blicke wurden gebannt von ihren vollen weißen Schultern, auf denen ich mich hätte zusammenrollen mögen, ihren mattrosigen Schultern, die zu erröten schienen, als seien sie zum ersten Mal unverhüllt, ihren keuschen Schultern, Schultern, die eine Seele hatten und deren weiche Haut wie ein seidenes Gewebe im Lichte schimmerte. Längs der Senkung zwischen ihren Schultern glitt mein Blick, der kühner war als meine Hand. Ich reckte mich bebend, um ihre Büste zu sehen, und ward gebannt durch den Anblick eines keusch in Gaze gehüllten Busens, dessen bläulich geäderte, vollendet schöne Rundungen in einer Flut von Spitzen wohlig gebettet lagen. Die geringsten Einzelheiten ihres Kopfes lösten in mir unendliche Wonnen aus: der Glanz des Haares, das über einem samtweichen, mädchenhaften Halse lag, die weißen Linien, die der Kamm gezogen hatte und auf denen meine Phantasie wie auf lauschigen Pfaden lustwandelte, all das raubte mir die Sinne. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass mich niemand sah, vergrub ich mein Haupt zwischen ihren Schultern, wie ein Kind, das sich in den Schoß seiner Mutter flüchtet; ich drehte den Kopf hin und her und küsste ihre Schultern wieder und wieder. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, den die Musik überdröhnte; sie wandte sich um, erblickte mich und rief: »Monsieur!...« Ach, wenn sie gesagt hätte: ›Mein lieber Junge, was fällt Ihnen denn ein!‹ – ich hätte sie vielleicht getötet; aber bei diesem ›Monsieur!‹ stürzten mir heiße Tränen aus den Augen. Ich war versteinert durch einen Blick, den heilige Entrüstung entfachte, durch ein überirdisches Haupt, das ein Diadem aschblonden Haares krönte und das sich so gut mit ihrem wollüstigen Rücken vertrug. Das Rot verletzten Schamgefühls färbte ihr Gesicht; aber da entwaffnete sie auch schon das Mitleid der Frau, die eine Leidenschaft immer versteht, wenn sie selbst sie erregt hat, und die aus Reuetränen grenzenlose Anbetung herausliest. Sie entfernte sich mit der Haltung einer Königin. Da erst fühlte ich, wie lächerlich meine Lage war. Ich sah ein, dass ich so komisch wie der Affe eines Savoyarden sei. Ich schämte mich und blieb ganz verstört sitzen, mit dem süßen Nachgeschmack des gestohlenen Apfels im Munde. Auf den Lippen fühlte ich die Wärme des Blutes, das ich geatmet hatte... Mein Blick folgte der Frau, die nur vom Himmel stammen konnte. Ergriffen von der ersten fleischlichen Offenbarung, die das fiebernde Verlangen meines Herzens bloßgelegt hatte, irrte ich durch die nunmehr verödeten Ballsäle, ohne meine Unbekannte wiederfinden zu können. Ich kehrte völlig umgewandelt nach Hause zurück.
Eine neue Seele, eine Seele mit farbenschillernden Flügeln hatte sich aus der Larve erhoben. Aus den blauen Fernen, wo ich ihn bewunderte, war mein lieber Stern heruntergefallen und hatte die Gestalt einer Frau angenommen, ohne seine Klarheit, sein Funkeln, seinen Glanz einzubüßen. Ich liebte plötzlich, ohne von der Liebe etwas zu wissen. Ist es nicht etwas Seltsames um den ersten Ausbruch des stärksten menschlichen Gefühls? Ich hatte im Salon meiner Tante einige hübsche Frauen gesehen. Keine hatte den geringsten Eindruck auf mich gemacht. Gibt es denn im Lebensalter, da Leidenschaftlichkeit das ganze Geschlechtsleben beherrscht, eine Stunde, eine besondere Konstellation von Gestirnen, ein einzigartiges Zusammentreffen von Umständen, eine Frau unter allen, etwas, das ganz allein bestimmt ist, eine ausschließliche Leidenschaft hervorzurufen? Wenn ich bedachte, dass meine Auserwählte in der Touraine lebte, atmete ich beglückt die Luft ein; ich entdeckte zum erstenmal, wie strahlend blau und einzig dieser Himmel war. Meine Verzückung glich sehr einer ernsthaften Krankheit und erregte bei meiner Mutter Befürchtungen, die zweifellos mit Gewissensbissen vermischt waren. Gleich den Tieren, die ein Leiden herannahen fühlen, verkroch ich mich in einem Winkel des Gartens, um dort von dem gestohlenen Kuss zu träumen.
Wenige Tage nach diesem denkwürdigen Ball erklärte sich meine Mutter die Vernachlässigung meiner Arbeit, meine Gleichgültigkeit vor ihren tyrannischen Blicken, meine Teilnahmslosigkeit gegen ihre spöttelnden Ausfälle und mein finsteres Wesen als Äußerungen der Entwicklungskrisen, die ein junger Mann in meinem Alter durchzumachen hat. Ein Aufenthalt auf dem Lande, dies ewige Heilmittel gegen alle Leiden, denen die Medizin nicht beikommt, galt für geeignet, mich aus meiner Gleichgültigkeit zu befreien. Meine Mutter bestimmte, dass ich einige Tage in Frapesle, einem Schloss an der Indre, zwischen Montbazon und Azay-le-Rideau, bei einem ihrer Freunde zubringen sollte: dem hatte sie wahrscheinlich geheime Anweisungen gegeben. Aber als mir endlich die Freiheit geschenkt wurde, hatte ich schon so kräftig im Ozean der Liebe geschwommen, dass ich ans andere Ufer gelangt war. Ich kannte den Namen meiner Freundin nicht. Wie sollte ich sie bezeichnen? Wie sie wiederfinden? Mit wem konnte ich über sie sprechen? Meine Schüchternheit vermehrte noch die unerklärlichen Angstgefühle, die sich junger Herzen beim Nahen der Liebe bemächtigen, und so kostete ich gleich zu Anfang die tiefe Trauer, die sonst den Abschluss unglücklicher Leidenschaften bildet. Nichts war mir lieber, als planlos die Felder zu durchstreifen. Mit dem Mute des Kindes, das vor nichts zurückschreckt und wahrhaft etwas Ritterliches an sich hat, nahm ich mir vor, die Schlösser der Touraine zu durchstöbern; zu Fuß wollte ich reisen und mir vor jedem hübschen Türmchen sagen: ›Hier!...‹
So schritt ich denn eines Donnerstagmorgens durch das Tor Saint-Eloi, ließ Tours hinter mir, ging über die Saint-Sauveur-Brücken, gelangte nach Poncher, wobei ich an jedem Haus hinaufsah, und schlug die Richtung nach Chinon ein. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich unter einem Baume stehenbleiben, nach Wunsch langsam oder schnell gehen, ohne jemand Rechenschaft abzulegen. Für ein armes Wesen, das sich unter den vielen Gewalttaten, die mehr oder minder eines jeden Jugend bedrohen, hatte ducken müssen, wirkte der erste Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts, und wenn es sich nur um Nichtigkeiten handelte, so befreiend wie ein glücklicher Rausch. Vieles kam zusammen, um aus jenem Tag ein wunderbares Freudenfest zu machen... In meiner Kindheit hatten mich meine Spaziergänge nie mehr als eine Meile weit vor die Stadt geführt. Meine Wanderungen in der Umgebung von Pont-le-Voy oder in Paris hatten mich in meinen Ansprüchen an ländliche Naturschönheiten nicht verwöhnen können. Aber ich hatte aus meinen ersten Jugenderinnerungen das Verständnis für die Schönheit der mir vertrauten Landschaft um Tours herübergerettet. Obwohl mein Empfinden für die Natur völlig ungeschult war, stellte ich doch unbewusst hohe Anforderungen an die Landschaft, wie alle, denen ein Kunstideal vorschwebt, ohne dass sie praktische Erfahrung besäßen. Um zum Schloss Frapesle zu gelangen, kürzen Fußgänger und Reiter den Weg ab und durchqueren die sogenannte Charlemagne-Heide, ein Brachland, das oben auf der Wasserscheide zwischen Indre und Cher liegt und worüber auch ein Pfad nach Champy führt. Diese flachen, sandigen Gelände, die sich eine Meile weit trostlos hindehnen, münden in einem kleinen Gehölz auf die Straße von Saché; so heißt das Dorf, in dessen Bezirk Frapesle liegt. Dieser Weg, der sich jenseits von Ballan mit der Straße von Chinon vereinigt, läuft am Rand einer sanft gewellten Ebene hin bis zu dem kleinen Gebiet von Artanne. Von dort blickt man in ein Tal, das bei Montbazon beginnt und sich bis zur Loire erstreckt. Es sieht aus, als ob es sich unter den Schlössern bäumte, die auf seinem doppelten Hügelsaum lasten: eine wundervolle Smaragdschale, auf deren Grunde sich die Indre mit Schlangenbewegungen hinzieht. Bei diesem Anblick packte mich ein wohliges Staunen, das die Eintönigkeit der Heide und die Wandermüdigkeit vorbereitet hatten.
›Wenn jene Frau, die Blüte ihres Geschlechts, irgendwo auf dieser Welt wohnt, so muss es hier sein!‹
Dabei lehnte ich mich an einen Nussbaum, unter dem ich seither jedesmal raste, wenn ich in mein geliebtes Tal zurückkehre. Unter jenem Baum, dem Vertrauten meiner Gedanken, sinne ich den Veränderungen nach, die mit mir vorgegangen sind, seit ich zuletzt dort war. Sie wohnte dort, mein Herz trog mich nicht. Das erste Schloss, das ich am Abhang sah, war ihr Heim. Als ich mich unter meinen Nussbaum setzte, leuchteten die Schiefer ihres Daches und glitzerten ihre Fenster in der Mittagssonne. Ihr Leinenkleid war der weiße Punkt, den ich in ihren Reben unter einem Pfirsichbaum gewahrte. Sie war, wie Sie schon ahnen, die ›Lilie dieses Tales‹, wo sie für den Himmel blühte und das sie mit dem Duft ihrer Tugenden erfüllte... Die unendliche Liebe, die keine andere Nahrung fand als den weißen Punkt, den sie von fern erblickte und der meine Seele ausfüllte, diese Liebe fand ich versinnbildlicht in dem langen Wasserbande, das sich zwischen grünen Ufern sonnbeschienen hinschlängelt, in der Pappelzeile, deren schwanke Spitzengewebe dieses Liebestal schmücken, in den Eichenwäldchen, die sich in die Weinberge hineinschieben, in den Abhängen, die des Flusses wechselreiche Windungen umspielen, in den blauen Horizonten, die verdämmernd ineinandergreifen. Wollen Sie die Natur schön und jungfräulich wie eine Braut sehen, so gehen Sie an einem Frühlingstag dorthin. Wollen Sie die blutenden Wunden Ihres Herzens lindern, so kehren Sie in den letzten Herbsttagen dahin zurück. Im Frühling streicht die Liebe dort mit vollen Flügelschlägen durch den Himmel; im Herbst denkt man dort derer, die nicht mehr sind. Die kranke Lunge atmet dort wohltuende Frische; der Blick ruht auf übergoldetem Gebüsch, das der Seele seine friedliche Milde mitteilt. – In diesem Augenblick verliehen die Mühlen, die von den Fällen der Indre getrieben wurden, dem erschauernden Tal eine Stimme; die Pappeln wiegten sich lachend. Keine Wolke am Himmel. Die Vögel sangen, die Grillen zirpten, alles war Musik. Fragen Sie mich nicht, warum ich die Touraine liebe! Ich liebe sie weder so, wie man eine Wiege liebt, noch wie man eine Oase in der Wüste liebt. Ich liebe sie, wie ein Künstler die Kunst liebt. Ich liebe sie weniger, als ich Sie liebe, aber ohne die Touraine lebte ich vielleicht nicht mehr ... Ohne zu wissen, warum, kehrten meine Augen zu dem weißen Punkt zurück, zu der Frau, die in diesem weiten Garten erglänzte, wie inmitten grüner Büsche der leuchtende Kelch einer Winde, die die leiseste Berührung zum Welken bringt. Mit bewegter Seele stieg ich hinab in die Talmulde, und bald erblickte ich ein Dorf, das meinem überschäumenden Poetenherzen unvergleichlich schön zu sein schien. Stellen Sie sich drei Mühlen zwischen anmutig ausgebuchteten, baumgekrönten Inseln vor, umgrünt von einer blühenden Wasserwiese... Wie sollte man sie anders bezeichnen, jene Wasserpflanzen, die lebensfroh und farbenprächtig den Fluss überkleiden, die aus den Fluten emportauchen, sich auf ihnen wiegen, sich ihren Launen anpassen und die im Gischt des vom Mühlrad gepeitschten Flusses schwanken?... Hier und da erheben sich Kiesbänke, das Wasser bricht sich daran und bildet lange Fransen, in denen die Sonne leuchtet. Amaryllis, Seerosen, Seelilien und Schilfrohr bedecken die Ufer mit ihren herrlichen Stickereien. Eine morsche Brücke aus verfaulten Balken, deren Pfähle blumenüberwachsen sind, deren Brüstung frisches Gras und samtweiches Moos polstern, neigt sich zum Wasser und steht doch fest. Altersschwache Kähne, Fischernetze, der eintönige Gesang eines Hirten; Enten, die zwischen den Inseln hin und her schwimmen oder auf dem groben Sand, den die Loire mit sich führt, ihre Federn glätten; Müllerburschen, die Mütze auf einem Ohr, mit ihren Maultieren beschäftigt: jede dieser Einzelheiten verlieh dem Bild einen überraschenden Reiz. Denken Sie sich jenseits der Brücke zwei oder drei Bauernhöfe, einen Taubenschlag, Turteltauben, etliche dreißig baufällige Hütten, die durch Gärten, Geißblatt-, Jasmin- und Klematishecken getrennt waren, und vor allen Türen blütenbunte Düngerhaufen, Hühner auf allen Wegen: da haben Sie Pont-de-Ruan, ein hübsches Dorf, von einer alten, eigenartigen Kirche überragt, einer Kirche aus der Zeit der Kreuzzüge, wie sie Maler für ihre Bilder suchen. Denken Sie sich das Ganze umrahmt von alten Nussbäumen und jungen Pappeln mit mattgoldenem Laub, und mitten in diesen weiten Wiesen, über denen der warme, dunstige Himmel sich wölbt, freundliche Fabriken, dann werden Sie eine Vorstellung haben von den tausend landschaftlichen Schönheiten dieses Landes. Ich folgte dem Wege nach Saché auf dem linken Flussufer, behielt aber die Hügel auf dem andern Ufer aufmerksam im Auge. Und endlich gelangte ich an einen Park mit uralten Bäumen, der mir die Nähe des Schlosses Frapesle verriet. Ich kam gerade an, als die Glocke zum Mittagessen rief. Nach Tisch ließ mich mein Gastgeber, der nicht vermutete, dass ich von Tours zu Fuß gekommen sei, die Umgebung durchstreifen, wo ich allenthalben das Tal in seiner mannigfachen Schönheit betrachten konnte; bald sah ich nur einen Ausschnitt, bald das ganze Bild. Oft hefteten sich meine Blicke auf das flüssige Gold der Loire am Horizont, wo weiße Segel phantastische Gestalten annahmen, die vom Winde auseinandergetrieben wurden. Ich erklomm einen Hügel und bewunderte von dort zum erstenmal das Schloss von Azay: es schien mir ein geschliffener Diamant mit vielen Facetten, den die Indre einfasste, den blumenverdeckte Pfeiler trugen. Dann sah ich in einem Talgrund den massiven Bau des romantischen Schlosses von Saché, ein schwermütiges Stück Erde, vollkommen in seiner Traurigkeit, zu ernst für den oberflächlichen Beschauer und nur dem Dichter teuer, dessen Herz krank ist. Wie lernte ich später seinen Frieden lieben, die großen kahlen Bäume und das geheimnisvolle Etwas, das in seinem Tale wob. Aber jedesmal, wenn ich wieder auf dem Abhang des benachbarten Hügels das anmutige kleine Schloss erblickte, das meine Augen gleich angezogen hatte, verweilten dort meine Gedanken und waren voll Liebe.
»Aha«, sagte mein Gastgeber, der in meinen Blicken einen jener feurigen Wünsche las, die sich in meinem Alter so naiv äußern, »Sie riechen von weitem eine hübsche Frau, wie ein Hund Wild wittert.«
Die Äußerung gefiel mir nicht; aber ich fragte nach dem Namen des Schlosses und dem des Eigentümers.
»Das ist Clochegourde«, antwortete er, »ein hübsches Haus, das dem Comte de Mortsauf gehört, dem Spross einer alten Adelsfamilie der Touraine, die auf Ludwig XI. zurückgeht und deren Name auf das seltsame Ereignis hinweist, dem sie Ruhm und Wappen verdankt. Der Comte stammt von einem, der dem Galgen entrann. Deshalb führen die Mortsauf im Wappen auf Goldgrund ein schwarzes Kreuz aus übereinandergelegten Galgen und am Schnittpunkt eine goldene Lilie, darunter die Devise: »Gott schütze den König, unsern Herrn!« Der Comte hat sich nach der Rückkehr der Emigranten aus der Verbannung hier niedergelassen. Dies Besitztum gehört seiner Frau, einer geborenen von Lenoncourt, aus dem Geschlecht der Lenoncourt-Givry, das am Erlöschen ist. Madame de Mortsauf ist das einzige Kind. Die bescheidenen Vermögensverhältnisse dieser Familie stehen in so seltsamem Widerspruch mit dem Ruhm ihrer Namen, dass sie, aus Stolz oder vielleicht der Not gehorchend, Clochegourde nicht verlässt und niemand empfängt. Bisher konnte ihre Anhänglichkeit an die Bourbonen ihre Vereinsamung rechtfertigen; aber ich glaube nicht, dass die Rückkehr des Königs ihre Lebensweise irgendwie ändern wird. Als ich mich im vorigen Jahre hier niederließ, machte ich ihnen einen Anstandsbesuch; sie haben meinen Besuch erwidert und mich zu Tisch geladen. Der Winter hat uns mehrere Monate getrennt. Dann haben politische Ereignisse meine Rückkehr verzögert; ich bin erst seit kurzem wieder in Frapesle. Aber Madame de Mortsauf ist eine Frau, die überall den ersten Platz einnehmen könnte.« – »Kommt sie oft nach Tours?« – »Niemals! Das heißt: ja doch«, verbesserte er sich; »neulich war sie dort, bei der Durchreise des Duc d'Angoulême, der gegen Monsieur de Mortsauf sehr freundlich gewesen ist.« – »Sie ist's!« rief ich aus. »Wer: sie?« – »Eine Frau mit wunderbaren Schultern.« – »Sie werden in der Touraine viele Frauen mit schönen Schultern treffen«, sagte er lachend; »aber wenn Sie nicht müde sind, wollen wir über den Fluss hinüber nach Clochegourde gehen, dort können Sie versuchen, die bewussten Schultern wiederzuerkennen.«
Ich nahm den Vorschlag, vor Freude und Scham errötend, an. Gegen vier Uhr erreichten wir das kleine Schloss, das meine Blicke schon so lange liebkost hatten. Das Gebäude, das sich in der Landschaft so stolz ausnimmt, ist in Wirklichkeit recht bescheiden. Es hat fünf Fenster Front. Die beiden Eckfenster der Südfassade schieben sich um drei bis vier Ellen vor, und diese kunstvoll gebauten Erker erwecken die Vorstellung von Seitenflügeln und verleihen dem Ganzen einen besonderen Reiz. Das Mittelfenster dient als Tür, und durch die Glastür gelangt man über eine Doppelterrasse in die Gärten, die sich, sanft absteigend, bis zu einer schmalen Wiese längs der Indre hinziehen. Obwohl ein Gemeinweg diese Wiese von der untern, mit schattigen Akazien und japanischen Firnisbäumen bepflanzten Terrasse trennt, scheint sie von weitem doch zu den Gärten zu gehören; denn der Weg ist ein Hohlweg, den auf der einen Seite die Terrasse überragt und der auf der andern von einer lebenden Hecke eingesäumt ist. Durch die sanften Abhänge ist so viel Zwischenraum zwischen Haus und Fluss geschaffen, dass alle Unannehmlichkeiten allzu nahen Wassers beseitigt sind, die Vorzüge einer solchen Lage aber gewahrt bleiben. Im Erdgeschoss befinden sich Remisen, Ställe, Schuppen, Küchen mit rundbogigen Fensteröffnungen. Die Dächer sind an den Winkeln zierlich geschweift, von Mansarden mit geschnitztem Fachwerk belebt; bleierne Akroterien schmücken die Giebel. Das Dachwerk, das wahrscheinlich während der Revolution gelitten hat, ist mit rötlichbraunem Moos wie mit einer Rostkruste überwachsen. Über der großen Glastür der Terrasse ragt ein Türmchen; und hier findet sich das steingehauene Wappen der Blamont-Chauvry: vier Felder in Rot, in der Mittelsenkrechten das Pfahlfeld, rechts und links offene Handflächen in Gold und Inkarnat, die zwei sich kreuzende schwarze Speere halten. Darunter die Devise ›Seht's alle, keiner rühre dran!‹, machte auf mich tiefen Eindruck.... Das Wappen ruhte auf einem Greif und einem Drachen, die an goldener Kette lagen und hübsch gemeißelt waren. Die Revolution hatte die gräfliche Krone und die aus einer grünen Palme und goldenen Früchten bestehende Krönung beschädigt. Der Sekretär des Wohlfahrtsausschusses, Senart, war vor 1781 Dorfrichter von Sache gewesen. Das erklärt alles.
Die ganze Anlage trägt dazu bei, dem Schloss ein vornehmes Gepräge zu geben. Es ist kunstvoll gearbeitet wie eine Blüte, die nicht viel Schwerkraft hat. Vom Tal aus gesehen, scheint das Erdgeschoss der erste Stock zu sein, aber nach dem Hofe zu liegt es zu ebener Erde, und hier führt eine breite sandbestreute Allee vorbei, die auf einen mit Blumenbeeten geschmückten Rasenplan mündet. Rechts und links senken sich Weinberge, Obstgärten und einige mit Nussbäumen bepflanzte Streifen Ackerlandes steil zum Tal, umrahmen das Haus mit ihrem Grün und erreichen das Ufer der Indre, das an dieser Stelle von Baumgruppen geschmückt ist; ihre grünen Farbtöne sind kunstvoll abgestuft. Auf dem Wege, der an Clochegourde vorbeiführt, bewunderte ich die wohlverteilten Laubmassen, ich atmete eine glückgesättigte Luft.... Hat denn die psychische Natur wie die physische ihre elektrischen Strömungen und ihre raschen Temperaturwechsel? Mein Herz schlug höher beim Nahen der geheimnisvollen Ereignisse, die es auf alle Zeiten hinaus umgestalten sollten, wie Tiere fröhlich werden, wenn sie schönes Wetter ahnen. Dieser für mein Leben so bedeutungsvolle Tag entbehrte keiner der Einzelheiten, die ihn zu einem Festtag machen konnten. Die Natur hatte sich geschmückt wie eine Frau, die ihrem Geliebten entgegengeht; meine Seele hatte zum ersten Mal ihre Stimme gehört; meine Augen hatten sie zum ersten Mal bewundert, so fruchtbar, so wechselreich, wie sie meine Phantasie in meinen Knabenträumen erschaut hatte, Knabenträume, deren Einfluss ich Ihnen mit unbeholfenen Worten zu schildern versucht habe. Denn sie waren wie eine Apokalypse, die mein Leben in Gleichnissen festlegte: jedes glückliche oder unglückliche Ereignis knüpft sich an seltsame Bilder aus meiner Kinderzeit mit unsichtbaren Banden, die nur dem innern Auge erkennbar sind. – Wir durchschritten zunächst einen Hof, der von Wirtschaftsgebäuden, einer Scheune, einer Kelter, von Kuh- und Pferdeställen eingefasst war. Hundegekläff kündete uns an. Der Diener, der uns entgegenkam, teilte uns, mit, dass der Comte schon am Morgen nach Azay aufgebrochen sei, aber wahrscheinlich bald zurückkehren werde, dass aber die Comtesse zu Hause sei. Mein Begleiter sah mich an. Ich fürchtete dass er Madame de Mortsauf in Abwesenheit ihres Gemahls nicht aufsuchen wolle; aber er bat den Diener, uns anzumelden. Von kindlicher, unbezähmbarer Ungeduld getrieben, stürzte ich in den langgestreckten Flur.
»Treten Sie bitte näher, Messieurs!« sagte eine Stimme, die wie Gold klang.
Obwohl Madame de Mortsauf auf dem Ball nur ein einziges Wort gesprochen hatte, erkannte ich ihre Stimme; sie durchdrang mich und erfüllte mich ganz, wie der Sonnenstrahl die Kerkerzelle des Gefangenen mit goldenem Licht erfüllt. Bei dem Gedanken, dass sie sich meiner Züge erinnern könnte, wäre ich am liebsten geflohen ... Es war zu spät, sie erschien auf der Türschwelle, unsere Blicke begegneten einander. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am tiefsten errötete. Sie war zu sehr verwirrt, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Der Diener schob zwei Sessel heran, und sie setzte sich wieder an ihren Stickrahmen. Sie zog, um einen Vorwand für ihr Schweigen zu haben, die Nadel sehr langsam, zählte einige Stiche, wandte dann ihr mildes, stolzes Haupt Monsieur de Chessel zu und fragte ihn, welchem glücklichen Zufall sie unsern Besuch verdanke. Obwohl sie gespannt war, den wirklichen Grund meines Erscheinens zu erfahren, sah sie keinen von uns beiden an. Ihre Augen hefteten sich beständig auf den Fluss; aber so, wie sie zuhörte, schien es, als könne sie, den Blinden gleich, jede seelische Regung in den Schwingungen der Stimme erkennen. Und es war in der Tat so. Monsieur de Chessel nannte meinen Namen und teilte ihr einiges aus meinem Leben mit: Ich sei vor wenigen Monaten nach Tours gekommen, wohin mich meine Eltern geführt hätten, als der Krieg Paris bedrohte. Sie sähe in mir, dem Kind der Touraine, dem die Touraine noch unbekannt sei, einen jungen Mann, der, von übermäßiger Arbeit angegriffen, nach Frapesle geschickt worden sei, um sich dort zu erholen, und dem er seine Besitzungen gezeigt habe. Ich sei zum ersten Mal hier. Erst am Fuß des Hügels hätte ich ihm mitgeteilt, dass ich die Reise von Tours nach Frapesle zu Fuß gemacht hätte, und aus Angst um meine ohnehin schwächliche Gesundheit sei er auf den Gedanken gekommen, in Clochegourde einzukehren, in der Hoffnung, dass sie mir eine kurze Rast gönnen werde. – Monsieur de Chessel sagte die Wahrheit; aber ein glücklicher Zufall scheint immer gefunden: Madame de Mortsauf blieb misstrauisch. Sie richtete auf mich so kalte und strenge Blicke, dass ich die Lider senkte aus einem unbestimmten Gefühl von Scham, aber auch, um Tränen zu verbergen, die an meinen Wimpern zitterten. Die hoheitsvolle Schlossherrin sah die Schweißperlen an meiner Stirn; vielleicht erriet sie auch meine Tränen, denn sie bot mir alles an, was ich brauchte, mit tröstender Güte, die mir die Sprache wiederschenkte. Ich errötete wie ein junges Mädchen, das man bei einem Fehler ertappt, und antwortete mit greisenhaft unsicherer Stimme. Ich dankte.
»Das einzige, worum ich bitte«, sagte ich, meine Augen zu ihr erhebend (zum zweiten Mal traf mich ihr Blick, aber nur für eine Sekunde), »das einzige, was ich wünsche, ist, dass ich von hier nicht vertrieben werde. Ich bin von Müdigkeit so gelähmt, dass ich nicht weiterkann.« – »Warum verdächtigen Sie die Gastfreundschaft unseres schönen Landes?« antwortete sie mir. »Sie werden uns doch das Vergnügen machen, zum Abendbrot in Clochegourde zu bleiben?« fuhr sie, zu meinem Begleiter gewandt, fort.
Ich richtete an meinen Begleiter einen so flehenden Blick, dass er bereit schien, auf ihren Vorschlag einzugehen, der doch, so wie er gefasst war, eine Absage zu fordern schien. Monsieur de Chessel ermöglichte es seine Weltgewandtheit, diese feinen Nuancen zu unterscheiden; aber ich junger Mann ohne Erfahrung glaubte so fest an die Übereinstimmung von Wort und Gedanken bei einer schönen Frau, dass ich höchlich überrascht war, als mir mein Gastgeber abends auf dem Heimweg sagte: »Ich bin geblieben, weil Sie vor Verlangen vergingen. Aber wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken, habe ich es vielleicht mit meinem Nachbarn verdorben.«
Dies ›Wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken‹ gab mir viel zu denken. Wenn ich Madame de Mortsauf gefiel, so konnte sie dem nicht gram sein, der mich bei ihr eingeführt hatte. Monsieur de Chessel traute mir also die Fähigkeit zu, ihr Interesse zu erregen; und hieß das nicht soviel wie: mir diese Fähigkeit verleihen? Das bestärkte meine Hoffnung, und ich hatte es gerade jetzt sehr nötig, dass man mir helfe.
»Das scheint mir schwierig«, antwortete er, »Madame de Chessel erwartet uns.« – »Sie hat Sie alle Tage«, entgegnete die Comtesse, »und dann können wir sie ja auch benachrichtigen. Ist sie allein?« – »Der Abbé de Quélus ist bei ihr.« – »Also gut«, sagte sie, indem sie aufstand, um zu klingeln, »Sie essen bei uns!«
Diesmal hielt Monsieur de Chessel sie für aufrichtig und warf mir einen beifälligen Blick zu. Sobald ich die Gewissheit hatte, dass ich einen ganzen Abend unter diesem Dache zubringen würde, glaubte ich, eine Ewigkeit vor mir zu haben. Für viele Unglückliche entbehrt das ,Wort »morgen« jeglichen Sinnes, und ich gehörte damals zu denen, die zum Morgen keinerlei Zutrauen haben. Wenn ich einige Stunden für mich hatte, so drängte ich eine Welt von Wonnen in ihnen zusammen ... Madame de Mortsauf schnitt eine Unterhaltung über das Land; über die Ernten, über die Reben an. Ich verstand von alledem gar nichts. Bei einer Gastgeberin zeugt ein derartiges Verhalten von Mangel an Lebensart oder von ihrer Geringschätzung für den, den sie von der Unterhaltung ausschließt. Aber bei der Comtesse war es Verlegenheit. Ich glaubte, dass sie es darauf abgesehen hatte, mich als Kind zu behandeln. Ich beneidete den Vorzug erwachsener Männer, die, wie Monsieur de Chessel, ihre Nachbarin von ernsten Dingen, die mir verborgen waren, unterhalten konnten; ich ärgerte mich, weil alles nur ihm zugute kam; aber wenige Monate später erfuhr ich, wie vielsagend das Schweigen einer Frau ist und wie viele Gedanken sie unter einer oberflächlichen Unterhaltung verbergen kann. Zuerst versuchte ich mir's auf meinem Sessel gemütlich zu machen; dann erkannte ich die Vorzüge meiner Lage und gab mich dem Zauber ihrer Stimme hin. Wie Flötentöne schmelzend sich aneinanderbinden, so wob ein seelenweicher Hauch durch ihre Silben, er brandete sanft ans Ohr und beschwingte den Rhythmus des Blutes. Ihre Art, die Endungen auf i auszusprechen, gemahnte an Vogelgesang; das ch, wie sie es sprach, kam einer Liebkosung gleich; ihre Aussprache des t ließ auf ein tyrannisches Herz schließen. Ohne es zu wissen, verlieh sie den Worten eine höhere Bedeutung und riss die Seele mit sich in eine übersinnliche Welt. Wie oft ließ ich sie eine Diskussion weiterführen, die ich leicht hätte beschließen können! Wie oft ließ ich mich zu Unrecht von ihr tadeln, nur um diese Konzerte menschlicher Sprachlaute zu hören, um von ihren Lippen die Luft zu atmen, auf der ihre Seele sich wiegte, um das lichtgewordene Wort zu fassen mit derselben Inbrunst, mit der ich die Comtesse selbst ans Herz gedrückt hätte! Welch fröhliches Schwalbengezwitscher, wenn sie lachte! Aber wie glich ihre Stimme der des Schwans, der seine Gefährten ruft, wenn sie von ihrem Kummer sprach. Die geringe Beachtung, die ich erfuhr, ermöglichte es mir, die Comtesse genauer zu beobachten. Mein Blick labte sich, wenn er an der schönen Sprecherin herabglitt; er umfasste ihre Taille, küsste ihr die Füße und spielte in ihren Locken. Zugleich war ich das Opfer einer Herzensangst, die jeder verstehen wird, der in seinem Leben die unbegrenzten Wonnen einer aufrichtigen Leidenschaft gekannt hat. Ich fürchtete, sie möchte mich dabei ertappen, wie mein Blick sich an ihre Schultern heftete, wo ich sie so heiß geküsst hatte. Diese Befürchtung verdoppelte noch die Macht der Versuchung, ich erlag ihr, ich sah nichts anderes mehr. Mein Blick zerriss den Stoff, ich fand das Mal, das den Anfang der Nackenfurche bezeichnet, eine Fliege in lauter Milch. Dies Mal brannte seit dem Ballabend immer vor meinen Blicken, in jenem Dunkel, in dem der Schlaf der jungen Leute wie Wasser rinnt, deren Phantasie heiß und deren Leben keusch ist.
Ich kann wohl die Hauptzüge andeuten, die überall bewundernde Aufmerksamkeit auf die Comtesse gelenkt hätten, aber die genaueste Zeichnung, die wärmsten Farben wären ihrer Schönheit nicht gerecht geworden. Um ein durchaus ähnliches Bild von ihr zu schaffen, hätte es des unmöglichen Künstlers bedurft, dessen Hand den Widerschein innerer Glut und jenen schwebenden Glanz zu malen wüsste, den die Kunst nicht kennt, den Worte nicht aussprechen können, den nur das Auge des Liebenden sieht. Ihr feines aschblondes Haar verursachte ihr oft Schmerzen, die wahrscheinlich von einem plötzlichen Blutandrang zum Kopfe herrührten. Die wohlgeformte Stirn war gewölbt wie die der Mona Lisa und schien Welten unausgesprochener Gedanken und verhaltener Gefühle zu verbergen wie Blüten, die unter bitteren Fluten begraben sind. Ihre grünlichen, mit Goldpunkten übersäten Augen schienen immer fahl. Aber wenn es sich um ihre Kinder handelte, wenn sie sich zu einem heftigen Ausbruch der Freude oder des Leides hinreißen ließ, so brach aus ihren Augen ein innerliches Leuchten, das sich an den Quellen des Lebens zu entzünden schien und sie ausdörrte. Dieser Blitz hatte mir Tränen entlockt, als sie mich mit ihrer furchtbaren Verachtung strafte, er zwang die Kühnsten, die Augen niederzuschlagen. Die griechische Nase, die von Pheidias hätte gemeißelt sein können, vergeistigte das Oval ihres Gesichts, von den Nasenflügeln liefen feine Linien um die geschweiften Lippen. Ihre Hautfarbe erinnerte an die zarten Blütenblätter weißer Kamelien und ging auf den Wangen in zartes Rosa über. Ihre vollentwickelten, üppigen Körperformen hatten alle jugendliche Anmut bewahrt. Sie mögen den vollen Umfang ihrer Schönheit ermessen, wenn ich Ihnen sage, dass Arm und Schulter, die mich so geblendet hatten, faltenlos glatt waren, Hals und Nacken zeigten keine der Unebenheiten, die den Hals mancher Frauen zu einem Baumstrunk machen; ihre Muskeln traten nicht wie Stränge hervor. Alle Linien waren weich und fließend, weder dem Auge noch dem Pinsel fassbar. Ein zarter Flaum lag wie ein Hauch über ihren Wangen, ihrem Nacken und hielt das Licht fest, das dort ganz seidig war. Ihre kleinen, hübsch modellierten Ohren waren, wie sie selbst sagte, die einer Sklavin und Mutter. Später, als ich ihrem Herzen nahestand, sagte sie oft: ›Da kommt Monsieur de Mortsauf.‹ Sie hatte recht; aber ich hatte nichts gehört, obwohl doch mein Gehör sehr scharf ist. Ihre Arme waren schön, die Hand war lang, mit geschweiften, spitz zulaufenden Fingern, und wie bei antiken Statuen überragte das Fleisch ein klein wenig den Nagel. Ich missfiele Ihnen, wenn ich flachen Taillen den Vorzug vor runden gäbe, wenn Sie selbst nicht eine Ausnahme wären. Die runde Taille ist ein Zeichen von Kraft, aber die so gebauten Frauen sind herrschsüchtig, gebieterisch, mehr wollüstig als zärtlich. Dagegen sind die Frauen mit flachen Taillen aufopferungsfähig, sehr feinfühlend, mit einem Hang zur Schwermut. Sie sind in einem besseren Sinne Frauen als die andern. Die flache Taille ist weich und schmiegsam, die runde unbeugsam und selbstsüchtig. Nun wissen Sie, wie sie gebaut war. Sie hatte den Fuß einer vornehmen Frau, einen Fuß, der wenig angestrengt wird, der leicht ermüdet und das Auge erfreut, wenn er unter dem Rande des Kleides hervorsieht. Obwohl sie Mutter zweier Kinder war, habe ich keine ihres Geschlechts gekannt, die ein mädchenhafteres Aussehen gehabt hätte. In ihrem Wesen lag Anmut, gepaart mit einem Zug von Staunen und Verträumtheit, der immer zu ihr hinzwang, wie es uns immer wieder zu dem Bilde eines Malers hinzieht, in dem sein Genius eine Welt von Gefühlen Gestalt werden ließ. Ihre Eigenschaften lassen sich übrigens nur in Vergleichen begreiflich machen. Erinnern Sie sich des wilden und herben Duftes des Heidekrauts, das wir auf dem Rückweg von der Villa Diodati brachen, denken Sie an die Blüte, deren schwarze und rosige Farbtöne Ihnen so sehr gefielen, dann werden Sie verstehen, wie jene Frau fern von der Welt elegant sein konnte, natürlich in ihren Äußerungen und wählerisch in den Dingen, die sie zu den ihren machte, zugleich rosig und schwarz. Ihr Leib hatte die frische Jugendkraft, die wir am zarten Frühlingslaub bewundern. Ihr Geist hatte die tiefe Einfalt des Naturmenschen, sie war dem Gefühl nach Kind, durch Leiden ernst gestimmt, gleichzeitig Schlossherrin und kleines Mädchen. Auch gefiel sie ohne jeden Aufwand von Ziererei, rein durch ihre Art, sich zu setzen, aufzustehen, zu schweigen oder ein Wort hinzuwerfen. Sie war meist andächtig, achtsam wie ein Wachtposten, dem das Wohl aller anvertraut ist und der immer nach einem drohenden Unheil späht. Doch huschte manchmal unversehens ein Lächeln über ihre Züge, das ihre im Grunde fröhliche, nur von den Härten des Lebens umdüsterte Natur durchschimmern ließ. Ihre Koketterie war zum Mysterium geworden, sie stimmte träumerisch, statt, wie die anderer Frauen, galante Aufmerksamkeit zu erregen; sie ließ ihre ursprüngliche Glutnatur, ihre blauen Kinderträume erraten wie ein Himmel, der durch Wolkenlichtungen strahlt. Die Spärlichkeit ihrer Gesten und besonders ihrer Blicke – sie sah außer ihren Kindern niemand an – verlieh allem, was sie sagte und tat, eine unglaubliche Feierlichkeit, selbst wenn sie etwas mit der Miene einer Frau sagte oder vornahm, die tut, als ob sie ihre Würde durch ein Geständnis aufs Spiel setzte. – An jenem Tage trug Madame de Mortsauf ein rosa Kleid mit vielen Streifen, eine Krause mit breitem Saum, einen schwarzen Gürtel und Schuhe von gleicher Farbe. Die Haare waren in einem einfachen Knoten gelegt und durch einen Schildpattkamm zusammengehalten.
Dies ist die unvollkommene Skizze, die ich Ihnen versprach. Aber das stete Walten ihrer Güte unter den Ihrigen, diese wohltätige Ausstrahlung von Licht, so warm wie Sonnenglanz, ihr innerstes Wesen, ihr Verhalten in den glücklichen Stunden, ihre Resignation in den umwölkten: alle diese Wirbel des Lebens, wo der Charakter sich entfaltet, hängen wie Himmelserscheinungen von unerwarteten und flüchtigen Umständen ab, die nur in ihrer letzten Ursache wesensverwandt sind und deren Darstellung naturgemäß mit den Geschehnissen dieser Geschichte verflochten sein wird. Ein wahres Familiendrama, diese Geschichte – in den Augen des Weisen ebenso bedeutungsvoll, wie ein Trauerspiel es für die Menge ist –, deren Verlauf Sie fesseln wird durch den Anteil, den ich daran genommen habe, dann auch durch ihre Verwandtschaft mit so vielen Frauenschicksalen.
Alles in Clochegourde trug den Stempel wahrhaft engländischer Sauberkeit. Das Zimmer, in dem die Comtesse sich aufhielt, war ganz mit Holz getäfelt und in zwei grauen Farbtönen gehalten. Den Kamin zierte eine Standuhr mit Mahagonigestell, das von einer Schale und zwei weißen goldgeäderten Porzellanvasen überragt war, in denen Heidekraut stak. Auf dem Sims stand eine Lampe, vor dem Kamin war ein Spieltisch. Zwei breite Baumwollstreifen rafften die weißen, unbefransten Leinenvorhänge der Fenster zusammen. Graue Möbelschoner mit grüner Tresse verhüllten die Sitze, und die Stickerei, die auf den Rahmen der Comtesse gespannt war, erklärte zur Genüge, weshalb ihre Möbel verdeckt waren. Diese Einfachheit grenzte an Größe. Von den Wohnungen, die ich später sah, hat keine in mir so fruchtbare, so reiche Empfindungen ausgelöst, wie sie mich in Clochegourde überwältigten, in dem Heim, das friedlich und andachtsvoll wie das Leben der Comtesse war und wo alles die klösterliche Regelmäßigkeit ihres Lebens spiegelte. Die meisten meiner Ideen, selbst die kühnsten, die ich mir über die Wissenschaft und die Politik bildete, haben dort ihre Heimat, sie gehören dorthin wie der Duft zu den Blumen. Dort gedieh die unbekannte Pflanze, die ihren befruchtenden Staub in meine Seele streute, dort strahlte die Sonne, die meine guten Eigenschaften reifte und die schlechten ausdörrte ... Vom Fenster aus umfasste der Blick das ganze Tal, vom Hügel, den Pont-de-Ruan krönt, bis zum Schloss Azay, er konnte der Wellenlinie des gegenüberliegenden Höhenzuges mit den Türmen von Frapesle folgen, weiterhin kamen die, Kirche, der Flecken und Saché, das alte Schloss, dessen schwere Massen die Wiesen überragen. Diese Landschaft erfüllte das Herz mit ihrem Frieden. Sie war ruhig wie das Leben in diesem Hause und kannte keine andern Erregungen als die des Familienlebens. Wäre ich ihr dort zum erstenmal begegnet, dort beim Comte de Mortsauf und ihren beiden Kindern, statt sie in ihrem herrlichen Ballkleid zu sehen, so hätte ich ihr wahrscheinlich den trunkenen Kuss nicht geraubt, der mir jetzt Gewissensbisse verursachte, weil er mir jede Aussicht auf Erwiderung meiner Liebe zu nehmen schien. Nein, in den trüben Stimmungen, in die mich mein Unglück stürzte, wäre ich vor ihr niedergekniet, hätte ihren Schuh geküsst, hätte ihn mit meinen Tränen benetzt und wäre dann gegangen, mich in die Indre zu stürzen. Aber seit meine Lippen ihre wie Jasmin so frische Haut berührt und die Milch aus dieser Liebesschale geschlürft hatten, war ich von Sehnsucht und der Hoffnung auf menschliche Wollust besessen, ich wollte leben und die Stunde des Genusses erwarten, wie der Wilde lauernd auf die Stunde der Rache harrt. Ich wollte mich im Geäst der Bäume verkriechen, durch die Weinberge schleichen, mich in die Indre betten. Ich wollte mich mit der Stille der Nacht, dem Lebensüberdruss, der Sonnenglut verschwören, um die wonnige Frucht zu Ende zu genießen, in die ich einmal gebissen hatte. Hätte sie von mir die singende Wunderblume, die vergrabenen Schätze ›Morgans, des Vernichters‹ gefordert, ich hätte sie ihr gebracht, um in den Besitz der sichern Schätze und der stummen Blüte zu gelangen, nach denen ich mich verzehrte. Als der Traum verflog, in dem ich beim staunenden Anblick meines Idols schwebte, und währenddessen ein Diener im Zimmer gewesen war und mit ihr gesprochen hatte, hörte ich plötzlich, wie sie etwas vom Comte sagte. Jetzt erst kam mir der Gedanke, dass eine Frau ihrem Manne gehört. Dieser Gedanke machte mich schwindlig. Dann fasste mich eine wütende und finstere Neugierde, den zu sehen, dem dieser Schatz gehörte. Zwei Gefühle beherrschten mich: Hass und Angst; ein Hass, der keinen bestimmten Widerstand erkannte, aber alle Hindernisse erwog, ohne vor ihnen zurückzuschrecken; eine unbestimmte, aber wesenhafte Angst vor dem Kampf, vor seinem Ausgang, vor ihr besonders. Ich war ein Raub der schlimmsten Ahnungen. Mir graute vor jenem Händedrücken, das entehrt. Ich sah im voraus die kaum greifbaren Schwierigkeiten, gegen die sich die stärksten Energien stoßen und die die stärksten Energien abstumpfen. Ich fürchtete die Macht der Trägheit, denn sie betäubt das heutige soziale Leben der Katastrophen, die leidenschaftliche Seelen herbeiwünschen.
»Da kommt Monsieur de Mortsauf«, sagte sie.
Ich richtete mich auf wie ein erschrockenes Pferd. Diese Bewegung entging zwar weder Monsieur de Chessel noch der Comtesse, aber ich zog mir trotzdem keinen stummen Verweis zu, denn die Aufmerksamkeit wurde von mir abgelenkt durch ein kleines Mädchen, das ich für sechsjährig hielt und das eintrat und rief: »Vater kommt!« – »Nun, Madeleine?« sagte die Mutter.
Und das Kind reichte Monsieur de Chessel die Hand und sah mich sehr aufmerksam an, nachdem es mir einen kurzen, erstaunten Gruß zugenickt hatte.
»Sind Sie mit ihrer Gesundheit zufrieden?« fragte Monsieur de Chessel die Comtesse. »Es geht ihr besser«, antwortete sie, indem sie liebkosend mit der Hand über das Haar der Kleinen strich, die sich in ihren Schoß geschmiegt hatte. Aus einer Frage Monsieur de Chessels ging hervor, dass Madeleine neun Jahre alt war. Ich sagte, dass ich erstaunt sei, aber meine Verwunderung verdüsterte die Stirn der Mutter. Mein Begleiter warf mir einen jener vielsagenden Blicke zu, durch die Leute von Welt uns eine zweite Erziehung angedeihen lassen. Hier lag offenbar der wunde Punkt im Herzen der Mutter, an den man nicht rühren durfte. Schwächlich, wie sie war, mit ihren verwaschenen Augen, mit ihrer Haut, so blass wie Porzellan, durch das Licht schimmert, hätte Madeleine in der Luft der Großstadt überhaupt nicht leben können. Die Landluft, die Pflege ihrer Mutter, die sie wie mit Fittichen zu beschützen schien, erhielten das Leben in ihrem Körperchen, das so zart war wie eine Pflanze, die trotz der Unbilden eines rauhen Klimas im Treibhaus groß geworden ist. Obwohl sie in nichts ihrer Mutter glich, schien Madeleine doch ihre Seele zu haben, und diese Seele hielt sie aufrecht. Ihr spärliches schwarzes Haar, ihre tiefliegenden Augen, ihre hohlen Wangen, ihre dünnen Ärmchen, die schmale Brust – alles wies auf einen Kampf zwischen Leben und Tod, ein endloses Ringen, in dem die Comtesse bisher siegreich geblieben war. Die Kleine zwang sich, lebhaft zu sein, wahrscheinlich um der Mutter keinen Kummer zu machen; denn sobald sie nicht auf sich achtete, glich sie einer Trauerweide. Man hätte sie für ein hungerleidendes Zigeunermädchen halten können, das sich aus seiner Heimat hierher durchgebettelt hatte, das erschöpft, aber mutig für sein Publikum geputzt war.
»Wo hast du Jacques gelassen?« fragte die Mutter sie und drückte ihr einen Kuss auf den weißen Scheitel, der ihr Haar – Rabenflügeln ähnlich – in zwei Hälften teilte. »Er kommt mit Vater.«
Da trat der Comte ein. Er hielt seinen Sohn an der Hand. Jacques, das wahre Ebenbild seiner Schwester, war ebenso schwächlich wie sie. Wer diese beiden überzarten Kinder neben einer so strahlend schönen Mutter sah, musste die Quellen des Kummers ahnen, der die Stirn der Comtesse umflorte und der sie Gedanken verschweigen hieß, die nur Gott zum Vertrauten haben, die aber furchtbar auf ihrer Stirn lasteten. Bei der Begrüßung warf mir Monsieur de Mortsauf einen nicht gerade forschenden, aber ungeschickt befangenen Blick zu, wie das den meisten Leuten eigentümlich ist, deren Misstrauen von einem Mangel an Menschenkenntnis herrührt. Nachdem sie ihm das Nötige mitgeteilt und ihm meinen Namen genannt hatte, trat die Comtesse ihrem Manne den Platz ab und ging hinaus. Die Kinder, deren Blicke fortwährend an den Augen der Mutter hingen, als ob sie aus ihnen Licht sögen, wollten ihr folgen. Sie sagte ihnen: »Bleibt nur, meine Lieblinge!« und legte den Finger auf den Mund. Sie gehorchten, aber ihre Blicke umschleierten sich. Ach! was hätte ich nicht unternommen, um diese Anrede ›Lieblinge‹ zu verdienen. Es ging mir wie den Kindern: mir war weniger warm, als sie nicht mehr da war. Mein Name schien die Gesinnung des Comte gegen mich umgewandelt zu haben. War er vorhin kalt Und herablassend gewesen, so wurde er nun, wenn nicht gerade herzlich, so doch höflich und zuvorkommend. Er zeichnete mich aus und schien hocherfreut, mich bewillkommnen zu können. Mein Vater hatte sich ehemals aufgeopfert, um unsern Herren große, aber unauffällige Dienste zu leisten. Es war ein gefährliches Unternehmen, das aber gewichtige Erfolge haben konnte! Als dann durch Napoleons Aufstieg zur höchsten Gewalt alles verloren schien, hatte er sich, wie viele geheime Verschwörer, in die Ruhe der Provinz und des Privatlebens zurückgezogen und war genötigt gewesen, ebenso harte wie unverdiente Anschuldigungen über sich ergehen zu lassen. Denn darin besteht der unausbleibliche Lohn der Spieler, die ihr alles dranwagen und verlieren, nachdem sie die Haupttriebkraft einer politischen Unternehmung gewesen sind. Da ich nichts von den Verhältnissen, von der Vergangenheit und den Aussichten meiner Familie wusste, waren mir auch die Einzelheiten dieser gescheiterten Existenz verborgen, deren Comte de Mortsauf sich erinnerte. Gewiss, das Alter meines Namens, die wertvollste Auszeichnung in den Augen eines solchen Mannes, rechtfertigte schon allein die verwirrende Hochachtung, womit er mich begrüßt hatte; aber den wirklichen Grund dafür erfuhr ich erst später. Vorläufig nahm mir dieser plötzliche Umschwung alle Scheu. Als die Kinder sahen, dass die Unterhaltung zwischen uns dreien wieder in Fluss gekommen war, löste sich Madeleine aus der Liebkosung ihres Vaters, blickte nach der offenen Tür und glitt hinaus wie ein Aal. Jacques folgte ihr. Beide liefen zur Mutter, und ich hörte, wie sie sich rührten, und vernahm ihre Stimmen, die in der Entfernung dem Summen der Bienen um ihr geliebtes Haus glichen.
Ich musterte den Comte und versuchte, mir ein Bild von seinem Wesen zu machen. Aber einige Hauptzüge fesselten mich so lebhaft, dass ich über eine oberflächliche Betrachtung seiner Physiognomie nicht hinauskam. Kaum fünfundvierzigjährig, schien er nahe den Sechzigern zu sein, so schnell war er gealtert in dem großen Schiffbruch, der das achtzehnte Jahrhundert beschloss. Der Haarkranz, der, nach Mönchsart, seinen kahlen Hinterkopf umsäumte, lichtete sich an den Schläfen, wo spärliche Büschel schwarzen, graumelierten Haares saßen. Sein Gesicht erinnerte entfernt an das eines weißen Wolfes, der Blut an der Schnauze hat. Seine Nase war rot angelaufen wie die eines Mannes, dessen Lebenskraft in ihren Tiefen erschüttert, dessen Magen geschwächt ist und den Krankheiten auf immer verdorben haben. Seine flache Stirn war zu breit für sein spitz zulaufendes Gesicht, und von unregelmäßigen Querfalten durchfurcht. Es verriet seine Gewohnheit, im Freien zu leben, und zugleich den Mangel an geistigen Anstrengungen, es zeugte von der Last ständigen Unglücks und vom fehlenden Willen, seiner Herr zu werden. Seine vorspringenden Backenknochen stachen als braune Punkte aus den fahlen Tönen seines Teints heraus und bekundeten einen Knochenbau, stark genug, ihm ein langes Leben zu sichern. Sein heller Blick richtete sich auf den Beschauer, gelb und hart, wie ein Strahl der Wintersonne, leuchtend ohne Wärme, unruhig ohne Gedanken und misstrauisch ohne einen bestimmten Grund. Sein Mund war leidenschaftlich und gebieterisch, sein Kinn eckig und lang. Mager und von hoher Gestalt, hatte er das Auftreten eines Edelmannes, der sich auf seinen gesellschaftlichen Wert stützt, der sich von Rechts wegen über andere erhaben, in der Wirklichkeit ihnen unterlegen fühlt. Der Schlendrian des Landlebens hatte ihn dazu gebracht, sein Äußeres zu vernachlässigen. Sein ganzer Aufzug war der des Krautjunkers, an dem die Bauern ebenso wie seine Nachbarn nur noch den Grundbesitzer schätzten. Seine braunen, sehnigen Hände zeigten, dass er nur zu Pferde oder sonntags, um zur Messe zu gehen, Handschuhe trug; sein Schuhwerk war grob. Obwohl die zehn Jahre Emigrantentum und zehn Jahre Landwirtschaft ihre Spuren in seinem Äußern zurückgelassen hatten, war ihm doch ein Rest von aristokratischen Bewegungen geblieben. Der gehässigste Liberale – das Wort war aber damals noch nicht geprägt – hätte ihm gewiss seine kernhafte Ritterlichkeit angemerkt, dazu die unerschütterlichen Überzeugungen eines unentwegten Lesers der ›Quotidienne‹. Er hätte in ihm die Stütze von Thron und Altar gesehen, den Mann, der leidenschaftlich für seine Sache eintritt, der aus seiner politischen Gesinnungstüchtigkeit kein Hehl macht, der zwar selbst unfähig ist, seiner Partei zu dienen, aber sehr wohl fähig ist, sie zu gefährden, und der im übrigen der französischen Verhältnisse durchaus unkundig war. Der Comte war in der Tat einer jener aufrechten Männer, die sich zu nichts eignen und sich überall eigensinnig in den Weg stellen, immer bereit, die Waffe in der Hand, auf dem ihnen zugewiesenen Posten zu sterben; aber geizig genug, ihr Leben lieber als ihr Geld zu opfern. Während des Mahles bemerkte ich auf seinen hohlen, welken Wangen und in gewissen Blicken, die er verstohlen auf seine Kinder warf, die Spuren peinlicher Empfindungen, deren Aufzucken an der Oberfläche erstarb. Wer ihn so sah, verstand ihn, und jeder hätte ihm vorgeworfen, seinen Kindern diese armseligen, leblosen Körper vererbt zu haben. Wenn er sich selbst verurteilte, so wollte er damit den andern das Recht absprechen, dasselbe zu tun. Herb wie jede Gewalt, die sich im Unrecht weiß, aber ohne genügend Seelengröße oder Liebenswürdigkeit, um die Summe von Leiden, die er in die Waagschale gesenkt hatte, wieder aufzuwiegen, wies er in seinem Privatleben die Rauheiten auf, die man aus seinen eckigen Zügen und dem allzeit unruhigen Blick herauslesen konnte. Als seine Frau eintrat, gefolgt von den beiden Kindern, die sich an sie klammerten, überkam mich die Ahnung einer Familientragödie, wie der Fuß, der über ein Kellergewölbe hinschreitet, gewissermaßen die Tiefe ermisst. Wie ich diese vier Personen vereint sah, meine Blicke von einem zum andern gingen und ich ihren Ausdruck und ihr Verhalten zu verstehen suchte, fielen schwermutvolle Gedanken auf mein Herz, wie feiner grauer Regen eine liebliche Landschaft nach einem strahlenden Sonnenaufgang verschleiert. Als der Gesprächsgegenstand erschöpft war, rückte mich der Comte wieder auf Unkosten Monsieur de Chessels in den Vordergrund des Interesses, indem er seiner Frau Einzelheiten über meine Familie mitteilte. Ich selbst kannte sie nicht. Er erkundigte sich nach meinem Alter. Ich nannte es, und da gab mir die Comtesse mein Staunen über das Alter ihrer Tochter zurück; sie hielt mich, glaube ich, für vierzehnjährig. Dies war, wie ich seither erfuhr, das zweite Band, das sie so stark an mich knüpfte. Ich las in ihrer Seele. Ihr Muttergefühl erbebte freudig, erhellt von einem späten Hoffnungsstrahl. Wie sie mich, den gut Zwanzigjährigen, so schmächtig, so zart und doch so sehnig sah, schrie es vielleicht in ihr: ›Sie werden leben!‹ Sie betrachtete mich neugierig, und ich fühlte, dass in diesem Augenblick das Eis zwischen uns schmolz. Es war, als wollte sie tausend Fragen an mich richten, aber sie behielt sie alle für sich.
»Wenn das Studium Sie krank gemacht hat«, sagte sie, »so wird die Luft unsres Tales Ihnen die Gesundheit wiedergeben.« – »Die moderne Erziehung ist ein Verderb für die Kinder«, fiel der Comte ein. »Wir pfropfen ihnen den Kopf voll Mathematik, wir bringen sie um mit Keulenschlägen von Wissenschaft, wir machen sie vor der Zeit alt. Sie müssen sich hier ausruhen!« sagte er zu mir. »Sie sind erdrückt von der Ideenlawine, die über Sie weggefegt ist. Welch ein Jahrhundert wird uns der Unterricht bereiten, der jetzt jedem zugänglich ist, wenn man nicht dem Übel entgegenarbeitet und den Unterricht wieder geistlichen Orden in die Hand gibt!«
Diese Worte stimmten durchaus überein mit dem, was er eines Tages bei den Wahlen sagte, als er einem Manne seine Stimme versagte, dessen Talente der royalistischen Sache hätten von Nutzen sein können. ›Ich werde immer Misstrauen gegen außergewöhnlich kluge Leute hegen‹, antwortete er dem Wahlvermittler ... Er schlug uns vor, einen kleinen Gang durch den Garten zu machen; damit erhob er sich.
»Der junge Herr ...«, sagte die Comtesse. »Nun, und, meine Liebe?« antwortete er und wandte sich um, mit der herrischen Schroffheit, die besagte, wie sehr er absoluter Herr im Hause sein wollte und wie wenig er es dann war. »Der junge Herr ist von Tours zu Fuß gekommen. Monsieur de Chessel wusste nichts davon und hat ihm die Umgegend von Frapesle gezeigt.« – »Sie haben eine Unvorsichtigkeit begangen«, sagte er zu mir, »obwohl in Ihrem Alter ...« Und er schüttelte zum Zeichen des Bedauerns den Kopf.
Die Unterhaltung wurde wieder aufgenommen. Ich merkte alsbald, wie empfindlich er in seiner Königstreue war und wie vieler Schonung es bedurfte, um nicht mit ihm zusammenzugeraten. Der Diener, der schnell in seine Livree gefahren war, meldete das Diner. Monsieur de Chessel führte Madame de Mortsauf zu Tisch, und der Comte nahm mich lachend beim Arm, um ins Esszimmer zu gehen, das in der Anordnung der Räume des Erdgeschosses das Gegenstück zum Wohnzimmer bildete.
Mit weißen, in der Touraine gebrannten Kacheln ausgelegt und bis zur Brusthöhe getäfelt, hatte das Esszimmer eine gefirnisste Tapete, die von Blumen- und Fruchtgirlanden umrankte Felder darstellte. Die Fenster hatten Perkalvorhänge mit roten Borten. Die Möbel waren alte Wertstücke aus der Werkstatt André Beuls, und die mit Handstickereien aufgemachten Stühle waren aus geschnitzter Eiche. Der gedeckte Tisch war reich, aber prunklos: alte Erbstücke von Silberzeug in verschiedenem Stil, Meißener Porzellan, das damals noch nicht wieder Mode geworden war; achteckige Karaffen, Messer mit Achatgriffen, und unter den Flaschen Untersätze aus Chinalack; Blumen in gefirnissten Töpfen mit vergoldeten Zacken. Mir gefiel dieser Altväterhausrat. Ich fand die altmodische Tapete mit den Blumengirlanden wundervoll. Die Freudigkeit, die mich ganz erfüllte, ließ mich die unübersteigbaren Schwierigkeiten nicht sehen, die das eng umgrenzte Leben in der Einsamkeit und auf dem Lande zwischen der Comtesse und mir aufgerichtet hatte. Ich war nahe bei ihr, zu ihrer Rechten, ich goss ihr ein, ja ich hatte das unverhoffte Glück, ihr Kleid zu streifen, ich aß von ihrem Brote. Nach drei Stunden hatten sich unsere Lebenspfade verschlungen. Überdies verband uns noch jener schreckliche Kuss wie ein Geheimnis, dessen sich ein jeder schämte. Ich legte eine großartige Feigheit an den Tag und nahm mir vor, dem Comte zu gefallen, der auch willig auf alle meine Avancen einging. Ich hätte den Hund gestreichelt, hätte jedem Wunsch der Kinder mit Freuden willfahrt, hätte ihnen Reifen und Klicker gebracht, ich hätte sie auf mir herumreiten lassen; fast zürnte ich ihnen, dass sie sich meiner noch nicht wie ihres Eigentums bemächtigt hatten ... Die Liebe hat ihre Eingebungen wie das Genie, und ich hatte die unklare Ahnung, dass Gewalttätigkeiten, mürrisches Wesen und feindliche Gesinnung meine Hoffnungen zerstören würden. Das Mahl verfloss für mich in eitel Herzenswonnen. Wenn ich mich so bei ihr sah, konnte ich weder an ihre kalte Zurückhaltung denken noch an die Gleichgültigkeit, die sich hinter der Höflichkeit des Comte verbarg. Die Liebe kennt, wie das Leben, eine Pubertät, während deren sie sich selbst genügt. Ich gab einige ungeschickte Antworten, die dem geheimen Tumult der Leidenschaft in mir entsprangen, die aber niemand deuten konnte, selbst sie nicht, die ja von Liebe nichts wusste. Die übrige Zeit verstrich wie im Traume. Dieser schöne Traum verflog, als ich beim Mondlicht an dem schönen, duftschweren Abend die Indre überschritt, umringt von Nebelgebilden, die Wiesen, Ufer und Hügel umstrichen. Ich hörte den lauten Ton, die eintönig melancholische Note, die ein Laubfrosch – seinen wissenschaftlichen Namen weiß ich nicht – bei gleichmäßiger Witterung ertönen lässt und den ich seit jenem feierlichen Tage nie ohne tiefes Entzücken höre. Ich erkannte etwas später, hier wie sonstwo, die marmorne Gefühllosigkeit, an der bisher meine Gefühle sich zerrieben hatten; ich fragte mich, ob das immer so bliebe, ich glaubte unter einem verhängnisvollen Einfluss zu stehen. Die düstern Ereignisse der Vergangenheit schlugen sich mit den Freuden, die ich nur aus mir selbst geschöpft hatte. Kurz vor Frapesle blickte ich hinüber nach Clochegourde und sah auf dem Fluss ein Boot liegen, das man in der Touraine ›toue‹ nennt. Es war an einer Esche befestigt und wurde vom Wasser gewiegt. Es gehörte Monsieur de Mortsauf, der es zum Fischen benutzte.
»Nun, wie steht's?« fragte mich Monsieur de Chessel, als wir außer Hörweite waren; »ich brauche mich wohl nicht zu erkundigen, ob Sie Ihre schönen Schultern wiedergefunden haben. Ich kann Ihnen zu dem Empfang, den Monsieur de Mortsauf Ihnen bereitet hat, nur Glück wünschen. Weiß Gott, Sie haben sein Herz im Ansprung erobert!«
Dieser Satz, im Zusammenhang mit dem früher erwähnten, flößten mir neuen Mut ein. Ich hatte seit Clochegourde kein Wort mehr gesprochen, und Monsieur de Chessel dachte wohl, mein Schweigen sei lauter Glück.
»Wie meinen Sie das?« entgegnete ich mit einem Anflug von Spott, was aber ebensogut für verhaltene Leidenschaft gelten konnte. »Er hat niemals irgendwen so freundlich empfangen.« – »Ich muss gestehen, dass ich selbst erstaunt bin«, antwortete ich, denn ich fühlte aus seinen letzten Worten eine geheime Unzufriedenheit heraus.
Obwohl ich der aristokratischen Anschauungen zu unkundig war, um Monsieur de Chessel zu verstehen, fiel mir doch der Ton auf, mit dem er sich verraten hatte. Mein Gastgeber war mit dem Namen Durand behaftet und machte sich dadurch lächerlich, dass er den Namen seines Vaters verleugnete, eines großen Fabrikbesitzers, der sich während der Revolution ungeheuer bereichert hatte. Seine Frau war alleinige Erbin der Chessel, eines alten Parlamentariergeschlechts, das unter Heinrich IV. noch bürgerlich war, wie die meisten Pariser Magistratspersonen. Von hochstrebendem Ehrgeiz beseelt, wollte Monsieur de Chessel den ursprünglichen Durand aus der Welt schaffen, um so dem Ziel seiner Träume näherzukommen. Er nannte sich zuerst Durand de Chessel, dann D. de Chessel, schließlich war er nur noch Monsieur de Chessel. Während der Restauration gründete er auf Grund eines Adelsbriefes, den ihm Ludwig XVIII. verlieh, ein Majorat mit dem Grafentitel. Seine Kinder ernteten die Früchte seines Mutes, ohne dessen ganzen Umfang zu kennen. Oft hat der Ausspruch eines spottlustigen Prinzen schwer auf ihm gelastet, der von ihm sagte: »Monsieur de Chessel kehrt den Durand nur selten heraus.« Dieser Satz hat lange Zeit die Touraine entzückt. Emporkömmlinge sind wie die Affen, deren Geschicklichkeit sie besitzen: man sieht sie steigen, man bewundert ihre Gelenkigkeit, solange sie klettern, aber wenn sie zuoberst angelangt sind, gewahrt man nur noch ihre ekle Rückseite! Die Kehrseite meines Gastgebers, das waren all seine kleinlichen Züge, die der Neid noch verstärkte. Die Pairswürde und er waren bisher unvereinbar gewesen. Ansprüche haben und sie durchsetzen, macht die Impertinenz der Kraft aus; aber seinen offen eingestandenen Ansprüchen nicht genügen bedeutet eine beständige Lächerlichkeit, an der kleine Geister sich weiden. Monsieur de Chessel hat nicht den geraden Weg des starken Mannes verfolgt. Zweimal wurde er in die Kammer gewählt, zweimal fiel er bei der Wahl durch. Gestern war er noch Generaldirektor, heute nichts, nicht einmal Präfekt. So hatten Erfolge und Niederlagen seinen Charakter verdorben und ihm die ganze Herbheit machtlosen Ehrgeizes gegeben. Im Grunde war er ein liebenswürdiger Mensch, geistvoll und großer Dinge fähig. Aber vielleicht war ihm der Neid verderblich, der das Leben in der Touraine beherrscht, wo jeder seinen Geist benutzt, um über den andern herzufallen. Das schadete ihm in den hohen gesellschaftlichen Kreisen, wo die schlecht bestehen, denen der Erfolg anderer Grimassen verursacht, wo man nicht gern trotzige Lippen sieht, die mit Komplimenten kargen, aber von bissigen Bemerkungen übersprudeln. Hätte er weniger gewollt, so hätte er vielleicht mehr erreicht; aber zu seinem Unglück war er überlegen genug, immer eine aufrechte Haltung zu wahren. Damals sah er gerade die Morgenröte seiner ehrgeizigen Hoffnungen: königliche Gunst lächelte ihm. Gewiss spielte er gern den großen Herrn, aber für mich war er vollendet. Übrigens gefiel er mir aus einem sehr einfachen Grunde: bei ihm fand ich zum erstenmal Ruhe und Behagen. Das an und für sich vielleicht geringe Interesse, das man mir erwies, schien dem unglücklichen, vernachlässigten Kind das Bild elterlicher Liebe. Die warme Gastfreundschaft stand so sehr im Gegensatz zu der Gleichgültigkeit, die mich bisher gequält hatte, dass ich wie ein Kind dafür dankbar war, ohne Ketten und gewissermaßen gehegt leben zu dürfen. Auch sind die Herren von Frapesle so eng mit dem Anfang meines Glückes verknüpft, dass meine Gedanken sie mit einschließen in die Erinnerungen, die lauter Freude für mich sind. Später, eben in der Angelegenheit der Adelsbriefe, hatte ich das Vergnügen, meinem Gastgeber einige Dienste erweisen zu können ... Monsieur de Chessel genoss sein Vermögen mit einem Aufwand, an dem sich einige seiner Nachbarn stießen. Er konnte es sich leisten, seine schönen Pferde und eleganten Wagen immer wieder zu ersetzen; seine Frau trug ausgesucht schöne Toiletten. Er machte ein großes Haus, und seine Dienerschaft war zahlreicher, als es die hergebrachten Sitten des Landes zuließen. Er spielte sich ein wenig als Fürst auf ... Das Gebiet von Frapesle war riesengroß. Dem Luxus seines Nachbarn gegenüber musste sich der Comte de Mortsauf mit einem simplen Familienwagen begnügen, der in der Touraine ein Mittelding zwischen Omnibus und Postkutsche ist. Seine Vermögenslage nötigte ihn, Clochegourde so ertragreich wie möglich zu machen; und so blieb er ein bescheidener Grundbesitzer, wie es in der Touraine viele gibt, bis zu dem Tage, wo königliche Gunst seiner Familie einen Glanz verlieh, auf den er vielleicht nicht einmal mehr gehofft hatte. Durch die Art, wie er den jüngeren Sohn einer verarmten Familie empfing, deren Wappen man aber schon zur Zeit der Kreuzzüge gekannt hatte, setzte er den Wert seines großen Vermögens herunter und demütigte seinen Nachbarn, der Wälder, Felder und Wiesen besaß, aber nicht von altem Adel war. Monsieur de Chessel hatte den Comte wohl verstanden. So verkehrten sie auch späterhin immer sehr höflich miteinander, ohne dass es zwischen ihnen zu den regelmäßigen Beziehungen und dem herzlichen Verhältnis gekommen wäre, die zwischen Clochegourde und Frapesle hätten bestehen sollen; waren doch die Gebiete nur durch die Indre getrennt, so dass beide Schlossherrinnen sich von ihren Fenstern hätten zuwinken können.
Neid war nicht der einzige Grund der Einsamkeit, in die der Comte de Mortsauf sich verschanzte. Seine erste Erziehung war die der meisten Söhne aus vornehmen Familien: ein unvollständiger, oberflächlicher Unterricht, zu dem gesellschaftlicher Drill, höfische Bräuche, Ausübung großer Hofämter oder die Bürden hoher Staatsstellen als ergänzende Erziehungsmittel hinzukamen. Monsieur de Mortsauf war gerade in dem Augenblick ausgewandert, als diese seine zweite Erziehung hätte beginnen sollen; sie fehlte ihm. Er gehörte zu denen, die an eine schnelle Wiederherstellung der Königsgewalt glaubten, und dank dieser Überzeugung war sein Exil eine Zeit jämmerlichen Nichtstuns gewesen. Als die Armee Condés sich auflöste, in der er sich durch seine Tapferkeit außerordentlich hervorgetan hatte, rechnete er damit, bald wieder unter der weißen Fahne kämpfen zu können, und versuchte auch gar nicht, sich wie andere Emigranten durch Arbeit eine neue Existenz zu gründen. Vielleicht hielt ihn auch die Furcht, seinen Namen zu kompromittieren, davon ab, sein Brot durch entwürdigende Arbeit im Schweiße seines Angesichts zu verdienen. Seine immer auf morgen gerichteten Hoffnungen, vielleicht auch seine Ehre, hielten ihn davon ab, in den Dienst einer fremden Macht zu treten. Das Elend untergrub seinen Mut. Lange Märsche mit leerem Magen und am Ziel stets getäuschte Erwartungen schadeten seiner Gesundheit und entmutigten ihn. Nach und nach geriet er in die ärgste Armut. Während das Elend für viele Menschen ein Kräftigungsmittel ist, wirkt es auf andere zersetzend, und zu diesen gehörte der Comte de Mortsauf. Wenn ich an den armen Edelmann der Touraine dachte, wie er durch Ungarn streifte, einen Fetzen Hammelfleisch mit den Hirten des Fürsten Esterházy teilte, wie er sie als Fremdling um das Stück Brot bat, das der Edelmann von ihrem Herrn nicht angenommen hätte, und es manchesmal zurückstieß, wenn es ihm von Feinden Frankreichs geboten wurde, sooft ich daran dachte, schwand in mir der Hass gegen den Emigranten, selbst wenn ich sah, dass er sich in seinem Triumph lächerlich machte. Die weißen Haare Monsieur de Mortsaufs sprachen von grässlichen Leiden, und ich habe zuviel Mitgefühl für den Verbannten, als dass ich ihn verurteilen könnte.... Die französische Heiterkeit versiegte beim Comte, er wurde mürrisch und krank und fand in irgendeinem deutschen Hospiz aus Gnade und Barmherzigkeit Pflege. Er litt an einer Bauchfellentzündung, einer meist tödlichen Krankheit, die im Falle der Heilung oft das Wesen eines Menschen verändert und häufig Hypochondrie zur Folge hat. Seine Liebesabenteuer, die tief in seiner Seele eingesargt waren und die ich allein entdeckt habe, wären niedrigster Art, sie zehrten an seiner Lebenskraft und lähmten ihn. Nach zwölf Jahren tiefsten Elends wandte er seine Blicke nach Frankreich, wohin zurückzukehren ihm Napoleons Dekret erlaubte. Als der kranke Wanderer den Rhein überschritt und an einem schönen Abend den Turm des Straßburger Münsters auftauchen sah, brach er zusammen.
»›Frankreich! Frankreich!‹ rief ich aus. ›Endlich Frankreich!‹ – wie ein verwundetes Kind ›Ach, Mutter!‹ schreit.« So erzählte er mir.
Vor seiner Geburt war er reich; als Armer betrat er Frankreichs Boden. Geschaffen, um ein Regiment zu befehligen oder einen Staat zu lenken, stand er da, machtlos und ohne Zukunft. Obwohl von Geburt gesund und kräftig, kehrte er nun krank und verbraucht zurück. In einem Lande, wo Menschen und Dinge fortgeschritten waren, konnte er ohne Bildung notgedrungen keinerlei Einfluss ausüben. Er war aller Mittel beraubt, selbst der körperlichen und seelischen Kräfte. Die Armut ließ ihn seinen Namen als eine Last empfinden. Seine unerschütterlichen Überzeugungen, seine Dienstzeit in der Armee Condés, seine Sorgen, seine Erinnerungen, seine verlorene Gesundheit verliehen ihm eine Reizbarkeit, die in Frankreich, dem Lande der Spottlust, wenig geschont wurde. Halbtot gelangte er in die Maine, wo durch einen Zufall, der vielleicht mit dem Bürgerkriege zusammenhing, die revolutionäre Regierung vergessen hatte, ein ausgedehntes Gut zu verkaufen, dessen Pächter es für den Comte verwaltete, indem er vorgab, selbst der Eigentümer zu sein. Als die Familie Lenoncourt, die Givry, ein Schloss in der Nähe jenes Gutes, bewohnte, die Ankunft des Comte erfuhr, schlug ihm der Duc de Lenoncourt vor, in Givry zu wohnen, bis sein Haus wieder instand gesetzt wäre. Die Familie Lenoncourt erwies sich edel und großmütig gegen den Comte, der sich dort während eines mehrmonatigen Aufenthalts erholte und sein mögliches tat, um während dieses ersten Aufenthalts seine Schmerzen zu verbergen. Die Lenoncourts hatten ihre riesigen Besitztümer verloren. Mit seinem Namen war Monsieur de Mortsauf eine standesgemäße Partie für ihre Tochter. Statt sich der Verheiratung mit einem fünfunddreißigjährigen kränklichen und gealterten Manne zu widersetzen, schien Mademoiselle de Lenoncourt im Gegenteil beglückt darüber. Die Ehe verschaffte ihr das Recht, mit ihrer Tante, der Duchesse de Verneuil, der Schwester des Prince de Blamont-Chauvry, zu leben, die für sie eine Adoptivmutter war.
Madame de Verneuil war eine vertraute Freundin der Duchesse de Bourbon und gehörte einem religiösen Klub an, dessen Seele Monsieur Saint-Martin war, der aus der Touraine stammte und den Beinamen >der unbekannte Philosoph< führte. Die Jünger dieses Philosophen übten die Tugenden, die die hohen Spekulationen der Mystiker vorschreiben. Diese Lehre liefert einen Schlüssel zur jenseitigen Welt, erklärt das Dasein als eine Reihe von Wandlungen, durch die der Mensch allmählich zu seiner höchsten Bestimmung gelangt, nimmt dem Gehorsam das Entwürdigende der Pflichterfüllung, trägt in die Mühen des Lebens eine unwandelbare Quäkergelassenheit und verordnet Geringschätzung des Leidens, indem sie so etwas wie ein mütterliches Gefühl eingibt für den Engel in uns, den wir gen Himmel tragen. Es ist eine Art Stoizismus, der ein Jenseits kennt. Tatkräftiges Beten und reine Liebe sind die Elemente jenes Glaubens, der sich vom Katholizismus der römischen Kirche trennt und zum primitiven Christentum zurückkehrt. Mademoiselle de Lenoncourt blieb nichtsdestoweniger im Schoß der apostolischen Kirche, der ihre Tante stets treu ergeben war. Durch die Stürme der Revolution hart geprüft, hatte die Duchesse de Verneuil in den letzten Tagen ihres Lebens eine leidenschaftliche Frömmigkeit an den Tag gelegt, die – wie Saint-Martin sich ausdrückt – in die Seele ihres geliebtes Kindes >das Licht himmlischer Liebe< und >das Öl innerer Wonne< goss. Nach dem Tode ihrer Tante, bei der Saint-Martin viel verkehrt hatte, beherbergte die Comtesse mehrmals diesen Mann des Friedens und der Tugendweisheit. Von Clochegourde aus überwachte Saint-Martin das Erscheinen seiner letzten Bücher, die bei Letourmy in Tours gedruckt wurden. Erleuchtet durch die Weisheit alter Frauen, die des Lebens stürmische See kennen, vermachte Madame de Verneuil der jungen Frau Clochegourde; um ihr auf diese Weise ein Heim zu schaffen. Mit der anmutigen Opferfreudigkeit edler Greise trat die Duchesse alles, was sie besaß, an ihre Nichte ab und begnügte sich mit einem Zimmer über dem, das sie früher bewohnt hatte und das jetzt das Zimmer der Comtesse war. Ihr unerwarteter Tod warf Trauerschleier über die Freuden dieses Bundes und drückte Clochegourde und der abergläubischen Seele der jungen Frau den Stempel unauslöschlicher Trauer auf. Die ersten Tage ihres Aufenthalts waren für die Comtesse die einzige, wenn nicht glückliche, so doch sorgenlose Zeit ihres Lebens.
Nach den Irrfahrten seines Aufenthalts in der Fremde war Monsieur de Mortsauf beglückt, eine milde Zukunft vor sich zu sehen, und es kam wie eine seelische Genesung über ihn. In diesem Tal atmete er den berauschenden Duft einer voll erblühten Hoffnung. Weil er immer rechnen und peinlich haushalten musste, vertiefte er sich in die Vorbereitungen auf seinen neuen Beruf und fand einiges Vergnügen daran. Aber die Geburt Jacques' war ein Blitzstrahl, der zerstörend in Gegenwart und Zukunft fiel: der Arzt gab den Neugeborenen auf. Der Comte verschwieg der Mutter das Todesurteil. Dann ließ er sich selbst untersuchen und erhielt einen vernichtenden Bescheid, der durch die Geburt Madeleines bestätigt wurde. Diese beiden Ereignisse, eine Art innerer Gewissheit, die die verhängnisvolle Aussage bestätigte, verschlimmerten noch die krankhaften Anlagen des Emigranten. Sein Name würde auf ewig erlöschen. Eine reine junge Frau ohne Makel war unglücklich an seiner Seite, war den Qualen der Mutterschaft preisgegeben, ohne deren Freuden zu kosten. Dieser Humus seines früheren Lebens, aus dem neue Leiden keimten, lastete schwer auf seinem Herzen und vernichtete ihn vollends. Die Comtesse erriet aus der Gegenwart die Vergangenheit und las in der Zukunft. Obwohl es nichts Schwereres gibt, als einen Mann, der sich schuldig weiß, glücklich zu machen, unternahm die Comtesse de Mortsauf diesen Versuch, der eines Engels würdig gewesen wäre. In einem Tage wurde sie stoisch. Nachdem sie hinabgestiegen war in den Abgrund, aus dessen Tiefe sie zum Himmel emporsah, widmete sie sich für einen einzigen Menschen dem Beruf, den die Krankenpflegerin für alle ausübt; und um ihren Mann mit sich selbst zu versöhnen, verzieh sie ihm, was er selbst sich nicht verzeihen konnte. Der Comte wurde geizig. Sie nahm alle ihr auferlegten Entbehrungen hin. Aber er lebte in der steten Furcht, hintergangen zu werden, wie alle, die aus ihrer Kenntnis der Welt nur Ekel geschöpft haben; sie blieb in der Einsamkeit und beugte sich ohne Murren seinen misstrauischen Anwandlungen. Sie führte alle ihre Frauenlist ins Feld, um ihm den Willen zum Guten einzuflößen: so glaubte er eigene Gedanken zu haben und kostete Genüsse, deren er von Haus aus unfähig gewesen wäre. Dann, nach längerem Eheleben, beschloss sie, Clochegourde nie zu verlassen. Sie hatte die hysterische Natur des Comte erkannt, deren Willkür in einem Lande der boshaften Klatschsucht ihren Kindern hätte schaden können. Niemand ahnte die tatsächliche Unfähigkeit Monsieur de Mortsaufs. Sie hatte die Ruinen mit einem dichten Efeumantel umkleidet. Das unharmonische Wesen des Comte, der nicht unzufrieden, aber missvergnügt war, stieß bei seiner Frau auf sanfte Nachgiebigkeit, und er stellte sich unter ihren Schutz, weil er bei ihr lindernden Balsam für seine geheimen Schmerzen fand.
Das alles ist eine kürze Zusammenfassung der Gespräche, die Monsieur de Chessel, seinem geheimen Unwillen nachgebend, mit mir führte. Seine Weltkenntnis hatte ihn einige der Geheimnisse enträtseln lassen, die in Clochegourde begraben lagen. Aber wenn es Madame de Mortsauf dank ihrer heldenhaften Selbstbeherrschung gelang, die Welt zu täuschen, so vermochte sie nicht, den untrüglichen Instinkt zu überlisten. Als ich allein in meinem kleinen Zimmer war, trieb mich die Ahnung des wirklichen Sachverhalts aus dem Bett; ich hielt es nicht aus, in Frapesle zu sein, Wenn ich anderswo die Fenster ihres Zimmers sehen konnte. Ich kleidete mich an, schlich mich hinunter und verließ das Schloss durch die Tür eines Turmes, der eine Wendeltreppe hatte. Die Kühle der Nacht beruhigte mich. Ich überschritt die Indre auf der Moulin-Rouge-Brücke und gelangte zum glückseligen Boot in der Nahe Clochegourdes, dessen letztes Fenster, nach Azay zu, beleuchtet war. Ich fand meine früheren Verzückungen wieder, aber sie waren friedlicher, und darin klang das Schlagen der Nachtigall, der Sängerin der Liebesnächte, deren langgezogene Töne über dem Wasser schwebten. In mir erwachten Gedanken, die gespensterhaft über meine Seele glitten, die Trauerschleier lüftend, die mir bisher meine schöne Zukunft verhüllt hatten. Seele und Sinne waren in gleichem Maße entzückt. Mit welcher Leidenschaftlichkeit stieg mein Sehnen bis zu ihr empor. Wie oft sagte ich mir, wie ein Verrückter, immer dasselbe: »Werde ich sie besitzen?« Während der vorhergehenden Tage war die Welt mir gewachsen, in einer einzigen Nacht ordnete sie sich für mich um einen Mittelpunkt. An sie knüpften sich meine Willensregungen, meine ehrgeizigen Gedanken; ich wünschte, alles für sie zu sein, um ihr zermartertes Herz zu heilen und es auszufüllen. Herrlich war jene Nacht, die ich unter ihren Fenstern verbrachte, umrauscht von den Wassern der Mühlschleusen, während vom Turm zu Saché der Stundenschlag die Stille unterbrach. In jener lichtgebadeten Nacht, wo sie, meine Blume, mein Stern, in mein Leben hineinleuchtete, vermählte ich ihr meine Seele mit der Inbrunst, die wir beim armen kastilischen Ritter des Cervantes verlachen, die aber aller Liebe Anfang ist. Beim ersten Morgengrauen, beim ersten Vogelschrei flüchtete ich mich in den Park von Frapesle; niemand gewahrte mich, niemand ahnte meinen nächtlichen Spaziergang. Ich schlief, bis die Glocke Mittag läutete. Trotz der Hitze stieg ich nach Tisch hinunter in die Wiese, um die Indre und ihre Inseln, das Tal und die Hügelketten wiederzusehen, als deren leidenschaftlicher Bewunderer ich galt. Aber flinker als ein entronnenes Pferd eilte ich zu meinem Boot, meinen Weiden und meinem Clochegourde. Es war ganz still, und die heiße Mittagsluft zitterte. Regungslose Blätter hoben sich scharf vom blauen Himmel ab. Insekten, die vom Lichte leben, grüne Libellen und Wasserfliegen flogen von Esche zu Esche, von Schilf zu Schilf. Die Herden ruhten wiederkäuend im Schatten, die rote Weinbergerde glühte, Blindschleichen glitten die Böschung entlang.
Welch ein Wechsel in dieser Landschaft, die vor meinem Schlaf so frisch, so anmutig war! Plötzlich sprang ich aus dem Boot und stieg den Weg nach Clochegourde hinan. Kam dort nicht der Comte? Ich irrte mich nicht, er ging an einer Hecke entlang und wollte wahrscheinlich zu einer Tür, die auf den Uferweg nach Azay führte.
»Wie geht es Ihnen heute, Monsieur le Comte?« Er sah mich beglückt an, denn er war diese Anrede nicht gewöhnt. »Gut!« sagte er. »Sie lieben wohl die Natur sehr, dass Sie bei dieser Hitze spazierengehen?« – »Hat man mich nicht hierher geschickt, damit ich möglichst viel im Freien sei?« – »Schön! Wollen Sie mit mir kommen und zusehen, wie man meinen Roggen mäht?« – »Aber gern«, sagte ich. »Ich muss gestehen, dass ich von einer unglaublichen Unwissenheit bin. Ich kann nicht Roggen von Weizen oder eine Pappel von einer Espe unterscheiden. Ich weiß nichts vom Landbau und von den verschiedenen Methoden, wie man die Felder bewirtschaftet.« – »Gut!« sagte er. »Kommen Sie!« Und fröhlich kehrte er um. »Gehen Sie durch das obere Pförtchen!« Wir stiegen den Pfad hinauf, er jenseits, ich diesseits der Hecke. »Sie würden bei Monsieur de Chessel von alledem nichts lernen«, sagte er mir. »Er spielt zu sehr den großen Herrn und tut nichts als höchstens die Rechnungsbücher seiner Verwalter durchsehen.«
So zeigte er mir denn seine Höfe und Wirtschaftsgebäude, die Ziergärten, die Obst- und Gemüsegärten. Endlich führte er mich zu der langen Akazienallee am Bachrand, an deren entgegengesetztem Ende auf einer Bank ich Madame de Mortsauf erblickte; sie war mit ihren beiden Kindern beschäftigt. Eine Frau ist im Rahmen feinen, zitternden Laubwerks wundervoll! Sie mochte wohl über meine kindliche Hast erstaunt sein, aber sie erhob sich nicht, da sie wohl wusste, dass wir zu ihr hinkämen. Der Comte hieß mich die Aussicht aufs Tal bewundern, das von diesem Punkt aus ein ganz anderes Bild bot als das bekannte, das ich bisher von der Höhe gesehen hatte. Fast glaubte man ein Stückchen Schweiz vor sich zu haben. Die Wiesen, von Bächen, die sich in die Indre stürzen, durchfurcht, strecken sich lang hin und verschwimmen in nebelhaften Fernen. Auf der Seite von Montbazon dehnt sich eine riesige grüne Fläche; überall sonst nur Hügel und Felsen. Wir beschleunigten den Schritt, um Madame de Mortsauf zu begrüßen, die plötzlich das Buch, in dem Madeleine las, fallen ließ und Jacques, der von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde, auf die Knie nahm.
»Was fehlt ihm?« rief der Comte erbleichend. »Er hat Halsschmerzen«, antwortete die Mutter, die mich nicht zu sehen schien; »es hat nichts zu bedeuten.«
Sie hielt ihm gleichzeitig Kopf und Rücken. Aus ihren Augen drangen zwei Strahlen, die Lebenswärme über dies elende kleine Geschöpf ergossen.
»Sie sind von einem unverantwortlichen Leichtsinn!« sagte der Comte bitter. »Sie setzen ihn der Kälte am Bach aus und erlauben ihm, auf einer Steinbank zu sitzen.« – »Aber Vater, die Bank ist ja brennend heiß!« rief Madeleine. »Da oben ersticken sie vor Hitze«, sagte die Comtesse. »Die Frauen wollen doch immer recht haben«, sagte er zu mir gewandt.
Um nicht zu erwidern und ihm nicht durch einen zustimmenden oder missbilligenden Blick antworten zu müssen, beobachtete ich Jacques, der über Halsschmerzen klagte und den seine Mutter wegführte. Beim Weggehen konnte sie die Worte ihres Mannes hören: »Wenn man so kränkliche Kinder zur Welt gebracht hat, sollte man es wenigstens verstehen, sie zu pflegen!«
Abscheulich ungerechte Worte! Aber seine Selbstliebe trieb ihn dazu, sich auf Kosten seiner Frau zu rechtfertigen. Die Comtesse flog die Treppen und die Terrassen hinauf. Ich sah sie durch die Glastür verschwinden. Monsieur de Mortsauf hatte sich auf die Bank gesetzt, nachdenklich und gesenkten Hauptes. Meine Lage wurde unerträglich. Er sah mich weder an, noch sprach er. Es war aus mit dem Spaziergang, den ich hatte benutzen wollen, um mich endgültig in seiner Sympathie einzunisten ... Ich erinnere mich nicht, in meinem Leben eine abscheulichere Viertelstunde verbracht zu haben. Der Schweiß stand mir in hellen Tropfen auf der Stirn, ich fragte mich: ›Soll ich gehen, soll ich nicht gehen?‹ Wieviel traurige Gedanken müssen in ihm aufgestiegen sein, dass er vergaß, nach dem Befinden seines Sohnes zu sehen! Er stand unvermittelt auf und kam zu mir. Wir drehten uns um und betrachteten das fröhliche Tal.
»Wir wollen unsern Spaziergang auf einen andern Tag verlegen, Monsieur le Comte«, schlug ich dann freundlich vor. »Nein, gehen wir!« antwortete er. »Ich bin leider an derartige Krisen gewöhnt, ich, der ich ohne Bedenken mein Leben hingäbe, um dieses Kind zu erhalten.«
»Jacques geht es besser, mein Freund, er schläft«, sagte die Goldstimme. Madame de Mortsauf tauchte plötzlich am Ende der Allee auf. Sie kam ohne Bitterkeit, ohne Groll und antwortete auf meinen Gruß: »Ich sehe mit Freuden, dass sie Clochegourde liebhaben.«
»Liebe, wünschen Sie, dass ich ein Pferd nehme und Monsieur Deslandes hole?« fragte der Comte, um Verzeihung für seine Ungerechtigkeit von vorhin zu erlangen. »Machen Sie sich keine Sorge!« sagte sie. »Jacques hat die letzte Nacht nicht geschlafen, das ist alles. Das Kind ist furchtbar nervös, es hat einen bösen Traum gehabt, und ich habe lange Zeit gebraucht, um es durch Geschichtenerzählen wieder zum Schlafen zu bringen. Es hat einen rein nervösen Husten. Ich habe ihm ein Hustenbonbon gegeben, und es ist gleich eingeschlafen.« – »Arme Frau!« sagte er, ihre Hände ergreifend. Er blickte sie mit Tränen in den Augen an. »Ich wusste nichts davon.« – »Wozu sich über Kleinigkeiten aufregen? Gehen Sie zu Ihrem Roggen! Sie wissen, dass in Ihrer Abwesenheit die Pächter fremde Ährenleserinnen auf das Feld lassen, ehe noch die Garben entfernt sind.« – »Ich werde meine erste landwirtschaftliche Vorlesung hören«, sagte ich. »Sie sind in eine gute Schule geraten!« antwortete sie und wies dabei auf den Comte. Dieser verzog seinen Mund zu einem zufriedenen Lächeln: er machte ein Kussmäulchen, wie man so sagt.
Zwei Monate später erst erfuhr ich, dass sie diese Nacht in schrecklichen Ängsten verbracht hatte; sie fürchtete, dass ihr Sohn den Keuchhusten bekäme. Und ich, ich saß im Boot, von Liebesgedanken sanft gewiegt; ich bildete mir ein, dass sie mich von ihrem Fenster aus sähe, wie ich den Schein der Kerze anbetete, die gerade ihre von Todesangst durchfurchte Stirn beleuchtete. Damals herrschte in Tours Keuchhusten und richtete furchtbares Unheil an.
Als wir an der Tür waren, sagte mir der Comte mit gerührter Stimme: »Madame de Mortsauf ist ein Engel.« Dieses Wort machte mich schwankend. Ich kannte die Familie erst oberflächlich, und das so natürliche Bedenken, das eine junge Seele bei ähnlichen Anlässen befällt, rief mir zu: ›Mit welchem Recht trübst du diesen tiefen Frieden?‹
Der Comte war erfreut, einen jungen Mann zum Zuhörer zu haben, dem er leicht imponieren könnte. Er sprach von der Zukunft Frankreichs, wie sie die Rückkehr der Bourbonen gestalten würde. Wir führten eine zerfahrene Unterhaltung, in deren Verlauf ich wahre Kindereien zu hören bekam, die mich seltsam überraschten. Dem Comte waren Tatsachen von einleuchtender Beweiskraft unbekannt. Er fürchtete Leute, die viel wissen; jegliche Art von Überlegenheit verleugnete er; er verspottete, vielleicht mit Recht, den Fortschritt; endlich entdeckte ich in ihm eine große Anzahl wunder Stellen, die zu äußerst schonender Vorsicht zwangen, so dass eine längere Unterhaltung ein wahres Kunststück wurde. Als ich seine Mängel gewissermaßen betastet hatte, passte ich mich ihnen an mit derselben Geschmeidigkeit, mit der die Comtesse sie liebkoste. Zu einer andern Zeit meines Lebens hätte ich ihn höchstwahrscheinlich verletzt; da ich aber schüchtern war wie ein Kind und mir einbildete, nichts zu wissen, oder doch glaubte, dass fertige Männer alles wissen müssten, blickte ich voller Staunen auf die wunderbaren Resultate, die der geduldige Landwirt in Clochegourde erzielt hatte. Voller Bewunderung hörte ich seinen Plänen zu. Schließlich trug mir eine unwillkürliche Schmeichelei das Wohlwollen des alten Edelmannes ein: ich sagte ihm, dass ich ihn um seine hübsche Besitzung und ihre Lage beneide, dieses Paradies auf Erden, das ich hoch über Frapesle stellte.
»Frapesle«, sagte ich, »ist ein massives Silbergefäß, aber Clochegourde ist ein Kästchen voll köstlicher Edelsteine.« Diesen Satz hat er seither, mit Angabe des Autors, oft genug wiederholt. »Ja, ehe wir hierherkamen, war es eine Wüste«, antwortete er.
Ich war ganz Ohr, wenn er von seinen Saaten, von seinen Baumschulen sprach. Ein Neuling in allen landwirtschaftlichen Dingen, überhäufte ich ihn mit Fragen über Preise, über Ausbeutung des Bodens, und er schien beglückt, mich über so viele Einzelheiten belehren zu können.
»Was bringt man Ihnen denn in Schulen bei?« fragte er mich verwundert.
Schon an jenem ersten Tage sagte der Comte bei der Rückkehr zu seiner Frau: »Monsieur Felix ist ein reizender junger Mann.«
Am Abend schrieb ich meiner Mutter, bat sie, mir Kleider und Wäsche zu schicken, und teilte ihr mit, dass ich in Frapesle bliebe. Ich wusste nichts von den großen Umwälzungen, die damals vor sich gingen, und ahnte nicht, welchen Einfluss sie auf meine Geschichte haben sollten. So glaubte ich, dass ich nach Paris zurückkehren würde, um mein juristisches Studium zu beenden, und die Vorlesungen fingen erst Anfang November wieder an; es lagen also zweieinhalb freie Monate vor mir.
Zu Anfang meines Aufenthalts versuchte ich, in ein vertrautes Verhältnis zum Comte zu kommen, und es war eine Zeit peinlicher Eindrücke. Ich entdeckte eine Reizbarkeit, die sich, ohne jeden Grund, verletzt fühlte, überhasteten Tatendrang in verzweifelten Fällen: das alles erschreckte mich. Bisweilen loderte in ihm plötzlich der Mut des Edelmannes auf, der sich in der Armee Condés ausgezeichnet hatte. Wie Kometen schossen Willensblitze in ihm auf, so wie sie in Zeiten des Aufruhrs bombengleich in die politische Welt hineinsausen und die, wenn sie sich von ungefähr mit Mut und Ehrenhaftigkeit verbinden, aus einem schlichten Landedelmann, der zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen war, einen d'Elbée, Bonchamps oder Charette machen. Bei gewissen Vermutungen spitzte sich seine Nase zu, seine Stirn erhellte sich, seine Augen schleuderten Blitze, die alsbald wieder abflauten. Ich fürchtete, dass, wenn Monsieur de Mortsauf die Sprache meiner Augen entzifferte, er mich auf der Stelle totschlüge. Damals war ich nur zärtlich: der Wille, der die Menschen so wunderbar verwandelt, begann sich in mir erst zaghaft zu regen. Meine maßlosen Süchte versetzten meine Empfindsamkeit in rasche Schwingungen, die oft einem Angstzittern glichen. Ich schreckte vor dem Kampfe nicht zurück, aber ich wollte das Leben nicht verlieren, ohne das Glück einer erwiderten Liebe gekannt zu haben. Die Schwierigkeiten und meine Wünsche wuchsen in gleichem Maße. Wie sollte ich von meinen Gefühlen sprechen? Ich war ein Raub der traurigsten Verwirrung. Ich wartete auf einen Zufall, ich beobachtete; ich befreundete mich mit den Kindern und gewann ihre Liebe; ich versuchte, mich dem Ton des Hauses anzupassen. Schon hielt sich der Comte weniger vor mir zurück. Ich bemerkte seinen plötzlichen Stimmungswechsel, seine unbegründeten Anfälle von Schwermut, seine raschen Aufwallungen, seine bitteren und schneidenden Klagen, seine gehässige Kälte, seine zurückgedämmten Wahnsinnsausbrüche, seine unberechenbaren wütenden Ausfälle. Ich hörte ihn ächzen wie ein Kind und schreien wie einen Verzweifelten.
Die seelische Welt unterscheidet sich von der physischen dadurch, dass es in ihr keine absoluten Gesetze gibt: die Nachdrücklichkeit der Wirkung ist abhängig von der Beschaffenheit der Charaktere oder von den Ideen, die wir um eine Tatsache gruppieren. Mein Verhalten in Clochegourde, meine ganze Zukunft hingen von dem unberechenbaren Willen des Comte ab. Es lässt sich nicht beschreiben, welch quälende Angst meine Seele zusammenschnürte – meine Seele, die sich gleich schnell öffnete und verschloss –, wenn ich mir beim Eintreten sagte: ›Wie wird er mir begegnen?‹ Welche Beklemmung erdrückte mein Herz, wenn ich plötzlich auf seiner weißen Stirn Gewitterwolken sich ansammeln sah. Ich war immer auf dem Sprung. Ich erlag dem Despotismus dieses Menschen, und meine eigenen Leiden gaben mir den Maßstab für die, die Madame de Mortsauf ausstand. Wir fingen an, verständnisvolle Blicke zu tauschen, meine Tränen flossen oft, wenn sie die ihren zurückhielt. Die Comtesse und ich, wir maßen uns im Leid. Wie viele Entdeckungen machte ich doch während jener ersten vierzig Tage voll wirklicher Schmerzen und unausgesprochener Freuden, voll Hoffnungen, die bald in den Grund gebohrt wurden, bald obenauf schwammen!
Eines Abends fand ich sie in Andacht versunken vor einem Sonnenuntergang, der die Gipfel in wollüstiges Rot tauchte, während er das Tal wie ein Lager im Dämmer ließ, so dass es unmöglich war, nicht die Klänge des ewigen Liedes der Lieder herauszuhören, mit dem die Natur ihre Geschöpfe zur Liebe lädt.
Fand das junge Mädchen seine entschwundenen Illusionen wieder? Schmerzte die Frau ein heimlicher Vergleich? Ich glaubte, in ihrer Haltung eine gewisse Abspannung zu bemerken, die den ersten Geständnissen dienlich schien, und sagte: »Es gibt im Leben so schwere Tage!« – »Sie haben in meiner Seele gelesen«, sagte sie; »aber wie war es möglich?« – »Es gibt zwischen uns so viele Berührungspunkte«, antwortete ich. »Gehören wir nicht zu der kleinen Zahl bevorzugter Wesen, die für Leid und Freude doppelt empfänglich, deren Gemütssaiten alle aufeinander abgestimmt sind und durch ihre gleichen Schwingungen große, volle Töne hervorrufen und deren Nervenleben im Einklang mit dem Urgrund aller Dinge steht?... Wenn solche Menschen in einem Konzert von Missklängen leben, leiden sie furchtbar, wie anderseits ihre Freude bis zur Verzückung sich steigert, wenn sie Gedanken, Empfindungen oder Wesen begegnen, die ihnen innerlich verwandt sind. Aber es ist für uns ein dritter Zustand möglich, dessen Leiden nur den Seelen bekannt sind, die an derselben Krankheit leiden und bei denen sich brüderliches Verstehen findet. Wir können guten wie schlimmen Eindrücken verschlossen sein. Eine Orgel, reich an klangvollen Registern, spielt in der Leere unsers Herzens, braust in gegenstandsloser Leidenschaft, bringt Töne hervor, ohne sie zu Melodien zu formen, und wirft ihre Klänge hinaus in lautlose Stille. Das ist der furchtbare Widerstreit in einer Seele, die sich gegen die Nutzlosigkeit des Nichts aufbäumt. Das sind die aufreibenden Spiele, in denen unsere Kraft sich vergeudet, wie das Blut aus einer unbekannten Wunde sickert. Ströme von Empfindungen werden vergossen, das führt zu furchtbarer Entkräftung, zu namenloser Schwermut, für die der Beichtstuhl kein Gehör hat. Habe ich nicht unsere gemeinsamen Leiden geschildert?« Sie erbebte, und ohne den Blick vom Abendrot zu wenden, antwortete sie: »Woher wissen Sie das alles? Sie sind so jung. Waren Sie denn einmal ein Weib?« – »Ach«, antwortete ich ihr mit Rührung in der Stimme, »meine Kindheit war nur eine lange Krankheit.« – »Ich höre Madeleine husten«, sagte sie und stürzte davon.
Die Comtesse sah meine Bemühungen um sie, ohne daran Anstoß zu nehmen, und das aus zwei Gründen. Zunächst war sie rein wie ein Kind, und ihre Gedanken gerieten nie auf Abwege. Außerdem zerstreute ich den Comte. Ich war für diesen Löwen ohne Krallen und Mähne eine willkommene Beute. Schließlich fand ich einen Grund, häufig zu kommen, der allen einleuchtete: Ich konnte nicht Tricktrack spielen; Monsieur de Mortsauf schlug mir vor, es mir beizubringen, und ich ging darauf ein. Im Augenblick, da wir diese Abmachung trafen, konnte die Comtesse nicht umhin, mir einen mitleidsvollen Blick zuzuwerfen, der besagen sollte: ›Aber Sie stürzen sich ja in den Rachen des Wolfes!‹... Nach drei Tagen wusste ich, wozu ich mich verpflichtet hatte. Meine unermüdliche Geduld, diese Frucht meiner Kindheit, reifte in jener Zeit der Prüfung. Es war für den Comte ein wahres Glück, sich in grausamen Spötteleien zu ergehen, wenn ich die Grundsätze und Regeln, die er mir auseinandergesetzt hatte, nicht in die Tat umsetzte. Wenn ich nachdachte, klagte er über die Langeweile, die ein langsames Spiel verursachte; wenn ich schnell spielte, ärgerte er sich, weil er sich beeilen musste; wenn ich zu viele Points zeichnete, zog er daraus Nutzen und warf mir vor; dass ich zu eilig sei. Es war die reinste Schulmeistertyrannei, eine Herrschaft mit der Rute, wovon ich Ihnen nur eine Vorstellung geben kann, wenn ich mich mit Epiktet vergleiche, der in das Joch eines ungezogenen Kindes geraten war. Wenn wir um Geld spielten, verursachten ihm seine ständigen Gewinne eine unvornehme, kleinliche Freude. Ein Wort von seiner Frau war mir Trost für alles und führte ihn schnell zu Höflichkeit und Anstand zurück. Bald fiel ich in den Feuerofen eines ungeahnten Martyriums: ich büßte all mein Geld ein. Obwohl der Comte immer zwischen seiner Frau und mir stand, bis zu dem Augenblick, wo ich sie – oft spät abends – verließ, hatte ich doch immer die Hoffnung, eine Gelegenheit zu finden, mich in ihr Herz einzuschleichen. Um jedoch diese Stunde zu verdienen, auf die ich mit der peinvollen Geduld des Jägers lauerte, musste ich jene aufregenden Spiele fortsetzen, die meine Seele zerrieben und all mein Geld wegschwemmten. Wie oft waren wir schweigend beieinander gewesen, vertieft in den Anblick einer eigenartigen Beleuchtung der Wolken am grauen Himmel, der dunstigen Hügel oder des zitternden Mondlichts, das über die Steine im Bach huschte! Wir sagten weiter nichts als: »Die Nacht ist schön.« – »Die Nacht ist ein Weib, Madame.« – »Welcher Friede!« – »Ja, hier kann man nicht ganz unglücklich sein.«
Danach ging sie zu ihrem Stickrahmen zurück. Endlich fühlte ich, wie in ihrem Innern ein Gefühl der Zuneigung sich festsetzte und Wurzeln schlug. Ohne Geld war es vorbei mit den Spielabenden. Ich hatte meiner Mutter geschrieben, sie möge mir Geld schicken; sie schalt mich und gab mir so wenig, dass es keine acht Tage reichte. An wen sollte ich mich wenden? Es handelte sich um mein Leben. So fand ich in meinem ersten großen Glück die Leiden wieder, die mir überall zugesetzt hatten. Aber in Paris, in der Schule, im Internat war ich ihnen durch wohlüberlegte Enthaltsamkeit aus dem Wege gegangen. Mein Unglück war nur negativ gewesen; in Frapesle wurde es wirklich. Damals überkam mich die Lust zum Stehlen. Ich lernte jene Gedankenverbrechen kennen, jene furchtbaren Versuchungen, die die Seele durchwühlen und die wir niederkämpfen müssen, wenn wir nicht unsere Selbstachtung verlieren wollen. Die Erinnerung an die grausamen Erwägungen und Seelenängste, denen mich die Sparwut meiner Mutter auslieferte, hat mir immer der Jugend gegenüber die fromme Nachsicht derer eingegeben, die, ohne gefallen zu sein, bis an den Rand des Abgrundes gelangt sind, wie um dessen ganze Tiefe zu ermessen. Zwar festigte sich mein mit Angstschweiß getränktes Ehrgefühl in jenen Augenblicken, wo das Leben vor uns gähnt und uns das harte Geröll auf seinem Grunde sehen lässt; und doch – jedesmal, wenn die menschliche Gerechtigkeit ihr Racheschwert über dem Haupt eines Menschen zückt, sage ich mir: ›Das Strafrecht ist von Leuten verfasst, die das Unglück nicht gekannt haben.‹ In dieser äußersten Notlage entdeckte ich in der Bibliothek Monsieur de Chessels eine Abhandlung über das Tricktrackspiel und studierte sie. Zudem hatte mein Gastgeber die Güte, mir einige Stunden zu geben. Unter seiner freundlicheren Führung machte ich Fortschritte und lernte die Regeln, die ich auswendig wusste, anwenden. In wenigen Tagen war ich so weit, dass ich meinen Meister bezwang. Aber wenn ich gewann, wurde seine Laune abscheulich; seine Augen glitzerten wie Tigeraugen, sein Gesicht verzerrte sich, seine Augenbrauen zuckten, wie ich nie jemandes Augenbrauen habe zucken sehen. Seine Klagen waren die eines verwöhnten Kindes. Manchmal warf er die Würfel fort, geriet in Wut, stampfte, biss in seinen Würfelbecher und überhäufte mich mit Beleidigungen. Diese heftigen Ausbrüche fanden bald ein Ende. Bald beherrschte ich das Spiel so vollkommen, dass ich die Schlacht ganz nach meinem Willen lenkte. Ich richtete es so ein, dass wir am Ende des Spieles ungefähr gleichstanden, indem ich ihn am Anfang gewinnen ließ und am Ende dann das Gleichgewicht wieder herstellte. Der Untergang der Welt hätte den Comte weniger überrascht als die schnell erworbene Überlegenheit seines Schülers. Aber er erkannte sie niemals an. Der immer gleiche Ausgang unsers Spieles war für ihn eine neue Veranlassung, sich und andere zu quälen.
»Entschieden wird mein armer Kopf müde«, sagte er. »Sie gewinnen immer gegen Ende des Spieles, weil meine Kräfte dann erschöpft sind.«
Die Comtesse, die das Spiel kannte, durchschaute meine Kunstgriffe gleich beim ersten Mal und erriet in ihnen große Beweise von Zuneigung. Diese Einzelheiten können nur von denen richtig eingeschätzt werden, die die furchtbaren Schwierigkeiten des Tricktracks kennen. Was sagte diese Kleinigkeit doch alles! Aber die Liebe stellt, gleich dem Gott Bossuets, über die glänzendsten Siege das Glas Wasser, das dem Armen gereicht wird, und die heldenhafte Anstrengung des Soldaten, der einen unbeachteten Tod stirbt. Die Comtesse warf mir einen jener dankerfüllten Blicke zu, die ein junges Herz fröhlich bewegen. Sie gönnte mir den Blick, den sie sonst nur ihren Kindern schenkte. Seit diesem glückseligen Abend sah sie mich beim Sprechen immer an. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, in welcher Verfassung ich sie verließ. Meine Seele hatte meinen Körper aufgesogen, ich hatte keine Schwere mehr. Ich ging nicht, ich flog, ich fühlte in mir jenen Blick, der mich in Licht getaucht hatte. Ihr Lebewohl – ›Auf Wiedersehen, Monsieur!‹ – rauschte in mir wie die Auferstehungsmusik der Ostermesse: ›O filii, o filiae ...‹ Ich ward zu einem neuen Leben geboren.... Denn nun wusste ich, dass ich etwas für sie bedeutete! Ich schlief in Purpur gebettet ein. Flammen tanzten vor meinen geschlossenen Augen und jagten einander im Dunkeln, wie die hübschen Feuerschlangen, die im verkohlenden Papier hintereinander herlaufen. In meinen Träumen wurde ihre Stimme etwas Greifbares, eine Atmosphäre von Duft und Licht, die mich einhüllte, eine liebkosende Melodie. Ihr Empfang am nächsten Tage beschwor noch einmal in aller Wirklichkeit die Gesichte meiner Träume: von da an war ich in die Geheimnisse ihrer Stimme eingeweiht. Dieser Tag sollte einer der wichtigsten meines Lebens werden. Nach Tisch gingen wir auf den Hügeln spazieren, wir überschritten eine Heide; wo nichts gedieh: der Boden war steinig, ausgedörrt, ohne eine einzige fruchtbare Erdschicht. Nichtsdestoweniger standen einige Eichen dort, aber an Stelle des Grases dehnte sich ein Teppich braunroten krausen Mooses, das die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldete und auf dem der Fuß ausglitt. Ich hielt Madeleine bei der Hand, um sie zu stützen, und Madame de Mortsauf gab Jacques den Arm. Der Comte, der vor uns her ging, drehte sich um, schlug mit dem Stock auf den Boden und sagte mit schrecklicher Stimme: »Das ist das Bild meines Lebens! – bevor ich Sie kennenlernte«, verbesserte er sich mit einem Blick, der seine Frau um Verzeihung bat. Die Reue kam zu spät. Die Comtesse war erblasst, und welche Frau hätte nicht wie sie unter einem solchen Schlage gewankt!
»Welch wonnige Düfte!« rief ich aus. »Oh, und diese prächtige Beleuchtung! Ich wollte, diese Heide gehörte mir! Vielleicht fände ich beim Nachgraben Schätze darin; aber der sicherste Reichtum wäre mir Ihre Nähe; und wer möchte eine dem Auge so wohltuende Aussicht nicht teuer bezahlen, dort den sich schlängelnden Fluss, wo man in Gedanken zwischen Eschen und Erlen badet. Sehen Sie, wie verschieden die Auffassungen sind! Für Sie ist dieser Fleck Erde eine trostlose Heide, für mich ist er ein Paradies.« Sie warf mir einen dankbaren Blick zu. »Gemütsmensch!« sagte er bitter. »Das ist nicht der Schauplatz für das Leben eines Mannes, der Ihren Namen trägt.« Dann unterbrach er sich und sagte: »Hören Sie die Glocken von Azay? Ich höre tatsächlich Glockengeläut.«
Madame de Mortsauf sah mich entsetzt an, und Madeleine drückte meine Hand.
»Sollen wir nach Hause gehen und eine Partie Tricktrack spielen?« fragte ich ihn. »Das Klappern der Würfel wird Sie daran hindern, Glocken, zu hören.«
Wir kehrten nach Clochegourde zurück. Kaum dass wir einige Worte wechselten: der Comte beklagte sich über heftige Schmerzen, ohne sie näher zu bestimmen. Als wir im Salon beisammensaßen, herrschte eine unerklärlich beklommene Stimmung. Der Comte saß in einen Sessel vergraben, versunken in tiefes Nachdenken, das seine Frau nicht stören wollte; denn sie verstand sich auf die Symptome der Krankheit und sah die Anfälle voraus. Ich tat wie sie und schwieg. Da sie mich nicht bat, fortzugehen, glaubte sie vielleicht, das Tricktrackspiel würde den Comte erheitern und seine unselige nervöse Reizbarkeit vertreiben; deren Ausbrüche sie zu Tode quälten. – Nichts war schwieriger, als den Comte zu diesem Spiel zu bewegen, das er doch immer mit Vorliebe spielte. Einem eitlen Dämchen gleich wollte er gebeten sein, wollte sich nötigen lassen, damit es nicht aussehe, als tue man ihm einen Gefallen, vielleicht gerade, weil es sich so verhielt. Wenn ich im Eifer einer anregenden Unterhaltung einen Augenblick meine demütige Pose vergaß, so wurde er mürrisch, schroff, beleidigend, ärgerte sich über die Unterhaltung und widersprach allem, was man sagte. Wenn ich durch seine schlechte Laune so gewarnt war, schlug ich ihm ein Spielchen vor. Er zierte sich – erstens sei es zu spät, meinte er, und zweitens liege mir ja doch nichts daran. Kurzum, er zierte und wand sich wie eine Frau, bei der man schließlich nicht mehr weiß, was sie will. Ich demütigte mich und flehte ihn an, mich nicht eine Kunst vergessen zu lassen, in der man so leicht aus der Übung kommt, – Diesmal bedurfte es einer ausgelassenen Heiterkeit, um ihn zum Spielen zu bringen. Er beklagte sich über Schwindelanfälle, die ihn am Rechnen hinderten, sein Schädel sei wie in einen Schraubstock gespannt, er höre schrille Töne ... Dabei atmete er schwer und stieß tiefe Seufzer aus. Endlich gab er nach und setzte sich zurecht. Madame de Mortsauf verließ uns, um die Kinder zu Bett zu bringen und die Dienstboten ans Abendgebet zu erinnern. Solange sie fort war, ging alles gut. Ich richtete mich so ein, dass Monsieur de Mortsauf gewann; und bald hatte sein Glück ihm die Stirn geglättet. Der plötzliche Übergang von einer Schwermut, die ihn die düstersten Prophezeiungen ausstoßen ließ, zu dieser trunkenen Freude, zu diesem ausgelassenen und fast sinnlosen Gelächter beunruhigte mich. Es überlief mich eisig. Ich hatte ihn nie in einem so unzweideutigen Anfall gesehen. Unsere engen Beziehungen hätten ihre Frucht getragen, er nahm sich vor mir nicht mehr zusammen. Jeden Tag versuchte er mehr, mich seiner Tyrannei zu unterwerfen und mich immer von neuem zum Opfer seiner Launen zu machen. Es scheint eben, als seien geistige Krankheiten Geschöpfe, die ihre Begierden und ihre Instinkte haben, die ihre Macht ausdehnen wollen, wie ein Gutsbesitzer darauf aus ist, sein Land zu vergrößern. – Die Comtesse kam herunter, setzte sich an den Spieltisch, um beim Sticken besser zu sehen. Aber sie konnte ihre Furcht nur schlecht verhehlen. Ein verhängnisvoller Zug, den ich nicht hindern konnte, änderte den Gesichtsausdruck des Comte. War er heiter gewesen, so wurde er jetzt finster; vorhin noch hochrot, wurde er jetzt gelb; seine Augen flackerten. Und dann geschah ein letztes Unglück, das ich weder ahnen noch abwenden konnte. Monsieur de Mortsauf tat einen für ihn verhängnisvollen Wurf, der sein Geschick entschied. Alsbald sprang er auf, stieß mit dem Spieltisch nach mir, warf die Lampe auf die Erde, schlug mit der Faust auf die Konsole und raste durch den Salon – ›gehen‹ wäre kein Wort dafür. Der Sturzbach von Beleidigungen, Verwünschungen, unflätigen Anreden, unzusammenhängenden Sätzen, der aus seinem Munde drang, hätte die Vorstellung erwecken können, als sei ich nach mittelalterlichem Brauch etwa sein Leibeigener. Was sollte ich tun?
»Gehen Sie in den Garten!« sagte sie und drückte mir die Hand.
Ich verließ das Zimmer, ohne dass der Comte mich bemerkte. Von der Terrasse aus, wohin ich langsamen Schrittes gegangen war, hörte ich seine laute Stimme und sein Ächzen, das aus der Stube neben dem Esszimmer drang. Durch den Sturm hindurch vernahm ich auch die Stimme des Engels, die von Zeit zu Zeit ertönte wie Nachtigallengesang nach Regenschauern. Ich ging unter den Akazien auf und ab, in einer wundervollen Spätaugustnacht, und wartete auf die Comtesse. Sie würde kommen, irgendeine ihrer Bewegungen hatte es mir versprochen.
Seit einigen Tagen lag eine Aussprache zwischen uns in der Luft. Sie wurde unvermeidlich beim ersten Wort, das den übervollen Born unserer Herzen erschließen musste. Welche Scheu verzögerte die Stunde unserer völligen Vertrautheit? Vielleicht liebte sie wie ich das Erbeben, das einem Angstschauer gleicht, das die Empfindsamkeit zermartert in den Augenblicken, wo man sein überströmendes Gefühl zurückhält, wo man zögert, sein Innerstes zu offenbaren, dem Schamgefühl gehorchend, das die Jungfrau beseelt, ehe sie sich vor dem geliebten Gatten enthüllt. Unsere Gedanken, die sich stets mit dieser unvermeidlichen ersten Aussprache beschäftigten, ließen uns ihre Tragweite noch größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Eine Stunde verstrich. Ich saß auf der Backsteinbalustrade – da belebten der Hall ihrer Schritte und das leise Rascheln ihres fließenden Gewandes die Stille der Nacht ... Das sind Empfindungen, denen das Herz nicht gewachsen ist. ,
»Monsieur de Mortsauf ist eingeschlafen«, sagte sie. »Wenn er so ist, gebe ich ihm eine Tasse Mohntee; denn die Anfälle kehren so selten wieder, dass dies überaus einfache Mittel immer seine Wirkung tut.« Und mit veränderter Stimme und ihrem überzeugendsten Tonfall fuhr sie fort: »Monsieur de Vandenesse, ein unglücklicher Zufall hat Ihnen Geheimnisse ausgeliefert, die bisher sorgsam verborgen waren. Versprechen Sie mir, die Erinnerung an diesen Vorfall in Ihrem Herzen zu begraben! Tun Sie es um meinetwillen, ich bitte Sie darum! Ich fordere kein Gelübde von Ihnen, mit dem Jawort eines Ehrenmannes will ich mich zufriedengeben.« – »Brauche ich denn dieses Ja auszusprechen? Haben wir uns nicht schon verstanden?« versetzte ich. »Urteilen Sie nicht zu hart über Monsieur de Mortsauf. Sie sehen hier die Folgen der langen Mühsale, die er in der Fremde erlitten hat«, fuhr sie fort. »Morgen wird er das, was er heute gesagt hat, vollständig vergessen haben, und Sie werden ihn als einen liebenswürdigen, freundlichen Menschen wiedersehen.« – »Hören Sie auf, Madame, den Comte zu rechtfertigen!« antwortete ich. »Ich werde alles tun, was Sie wollen, ich würde mich im Augenblick in die Indre stürzen, wenn ich dadurch Monsieur de Mortsauf die Gesundheit und Ihnen ein glückliches Leben zurückgewinnen könnte. Das einzige, was ich nicht ändern kann, ist meine Meinung. Nichts an mir ist dauerhafter. Ich würde Ihnen mein Leben opfern, mein Gewissen kann ich nicht aufgeben; ich brauche seiner Stimme nicht zu lauschen, aber kann ich es hindern zu sprechen? Nun aber ist meiner Ansicht nach Monsieur de Mortsauf ...« – »Ich verstehe Sie«, unterbrach sie mich mit ungewohnter Schroffheit, »Sie haben recht. Der Comte ist nervös wie eine zimperliche Frau«, fuhr sie fort, und mit dem Wort milderte sie zugleich den Charakter seiner Krankheit, »aber es ist nur zeitweise so, höchstens alle Jahre ein Mal, während der größten Hitze. Wie viele Leiden hat nicht die Emigration verschuldet! Wieviel schönes Leben hat sie nicht vernichtet! Er wäre, ich bin dessen gewiss, ein großer Kriegsheld und der Ruhm seines Vaterlandes geworden!« – »Ich weiß es«, unterbrach ich sie nun meinerseits und gab ihr so zu verstehen, dass es zwecklos sei, mich täuschen zu wollen.
Sie machte eine Pause, legte ihre Hand auf die Stirn und sagte dann: »Wer hat Sie so in unser Leben treten heißen? Will mir Gott etwa Hilfe schicken? Eine starke Freundschaft, die mich stütze?« Und ihre Hand fest auf die meine legend, fuhr sie fort: »Denn Sie sind gut, edel...«
Sie hob den Blick gen Himmel, als wollte sie ein sichtbares Zeichen erflehen, das ihre Hoffnungen bestätigte. Dann sah sie mich wieder an. Erschüttert von ihrem Blick, der eine fremde Seele der meinen vermählte, ließ ich mich hinreißen, eine Taktlosigkeit – oder doch einen Verstoß gegen landläufige Anstandsregeln – zu begehen. Aber bedeutet das nicht bei manchen soviel als den heldenhaften Drang, der Gefahr entgegenzustürmen, den Wunsch, einen Zusammenprall abzuwenden, die Furcht vor einem Unglück, das nicht eintrifft, und häufiger noch die jähe Frage eines Herzens an ein anderes Herz, ein Schrei, der Antwort verlangt? Mancherlei Gedanken stiegen in mir auf, leuchtend, und raunten mir zu, den Fleck zu tilgen, der meine Reinheit beschmutzte, jetzt, wo ich dem Tiefsten dieser Frau am nächsten sei.
»Bevor ich weiterspreche«, sagte ich mit verschleierter Stimme, deren Beben in der tiefsten Stille hörbar war, »erlauben Sie mir, etwas gutzumachen.« – »Schweigen Sie«, sagte sie erregt und legte mir den Finger auf die Lippen. Sie zog ihn gleich wieder weg. ,
Sie sah mich stolz an, wie eine Frau, die zu hoch steht, als dass eine Beleidigung an sie heranreichen könnte, und mit zitternder Stimme sagte sie: »Ich weiß, wovon Sie sprechen wollen. Es ist der erste, der letzte – der einzige Schimpf, den man mir angetan hat. Sprechen Sie nie von diesem Ball! Die Christin hat Ihnen verziehen, die Frau leidet noch darunter.«
– »Seien Sie nicht unbarmherziger als Gott selbst«, sagte ich, die Tränen zurückhaltend, die mir an den Wimpern hingen. »Ich muss strenger sein, denn ich bin schwächer«, antwortete sie. »Aber«, entgegnete ich in einer Aufwallung kindlichen Trotzes, »hören Sie mich an, und wäre es das erste, das letzte und einzige Mal in Ihrem Leben!« – »Gut denn«, sagte sie, »so sprechen Sie, sonst könnten Sie glauben, dass ich mich fürchte, Sie anzuhören.«
Da ich fühlte, dass dieser Augenblick nie wiederkehren würde, sagte ich ihr in einem Ton, der Aufmerksamkeit erzwang, dass mich alle Frauen auf dem Ball und alle, die ich vorher je gesehen, durchaus kalt gelassen hätten; aber als ich sie erblickt, da sei ich, der Lerneifrige, der Schüchterne, von einem Strudel fortgerissen worden, den nur die verdammen könnten, die ihn nie gekannt hätten; dass nie das Herz eines Mannes so erfüllt gewesen sei von der Lust, der nichts widersteht, die alles überwindet, selbst den Tod ...
»Und die Verachtung?« unterbrach sie mich. »Haben Sie mich denn verachtet?« fragte ich. »Sprechen wir nicht mehr davon!« sagte sie. »Im Gegenteil! Sprechen wir davon!« antwortete ich in meiner Erregung, die übermenschlichem Schmerz entsprang. »Es handelt sich um mein ganzes Sein, um mein innerstes Leben, um ein Geheimnis, das Sie wissen müssen, wenn ich nicht vor Verzweiflung sterben soll. Und handelt es sich nicht auch um Sie, die, ohne es zu wissen, die Frau sein sollte, in deren Händen die dem Sieger im Turnier versprochene Krone leuchtet?«
Ich erzählte ihr meine Kindheit, meine Jugend, nicht wie ich sie Ihnen, aus der Entfernung urteilend, erzählt habe, sondern mit den glühenden Worten des Jünglings, dessen Wunden noch bluteten. Meine Stimme dröhnte wie die Axt des Holzhauers im Walde. Vor ihr fielen krachend die toten Jahre zusammen, die langen Leiden, die an ihnen wie blattlose Äste starrten. Ich malte ihr mit fiebernder Stimme tausend schreckliche Einzelheiten, die ich Ihnen erspart habe. Ich breitete vor ihr den Schatz meiner schillernden Wünsche aus, das lautere Gold meiner Begierden, ein Herz, das glühend blieb unter den Eisbergen, die ein ewiger Winter aufgetürmt hatte. Als ich gebeugt unter der Last meiner Leiden, die ich mit des Jesaias Flammenworten geschildert hatte, auf ein Wort von der Frau wartete, die mir mit gesenktem Haupte zuhörte, da strahlte plötzlich ihr Blick in meine Finsternis hinein, da beseelte sie mir Himmel und Erde mit einem einzigen Wort: »Wir haben die gleiche Kindheit verlebt«, und um ihr Haupt leuchtete die Strahlenkrone der Märtyrer.
Unsere Seelen vermählten sich in den tröstlichen Gedanken: >So war ich denn nicht der einzige, der litt!« Nach einer Pause sagte mir die Comtesse mit der Stimme, die sonst nur ihren Kindern gehörte, dass sie das Unglück gehabt hätte, als Mädchen zur Welt zu kommen, nachdem die Söhne gestorben waren; sie erklärte mir den Unterschied zwischen den Leiden eines Mädchens, das an den Röcken seiner Mutter hängt, und denen des Knaben, der in das Internatleben hineingestoßen wird. Meine Einsamkeit erschien mir wie ein Paradies, verglichen mit den Mühlsteinen, zwischen denen ihre Seele zerrieben wurde, bis zu dem Tage, wo ihre wirkliche Mutter, ihre gütige Tante, sie gerettet und den Martern entrissen hatte, deren nie versiegende Qualen sie mir schilderte. Es waren die tausend unnennbaren kleinen Reibereien, unerträglich für zartbesaitete Naturen, die vor einem Dolchstich nicht zurückschrecken, aber unter dem Schwert des Damokles zugrunde gehen: bald waren es Aufwallungen kindlichen Edelmuts, die ein eisiger Befehl zurückdämmte, bald ein Kuss, der nur lau erwidert wurde, bald ein Schweigen, das erst befohlen, dann getadelt wurde, hinuntergewürgte Tränen, die ihr auf dem Herzen lasteten, endlich die Nörgeleien des Klosters, die sich für Außenstehende hinter dem Schein glorreichster mütterlicher Liebe verbergen. Ihre Mutter prahlte mit ihr und rühmte sie, aber am nächsten Tage musste sie diese Schmeicheleien, die ihre gute Erziehung rühmen sollten, teuer bezahlen. Wenn sie glaubte, durch Gehorsam und Sanftmut das Herz ihrer Mutter bezwungen zu haben, und sich ihr anvertraute, erschien wieder der Tyrann in der Mutter und bediente sich ihres Vertrauens als einer Waffe. Ein Spion wäre nicht so feig, nicht so verräterisch gewesen. Alle ihre Mädchenfreuden, alle Feste wurden ihr vergällt, denn man warf ihr vor, fröhlich zu sein, als ob sie es eines geheimen Vergehens wegen wäre. Nie wurden ihr die Lehren ihrer vornehmen Erziehung mit Liebe gegeben, sondern stets mit beißender Ironie. Sie war ihrer Mutter deshalb nicht gram; aber sie warf sich vor, für sie weniger Liebe als Furcht zu empfinden. ›Vielleicht‹, dachte dieser Engel, ›ist solche Strenge notwendig.‹ War das nicht eine gute Vorschule zu ihrem jetzigen Leben gewesen? ... Wie ich ihr so zuhörte, schien es mir, als würde die Harfe Hiobs, der ich nur wilde Akkorde entlockt, von einer christlichen Hand berührt und sänge die Litaneien der Heiligen Jungfrau am Fuße des Kreuzes.