Читать книгу Die Macht des Gedankens - Orison Swett Marden - Страница 8
4. Unser schlimmster Feind ist die Furcht.
ОглавлениеUnsre Zweifel sind Verräter und lassen uns oft das Gute, das wir gewinnen könnten, dadurch verlieren, dass sie uns abhalten, es ernstlich zu wollen.
Shakespeare, Maß für Maß.
Das tödlichste Werkzeug des Gedankens, mit dem er das menschliche Leben bedroht, ist die Furcht. Die Furcht verschlechtert den Charakter, vernichtet das Streben, verursacht Krankheit, zerstört das Glück in uns und in andern und verhindert uns an der Erlangung von tausend Gütern. Sie hat nicht eine einzige gute Eigenschaft: sie ist ganz und gar vom Übel. Die Wissenschaft von den Lebensvorgängen weiß heute ganz genau, dass die Furcht das Blut ärmer an wertvollen Stoffen macht, weil sie die Verdauung stört und die Ernährung schwächt. Sie erniedrigt die geistige und körperliche Lebenskraft und tötet jede Fähigkeit zu erfolgreichem Wirken. Sie ist der Todfeind allen jugendlichen Glücks und der gefürchtetste Gefährte des Alters. Der Frohsinn entflieht vor ihrem schreckenden Blick, und Heiterkeit des Gemüts kann nicht im gleichen Haus mit ihr wohnen.
Dr. William H. Holcomb sagt: „Von all den krankhaften Zuständen, die auf den Menschen als Ganzes so nachteilig einwirken, besetzt die Furcht das weiteste Gebiet. Sie hat viele Grade und Abstufungen, von dem Zustand des äußersten Entsetzens bis zur leisen Ahnung eines bevorstehenden Übels. Aber auf der ganzen Linie ist sie dasselbe – ein durch die Nerven auf alle schaffenden Lebensmittelpunkte sich übertragender lähmender Druck mit einer Menge äußerlicher krankhafter Anzeichen in jedem Gewebe des Körpers.“
Horace Fletcher sagt: „Die Furcht ist wie Kohlensäure, die in unsre Lebensluft eingepumpt wird. Sie verursacht Erstickung auf dem Gebiet des Gedankens, der Sittlichkeit und des Geistes, und sie ist manchmal geradezu tödlich – tödlich für die Energie, tödlich für die Gewebe und tödlich für alles lebendige Wachstum.“
Und doch leben wir von unsrer Geburt an unter der Herrschaft und in der Gegenwart dieses bösen Geistes, der Furcht! Tausendmal wird das Kind vor dem und jenem gewarnt: hier droht ihm Gift, hier ein Biss, hier gar der Tod; irgendetwas Schreckliches steht ihm bevor, wenn es dies oder das tut. Männer und Frauen können bestimmte harmlose Tiere nicht ohne Entsetzen erblicken, weil man ihnen als Kinder gesagt hatte, sie würden von ihnen verletzt. Es ist eine der größten denkbaren Grausamkeiten, in den bildsamen Geist eines Kindes das schreckliche Bild der Furcht einzudrücken, das wie die Buchstaben in der Rinde eines jungen Stämmchens mit den Jahren sich immer verbreitert und vertieft. Die düstern Schatten dieses schrecklichen Bildes hängen über dem ganzen Leben und schließen die Sonne der Freude und des Glückes von ihm aus.
Ein australischer Schriftsteller sagt: „Fast das größte Unglück, das ein heranwachsendes Kind treffen kann, ist, eine Mutter zu haben, die beständig von nervöser Angst gequält wird. Wenn eine Mutter der krankhaften, ins Kleinste gehenden und alles durchdringenden Furcht Raum gibt, so erfüllt sie unvermeidlich die Umgebung ihrer Kinder mit Schreck und Angst. Der Hintergrund der Furcht ist die Gewohnheit oder die Neigung, das Schlimmste vorauszusehen und zu erwarten. Die Mutter, die keinen Schritt tut und ihre Kinder keinen Schritt tun lässt, ohne Millionen von furchtbaren Möglichkeiten im Geist heraufzubeschwören, verbittert ihnen den Lebenskelch mit einem langsam, aber sicher wirkenden Gift. Ich weiß, dass Tausende von Jungen und Mädchen heute ängstlich, schwächlich, untätig und ungeschickt sind, bloß weil man sie schon im frühesten Alter gelehrt hat, in allem, was sie taten oder nur versuchten, die Möglichkeit einer Gefahr zu erblicken. Eine Mutter nimmt eine furchtbare Verantwortung auf sich, wenn sie aus törichter Furcht vor einer möglichen Verletzung ihrem Kind das Austoben seines Überschusses an Lebenskraft verbietet, das den Mut, die Ausdauer, das Selbstvertrauen und die Selbstbeherrschung gleichmäßig fördert.“
„Mehr als zwanzig Jahre habe ich der Erforschung der Seelenkunde des Verbrechers und des Kindes gewidmet“, sagt Dr. Lino Ferriani. „Tausendmal habe ich die traurige Tatsache feststellen müssen, dass mindestens achtzig von hundert krankhaft ängstlichen Kindern bei Zeiten hätten geheilt werden können durch die einfachsten, vom gesunden Menschenverstand eingegebenen Regeln der seelischen und körperlichen Gesundheitslehre, bei denen das wichtigste Stück die Suggestion ist, die von einem tapferen Mut ausgeht.“
Nicht zufrieden damit, Furcht vor Dingen einzuflößen, die wenigstens wirklich werden könnten, erfinden viele Mütter und die meisten Kinderwärterinnen noch alle Arten von Schreckgespenstern und Ungetümen, um die armen Kinder durch Schrecken zum Gehorsam zu bringen. Manchmal kann man sogar hören, wie ein Kind zum Schlafen gebracht werden soll durch die Worte: „Wenn du nicht sogleich einschläfst, kommt ein großer schwarzer Bär und frisst dich.“ Wie viel Schlaf würde wohl ein Erwachsener in einer Lage finden, wo so etwas wirklich möglich wäre?
Die Furcht im Dunkeln würde es fast gar nicht geben, wenn die Eltern sich bemühten, den Kindern beizubringen, dass im Finstern alles ebenso ist wie im Hellen. Aber stattdessen bevölkern sie das geheimnisvolle Dunkel noch mit allen möglichen Ungeheuern und Gespenstern, wie sie die menschliche Einbildungskraft sich nur ausdenken kann.
Die Mütter verschwenden eine Unsumme von Energie in der Angst um ihre Kinder. Manche finden keinen Augenblick Ruhe, solange ihre Jungen oder Mädchen ihnen aus den Augen sind. Wie oft hast du in der Einbildung dein Kind von einem Baum oder sonst wo herunterfallen sehen! Wie oft hast du sie ertrinken sehen, wenn sie im Boot fuhren oder Schlittschuh liefen! Wie oft hast du deinen Jungen im Geist vom Fußball oder andern Spielen mit gebrochenen Gliedern oder blutendem Gesicht heimtragen sehen! Wenn nun nichts von all dem eingetroffen ist, was ersetzt dir die Stunden der Angst mit ihrer Schwächung der Lebenskraft und des Lebensmutes? Solche nutzlosen Einbildungen aller möglichen Übel machen viele Frauen vor der Zeit alt und welk. Und das Schlimmste ist, dass so viele meinen, es sei ihre Pflicht und ein Zeichen ihrer Liebe, wenn sie sich die ganze Zeit ängstigen!
Wenn so furchtsame und ängstliche Mütter ihre Kinder mit einem Luftkreis von Furcht umgeben und ihnen gar noch neue und unwirkliche Gegenstände der Furcht aufreden, dann ist es nicht zu verwundern, dass die ganze Welt belastet und niedergedrückt erscheint unter dem furchtbaren Gewicht der Furcht und Angst. Geh in irgendeine Versammlung von Menschen, und wie heiter und glücklich sie auch erscheinen mögen, du wirst finden, wenn du einen der Heitersten fragst, dass der Wurm der Furcht in irgendeiner Gestalt an seinem Herzen nagt. Die Furcht vor einem Unglücksfall, vor Krankheit, vor Verarmung, vor dem Tod, vor irgendeinem schrecklichen Unglück lauert auch unter der Decke der scheinbar größten Lustigkeit. So verbringen Tausende von Menschen ihr Leben unter dem Schatten der Furcht, gescheucht von der Angst vor einem unbekannten drohenden Übel.
So spricht die Sorge zu Faust:
Wen ich einmal mir besitze,
dem ist alle Welt nichts nütze;
ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
bei vollkommen äußern Sinnen
wohnen Finsternisse drinnen,
und er weiß von allen Schätzen
sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
er verhungert in der Fülle.
Viele Menschen verderben sich ihr Leben durch das ewige Sorgen um das, was wohl morgen geschehen wird. Die Familie leistet sich nicht das kleinste erlaubte Vergnügen, keine Reise, keine gute Zeitschrift, keine Erholung, man spart an der Kleidung, sogar am Essen und allem, was zur Bildung und Erholung gehört, wenn es Geld kostet – alles bloß, weil vielleicht nächstes Jahr schlechte Zeiten kommen könnten. „Es kann eine plötzliche Wendung des Geldmarktes eintreten“, sagt der Schwarzseher. „Ein Kind kann krank werden, die Zeiten können schlecht sein, die Ernte kann missraten, eine geschäftliche Unternehmung kann missglücken. Wir können nicht voraussagen, was geschehen kann, aber wir müssen auf das Schlimmste gefasst und vorbereitet sein.“ So wird das Leben von Hunderten von Familien verkümmert und manchmal gänzlich gestört, alles durch das Schreckensgespenst eines bevorstehenden Unglücks.
Eine der schlimmsten Eigenschaften dieses übersparsamen, ängstlichen und hoffnungsarmen Lebens ist die, dass es die Entwicklung der Jugend hindert und schädigt und seine dunklen Schatten gleichmäßig über die Zukunft wie über die Gegenwart wirft. Eine Tochter oder ein Sohn sollten zum Beispiel dieses Jahr eine bestimmte höhere Schule besuchen. Die Zeit eilt schnell, und ehe sie es merken, sind sie zu alt dazu. Aber Vater und Mutter sind überzeugt, dass sie sich dieses Jahr keine besondere Ausgabe leisten können, und so heißt es jedes Jahr: „Sie müssen noch ein bisschen warten.“
Wie viele Menschen werden in ihrer Bildung geschädigt und ihrer Möglichkeiten beraubt, bloß weil ihre Eltern die nötige Ausbildung aus Furcht vor etwas, das niemals eintrat, aufgeschoben haben, bis es zu spät war!
Niemand wird die richtige Sparsamkeit und Enthaltsamkeit herabsetzen wollen, aber diese dunkle Furcht, dass „etwas geschehen könnte“, dieses Aufschieben der Erholung, der Ausbildung, der Bildungsgelegenheiten, der Reisen, der Bücher, der unschuldigsten Vergnügungen, bis die Empfänglichkeit dafür erloschen ist – das ist eine Krankheit enger, hoffnungsarmer Seelen, gegen die jeder gesunde Mensch ankämpfen müsste.
Denk an die Millionen von menschlichen Geschöpfen, die Gott geschaffen und auf diese frohe Erde gesetzt hat, ausgestattet mit allen Fähigkeiten, um ihr Leben zu genießen – diese müssen nun kostbare Jahre verlieren in Sorgen und Bangen: „irgendetwas könnte geschehen“.
Welch eine bedauernswerter Anblick sind die ängstlichen Gesichter voller Sorgenfalten, die grauen Haare, der unglückliche Ausdruck aller derer, die sich so vor möglicherweise eintretenden Unglücksfällen ängstigen! Kaum einer unter tausend solcher Sorgenfalten, kaum eines unter Millionen grauer Haare verdankt seinen Ursprung einem wirklichen Unglück. Was die Haare ergrauen lässt und die Gesichter mit Falten durchfurcht, was den Schritten ihre Spannkraft nimmt und den Frohsinn aus dem Leben raubt, das sind Brücken, über die man nicht gegangen ist, Unglücksfälle, die niemals eingetroffen sind.
Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,
dort wirket sie geheime Schmerzen,
unruhig wiegt sie sich und störet Luft und Ruh;
sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,
als Feuer, Wasser, Dolch und Gift,
du bebst vor allem, was nicht trifft,
und was du nie verlierst, das musst du stets beweinen.
Welche Verschwendung von Energie und menschlicher Lebenskraft ist mit dieser verderblichen Gewohnheit verknüpft, künftiges Übel in Gedanken vorauszunehmen! Denke, welche Summe von Arbeit du mit der geistigen und körperlichen Energie hättest leisten können, die du verbraucht hast mit der Furcht, es könnte etwas geschehen, was dann doch nicht geschah. Denke nur an die Stunden, die du mit dem Nachdenken darüber verdorben hast, was du tun würdest, wenn das Unglück einträte!
Könnten wir uns losmachen von diesen eingebildeten Sorgen, unser Leben würde unendlich viel glücklicher und gesünder sein. Deshalb besteht eine der größten Aufgaben der Charakterbildung darin, die schädlichen Wirkungen der Furcht in allen Formen ihrer Erscheinung zu vernichten. Niemand kann ein natürliches, gesundes, sonniges, für andere segensreiches und mit sich selbst im Einklang stehendes Leben führen, solange er in einer Umgebung der Furcht lebt. Niemand kann auf ein glückliches und erfolgreiches Leben hoffen, solange er nicht die Keime der Furcht mit der Wurzel ausrottet. Es ist Pflicht für jeden Einzelnen, diesen Feind der ganzen Menschheit in seinem eigenen Geist zu besiegen und alles zu tun, was er kann, um auch andere, besonders die Jugend, aus den Krallen dieses Gespenstes zu reißen. Zum Glück haben Denker und Forscher gezeigt, dass dies möglich ist, und es ist eine herrliche Aussicht, zu denken, dass kommende Geschlechter lernen werden, alle Furcht zu verbannen und mit hellen Augen und hoffendem Herzen nach dem Ziel vollkommenen Glückes zu wandeln.