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Der Verfall der Lüge Ein Dialog
ОглавлениеPersonen: Cyril und Vivian
Ort: Die Bibliothek eines Landsitzes der Grafschaft Nottingham
Cyril. (von der Terrasse her durch die offene Glastür eintretend). Aber Vivian, versteck' dich nicht den ganzen Tag lang in der Bibliothek! Es ist ein entzückender Nachmittag. Die Luft ist wundervoll. Über dem Walde liegt ein Nebel, purpurn wie der duftige Hauch der Pflaume. Komm, wir wollen uns ins Gras legen und Zigaretten rauchen und die Natur genießen. –
Vivian. Die Natur genießen? Gott sei Dank! das habe ich längst verlernt. Man sagt, die Kunst lehre uns die Natur mehr lieben, als wir sie früher liebten, sie offenbare die Geheimnisse der Natur und wir, mit Corot und Constable vertraut, sähen Dinge in ihr, die sich unserm Auge entzogen hatten. Meine Erfahrung aber ist die: je mehr wir die Kunst studieren, um so weniger kümmert uns die Natur. Was uns im Grunde die Kunst von der Natur offenbart, das ist ihr Mangel an planvoller Absicht, ihre seltsame Ungeschliffenheit, ihre furchtbare Eintönigkeit, das ganz Unfertige ihres Zustands. Zweifellos hat die Natur ›den besten Willen‹, aber, wie Aristoteles einmal sagt, sie kann ihn nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte, sehe ich auch gleich all ihre Fehler. Freuen wir uns aber, daß die Natur so unvollkommen ist, da wir sonst die Kunst nicht hätten. Die Kunst ist ein flammender Protest, ein ritterlicher Versuch, die Natur in ihre Schranken zurückzuweisen. Das berühmte Gerede von der unendlichen Mannigfaltigkeit in der Natur ist nichts als ein Mythus. Sie ist in der Natur selbst gar nicht vorhanden. Sie entspringt dem Denken, der Phantasie, der künstlerischen Blindheit dessen, der die Natur betrachtet.
Cyril. Nun! Du brauchst ja die Landschaft nicht anzusehen. Du kannst im Grase liegen und rauchen und plaudern.
Vivian. Aber die Natur ist so ungemütlich. Der Rasen ist hart und bucklig und feucht und wimmelt von schrecklichem Ungeziefer. Was meinst du? Selbst Morris' schlechtester Arbeiter macht dir ein besseres Lager, als die gesamte Natur. Die Natur verblaßt vor den Zimmereinrichtungen jener Straße, die von Oxford den Namen entlehnt, um die schreckliche Tirade eines Dichters anzuführen, den du so liebst. Ich klage aber nicht. Wäre die Natur wohnlich und behaglich, wir Menschen hätten nie die Architektur erfunden, und Häuser sind mir lieber als der offene Himmel. In einem Hause fühlen wir uns alle im richtigen Größenverhältnis. Alles ist uns untergeordnet, alles nach unseren Bedürfnissen eingerichtet. Selbst der Egoismus, der dem wahren Gefühl von der Würde des Menschen so notwendig ist, entstammt ganz und gar dem Leben im Hause. Draußen im Freien werden wir abstrakt und unpersönlich. Und die Natur ist so teilnahmslos. So oft ich hier im Park spaziere, merke ich, daß ich ihr nicht mehr bin, als das Vieh, das am Abhang weidet, oder die Dolde, die im Graben blüht. Die Natur haßt den Geist; nichts ist klarer. Es gibt nichts Ungesunderes als das Denken, und die Menschen gehen daran zugrunde, wie an irgendeiner andern Krankheit. Ein Glück noch, daß das Denken nicht ansteckend ist, wenigstens nicht in England. Die herrliche Gesundheit unseres Volkes verdanken wir lediglich unserer nationalen Borniertheit. Ich hoffe nur, daß es gelingen wird, dies große, geschichtliche Bollwerk unseres Glücks noch manches Jahr lang zu erhalten. Fast aber fürchte ich, wir stehen in Gefahr, an einem Überfluß von Bildung zu erkranken, da jeder sich aufs Lehren verlegt, der das Lernen verlernt hat. Das ist das eigentliche Resultat unserer Begeisterung für die Bildung. – Inzwischen aber gingst du besser wieder hinaus zu deiner langweiligen, unbehaglichen Natur, damit ich unterdes meine Korrekturen lesen kann.
Cyril. Du schreibst einen Artikel? Das ist doch sehr wenig konsequent nach dem, was du eben sagtest.
Vivian. Wer strebt denn nach Konsequenz? Die Philister, die Schulmeister, jene langweiligen Leute, die immer und ewig an ihren Prinzipien festhalten, selbst dann, wenn die Praxis sie ad absurdum führt. Ich wahrlich nicht. Ich setze, wie Emerson, über die Tür meiner Bibliothek das Wort ›Laune‹. Außerdem ist mein Artikel eine im höchsten Grade heilsame und wertvolle Warnung. Wenn sie befolgt wird, kann es eine neue Renaissance der Kunst geben.
Cyril. Wovon handelt er?
Vivian. Er soll heißen: ›Der Verfall der Lüge.‹ Ein Protest.
Cyril. Der Lüge? Ich dächte, unsere Politiker sorgten dafür, daß sie nicht verschwindet.
Vivian. Wirklich, Cyril; das tun sie nicht. Sie bringen es nie weiter als bis zu einer gewissen Verdrehung der Tatsachen, und sie lassen sich sogar noch auf langwierige Beweisführungen, Erörterungen und Untersuchungen ein. Wie anders die Gesinnung des echten Lügners mit seinen freien, furchtlosen Behauptungen, seiner grandiosen Ablehnung jeder Verantwortung, seiner gesunden und natürlichen Abneigung gegen Beweise irgendwelcher Art! Worin besteht denn das Wesen der schönen Lüge? Einfach darin, daß sie sich selbst beweist. Ist einer so arm an Phantasie, daß er seiner Lüge mit Beweisen erst noch zu Hilfe kommt, dann soll er lieber gleich die Wahrheit reden. Nein, die Politiker nützen uns nichts. Vielleicht könnte man einiges zugunsten der Gerichte sagen. Der Mantel der Sophistik fiel ihren Mitgliedern zu. Ihre erheuchelte Leidenschaft und leere Rhetorik ist köstlich. Sie können die schlimmere Sache zur besseren machen, als kämen sie direkt aus Gorgias Schulen; sie sollen sogar in erfolgreicher Weise von nachgiebigen Geschworenen für ihre Klienten die Freisprechung erzwungen haben, selbst wenn die Schuldlosigkeit dieser Klienten außer allem Zweifel stand. Doch sind sie durch die Prosa ihres Berufes gehindert und scheuen sich nicht, Präzedenzfälle herbeizuziehen. Trotz ihrer eifrigen Bemühungen siegt die Wahrheit. Selbst die Zeitungen sind entartet und sind jetzt vollkommen zuverlässig. Das merkt man, wenn man durch ihre Spalten watet. Immer geschieht das, was unlesbar ist. Ich fürchte, es läßt sich nicht viel sagen zugunsten weder des Juristen noch des Journalisten. Die Lüge übrigens, für die ich spreche, ist die Lüge auf dem Gebiete der Kunst. Soll ich einmal lesen, was ich geschrieben habe? Es kann dir vielleicht recht gut tun.
Cyril. Gewiß, wenn ich eine Zigarette haben kann. Danke schön. Für welche Zeitschrift ist übrigens der Artikel bestimmt?
Vivian. Für die ›Retrospective Review‹. Ich glaube, ich sagte dir schon, daß die Auserwählten sie wieder ins Leben gerufen haben.
Cyril. Wen meinst du mit den ›Auserwählten‹?
Vivian. Die ›Tired Hedonists‹ natürlich. Sie bilden einen Klub, dem ich auch angehöre. Wir tragen welke Rosen im Knopfloch und treiben eine Art Kult mit dem Kaiser Domitian. Dich würde man, fürchte ich, nicht wählen. Du bist zu harmlos.
Cyril. Ich würde wohl wegen allzu großer Lebenskraft ausgeschlossen.
Vivian. Wahrscheinlich. Ausserdem bist du ein wenig zu alt. Leute gewöhnlichen Alters nehmen wir nicht.
Cyril. Nun; ich glaube, ihr langweilt einander aus dem Grunde!
Vivian. Das tun wir; das ist einer der Zwecke des Klubs. Doch wenn du versprichst, mich nicht so oft zu unterbrechen, will ich dir meinen Artikel vorlesen.
Cyril. Ich werde ganz Ohr sein.
Vivian. (mit sehr deutlicher und klangvoller Stimme vorlesend). »›Der Verfall der Lüge. Ein Protest.‹ Eine der Hauptursachen, die zur Deutung des sonderbar trivialen Charakters des größten Teils unseres heutigen Schrifttums angeführt werden können, besteht zweifellos im Verfall der Lüge, als einer Kunst, einer Wissenschaft und einer geselligen Unterhaltung. Die Geschichtsschreiber der Alten stellten, was sie so wundervoll erdichtet, als geschichtliches Ereignis dar; der moderne Romanschreiber bietet uns langweilige Tatsachen als Dichtung verkleidet. Der Blaubuch-Stil wird ihm immer mehr zum Vorbild für Haltung und Gang seines Werkes. Er sammelt seine ewigen »documents humains«, er sucht sich seinen kleinen »coin de la création«, und legt ihn unter sein Mikroskop. Er schämt sich nicht, sein Material in der Librairie Nationale oder im Britischen Museum zusammenzulesen. Er hat nicht einmal den Mut zu fremden Meinungen, sondern meint, er müsse aufs Leben selbst zurückgehen. So kommt er schließlich zwischen Lexicis und persönlicher Erfahrung nieder; seine Gestalten sind die des Familienkreises oder der wöchentlichen Waschfrau, und niemals kann er, nicht einmal in den nachdenklichsten Momenten, seine Last nützlichen Wissens abschütteln. Der Schaden, der dem gesamten Schrifttum aus diesem falschen Ideal unserer heutigen Zeit erwächst, kann kaum überschätzt werden. Man hat sich in seinem Leichtsinn angewöhnt, von einem ›geborenen Lügner‹ wie von einem ›geborenen Dichter‹ zu sprechen. Beide Male mit Unrecht. Das Lügen sowohl wie das Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato erkannte, miteinander verwandt sind, und sie erfordern die größte Gewissenhaftigkeit und uneigennützigste Liebe. Und in der Tat haben sie auch, gleich den materielleren Künsten der Malerei und Skulptur, ihre eigene Technik, ihre eigenen Geheimnisse der Farbe und Form, ihre eigenen Handgriffe, eigene wohlüberlegte, künstlerische Methoden. Wie man den Dichter an seiner feinen Melodie erkennt, so auch den Lügner am rhythmischen Reichtum seiner Sprache, und bei keinem von beiden vermag die zufällige Eingebung des Augenblicks zu genügen. Wie überall, so muß auch hier der Vollendung die Übung vorangehn. Wenn aber heute das ›Dichten‹ viel zu allgemein geworden ist – man sollte es hindern, so viel wie möglich – so ist die Lüge fast in üblen Ruf geraten. Mancher junge Mensch tritt ins Leben mit der natürlichen Anlage, zu übertreiben, einer Anlage, die man mit Sorgfalt pflegen und an der Hand der höchsten Vorbilder züchten sollte, daß etwas Großes und Wunderbares aus ihr werde. In der Regel aber bringt ein solcher Mensch es zu nichts. Er gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit – –«
Cyril. Aber mein Lieber!
Vivian. Bitte, unterbrich mich nicht mitten im Satz. »Er gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit, oder er sucht die Gesellschaft von Bejahrten und Wohlunterrichteten. Beides ist seiner Phantasie – und in der Tat der Phantasie eines jeden – verhängnisvoll, und es dauert nicht lange, so beginnt er eine krankhafte Vorliebe für die Wahrheit zu zeigen; er prüft alles, was in seiner Gegenwart behauptet wird, widerspricht rückhaltlos dem, der viel jünger ist, und oft schreibt er schließlich Romane, die dem nackten Leben so ähnlich sehen, daß keiner imstande ist, an ihre Möglichkeit zu glauben. Wir führen hiermit keinen vereinzelten Fall an. Es ist nur einer unter vielen; und wenn nichts geschieht, die heutige Vergötterung der Tatsachen auszurotten, zum mindesten einzudämmen, dann wird die Kunst welken und die Schönheit von hinnen ziehen.
Selbst Stevenson, jener reizvolle Meister zarter und phantastischer Prosa, zeigt die Flecken dieses modernen Lasters – denn wir wissen es wahrlich nicht anders zu nennen. So seltsam es auch klingen mag, aber man kann eine Geschichte unwahrscheinlich machen, wenn man versucht, sie zu wahr zu machen; so ist denn der ›Black Arrow‹ so unkünstlerisch, daß er sich nicht eines einzigen Anachronismus rühmen kann, während die Verwandlung Dr. Jekylls sich gefährlich nach einem Experiment aus dem Lancet anhört. Rider Haggard, der wirklich Anlage hat, oder doch hatte, ein grandioser Lügner zu werden, fürchtet jetzt so sehr, man könne meinen, er sei ein Genie, daß er es für nötig hält, eine persönliche Reminiszenz zu erfinden, um sie in einer Anmerkung als feige Bestätigung des Erzählten anzubringen. Aber die anderen sind auch nicht viel besser. Mr. Henry James schreibt Romane, als sei es eine peinliche Pflicht, und verschwendet seinen hübschen, gelehrten Stil, seine treffenden Wendungen, seine behende und beißende Satire an niedrige Motive und unerfindliche ›Gesichtspunkte‹. Mr. Hall Caine strebt zweifellos nach Grandiosität, nur überschreit er sich. Er ist so geräuschvoll, daß man nicht hört, was er sagt. Mr. James Payn ist ein Virtuose in der Kunst, alles zu verhüllen, was nicht einmal verdient, gefunden zu werden. Er spürt mit dem Eifer eines kurzsichtigen Geheimpolizisten Dinge auf, die niemand nicht sieht. Je länger man liest, um so unerträglicher wird die Spannung des Verfassers.
Den Sonnenrossen William Blacks fehlt die Kraft, zur Sonne emporzusteigen. Sie versetzen den Abendhimmel nur in farbenwilden Schrecken. Sobald sie nahen, retten die Bauern sich in den Dialekt. Mrs. Oliphant weiß in gefälliger Weise von Geistlichen, Tennisgesellschaften, häuslichen Angelegenheiten und anderen langweiligen Dingen zu plaudern. Marion Crawford hat sich auf dem Altar der Lokalfarbe geopfert. Er gleicht der Dame des französischen Lustspiels, die immer nur von dem ›beau ciel d'Italie‹ spricht. Außerdem hat er die schlimme Angewohnheit, sich in moralischen Platitüden zu ergehen. Er versichert uns immer, das Gute sei gut und das Böse schlecht. Zuweilen ist er beinahe erbaulich. Robert Elsmere ist natürlich ein Meisterwerk, ein Meisterwerk des ›genre ennuyeux‹, der einzigen Form des Schrifttums, die die Engländer wirklich zu genießen scheinen. Ein denkender junger Freund von uns bemerkte einmal, ihn erinnere das Buch an eine Art ernster Unterhaltung, wie sie in dem Hause einer nonkonformistischen Familie beim Nachmittags-Tee geführt werde, und wir können uns denken, daß er sehr recht hat. In der Tat, solche Bücher sind nur in England möglich. England ist die Stätte der Geistlosigkeit. Von der übrigen großen und täglich noch wachsenden Zahl der Romanschreiber, denen die Sonne nur im ›East-End‹ aufgeht, läßt sich nur eins sagen: sie verwandeln die Ungeschliffenheit des Lebens in brutale Rohheit.
In Frankreich steht es auch nicht viel besser, obgleich dort nichts so ausgesprochen Langweiliges entstanden ist, wie Robert Elsmere. Guy de Maupassant weiß mit seiner beißenden, bitteren Ironie und seinem harten, farbenreichen Stil das Leben seiner letzten, armseligen Lumpen zu berauben, um uns zehrendes Geschwür und brandige Wunden zu zeigen. Er schreibt kleine, gespenstische Tragödien, in denen jedermann lächerlich ist, oder bittere Komödien, über die man vor Tränen nicht lachen kann. Zola, seiner hochtrabenden Lehre getreu: L'homme de génie n'a jamais d'esprit, ist entschlossen, uns zu überzeugen, daß er, ohne Genie zu besitzen, wenigstens langweilen kann. Und wie gut ihm das gelingt! Doch ist er nicht ohne Kraft der Schilderung. Ja, zuweilen, wie im Germinal, zeigt er fast epische Größe. In allem aber ist er auf grundfalscher Fährte, nicht als Moralist, aber als Künstler. Vom Standpunkte der Moral ist er unantastbar. Er redet stets die Wahrheit und seine Beschreibungen stimmen vollständig mit dem Leben überein. Was kann man mehr verlangen? Wir haben durchaus kein Verständnis für die moralische Entrüstung, die sich heutzutage gegen Zola geltend macht. Sie ist die moralische Entrüstung des entlarvten Tartuffe. Was hingegen läßt sich vom Standpunkt der Kunst zu seinen Gunsten sagen, zugunsten des Verfassers von L'Assommoir, Nana und Pot-Bouille? Nichts. Ruskin vergleicht einmal die Charaktere der Eliotschen Romane mit dem Abschaum eines Pentonviller Omnibus; aber Zolas Charaktere sind weit schlimmer. Sie langweilen uns mit ihren Lastern und mehr noch mit ihren Tugenden. Ihr Leben hat auch nicht das geringste Interesse. Wer nimmt an ihrem Schicksal teil? Die Literatur verlangt Vornehmheit, Zauber, Schönheit und schöpferische Kraft. Wir wollen nicht belästigt und angeekelt sein von Dingen, die sich in den unteren Volksschichten abspielen. Besser steht es mit Daudet. Er hat Witz, einen zarten Anschlag und amüsanten Stil. Er hat aber kürzlich literarischen Selbstmord begangen. Wer findet noch Gefallen an dem ›lutter pour l'art‹ Delobelles, dem immer wiederkehrenden Nachtigallen-Refrain Valmajours, den ›mots cruels‹ des Dichters im Jack, nachdem man nun aus Vingt Ans de ma Vie littéraire erfahren hat, daß diese Charaktere dem Leben entnommen sind? Für uns haben sie plötzlich alle Lebendigkeit verloren, all die wenigen guten Eigenschaften, die sie je besaßen.
Wirkliche Menschen sind nur solche, die nie gelebt haben; und wenn ein Romanschreiber so tief steht, daß er sich um seine Charaktere unmittelbar ans Leben wendet, so soll er ihnen wenigstens den Anschein geben, als seien sie Dichtungen, und nicht sich ihrer als Kopien rühmen. Die Berechtigung eines Charakters in einem Roman besteht nicht in der Wahrheitstreue anderer, sondern in der Persönlichkeit des Verfassers. Sonst ist der Roman kein Kunstwerk.
Was Paul Bourget betrifft, den Meister des »roman psychologique«, so ist er in dem Wahn befangen, es liessen sich moderne Männer und Frauen unzählige Kapitel hindurch bis ins kleinste hinein analysieren. Was wirklich interessant ist an Menschen der guten Gesellschaft – und höchst selten verläßt Herr Bourget den Faubourg-St. Germain, es sei denn, daß er nach London kommt – das ist die Maske, die jeder trägt, nicht aber die Wirklichkeit, die hinter der Maske liegt. Es ist ein demütigendes Geständnis, aber wir sind alle aus demselben Stoff. Falstaff hat etwas von Hamlet, Hamlet gar manches vom Falstaff. Der feiste Ritter hat seine Anfälle von Melancholie, der junge Prinz seine Augenblicke derben Humors. Die Merkmale aber, die uns voneinander abheben, bestehen nur in Nebendingen: in Kleidung, Manieren, Klang der Stimme, religiösen Meinungen, äußerer Erscheinung, Angewohnheiten und dergleichen. Je mehr man die Menschen analysiert, um so mehr verschwinden alle Gründe, sie zu analysieren. Endlich stößt man doch auf das allumfassende Ungeheuer, das sich die menschliche Natur nennt. Es ist wahrlich kein leerer Dichtertraum, daß alle Menschen Brüder sind, sondern demütigende, deprimierende Wahrheit. Das wissen diejenigen nur zu gut, die je unter Armen gearbeitet haben. Und will ein Schriftsteller denn durchaus die Menschen der oberen Gesellschaftsklassen analysieren, so könnte er lieber gleich von Obstfrauen und Straßenverkäufern reden.« Indes, ich will dich gerade hier nicht länger aufhalten, Cyril. Ich gebe zu, daß moderne Romane auch ihre guten Seiten haben. Nur sage ich, daß sie als Gesamtheit einfach nicht zu lesen sind.
Cyril. Das ist freilich eine nachdenkliche Abschätzung. Doch finde ich auch manches ungerecht in deiner Kritik. Ich liebe ›The Deemster‹ und ›The Daughter of Heth‹ und ›Le Disciple‹ und Mr. Isaacs; und Robert Elsmere verehre ich geradezu. Nicht, daß ich ihn ernst nehmen könnte. Die Darlegung von Problemen für denkende Christen ist abgeschmackt und veraltet, ist Arnolds ›Literature and Dogma‹ ohne die Literatur. Sie bleibt ebensoweit hinter der Zeit zurück, wie die ›Evidences‹ von Paley oder die Colensosche Methode der Bibelexegese. Auch spielt der unglückselige Held die kläglichste Rolle, wenn er feierlich eine Morgenröte verkündet, die längst schon aufging, und von der Bedeutung derselben so wenig weiß, daß er bereit ist, die veralteten Verhältnisse bestehen zu lassen und ihnen nur einen neuen Namen zu geben. Andererseits aber enthält der Roman einige geschickte Karikaturen und eine Fülle hübscher Zitate, und die Philosophie Greens versüßt in höchst angenehmer Weise die etwas bittere Pille der eigentlichen Dichtung. Sodann muß ich mich sehr darüber wundern, daß du jene beiden nicht erwähntest, die du beständig liest, Balzac und George Meredith. Das sind doch Realisten, beide?
Vivian. Ah! Meredith! Wer will ihn beschreiben? Sein Stil ist Chaos, das von zuckenden Blitzen leuchtet. Als Schriftsteller beherrscht er alles, nur nicht die Sprache; als Romanschreiber kann er alles, nur nicht erzählen; als Künstler ist er alles, nur nicht klar. Irgendeiner bei Shakespeare – ich glaube Touchstone – spricht von einem Mann, der sich an seinem eigenen Witz beständig die Glieder zerschlägt, und wie mir scheint, könnte man mit diesem Wort Merediths Art und Weise abtun. Was er aber auch sein mag, Realist ist er nicht. Oder doch vielleicht ein Sohn des Realismus, aber einer der sich mit seinem Vater nicht steht. Durch eigene, freie Wahl ist er zum Romantiker geworden. Er verschmähte es, vor Baal das Knie zu beugen, und wenn sich auch des Mannes herrlicher Geist nicht empörte gegen die lärmenden Anmaßungen des Realismus, es genügte sein bloßer Stil, um das Leben in angemessener Entfernung zu halten. Mit diesem Stil hat er eine Hecke um seinen Garten gezogen, eine Hecke von Dornen und roter Rosenpracht. Balzac vereinigt in eigentümlicher Weise das artistische Temperament und den wissenschaftlichen Geist. Diesen vermachte er an seine Schüler; jenes blieb ganz sein eigen. Der Unterschied zwischen einem ›Assommoir‹ Zolas und Balzacs ›Illusions Perdues‹ ist der Unterschied zwischen unschöpferischem Realismus und schöpferischer Realität. »Alle Charaktere Balzacs«, sagte Baudelaire, »durchströmt dieselbe Lebensglut, die ihn beseelte. Der geheimnisvolle Farbengehalt seiner Dichtung ist der der Träume. Jede einzelne Gestalt ist eine Kanone geladen mit Willen. Selbst die Küchenjungen haben Genie.« Ein fortgesetztes Studium Balzacs verwandelt unsere Freunde in Schattenbilder und unsere Bekannten in Schatten von Schattenbildern. Seine Gestalten sind gleichsam glühende, feuerfarbene Wesen. Sie lassen uns nicht los und vernichten jeden Zweifel. Eine der größten Tragödien meines Lebens ist der Tod des Lucien de Rubempré. Von seinem Wehe habe ich mich niemals völlig befreien können. Er verfolgt mich in meiner Freude. Ich muß an ihn denken, wenn ich lache. Aber ein Realist ist Balzac so wenig wie Holbein. Sein Werk war Schöpfung, nicht Nachbildung. Doch gebe ich zu, daß er viel zu hohen Wert legte auf die Modernität der Form, und daß infolgedessen kein Buch von ihm vorhanden ist, das als ein Meisterwerk der Kunst bestehen könnte neben »Salammbô« oder »Esmond«, »The Cloister and the Hearth« oder dem »Vicomte de Bragelonne«.
Cyril. Du bist also ein Gegner der Modernität der Form?
Vivian. Ja. Sie bedeutet ein allzu großes Opfer. Reine Modernität der Form hat stets etwas Verhäßlichendes; und das mit Notwendigkeit. Die Leute glauben, weil sie selbst an den Vorgängen ihrer nächsten Umgebung teilnehmen, es müsse auch die Kunst an ihnen teilnehmen und sie zu ihrem Gegenstande wählen. Aber schon die Tatsache, daß sie an diesen Dingen teilnehmen, genügt, sie für die Kunst unbrauchbar zu machen. Die einzigen wirklich schönen Dinge, sagte einmal jemand, sind die Dinge, die uns nichts angehen. Solange uns ein Ding nützlich oder notwendig erscheint, oder uns mit Schmerz oder Freude, Liebe oder Haß erfüllt, oder einen wesentlichen Bestandteil unserer nächsten Umgebung bildet, liegt es außerhalb des eigentlichen Kunstgebietes. Die Gegenstände der Kunst müssen uns mehr oder weniger gleichgültig sein. Auf alle Fälle sollten wir uns fern halten von Vorliebe, Vorurteilen und eigennützigen Interessen irgendwelcher Art. Gerade, weil uns Hecuba nichts angeht, bilden ihre Leiden ein so herrliches Motiv der tragischen Kunst. Ich kenne in der gesamten Literaturgeschichte nichts Beklagenswerteres, als die künstlerische Laufbahn Charles Reades. Er schrieb ein einziges wunderschönes Buch, »The Cloister and the Hearth«, ein Buch, das ebensosehr über Romola, wie Romola über Daniel Doronda steht; und er verschwendete den Rest seines Lebens auf den unsinnigen Versuch, modern zu sein, die Öffentlichkeit auf den Zustand unserer Gefängnisse und die Leitung unserer Irrenhäuser aufmerksam zu machen. Es war schon in jeder Beziehung entmutigend, daß ein Charles Dickens versuchte, für die Opfer des Armengesetzes unser Mitleid zu erregen, aber ein Künstler, ein Gelehrter, ein Mann von wahrem Schönheitssinn – ein Charles Reade, der gegen die Übelstände heutiger Lebensverhältnisse wettert und wütet wie ein gemeiner Zeitungs- und Flugblattschreiber, ist wahrlich ein Anblick zum Erbarmen. Glaube mir, Cyril, Modernität der Form und Modernität des Gegenstandes zu fordern, ist von Grund aus verkehrt. Wir haben das Gewand der Musen in moderner Alltagstracht erblickt und verbringen unsere Tage in den schmutzigen Straßen und häßlichen Vororten unserer scheußlichen Großstädte, während wir am Bergeshange mit Apoll verweilen sollten. Wahrlich, unser Geschlecht ist entartet, und wir haben unsere Erstgeburt verkauft für ein Gericht von Tatsachen.
Cyril. Es liegt etwas Wahres in deinen Worten, und was uns immer reizen mag, einen modernen Roman zu lesen, wir werden selten am Wiederlesen einen künstlerischen Genuß haben. Und das ist vielleicht der beste Prüfstein, ob etwas zur eigentlichen Literatur gehört oder nicht. Wenn ein Buch nicht verträgt, immer wieder und wieder gelesen zu werden, hat es keinen Wert, es überhaupt zu lesen. Aber was hältst du von der Rückkehr zum Leben und zur Natur? Das ist das Universal-Heilmittel, das uns immer wieder empfohlen wird.
Vivian. Ich will einmal vorlesen, was ich darüber sage. Die Stelle kommt zwar etwas später, aber ich kann sie dir schon jetzt geben: –
»Es heißt heute allgemein: ›Laßt uns zum Leben und zur Natur zurückkehren; sie werden uns die Kunst wieder neu erschaffen und dem Blute ihrer Adern neues Leben geben; sie werden ihren Fuß beschwingen und ihrer Hand Macht verleihen. – ‹ Aber ach! wir sind auf verkehrtem Wege mit unsern gutgemeinten und ehrlichen Bestrebungen. Die Natur ist immer hinter der Zeit zurück. Und das Leben – es ist das Zerstörungsmittel der Kunst, der schlimme Feind, der ihr Gebäude verwüstet.«
Cyril. Was heißt das, die Natur ist immer hinter der Zeit zurück?
Vivian. Nun; das ist vielleicht etwas dunkel. Ich verstehe darunter folgendes: Wenn wir in der Natur nur den gemeinen, natürlichen, kindlichen Instinkt sehen, im Gegensatz zu selbstbewußter Kultur, so ist alles, was unter diesem Einflusse geschaffen wird, altmodisch und veraltet. Ein wenig Natur macht die ganze Welt verwandt, aber ein wenig zu viel Natur muß jedes Kunstwerk verderben. Wenn wir andererseits die Natur als Summe aller Erscheinungen der Außenwelt auffassen, so entdecken wir in ihr nur das, was wir in sie hineinlegen. Sie suggeriert nichts Eigenes. Wordsworth ging an die Seen, aber nie lernte er, sie besingen. Er fand im Gestein nur die Predigten, die er selbst dort verborgen hatte. Moralpredigend zog er im Lande umher, aber nur dann schuf er wahrhaft Wertvolles, wenn er zurückkehrte nicht zur Natur, sondern zur Poesie. Die Poesie schenkte ihm »Laodamia«, und die herrlichen Sonette, und die »Great Ode« in ihrer ganzen Schönheit. Die Natur schenkte ihm »Martha Ray« und »Peter Bell« und die Ansprache an Mr. Wilkingsons Spaten.
Cyril. Ich glaube, es ließe sich darüber streiten. Ich bin geneigt, an die inspirierende Wirkung eines Frühlingswaldes zu glauben, obgleich, wie sich von selbst versteht, der künstlerische Wert einer solchen Eingebung einzig und allein abhängig ist von der Beschaffenheit der empfangenden Seele, so daß die Rückkehr zur Natur das Heranwachsen zu einer großen Persönlichkeit bedeutete. Damit würdest du wohl übereinstimmen. Indes, fahre in deinem Artikel fort.
Vivian. (vorlesend). »Die Kunst beginnt mit übersinnlicher Dekoration, mit rein erdichtender und erfindungsfröhlicher Arbeit, sich nur mit dem befassend, was unwahr und unwirklich ist. Das ist die erste Phase. Sodann verliebt sich das Leben in dieses neue Zauberwesen und bittet um Einlaß in den verzückten Kreis. Die Kunst verwendet das Leben als einen Teil ihres rohen Materials, schafft es um und gibt ihm neue Gestalt, erfindet, erdichtet, träumt und errichtet zwischen sich und der Wirklichkeit die unverletzliche Schranke des schönen Stils, der dekorativen und idealen Behandlungsweise. Die dritte Phase ist die, in der das Leben die Oberhand gewinnt und die Kunst in die Wildnis hinaustreibt. Dies ist die eigentliche Decadence, und sie ist es, unter der wir heute leiden. Nehmen wir zum Beispiel das englische Drama. Zunächst, in den Händen der Mönche, war die dramatische Kunst übersinnlich, dekorativ, mythologisch. Dann nahm sie das Leben in ihren Dienst, und gewisse äußere Formen des Lebens benutzend, schuf sie eine völlig neue Art von Wesen, deren Leiden furchtbarer waren, als je die Leiden eines Menschen, deren Freuden größer waren, als alles Glück der Liebenden, die die Leidenschaft der Titanen besaßen und die Ruhe der Götter, denen große und grandiose Sünden zu eigen waren und große und grandiose Tugenden. Ihnen wurde eine Sprache verliehen, verschieden von der des Alltags, eine Sprache, reich an klingender Melodie und zierlichen Rhythmen. Ernster Tonfall gab ihr Pracht und bunte Reime Lieblichkeit. Herrliche Worte schmückten sie wie mit Edelsteinen, erhabenes Pathos gab ihr den Reichtum. Die Kunst kleidete ihre Kinder in wunderliche Tracht und gab ihnen Masken, und auf ihr Geheiß erhob sich die antike Welt aus marmornem Grabe. Ein neuer Caesar stolzierte durch die Straßen des erstandenen Rom, und mit purpurnem Segel und flötenbezaubertem Ruder glitt der Nachen einer neuen Cleopatra zu Antiochus. Alte Mythen und Legenden, alter Zauber gewannen Gestalt und Wirklichkeit. Das Buch der Geschichte wurde umgeschrieben, und es gab fast keinen Dramendichter, der nicht anerkannte, daß das Ziel der Kunst nicht einfache Wahrheit, sondern mannigfache Schönheit sei. Und hierin hatten sie vollkommen recht. Die Kunst ist in Wirklichkeit eine Form der Übertreibung; und die feine Auswahl, in der die eigentliche Seele der Kunst besteht, ist nichts als der höchste Grad der Unterstreichung.
In kurzer Zeit aber hatte das Leben die Vollkommenheit der Form zerstört. Schon bei Shakespeare sehen wir den Anfang vom Ende. Er verriet sich in dem allmählichen Zerfallen des Blankverses der späteren Dramen, dem Vorwiegen der Prosa, und der übergroßen Sorgfalt, die auf die Charakterzeichnung verwandt ist. An jenen Stellen Shakespeares – und es gibt deren viele – in denen die Sprache roh, vulgär, überladen, verzerrt, sogar obszön ist, trägt nur das Leben die Schuld, das Leben, das nach einem Echo seiner eigenen Stimme ruft und den Einspruch des schönen Stils zurückweist, der ihm zum alleinigen Ausdruck dienen sollte. Shakespeare ist als Künstler durchaus nicht unantastbar. Er liebt es zu sehr, aufs Leben selbst zurückzugehen und sich des Lebens Naturstimme zu leihen. Er vergißt, daß die Kunst alles aufgibt, wenn sie das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt. Goethe sagt einmal: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Diese Beschränkung aber, die eigentliche Bedingung jeder Kunst, ist der Stil. Indes, wir brauchen nicht länger bei dem Realismus Shakespeares zu verweilen; der ›Sturm‹ ist die vollkommenste aller Palinodien. Wir wollten nur darauf hingewiesen haben, daß die herrliche Kunst des Zeitalters der Elisabeth und des Jakob schon den Keim der eigenen Auflösung in sich trug, und wenn Shakespeare einen Teil seiner Macht dadurch erhielt, daß er das Leben als rohes Material benutzte, so liegt die Schwäche der übrigen Künstler dieser Zeit darin, daß sie die Form des Lebens als künstlerische Form anwandten. Die unvermeidliche Folge dieser Substitution eines rein nachahmenden für ein schöpferisches Mittel, dieses Aufgebens der phantasievollen Form, erleben wir im modernen englischen Melodrama. Die Charaktere dieser Dramen reden auf der Bühne, wie sie im gewöhnlichen Leben reden würden; sie sind unmittelbar dem Leben entnommen und entfalten seine ganze Gemeinheit bis in die kleinste Kleinigkeit; sie geben den Gang, das Wesen, die Kleidung und die Sprache wirklicher Menschen; sie könnten dritter Klasse fahren, ohne auch nur im geringsten aufzufallen. Aber wie langweilig sind diese Dramen, trotz alledem! Es gelingt ihnen nicht einmal, jenen Eindruck der Wirklichkeit hervorzurufen, den sie beabsichtigen und um dessentwillen sie allein bestehen. Der Naturalismus als Methode künstlerischen Sehens ist nichts als ein Fehlgriff.
Was vom Drama und vom Roman gilt, gilt nicht minder von denjenigen Künsten, die wir die schmückenden Künste nennen. Die Geschichte dieser Künste in Europa ist die Geschichte des Kampfes zwischen dem Orientalismus und unserem eigenen Trieb zum Nachahmen. Der Orientalismus weist jede bloße Nachahmung von sich, er liebt eine konventionelle Zeichensprache und haßt die wirkliche Darstellung von Naturobjekten. Überall, wo der Orientalismus die Oberhand behalten hat, sei es durch unmittelbare Berührung wie in Byzanz, Sizilien und Spanien, oder wie im übrigen Europa durch den Einfluß der Kreuzzüge, sind herrliche Werke des Schöpfergeistes entstanden, in denen die sichtbaren Dinge des Lebens künstlerisch umgewandelt, und solche, die das Leben nicht kennt, zu seiner Lust erschaffen wurden. Überall aber, wo wir zu dem Leben und der Natur zurückkehrten, ist unser Schaffen vulgär, gemein und uninteressant. Die übertriebene Perspektivwirkung, die weiten Flächen überflüssigen Himmels, der bis ins kleinste gehende Naturalismus moderner Tapeten ist ohne jede Schönheit. Die Glasmalerei der Deutschen ist einfach abscheulich. Unsere englischen Teppiche fangen an erträglich zu werden, aber nur, weil wir zu der Methode und dem Geist des Orients zurückgekehrt sind. Durch die ernsten, niederdrückenden Wahrheiten, die sinnlose Naturanbetung, die schmutzige Wiedergabe sichtbarer Dinge sind unsere Decken und Teppiche der siebziger Jahre selbst dem Philister ein Gegenstand des Gelächters geworden. Ein feingebildeter Mohamedaner sagte mir einmal: ›Ihr Christen seid so sehr beschäftigt, das vierte Gebot zu mißdeuten, daß ihr noch nie daran dachtet, eine künstlerische Anwendung des zweiten zu machen.‹ Er hatte ganz recht, und der Kern der Sache ist der: Die wahre Lehrmeisterin der Kunst ist nicht das Leben, sondern die Kunst.«
Und nun möchte ich dir eine Stelle vorlesen, die mir die Sache in sehr vollkommener Weise zum Abschluß zu bringen scheint:
»Es war nicht immer so. Wir brauchen nicht erst von den Dichtern zu reden, denn diese sind mit der unglücklichen Ausnahme Wordsworths ihrem hohen Berufe wirklich treu geblieben und genießen bei allen den Ruf der vollkommenen Unzuverlässigkeit. Aber in den Werken des Herodot, den man trotz der ohnmächtigen und unvornehmen Versuche moderner Halbwisser, die Geschichtsaufzeichnungen dieses Mannes mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, den ›Vater der Lüge‹ nennen könnte; in den niedergeschriebenen Reden Ciceros und den Lebensbeschreibungen des Sueton; bei Tacitus, wo er am größten ist; in der Naturgeschichte des Plinius; in Hannos Periplous; in allen alten Chroniken; in den Lebensbeschreibungen der Heiligen; bei Froissart und Sir Thomas Mallory; in den Reisebeschreibungen des Marco Polo; bei Olaus Magnus und Aldrovandus und in dem herrlichen ›Prodigiorum und Ostentorum Chronikon‹ des Conrad Lycosthenes; in der Selbstbiographie des Benvenuto Cellini; in den Memoiren des Casanuova; in Defoes ›History of the Plague‹; in Boswells ›Life of Johnson‹; in den Depeschen Napoleons und in den Werken unseres eigenen Carlyle, dessen ›French Revolution‹ der fesselndste geschichtliche Roman ist, den es gibt – wird entweder den Tatsachen die ihnen gebührende untergeordnete Stellung angewiesen, oder aber sie werden allgemeinen Stumpfsinns halber verworfen. Heute hat sich alles verändert. Die Tatsachen fassen nicht nur in der Geschichtsschreibung festen Fuß, sie brechen auch in das Gebiet der Phantasie ein und halten Einzug in dem Königreich der Dichtung. Ihr eisiger Hauch legt sich auf alles. Sie vulgarisieren die Menschheit.
Der rohe Kaufmannssinn der Amerikaner, ihr materialistischer Geist, ihre Gleichgültigkeit gegen alles, was poetisch ist, und ihr Mangel an geistreicher Phantasie und das Fehlen hoher, unerreichbarer Ideale ist lediglich eine Folge davon, daß sie einen Mann zu ihrem nationalen Helden erhoben, der nach eigener Aussage unfähig war, zu lügen, und es ist nicht übertrieben, wenn wir behaupten, die Erzählung von George Washington und dem Kirschbaum habe mehr Unheil angerichtet, und dazu in kürzerer Zeit, als irgendeine andere Moralgeschichte der Weltliteratur.«
Cyril. Aber mein Lieber!
Vivian. Wirklich, es ist so, und was das Köstlichste an der Sache ist: die Erzählung von dem Kirschbaum ist nichts als ein Märchen. Du darfst jedoch nicht denken, daß ich für die künstlerische Zukunft Amerikas oder unseres eigenen Landes alle Hoffnung aufgegeben habe. Höre weiter zu: –
»Daß irgendeine Umwälzung eintreten wird, noch ehe dies Jahrhundert geendet hat, darüber besteht nicht der geringste Zweifel. Gelangweilt durch die ermüdende und dozierende Unterhaltung derer, die weder die Fähigkeit haben, zu übertreiben, noch den Geist, zu dichten, jener klugen Leute überdrüssig, deren Reminiszenzen stets auf dem Gedächtnis beruhen, deren Aussagen ewig gehindert sind, da sie der Wahrheit entsprechen sollen, und denen zu jeder Zeit irgend ein Philister zu Gebote steht, der alles bereitwillig bestätigt, wird die Gesellschaft über kurz oder lang zu ihrem verlassenen Führer zurückkehren müssen, dem feingebildeten und fesselnden Lügner. Wer der erste war, der, ohne jemals auf wilder Jagd gewesen zu sein, den staunenden Höhlenmenschen bei untergehender Sonne erzählte, wie er das Megatherium aus der purpurnen Finsternis seiner Jaspis-Höhle geschleppt, oder das Mammut im Einzelkampf erlegt und das goldene Elfenbein heimgetragen habe, das wissen wir nicht zu sagen, und das hat auch nicht einer unserer modernen Anthropologen zu sagen, trotz all ihres prahlerischen Wissens, den Mut gehabt. Wes Namens und Geschlechts er auch war, sicherlich war er der rechte Gründer des gesellschaftlichen Verkehrs. Denn das Ziel des Lügners ist, zu bezaubern, zu entzücken und zu erfreuen. Er ist der eigentliche Schöpfer der zivilisierten Gesellschaft und ohne ihn ist ein Diner, selbst in den Palästen der Großen, so stumpfsinnig, wie eine Vorlesung in der Royal Society oder ein possenhaftes Lustspiel von Burnand.
Auch wird ihn nicht allein die Gesellschaft willkommen heißen. Aus dem Kerker des Realismus hervorbrechend, wird ihm die Kunst entgegeneilen und ihn begrüßen und ihm die falschen schönen Lippen küssen, denn sie weiß, daß er allein das große Geheimnis aller ihrer Offenbarungen birgt, das Geheimnis, daß die Wahrheit einzig und allein eine Sache der Form ist. Das Leben aber – das arme, wahrscheinliche, dürftige menschliche Leben – Herbert Spencers, aller Geschichtsforscher und emsigen Statistiker überdrüssig, zu deren Gunsten es sich immer wiederholen soll, wird ihm schweigend nachgehen und in seiner schlichten und unverdorbenen Weise einige von den Wunderdingen nachzubilden suchen, von denen er redet.
Zweifellos wird es immer Kritiker geben, die den Märchenerzähler wegen seiner lückenhaften Naturgeschichtskenntnisse mit ernster Miene tadeln, die die Werke der Phantasie nach ihrem eigenen Mangel an Phantasie beurteilen, die entsetzt die tintenbefleckten Hände in die Höhe heben, wenn ein ehrbarer Mann, der nie über die Eibenbäume seines Gartens hinauskam, ein fesselndes Buch Reiseerinnerungen schreibt, wie Sir John Mandeville, oder wie der große Raleigh eine ganze Weltgeschichte geschrieben hat, ohne das Geringste von der Vergangenheit zu wissen. Um sich zu rechtfertigen, werden sie hinter dem Schilde des Mannes Deckung suchen, der Prospero den Magiker schuf und ihm Caliban und Ariel zu Dienern gab, der an den Korallenriffen der Seligkeitsinsel dem Hörnerschall der Tritonen lauschte und in einem Haine bei Athen dem Wechselgesang der Elfen, der in bleichem Zuge die Geisterkönige über die neblige Heide Schottlands führte, der mit den Schicksalsschwestern Hekate in der Höhle verbarg. Sie werden sich auf Shakespeare berufen – das tun sie immer – und werden jene abgedroschene Stelle zitieren, in der die Kunst der Natur den Spiegel vorhält, indem sie vergessen, daß Hamlet diese unglückseligen Worte äußert, um die Anwesenden von seiner vollkommenen Unwissenheit in allen Dingen der Kunst absichtlich zu überzeugen.«
Cyril. Ahem! Noch eine Zigarette, bitte.
Vivian. Du magst einwenden, was du willst, mein Lieber, die Äusserung ist eine rein dramatische und vertritt Shakespeares wirkliche Ansichten über die Kunst ebensowenig, wie die Reden des Jago seine wirklichen Ansichten über die Moral vertreten. Aber laß mich mit dem Abschnitt zu Ende kommen: –
»Die Kunst kann nur durch sich vollkommen werden. Die Ähnlichkeit mit der sichtbaren Welt ist für die Beurteilung vollständig gleichgültig. Sie ist eher ein Schleier als ein Spiegel. Sie hat Blumen, die nie ein Forst gekannt, Vögel, von denen keine Wälder wissen. Sie baut Welten auf und vernichtet sie wieder und kann den Mond mit einem Scharlach-Faden vom Himmel ziehen. Ihr sind Formen zu eigen, die wirklicher sind als das Leben, und auch die hohen Urbilder, von denen alle wirklichen Dinge nur unvollendete Abbilder sind. Die Natur hat in ihren Augen keine Gesetze, keine Gleichförmigkeit. Je nach ihrem Willen verrichtet sie Wunderwerke, und wenn sie Schreckgestalten aus der Tiefe ruft, dann kommen sie. Sie kann den Mandelbaum im Winter blühen heißen und den Schnee über die reifen Kornfelder treiben. Auf ihr Gebot legt der Frost dem Sommer die silbernen Finger auf den heißen Mund, und schleichen Flügellöwen aus den Gebirgsschluchten Lydiens. Die Dryaden blicken neugierig aus dem Dickicht, wenn sie vorübergeht, und die braunen Faune lächeln seltsam, wenn sie ihnen naht. Falkenköpfige Götter beten sie an und Kentauren galoppieren an ihrer Seite.«
Cyril. Das gefällt mir. Ich sehe, was du meinst. Ist das das Ende?
Vivian. Nein. Es folgt noch ein Abschnitt, aber nur praktischen Inhaltes. Er bringt einige Methoden zum Vorschlag, mit deren Hilfe wir die verlorene Kunst zu lügen wiedergewännen.
Cyril. Schön. Bevor du ihn liest, möchte ich eine Frage stellen. Was meinst du, wenn du sagst, das Leben – das arme, wahrscheinliche, dürftige menschliche Leben – werde die Wunderdinge der Kunst nachzubilden suchen? Ich kann es sehr wohl begreifen, daß du dich sträubst, wenn man die Kunst als einen Spiegel betrachtet. Du meinst, das würde das Genie auf die Stufe eines gesprungenen Spiegels stellen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, daß das Leben die Kunst nachahmt, daß gar das Leben der Spiegel und die Kunst die Wirklichkeit ist?
Vivian. Gewiß glaube ich das. Paradox, wie es scheinen mag – und Paradoxien sind immer gefährliche Dinge – es ist darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben. Wir alle haben es in England erlebt, wie ein seltsamer und bezaubernder Schönheitstypus, der von zwei wirklich schöpferischen Malern erfunden und ausgebildet wurde, das Leben derartig beeinflußte, daß, so oft wir in eine Gesellschaft oder einen Kunstsalon gehen, wir hier die geheimnisvollen Augen sehen, von denen Rossetti träumte, den langen elfenbeinernen Hals, das seltsame breitgeschnittene Kinn, das lose schattige Haar, das er so glühend liebte, dort die süsse Jungfräulichkeit des ›Golden Stair‹, den Blütenmund und die müde Schönheit der ›Laus Amoris‹, das leidensbleiche Antlitz der Andromeda, die schmalen Hände und die liebliche Grazie des Vivian in ›Merlins Dream‹. Und es ist von jeher so gewesen. Ein großer Künstler erfindet einen Typus und das Leben sucht ihn nachzubilden, ihn nach Art eines unternehmenden Herausgebers in gemeinfaßlicher Form wiederzugeben. Weder Holbein noch Van Dyck fanden in England vor, was sie uns gaben. Sie brachten ihre Typen mit, und das bereitwillig nachahmende Leben verschaffte dem Meister die Modelle. Die Griechen wußten das vermöge ihres feinen, künstlerischen Instinktes. Sie stellten eine Statue des Hermes oder des Apollo in das Gemach der Braut, daß diese in ihrer Lust und ihrem Schmerz solcher Kunstwerke ansichtig würde und Kinder gebäre von der gleichen Schönheit. Sie wußten, daß das Leben nicht nur Geistigkeit, Gedanken- und Gefühlstiefe, Seelenqual oder Seelenfrieden der Kunst entnimmt, sondern daß es sich auch in Linie und Farbe nach ihr richten kann und die Hoheit eines Phidias wie die Grazie eines Praxiteles wiederzugeben vermag. So erklärt sich ihre Abneigung gegen den Realismus. Sie haßten ihn aus rein gesellschaftlichen Rücksichten. Sie fühlten, daß er den Menschen notwendig verhäßlicht; und sie hatten vollkommen recht. Wir suchen die Lage eines Volkes zu bessern, indem wir für gute Luft, freies Sonnenlicht, gesundes Wasser sorgen und häßliche, kahle Baracken bauen für die Wohlfahrt der unteren Stände. Aber diese Dinge machen nur gesund, sie machen nicht schön. Hierzu ist die Kunst nötig, und die wahren Schüler des großen Künstlers sind nicht seine Atelier-Nachahmer, sondern diejenigen, die wirklich werden wie seine Kunstwerke, mögen sie der Plastik angehören, wie in den Tagen der Griechen, oder, wie in unserer Zeit, der Malerei. Kurz: das Leben ist der Kunst bester, der Kunst einziger Schüler.
So wie mit den bildenden Künsten, steht es auch mit dem Schrifttum. Das schlagendste und zugleich gröbste Beispiel gibt das Benehmen jener dummen Jungen, die die Abenteuer des Jack Sheppard und Dick Turpin lesen, um hinterher die Buden unglückseliger Obstfrauen zu plündern, des Nachts in Konfekt-Läden einzubrechen und alte Herren, die aus der Stadt heimkehren, auf Vorstadt-Straßen mit schwarzen Masken und blinden Revolverschüssen zu überfallen. Diese interessante Erscheinung, die jedesmal auftritt, wenn eines jener beiden Bücher neu aufgelegt ist, wird gewöhnlich dem Einflusse der Literatur auf die Phantasie zugeschrieben. Das ist aber verkehrt. Die Phantasie ist wesentlich schöpferisch und sucht immer nach neuen Ausdrucksmitteln. Jene Bubenstreiche entspringen einfach dem nachahmenden Triebe des Lebens. Sie sind Äusserungen des Lebens, das bemüht ist, der Dichtung Gestalt zu geben, und was uns in ihnen entgegentritt, wiederholt sich nur in umfassender Weise während unseres ganzen Lebens. Schopenhauer hat den Pessimismus analysiert, der die moderne Denkweise beherrscht, aber Hamlet erfand ihn. Der Typus des Nihilisten, jenes wunderlichen Märtyrers ohne Glauben, der an den Pfahl geht ohne Inbrunst und für etwas stirbt, woran er nicht glaubt, ist lediglich ein Produkt des Schrifttums. Er wurde von Turgenjeff erfunden und von Dostojewski vollendet. Die Dichtung greift dem Leben immer vor. Sie gibt uns kein Abbild desselben, sondern gestaltet nach eigenem Ermessen. Das neunzehnte Jahrhundert, so wie wir es kennen, ist zum großen Teil eine Erfindung Balzacs. Unsere Luciens de Rubempré, unsere Rastignacs und de Marsays erschienen zuerst auf der Bühne der Comédie Humaine. Wir füllen nur mit Randbemerkungen und unnötiger Zutat die Laune oder Phantasie oder schöpferische Vision eines großen Romanschreibers aus. Ich fragte einst eine intime Freundin Thackerays, ob dieser die Becky Sharp nach irgendeinem Modell gezeichnet habe. Sie sagte mir, daß Becky eine Erfindung sei, daß ihm aber die Idee des Charakters eine Gouvernante eingegeben habe, die in der Nähe von Kensington Square wohnte und bei einer sehr egoistischen und reichen alten Dame Gesellschafterin war. Ich erkundigte mich nach dem Schicksal der Gouvernante, worauf sie mir sagte, sie wäre merkwürdigerweise einige Jahre nach dem Erscheinen von »Vanity Fair« mit dem Neffen der Dame, bei der sie wohnte, davongelaufen und habe kurze Zeit in der Gesellschaft großes Aufsehen erregt, ganz im Stile der Mrs. Rawdon Crawley und mit allen ihren Eigenarten. Schließlich litt sie Schiffbruch, verschwand nach dem Kontinent und verkehrte in Monte Carlo und anderen Spielhöllen. Jener edle Mann, nach dem derselbe große empfindsame Autor seinen Oberst Newcome zeichnete, starb wenige Monate, nachdem die »Newcomes« die vierte Auflage erreicht hatten, und sein letztes Wort war ›Adsum‹.
Bald nachdem Mr. Stevenson seine merkwürdige psychologische Verwandlungsgeschichte veröffentlicht hatte, war ein Freund von mir, Mr. Hyde, im Norden Londons, und da er schnell auf einen Bahnhof wollte, schlug er einen vermeintlich abkürzenden Weg ein, verlor die Richtung und sah sich bald in einem Netzwerk gemeiner, übelaussehender Straßen. Da er ziemlich nervös wurde, begann er sehr schnell zu gehen, als ihm plötzlich aus einem Torweg ein Kind zwischen die Beine lief. Es fiel aufs Pflaster, er wollte drüber wegsteigen und trat darauf. Da es natürlich sehr erschreckt und ein wenig verletzt war, begann es zu schreien, und nach wenigen Sekunden stand die ganze Straße voll groben Volks, das wie Ameisen aus den Häusern strömte. Man umringte ihn und verlangte seinen Namen. Er wollte ihn gerade nennen, als ihm plötzlich die Eröffnungsszene in Mr. Stevensons Buch einfiel. Ihn packte solches Grauen, weil er in eigener Person jene furchtbare und gutgeschriebene Szene zur Wirklichkeit gemacht und, was der Mr. Hyde der Dichtung mit überlegter Absicht tat, zwar nur zufällig, aber doch getan hatte – daß er so scharf wie möglich davonlief. Er wurde jedoch eng verfolgt, und schließlich flüchtete er sich in ein Laboratorium, dessen Tür gerade offen war. Dort erklärte er einem anwesenden Gehilfen, was geschehen war. Der humanitäre Pöbel ließ sich bewegen, abzuziehen, als er ihnen eine kleine Summe Geldes gab, und sobald die Küste klar war, ging er weiter. Beim Austritt fiel ihm der Name auf dem Messingschild auf. Er lautete »Jekyll«. Wenigstens hätte er so lauten müssen.
Hier war die ganze Nachahmung natürlich Zufall. Im folgenden Fall war sie bewußt.
Im Jahre 1879 – ich hatte gerade die Oxforder Universität verlassen – lernte ich in dem Hause eines auswärtigen Ministers eine Frau von ganz seltener exotischer Schönheit kennen. Wir wurden Freunde und verkehrten beständig. Und doch war es nicht ihre Schönheit, die mich am meisten fesselte, sondern ihr Charakter, das gänzlich Unfaßbare ihres Charakters. Sie schien gar keine Persönlichkeit zu sein, sondern nur das Talent zu besitzen, sich viele Charaktertypen anzueignen. Zuweilen widmete sie sich ganz der Kunst, verwandelte ihr Wohnzimmer in ein Atelier und brachte wöchentlich zwei bis drei Tage in Bildergalerien oder Museen zu. Dann plötzlich besuchte sie Pferderennen, zog sich so sportsmäßig an wie nur möglich und sprach über nichts, als über die Kunst des Wettens. Sie gab die Religion auf zugunsten des Mesmerismus, den Mesmerismus zugunsten der Politik, die Politik zugunsten der melodramatischen Freuden der Menschenliebe. Kurz, sie war eine Proteusnatur und in allen ihren Verwandlungen nicht minder fehlerhaft, als jener wunderliche Meergott, den Odysseus überraschte. Eines Tages erschien in einer französischen Zeitschrift eine Erzählung in Fortsetzungen. Damals pflegte ich derartige Erzählungen zu lesen, und ich erinnere mich deutlich, wie verblüfft ich war, als ich an die Beschreibung der Heldin gelangte. Diese glich meiner Freundin so sehr, daß ich ihr die Zeitschrift brachte. Sofort erkannte sie sich selbst und schien durch die Ähnlichkeit gefesselt. Ich muß dir übrigens sagen, daß die Erzählung aus irgendeinem verstorbenen russischen Autoren übersetzt war, so daß der Verfasser nicht nach meiner Freundin gezeichnet haben konnte. Um mich nun kurz zu fassen, war ich einige Monate darauf in Venedig und fand die Zeitschrift im Lesezimmer des Hôtels. Es war eine herzzerreißende Geschichte, denn das Mädchen war schließlich mit einem Manne davongelaufen, der nicht bloß in sozialer Hinsicht viel tiefer stand als sie, sondern auch geistig und moralisch. An jenem Abend schrieb ich meiner Freundin meine Ansichten über G. Bellini, über das köstliche Eis im Café Florio und über den künstlerischen Wert der Gondeln, fügte aber die Bemerkung hinzu, daß ihr Ebenbild in der Erzählung sehr töricht gehandelt habe. Ich erinnere nicht mehr, weshalb ich die Bemerkung machte, aber ich weiß noch, wie mich ein Grauen faßte, sie möchte das Gleiche tun. Noch ehe mein Brief sie erreichte, war sie mit einem Manne davongelaufen, der sie schon nach sechs Monaten im Stich ließ. Ich sah sie dann im Jahre 1884 in Paris, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und fragte sie, ob vielleicht jene Erzählung an ihrem Handeln Schuld gewesen sei. Sie sagte mir, sie habe einen unwiderstehlichen Drang gefühlt, der Heldin auf ihrem seltsamen und verhängnisvollen Wege Schritt für Schritt zu folgen, und die Aussicht auf die letzten Kapitel habe sie mit geradezu fieberhafter Angst erfüllt. Als sie erschienen, war es ihr, als müsse sie sie verwirklichen, und sie tat es auch. Es war dies ein höchst einleuchtendes Beispiel jenes rein nachahmenden Instinktes, von dem ich vorhin sprach: freilich auch ein außerordentlich tragisches. Indes, ich will nicht länger bei einzelnen Fällen verweilen. Persönliche Erfahrungen sind äußerst beschränkt und verführerisch. Meine Absicht war, nur auf die allgemeine Regel hinzuweisen, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben, und ich bin überzeugt, daß du das zugeben wirst, wenn du einmal ernstlich darüber nachdenkst. Das Leben tritt mit dem Spiegel vor die Kunst und bildet den seltsamen Typus eines Malers oder Bildhauers nach, oder verwirklicht durch Taten den Traum eines Dichters. Philosophisch ausgedrückt ist die Grundlage des Lebens – die Energie des Lebens, wie Aristoteles sagen würde – einfach das Ringen nach Ausdruck, und die Kunst schafft immerwährend die verschiedensten Formen, durch die es sich ausdrücken kann. Das Leben greift sie auf und verwertet sie, und wenn es dabei selber zugrunde geht. Junge Männer haben Selbstmord begangen, weil Rolla ihn beging, haben sich das Leben genommen, weil Werther sich das Leben nahm. Bedenke, was wir der Nachahmung Christi, der Nachahmung Caesars verdanken.
Cyril. Das ist fürwahr eine höchst merkwürdige Lehre, aber um sie zu vervollständigen, mußt du dartun, daß auch die Natur, so gut wie das Leben, ein Abbild der Kunst ist. Bist du bereit, das zu beweisen?
Vivian. Ich bin bereit, alles zu beweisen, mein Lieber.
Cyril. Die Natur richtet sich also nach dem Landschaftsmaler und erhält ihre Wirkungen von ihm?
Vivian. Gewiß. Woher stammen jene wundervollen braunen Nebel, die durch unsere Straßen schleichen und die Lampen-Lichter verwischen und die Häuser in gestaltlose Schatten verwandeln, wenn nicht von den Impressionisten? Wem verdanken wir die prachtvollen Silbernebel, die auf unseren Flüssen lagern und in denen die geschwungene Brücke und die wiegende Barke in schwindelnde Linien zarter Grazie zerfließen, wenn nicht ihnen und ihrem Meister? Der ungeheure Umschwung, der während der letzten zehn Jahre in den klimatischen Verhältnissen Londons stattfand, ist einzig und allein dieser besonderen Kunstschule zuzuschreiben. Du lächelst. Betrachte die Sache einmal vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkte, und du wirst sehen, daß ich recht habe. Denn was ist die Natur? Die Natur ist keine Urmutter, aus der wir alle geboren sind. Sie ist unser Erzeugnis. In unserem Gehirn nur erhält sie Leben. Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir sehen, ist von den Künsten abhängig, die uns beeinflussen. Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Ding ansieht, oder ob man es sieht. Man hat von einem Dinge noch nichts gesehen, ehe man nicht seine Schönheit sieht. Erst dann und nur dann tritt es ins Dasein. Heutzutage sehen die Menschen die Nebel, aber nicht, weil es Nebel gibt, sondern weil die Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schönheit solcher Erscheinungen offenbarten. Es hat wahrscheinlich ganze Jahrhunderte hindurch in London Nebel gegeben. Das glaube ich sogar ganz sicher. Aber niemand hat sie gesehen, und daher wissen wir nichts von ihnen. Sie traten nicht eher ins Dasein, als bis die Kunst sie erfunden hatte. Heute, muß man zugeben, sind Nebel eine wahre Plage geworden. Sie bilden die Manieriertheit einer Clique, und ihre übertrieben realistische Darstellung verursacht bei den Armen im Geiste Bronchitis. Wo sich die fein Gebildeten eine schöne Wirkung verschaffen, holen sich die Ungebildeten eine Erkältung. Seien wir daher human und lassen wir das wunderschöne Antlitz der Kunst sich anderen Dingen zukehren. Und in der Tat, es ist schon geschehen. Jenes weiße, webende Sonnenlicht, das wir jetzt bei den Franzosen sehen, von seltsamen, malvenfarbigen Flecken und ruhelosen, violetten Schatten unterbrochen, ist die neueste Phantasie der Kunst, und im Ganzen gibt die Natur sie in höchst bewunderungswürdiger Weise wieder. Während sie früher die Werke eines Corot und Daubigny nachahmte, bietet sie uns jetzt prachtvolle Monets und bezaubernde Pisaros. Ja, es gibt Augenblicke – sie sind zwar selten, aber sie sind – in denen die Natur ganz modern wird. Natürlicherweise ist sie nicht immer zuverlässig, zumal sie sich in folgender schlimmen Lage befindet. Die Kunst schafft eine völlig neue und einzig dastehende Stimmung und geht dann zu anderen Dingen über. Die Natur hingegen, indem sie vergißt, daß in der Nachahmung auch eine offene Beleidigung liegen kann, wiederholt diese Stimmung immer wieder, bis wir alle ihrer endlich überdrüssig werden. Kein wirklich gebildeter Moderner redet zum Beispiel von der Schönheit eines Sonnenunterganges. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode. Sie gehören einer Zeit an, da Turner noch tonangebend war. Sie bewundern, heißt ›aus der Provinz‹ sein. Andererseits aber bestehen sie fort. Gestern abend wollte Mrs. Arundel durchaus, daß ich ans Fenster träte, um den, wie sie meinte, ›wundervollen Abendhimmel‹ zu betrachten. Natürlich mußte ich es tun. Sie ist eine jener etwas beschränkten aber hübschen Frauen, denen man nichts verweigern kann. Und was war es? Nichts weiter, als ein minderwertiger Turner, ein Turner aus seiner schlechten Zeit, wobei noch die schlimmsten Fehler des Malers ganz besonders zur Geltung kamen. Natürlich gebe ich gern zu, daß auch das Leben diesen Irrtum begeht. Es erzeugt schlechte Renés und unechte Vautrins, so gut wie die Natur bald einen zweifelhaften Kuyp, bald einen mehr als fragwürdigen Rousseau hervorbringt. Und doch, wenn es die Natur tut, stört es uns mehr. Es scheint von ihr so dumm, so selbstverständlich, so unnötig. Ein unechter Vautrin kann uns immerhin ergötzen; ein zweifelhafter Kuyp ist unerträglich. Doch will ich gegen die Natur nicht allzu scharf sein. Ich wünschte nur, der Kanal, besonders bei Hastings, gliche nicht ganz so oft einem Henry Moore, einer grauen Perle mit gelben Lichtflecken. Aber wenn die Kunst vielseitiger wird, so wird auch zweifellos die Natur vielseitiger werden. Daß sie die Kunst nachahmt, werden wohl heute nicht einmal ihre Feinde in Abrede stellen. Gerade in dieser Eigenschaft, und nur in dieser, behält sie mit dem Kulturmenschen Fühlung. Aber habe ich meine Lehre zu deiner Zufriedenheit bewiesen?
Cyril. Du hast sie zu meiner Unzufriedenheit bewiesen, und das ist noch besser. Aber selbst wenn man zugibt, daß das Leben und die Natur diesen seltsamen Trieb der Nachahmung besitzen, wirst du doch sicherlich anerkennen, daß die Kunst sowohl die Gefühls- und Geschmacksrichtung ihres Zeitalters, wie auch die Beschaffenheit der Moral und der Sitte darstellt, in deren Mitte und unter deren Einfluß sie entstanden ist.
Vivian. Durchaus nicht! Die Kunst stellt nichts dar außer sich selbst. Das ist die Grundlehre meiner neuen Ästhetik; und das macht es – mehr noch als jener innere Zusammenhang zwischen Form und Stoff, von dem Pater spricht – daß die Tonkunst der Typus aller Künste ist. Freilich sind die Völker, wie jeder einzelne Mensch, in dem Wahn befangen, daß sie diejenigen sind, von denen die Musen reden, und das erklärt sich aus der gesunden, natürlichen Eitelkeit, die das Geheimnis des Lebens ist. Sie suchen beständig in der stillen Hoheit geistigster Kunst irgendein Abbild ihrer eigenen Rasereien und vergessen immer, daß nicht Apollo, sondern Marsyas das Leben besingt. Der Wirklichkeit entrückt und das Antlitz den Schatten der Höhle abgewandt, offenbart die Kunst ihre eigene Vollendung, und wenn die staunende Menge der wunderreichen, tausendblättrigen Rose zusieht, wie sie sich erschließt, so glaubt sie ihre eigenen Schicksale und ihre eigenen Gedanken in neuer Verkleidung zu sehen. Aber sie sind blind. Die Kunst entäußert sich alles Menschlichen und gewinnt weit mehr durch neue Mittel und neue Stoffe, als durch irgendeine Begeisterung für die Kunst, oder irgendeine hohe Leidenschaft, oder irgendein großes Erwachen des menschlichen Bewußtseins. Sie entwickelt sich rein organisch. Sie ist nie ein Symbol des Zeitalters; die Zeitalter sind ihre Symbole.
Selbst diejenigen, die der Ansicht sind, daß uns die Kunst über Land und Leute Auskunft gibt, können nicht in Abrede stellen, daß die Kunst, je mehr sie zur Nachahmung neigt, um so weniger den Zeitgeist vertritt. Wenn uns die teuflischen Gesichter der Römischen Caesaren anschauen aus verwittertem Porphyr und geflecktem Jaspis heraus, dem Lieblingsmaterial der naturalistischen Künstler jener Zeit, so scheint es uns, als sähen wir in diesen grausamen Lippen und diesen schweren, sinnlichen Kinnbacken den geheimen Grund für den Untergang des Kaiserreichs. Das ist aber falsch. Die Laster des Tiberius vermochten ebensowenig jene höchste Kultur zu zerstören, wie die Tugenden der Antonier vermochten, sie zu stützen. Andere, viel unscheinbarere Dinge richteten sie zugrunde. Die Sibyllen und Propheten der Sistina mögen in der Tat einigen zur Deutung der Wiedergeburt des freien Geistes dienen, die wir die Renaissance nennen; was aber erfahren wir in den Trunkenbolden und brüllenden Bauern der Holländischen Kunst von der großen Seele ihrer Heimat? Je abstrakter und ideeller eine Kunst ist, um so besser vermag sie das innere Wesen ihres Zeitalters zu offenbaren. Wenn wir durch Vermittlung der Kunst begreifen wollen, wie ein Volk gedacht und gefühlt hat, müssen wir uns an die Architektur und die Musik wenden.
Cyril. Das leuchtet mir auch ein. Der Geist eines Volkes wird am besten in den abstrakten und ideellen Künsten wiedergegeben, denn der Geist selbst ist abstrakt und ideell. Wollen wir hingegen den äußeren Anblick, die Physiognomie des Zeitalters kennen lernen, so müssen wir uns selbstverständlich an die nachahmenden Künste halten.
Vivian. Ich bin nicht der Ansicht. Denn was bieten uns im Grunde die nachahmenden Künste? Doch nur eine Auswahl verschiedener Stilarten, die von bestimmten Künstlern erfunden und in gewissen Kunstschulen ausgebildet wurden. Du glaubst doch nicht etwa, daß die Menschen des Mittelalters auch nur im entferntesten jenen Figuren ähnlich waren, die uns in der mittelalterlichen Glasmalerei und Holzschnitzerei oder in der mittelalterlichen Skulptur und Metallarbeit, in der Teppichwirkerei oder in den bunt bemalten Handschriften begegnen? Es waren vermutlich ganz gewöhnliche Menschen, die durchaus nichts Groteskes oder Phantastisches oder irgend etwas Auffallendes an sich hatten. Das Mittelalter, wie wir es aus Kunstwerken kennen, ist nichts, als ein in sich abgeschlossener Stil, und es liegt kein Grund vor, weshalb nicht auch das neunzehnte Jahrhundert einen Künstler desselben Stils hervorbringen sollte. Kein großer Künstler sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Er würde aufhören, Künstler zu sein. Nehmen wir ein ganz modernes Beispiel. Ich weiß, du liebst japanische Kunstgegenstände. Solltest du ernstlich glauben, daß die Japaner, wie sie in der Kunst dargestellt werden, wirklich leben? Dann hättest du nämlich gar nichts von der japanischen Kunst begriffen. Die Japaner sind die eigenmächtige Schöpfung einzelner Künstler. Wenn du die Männer und Frauen eines Hokusai, oder Hokkei, oder irgendeines eingeborenen Malers mit wirklichen Japanern oder Japanerinnen vergleichst, so wirst du sehen, daß auch nicht die geringste Ähnlichkeit besteht. Die Menschen, die in Japan leben, gleichen dem Durchschnitt des Engländers, was so viel heißt, daß sie äußerst trivial sind und nichts Bemerkenswertes oder Außergewöhnliches an sich haben. Eigentlich ist das ganze Japan eine reine Erfindung. Es gibt kein solches Land, keine solchen Menschen. Einer unserer liebenswürdigsten Maler ging vor kurzem nach dem Land der Chrysanthemen, in der törichten Hoffnung, er werde die Japaner sehen. Alles, was er sah, und alles, was er malen konnte, waren Lampions und Fächer. Es war ihm unmöglich, die Einwohner zu entdecken, wie seine reizende Ausstellung in der Dowdeswell-Galerie nur zu deutlich zeigt. Er wußte nicht, daß die Japaner, wie ich eben sagte, einfach eine besondere Stilart, eine prachtvolle Phantasie der Kunst sind. Und deshalb, wenn du etwas Japanisches zu sehen wünschst, wirst du nicht wie ein törichter Reisender nach Tokio gehen. Im Gegenteil, du wirst zu Hause bleiben, dich in die Arbeit bestimmter japanischer Künstler vertiefen und, von der Eigenart ihres Stils und der schöpferischen Kraft ihrer Phantasie ganz durchdrungen, wirst du dich eines Nachmittags in den Park setzen oder durch Piccadilly schweifen, und wenn du dort nicht ein echt japanisches Stimmungsbild siehst, wirst du es nirgends sehen. Aber kehren wir wieder in die Vergangenheit zurück. Nehmen wir als ein zweites Beispiel die alten Griechen.
Meinst du, daß wir durch die griechische Kunst erfahren, wie die Griechen ausgesehen haben? Glaubst du, die Frauen Athens hatten Ähnlichkeit mit den stattlichen, hoheitsvollen Gestalten des Parthenonfrieses oder mit jenen wunderbaren Göttinnen, die in den Giebelfeldern dieses Tempels thronten? Wenn du nach den Kunstwerken urteilst, wirst du es annehmen müssen. Aber lies eine Autorität, wie zum Beispiel den Aristophanes. Du wirst dich überzeugen, daß die Damen Athens sich schnürten und Schuhe trugen mit hohen Absätzen, daß sie ihr Haar gelb färbten und sich schminkten, genau wie die törichten Damen der Mode- und Halbwelt von heute. Wir blicken durch den Schleier der Kunst auf die Zeitalter zurück, und die Kunst hat glücklicherweise noch immer gewußt, die Wahrheit zu verbergen.
Cyril. Aber die Porträtbilder der modernen englischen Maler, wie steht es mit ihnen? Die sehen doch sicherlich den Menschen ähnlich, die sie vorstellen.
Vivian. Ja eben. Sie sehen ihnen so ähnlich, daß nach hundert Jahren keiner mehr an ihre Echtheit glaubt. Die einzigen Porträts, an deren Echtheit man glaubt, sind solche, in denen das Model die Nebenrolle und die Persönlichkeit des Malers die Hauptrolle spielt. Holbeins Zeichnungen von Männern und Frauen wirken durch ihre unmittelbare Lebendigkeit. Das liegt aber daran, daß Holbein das Leben zwang, seine Bedingungen anzunehmen, die Grenzen, die er ihm setzte, zu wahren, den Typus, den er schuf, nachzubilden und nur in der Gestalt in die Erscheinung zu treten, in der er es wünschte. Es ist der Stil, der unser Zutrauen erweckt – und nur der Stil. Die meisten unserer modernen Porträtmaler werden notwendig in vollkommene Vergessenheit geraten. Sie malen niemals, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und das Publikum sieht gar nichts.
Cyril. Nun endlich möchte ich den Schluß deines Artikels hören.
Vivian. Sehr gerne. Ob er von irgendwelchem Nutzen sein wird, weiß ich wirklich nicht zu sagen. Nur so viel weiß ich, daß unser Jahrhundert das geistloseste und nüchternste ist, das man sich denken kann. Was meinst du, selbst der Gott des Schlafes hat uns betrogen und hat die Tore aus Elfenbein geschlossen, und die Tore aus Horn geöffnet. Nichts hat mich je so entmutigt, wie die beiden dicken Bände van Myers und die Verhandlungen der Physical Society über die Träume unserer mittleren Volksschichten. Sie enthalten nicht einmal eine schöne Alpvorstellung. Sie sind trivial, schmutzig und langweilig. Was die Kirche angeht, so gibt es nach meinem Dafürhalten nichts Günstigeres für die Kultur eines Landes, als Menschen, die es für ihre Pflicht halten, an das Übernatürliche zu glauben und täglich Wunderwerke zu verrichten, denn dadurch nähren sie jenen mythenbildenden Geist, der die Seele der Phantasie ist. Unter englischen Theologen aber gelangt immer der zu Ehren, der fähig ist, zu zweifeln, nicht der, der fähig ist, zu glauben. In unserer, und nur in unserer Kirche steht der Skeptiker am Altar und wird der heilige Thomas als der ideale Apostel hingestellt. Mancher ehrwürdige Pfarrer, der sein Leben lang bewunderungswürdige Taten der Menschenliebe verübte, lebt und stirbt, ohne jemals bemerkt und bekannt zu werden; aber es genügt schon, daß irgendein seichter, ungebildeter Kandidat, der mit Ach und Krach sein Examen bestand, auf die Kanzel tritt und sich über die Arche Noahs oder den Esel Balaams oder den Walfisch des Jonas skeptisch äußert, und halb London eilt herbei, um ihn zu hören und mit aufgerissenem Munde dazusitzen, ganz in Bewunderung seines unerhörten Scharfsinns verloren. Das Überhandnehmen des ›common sense‹ in Dingen der Religion ist etwas, was in England nicht genug bedauert werden kann. Es bedeutet das eine höchst törichte und degradierende Einwilligung in eine tiefstehende Art des Naturalismus. Es entspringt einer vollkommenen psychologischen Unkenntnis. Die Menschheit kann an Dinge glauben, die unmöglich sind; sie wird nie an Dinge glauben, die unwahrscheinlich sind. Aber ich will meinen Artikel zu Ende lesen:
»Es ist auf alle Fälle unsere Pflicht, diese alte Kunst des Lügens aufs neue zu beleben. Schon im Familienkreise, auf Gesellschaften und literarischen Zusammenkünften kann man auf diese Erziehung des Publikums hinwirken, obgleich dies nur die lustige und anmutige Seite des Lügens ist, wie sie wohl auf den Diners der alten Kreter gehandhabt wurde. Es gibt aber noch viele andere Arten. Das Lügen, durch das man sich einen unmittelbaren persönlichen Vorteil verschafft – das Lügen mit moralischer Absicht, wie man zu sagen pflegt – gilt bei uns für unmoralisch, galt aber bei den Alten für durchaus berechtigt. Athene lacht, als sie die ränkevollen Worte des Odysseus vernimmt, und die Pracht der Lüge schmückt die bleiche Stirn der makellosen Helden Euripideischer Tragödien und stellt die junge Braut einer der herrlichsten Oden des Horaz unter die edelsten Frauen der Vergangenheit. Was zunächst nur ein natürlicher Instinkt war, wurde späterhin der Gegenstand zielbewußter Pflege. Daraus entwickelte sich eine ganze Lehre, um die Menschheit zu leiten, und entstand eine wichtige Schule des Schrifttums. In der Tat, wenn man sich erinnert, wie prachtvoll Sanchez diese Frage philosophisch behandelt, kann man nur bedauern, daß noch niemand auf den Gedanken kam, eine treffende Auswahl der Werke dieses großen Kasuisten in einer billigen Ausgabe zu veröffentlichen. Eine elegante und nicht zu teuere Ausgabe einer kurzgefaßten Anleitung ›Wie und wann man lügen soll‹ würde zweifellos viel gekauft werden und sicherlich vielen gewissenhaften und tiefdenkenden Menschen von wahrem praktischem Nutzen sein. Das Lügen, um die Jugend zu vervollkommnen, das die Grundlage der häuslichen Erziehung bildet, ist hier und da noch bei uns Sitte, und seine Vorteile sind in den ersten Büchern der Politeia von Plato in so bewunderungswürdiger Weise dargestellt, daß ich auf sie an dieser Stelle nicht einzugehen brauche. Es ist eine Art des Lügens, für die alle guten Mütter ein besonderes Talent haben; sie ist aber noch weiterer Ausbildung fähig, was von den Schulmeistern leider nicht beachtet wird. Das Lügen um des jährlichen Gehaltes willen ist, wie sich von selbst versteht, in den Volksparteien weit verbreitet und der Beruf dessen, der politische Leitartikel schreibt, hat gewiß seine Vorteile. Nur soll es ein langstieliges Amt sein und führt zu weiter nichts als einer Art offenkundiger Verdunkelung von Tatsachen. Die Art des Lügens, die ganz allein über jede Kritik erhaben ist, ist das Lügen um seiner selbst willen, und wie wir schon hervorgehoben haben, ist ihre höchste Entwicklungsstufe die Lüge in der Kunst. So, wie es denen verwehrt ist, den Fuß über die Schwelle der Akademie zu setzen, die die Wahrheit mehr lieben als Plato, wird das letzte Geheimnis der Kunst denen für immer verborgen sein, die die Wahrheit mehr lieben als die Schönheit. Der schwerfällige Götze des Britischen Verstandes liegt unbeweglich in der Wüste, wie die Sphinx in Flauberts herrlicher Erzählung, und die Phantasie, La Chimère, tanzt um ihn herum und lockt ihn mit ihrer falschen, süßen Flöten-Stimme. Noch mag es zu früh sein, daß er auf sie hört, aber wenn wir einmal all des trivialen Charakters moderner Dichtung satt geworden sind, wird auch der Tag kommen, da er ihr zuhört und ihrer Schwingen begehrt.
Wenn der Tag anbricht, oder die alte Sonne sich zum Untergange rötet – wie festesfroh sind wir dann! Tatsachen werden für schimpflich erklärt, die Wahrheit sieht man über ihre Ketten trauern, und im Gefolge der Dichtung ziehen die Wunder wieder ein. Die Welt und alle Dinge sind dem staunenden Auge verwandelt. Aus dem Meere tauchen Behemoth und Leviathan und umsegeln die hochragenden Galeeren, wie uns die köstlichen Karten jener Tage zeigen, da geographische Bücher noch lesbar waren. Geflügelte Drachen gehen um auf verlassenen Weiten, und von seinem Feuer-Neste fliegt der Phönix auf. Der bezähmte Basilisk liegt uns zu Füßen, und wir sehen den Edelstein im Kopf der Kröte. Den vergoldeten Hafer fressend, steht der Hippogryph in unseren Ställen, und über unseren Häuptern schwebend singt die Winter-Drossel von herrlichen und unmöglichen Dingen, von Dingen, die wir lieben und die unerreichbar sind, von Dingen, wie sie nicht sind, doch sein sollten. Aber ehe sich dies alles ereignet, müssen wir die verlorene Kunst des Lügens pflegen.«
Cyril. Dann wahrlich müssen wir sie sofort pflegen. Damit wir uns aber ganz versichern, möchte ich, daß du mir in aller Kürze die neuen Lehren deiner Ästhetik gibst.
Vivian. In aller Kürze sind es diese: Die Kunst stellt nur sich selbst dar. Sie führt ein abgeschlossenes, unabhängiges Leben, gerade wie das Denken, und entwickelt sich rein organisch. Sie ist nicht notwendig naturalistisch in einem naturalistischen Zeitalter, nicht notwendig geistig in einem religiösen. Weit davon entfernt, ein Kind der Zeit zu sein, befindet sie sich gewöhnlich in scharfem Gegensatz zu ihr, und die Geschichte, die sie uns überliefert, ist einzig die Geschichte ihres eigenen Fortschrittes. Zuweilen nimmt sie früheres wieder auf, wie in der archaistischen Bewegung der späten griechischen Kunst, und in der präraphaelitischen unserer heutigen Zeit. Zuweilen auch greift sie der Zeit vor und gibt uns Dinge, die erst nach hundert Jahren vollauf verstanden und gewürdigt werden. Niemals aber gibt sie ein Abbild der Zeit. In der Kunst eines Zeitalters das Zeitalter selbst sehen zu wollen, ist der Erbfehler aller Geschichtsschreiber.
Die zweite Lehre ist diese. Alle schlechte Kunst entsteht da, wo man zum Leben und zur Natur zurückkehrt und diese als die höchsten Güter hinstellt. Das Leben und die Natur mögen der Kunst zuweilen als rohes Material dienen, doch sie sind erst dann von wahrem künstlerischem Wert, wenn die Kunst sie in eine konventionelle Zeichensprache umgewandelt hat. Sobald die Kunst das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt, gibt sie alles auf. Der Naturalismus als Methode künstlerischen Sehens ist vollkommen verfehlt, und was jeder Künstler vor allen Dingen vermeiden sollte, ist Modernität des Gegenstandes. Für uns, die wir im neunzehnten Jahrhundert leben, läßt sich jedes Jahrhundert künstlerisch verwenden, nur das unsere nicht. Die einzigen wirklich schönen Dinge sind die Dinge, die uns nichts angehen. Gerade deshalb, um mich selbst zu zitieren, weil uns Hekuba nichts angeht, bilden ihre Leiden einen so herrlichen Gegenstand der tragischen Kunst. Außerdem wird immer nur das Moderne altmodisch. Zola gibt sich daran, ein Bild des zweiten Kaiserreichs zu zeichnen. Wen interessiert heutzutage das zweite Kaiserreich? Es ist aus der Mode. Das Leben läuft dem Naturalismus davon, aber die Romantik läuft schneller noch als das Leben.
Die dritte Lehre ist, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben. Das liegt nicht nur an dem Instinkt der Nachahmung, den das Leben besitzt, sondern auch daran, daß das bewußte Leben immer bestrebt ist, sich mitzuteilen, und daß die Kunst ihm schöne Formen bietet, durch die die Betätigung dieses Strebens ermöglicht wird. Es ist eine Lehre, die noch nirgends aufgestellt wurde, die aber von außerordentlicher Tragweite ist und auf das Wesen und die Entwicklung der Kunst ein völlig neues Licht wirft.
Hieraus folgt noch, daß auch die Natur die Kunst nachahmt. Die einzigen wirksamen Motive, die sie uns bietet, sind solche, die wir schon aus der Poesie und der Malerei kennen. Das ist das Geheimnis der Reize der Natur und die Erklärung ihrer Schwächen.
Die letzte und wichtigste Offenbarung ist die, daß das Lügen, die schöne Unwahrheit zu sagen, das eigentliche Ziel der Kunst ist. Doch hiervon habe ich ausführlich gesprochen. Und jetzt laß uns auf die Terrasse hinausgehen, wo ›der milchweiße Pfau wie ein Gespenst hinsinkt‹, und der Abendstern ›die Dämmerung in Silber badet‹. Zur Dämmerstunde flüstert die Natur uns wundersame Dinge zu, und wir lieben sie dann, und doch sehe ich ihren Hauptzweck darin, daß sie uns die Worte der Dichter erklärt. Komm! Wir haben lange genug geredet.