Читать книгу Sakramente - immer gratis, nie umsonst - Ottmar Fuchs - Страница 8
ОглавлениеGnade im Ritual
1. Kraft der Rituale
1.1. Aktuelle Wertschätzung
„Die Kraft der Rituale“, so titelte das Magazin „emotion“ in der Dezembernummer des Jahres 2014. Da ist zu lesen: „Das beste Geschenk, das Sie sich machen können: Bauen Sie Rituale in Ihr Leben ein. Momente des Innehaltens, alte tradierte oder ganz neue, individuelle, die uns Wurzeln geben und zugleich beflügeln.“1 Rituale „verändern unsere Wahrnehmung und können uns eine neue Sicht auf die Dinge geben, die uns gerade beschäftigen“2. Ein Ritual verändert den Tag und gibt ihm ein neues Gesicht und ein Gefühl von Sicherheit. Dabei ist es gerade die Unverbindlichkeit, die das Ritual für viele attraktiv macht, unverbindlich dahingehend, dass man es feiert und dann wieder weggehen kann.
Das Ritual hilft aber auch, „spontanes Verlangen zugunsten langfristiger Ziele und der Gemeinschaft zu kontrollieren“3. Es kann z. B. einer Familie helfen, langfristig auch über Schwierigkeiten und Streitigkeiten hinweg bzw. durch sie hindurch beieinanderzubleiben und sie gemeinsam durchzustehen. Sie geben die Chance, „Gefühle zuzulassen und uns Dingen zu stellen, die wir im Alltag verdrängen.“4
Ein weiteres Plus an Ritualen ist ihre Entlastungsqualität: „Rituale sind wie ein festgeschriebenes Skript: Man hat seinen Platz und muss nicht überlegen, wie man sich zu verhalten hat, sich nicht hinterfragen und kann einen Augenblick einfach nur mitgehen. Sie vermitteln uns Sicherheit. Und dieses Gefühl braucht jeder von uns. … Ja, wir brauchen diese Anker, weil sie uns Kraft und Energie geben.“5 Rituale sind „Stopper“ im Alltag, wo man ankommt und loslassen kann. Denn „erst wer loslassen kann, kann weitergehen“6.
Menschen brauchen also Rituale, um im Leben und Zusammenleben einen Halt zu finden. Weil man Rituale wiederholen kann und nicht immer wieder neu herstellen muss, entschleunigen sie das Leben, geben Ruhe und Kraft. Diese neue Aufmerksamkeit für Rituale berührt auch die religiösen Symbolhandlungen mit entsprechenden Wünschen, Erwartungen und Hoffnungen. Rituale vollziehen das Gleiche, was Symbole leisten, allerdings so, dass es sich nicht (nur) um geprägte Wörter oder Bilder, sondern um geprägte Handlungen handelt.
Im kirchlichen Bereich gehören die Sakramente zu den wichtigsten Ritualen. Sie sind nach wie vor mehr gefragt als die Kirchen und ihre Gemeinden selbst. Die Verantwortlichen in Seelsorge und Pastoral gehen damit sehr unterschiedlich um. Manche Unsicherheit, ob man die Sakramente einfach „gratis“ spenden könne, verbindet sich mit letzten Versuchungen, zu reglementieren und wenigstens bei der Zulassung zu den Sakramenten noch Bedingungen zu stellen und so pastorale Macht auszuüben. Jenseits der Alternative zwischen „Ausverkauf und Rigorismus“7 sind Wegweisungen zu entdecken, die hier weiterhelfen. Dabei kommt es darauf an, dass die menschliche Erfahrung des Rituals als Ort der Ruhe und der Kraft sich auch in der Erfahrung der sakramentalen Rituale wiederfindet.
Werden Sakramente als Geschenk eines Gottesglaubens erlebt, der für das Leben und für das Mitleben stärkt, dann kann man erfahren, was die Kirche von ihren Sakramenten sagt, nämlich dass sie besondere Orte der Gnade, also der Anerkennung und der Wertschätzung, sind, die Gott gibt. Was bedeutet diese so verstandene Vorgegebenheit des liturgischen Rituals, die in besonderer Weise Ausdruck für die Vorgegebenheit eines Gottes ist, der Halt und Kraft gibt, für die Art und Weise, wie die Kirchen mit ihren Sakramenten umgehen? Wie kann darin erfahren werden, dass Gott die Menschen immer zuerst entlastet und beschenkt? So dass sie aus diesem Geschenk heraus leben können? In welchem Sinn sind die Sakramente gratis, aber nie umsonst, im Sinne von vergeblich, wertlos und wirkungslos?
Die Kirchen lernen ihre eigene Verantwortung neu kennen, wenn sie ihre Sakramente als Schatz betrachten und feiern. Es ist ein Schatz, den sie neu heben und weitergeben im Dienst an den Menschen, die sich nach einer guten Macht sehnen, die sie nicht selber herstellen können und müssen, sondern der sie sich verdanken und anvertrauen. Zur sozialen Verantwortung kirchlicher Diakonie und Caritas kommt die sakramentale Diakonie, in der Gottes Liebe (Caritas) für die Menschen erfahrbar ist. Weil diese Liebe bedingungslos ist, dürfen die Sakramente nicht mit Bedingungen belastet werden, die ihrem Wesen widersprechen. Sakramente sind keine Herrschaftsmittel, sondern vermitteln Gottes unerschöpfliche Gnade, nicht lax, sondern loslassend, nicht rigoros, sondern befreiend, nicht festhaltend, sondern mitgehend und mittragend.
1.2. Wiederbelebung der Rituale
Schon seit geraumer Zeit hat man die Rituale wiederentdeckt, in den Kirchen und in vielen Bereichen der Medien und der Unterhaltungsbranche: in den Ritualen des Sportes, den Versatzstücken von christlichen Ritualen in Film, Werbeindustrie und Musikclips, aber auch in den öffentlichen Veranstaltungen der Politik und der Vereine. In diesem Übergang von sichtbarer zu unsichtbarer Religion8 werden bisherige Rituale und Ritualversatzstücke ihrer angestammten religiösen Gemeinschaft entzogen und ohne deren Vermittlung und ihre Vermittlungsspezialisten (z. B. Pfarrer) unmittelbar beansprucht und verwertet:
– Je mehr unserer Gesellschaft eine tiefgreifende Unübersichtlichkeit bescheinigt und angelastet wird,
– je mehr sie Menschen auf sich selber stellt und in der Wahlfreiheit bei gleichzeitigem Ressourcenentzug überfordert,
– je mehr die Sozialformen auf der mittleren Ebene versteppen (wie etwa traditionelle Vereine),
desto mehr scheint es wieder so etwas wie eine Renaissance des persönlichen wie auch Massen-Rituals zu geben. Im Ritual kann man sich mit jener Sehnsucht nach Sicherheit und Anerkennung festmachen, die es ansonsten im beruflichen und zwischenmenschlichen Bereich zu wenig gibt.
Folgende Dynamik ist dabei feststellbar: „Wenn die Antworten nicht objektiv, durch seine Gesellschaft gegeben werden, muss er (der Mensch, O. F.) sich nach innen wenden, zu seiner Subjektivität, um von dort an Sicherheit heraufzuholen, was immer er erreichen kann.“9 Nun scheint das Stadium erreicht zu sein, wo auch die eigene Subjektivität derart als fragil und gefährdet erlebt wird, dass sie gar keine Sicherheit zu geben vermag. Menschen suchen nun von Neuem nach einer objektiven Sicherheit außerhalb ihrer selbst, sie finden sie nicht mehr in bergenden Traditionen und Gemeinschaften und entdecken deshalb die angesprochene Sicherheit zunehmend im auch von Traditionen und Gemeinschaften abgelösten Ritual (z. B. den genannten Ritualen in Sport und Medien) verschiedenster Art. Rituale in allen Bereichen von Gesellschaft und Kirche bieten sich hier als „Halterungen“ an, an denen man sich festhalten kann. Können die Kirchen auf diesem neuen zerstückelten Niveau der Ritualanfragen konstruktiv reagieren?10 Schon von daher wäre es widersinnig, innerkirchlich Rituale zu vernachlässigen oder gar abzubauen.
Schon vor mehr als 30 Jahren wurde dem Zweiten Vatikanum vorgeworfen,11 dass es das Geheimnis der Religion, wie es im Symbol aufscheint, durch Rationalisierung und Verständlichkeitswut aufgehoben habe.12 Die Verständlichkeit von Ritualen, wenn man sie glasklar durchsichtig machen will, hat ihre Ambivalenz, weil etwas, was ich gänzlich durchschaut habe, immer zugleich etwas ist, was ich durch eigene Rationalität begriffen und geleistet habe. Das widerspricht aber dem Charakter der Sakramente. Selbstverständlich sei nichts gegen die Erklärung von Symbolen gesagt. Man muss nur gewärtig haben, zu welcher Zeit dies geschieht und mit welchem dahinterliegenden Anspruch. Will man die Erfahrung des Geheimnisses der Gnade Gottes und die Erklärung der Sakramente nicht gegeneinander ausspielen, dann ist dies eine Frage der Katechese und Verkündigung, die außerhalb bzw. neben den Symbolhandlungen erklärt und die Symbolhandlung wirken lässt und nicht unmittelbar auch erklärt. So ist es nicht nur möglich, sondern auch immer wieder nötig, etwa in einer Predigt über die Bedeutung christlicher Sakramente und Symbole zu sprechen, was zugleich davor bewahrt, dies im Vollzug der Symbole tun zu müssen.
Problematisch sind jedenfalls die Glättung und Angleichung des überkommenen Rituals an jeweils gegenwärtige Verständlichkeiten, so dass es immer glatter wird und um die Kanten der Unverständlichkeit und um die Ecken des Geheimnisses gebracht wird. Was mich dann am Ritual trägt, ist mein eigenes Fassungsvermögen von ihm und die insgeheime Bedingung, dass es nur trägt, wenn es verstanden werden kann. Aber man darf auch mit einer Erlebbarkeit von Symbolhandlungen und Symbolen rechnen, die über das Verstehen hinausgeht und durch dieses nicht einholbar ist, die aber gleichwohl intensiv ist im Sinne von geschenkter Sicherheit in der Anerkennung der Existenz und im Zuspruch eines vorgängigen Getragenseins. Die Symbolhandlungen haben einen Überhang an Vorgegebenheit, der Zugriffen verschiedenster Art nicht zugänglich ist.
Was die kirchliche Sakramententheologie verdeutlicht, nämlich dass das Sakrament aus seinem Vollzug heraus wirkt und dass diese Wirkung von keiner Leistung oder Bedingung abhängig ist, kann als Einspruch gegen allzu glatte Verhältnisbestimmungen von Liturgie und Teilnahmeleistungen (des Verstehens bzw. Erfahrens) ernst genommen werden.
1.3. Entlastung im göttlichen Geheimnis
Die Sehnsucht nach Sicherheit und Wertschätzung ist tief im Menschen angelegt. Was Menschen im Laufe ihres Lebens in Bezug auf diese Sehnsucht erfahren oder nicht erfahren, bestimmt viele ihrer Entscheidungen. Im religiösen Bereich ist der Glaube an eine Transzendenz unseres Lebens, also an eine handlungsfähige Wirklichkeit uns selbst gegenüber, die zugleich unendlich mehr und größer als wir selber ist, eine wichtige Erfüllungsform dieser Sehnsucht.
Nicht umsonst heißt das hebräische Wort für Glauben „‘aman“ in seiner Grundbedeutung „sich festmachen“, also hier sich festmachen in Gott bzw. in dem, was als Gegenwart Gottes in der eigenen Geschichte erlebt wird. Glauben bedeutet nicht nur von dieser Wortbedeutung, sondern von den in der Bibel erzählten Geschichten her, dass sich Menschen in Gott festmachen, dass sie seinen Verheißungen trauen. Basis dieses Vertrauens ist ein Gott, der die Menschen in ihrem Leben, in ihrem Hoffen und Leiden nicht klein macht, sondern anerkennt, der sie für wert hält, mit ihnen zu kommunizieren, sie zu geleiten und zu retten. Eine Transzendenz also, die das menschliche Leben als eigene und zu sichernde Wirklichkeit anerkennt, die letztlich nicht vernichtet, sondern ins Leben holt. Die biblische Schöpfungstheologie ist ein Niederschlag dieses Gewolltseins von Gott her, so dass man auch die eigene Existenz in Gottes Wunsch, dass der Mensch lebt und am Leben bleibt, vertrauensvoll festmachen kann.
Nicht nur in der biblischen Religion gibt es vor allem zwei Wege, die vornehmlich die Beziehung mit Gott in den Blick nehmen: einmal die „direkt“ im Wort gefasste Begegnung mit Gott (im Gebet, in Berufungserfahrungen usw.), zum anderen den kultischen bzw. liturgischen Gottesdienst, wobei sich beide durchaus überlappen können. Der direkten Frömmigkeit von Einzelnen bzw. des ganzen Volkes steht die Welt der Feste und Rituale gegenüber, in der Bibel vor allem des entsprechenden Tempelkultes und des Sabbats.
– Ein Blick in die Psalmen zeigt, dass die Aufnahme einer direkten Gebetsbeziehung mit Gott sehr viel Kraft, Zeit und Mühe kostet. Je problematischer die eigene Situation gesehen wird, desto schwieriger ist der Formulierungsaufwand, irgendwie wieder in die Beziehung zu Gott hineinzukommen. Die Klagepsalmen machen diesen Aufwand sehr deutlich: in der eingeholten Erinnerungsarbeit an die Väter, in der ausgiebigen Schilderung der eigenen Situation, in der intensiven aktuellen Gottesbeziehung als Konflikt und am Ende als Lobpreis seiner Rettung versprechenden Nähe (vgl. besonders Psalm 22).
– Von dieser „unmittelbaren“ Beziehungsarbeit gibt es einen Vermittlungsweg in das Ritual, nämlich wenn solche Gebete eine geprägte Fassung bekommen und als mündliche und/oder schriftliche Gebetsvorlage dienen. Diese erste Ritualisierung einer ursprünglichen Beziehung zwischen Mensch und Gott hat eine ganz wichtige Aufgabe, nämlich dass sie die Beziehung von dem Druck entlastet, sie permanent neu sprachlich herstellen zu müssen. Es handelt sich um eine sprachlich vorgegebene Beziehung, auf die sich die Gläubigen einlassen und die sie für sich verwenden können.
– Im Symbolhandeln des Rituals (eines Opfers im Tempel in Jerusalem, des Paschamahls bzw. des Herrenmahls) erfährt diese Vorgegebenheit ihre dramatisierte Fassung. Wie sie ausgeführt wird, muss nicht neu erfunden werden, sondern sie wird in ihrer Vorgegebenheit vollzogen. Und in dem Maß, in dem sich die Gläubigen in ein solches Ritual hineinbegeben und es mit vollziehen und mitfeiern, haben sie Anteil an der darin gefeierten und zugleich vitalisierten Beziehung zur „Transzendenz“. Das Ritual beschenkt die Gläubigen mit einer Wirklichkeit, die sie nicht selbst zu gewährleisten und zu sichern haben. Vielmehr ist die Beziehung im symbolischen Geschehen selber gesichert.
– Hinzu kommt bei Ritualen ihr Vollzug in sogenannten performativen Sprechhandlungen. Was man spricht, das vollzieht sich im Sprechen selbst. „Ich taufe dich …“: Was gesagt wird, wird im Ritus vollzogen.
– Entscheidend ist auch, dass es eine Gemeinschaft bzw. Tradition gibt, die die rituelle Handlungsform begegnungsfähig hält. Sie schafft einen einbettenden Raum, in dem das Ritual die in ihm ausgesprochene lebendige Bedeutung auch tatsächlich hat und sich entsprechend auszuwirken vermag. Im Ritual kreuzen sich von daher ein kultischer Kern und eine erzählerische Deutung.
– Rituale können aus ihrer wiederholbaren Tiefe heraus immer wieder Phantasie und Kreativität anregen, weil sie letztlich nie restlos verstanden werden können. Es bleibt ein Überhang an Vor-Gegebenheit im Symbolbereich, dem nicht immer und nicht alle Erfahrungen hinreichend entsprechen (können). Gewissermaßen laufen die Symbolvollzüge auch den Erfahrungen davon, gerade weil sie aus der Vergangenheit heraus vorgegeben sind.
– Ein charakteristischer Aspekt vieler Rituale ist ihr liminaler, also grenzenberührender bis grenzenüberschreitender Charakter. Denn sie überbrücken aufbrechende Risse in Leben und Gemeinschaft, wie den Übergang von der Gesundheit zur Krankheit, vom Glück zum Unglück, vom Leben zum Tod, von der Kindheit zum Erwachsenensein usw. Diese besonderen „Rites de passage“ sind aber zu unterscheiden von dem prinzipiell schwellenüberschreitenden Charakter von Ritualen, insofern sie alle die Schwelle zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit überbrücken, also in dieser Hinsicht ganz bestimmte Passagen vom Sichtbaren und Handgreiflichen in die dahinterliegende Transzendenz eröffnen.13
1.4. Spannung von Erfahrung und Symbolgeschehen
Man kann das relativ konstante, wenn auch kulturell unterschiedlich ausgeprägte prekäre Verhältnis von „unmittelbarer“ Begegnung und Ritualisierung auch mit Alltagsbeziehungen vergleichen. Wenn Beziehungen, Beziehungen der Freundschaft und der Liebe, noch im Anfangsstadium sind, ist die gegenseitige, ins Wort gebrachte Sehnsucht nach Vergewisserung noch sehr groß. Intensive und verlässliche Beziehungen der Freundschaft und der Liebe gelangen aber zu jener Reife, in der das gegenseitige Vertrauen nicht in jedem Augenblick vergewissert werden muss, sondern vorausgesetzt werden kann als etwas in der Beziehung dauerhaft Gegebenes, das man nicht in jeder Stunde neu zu machen hat. So kann man/ frau dann auch in Schweigen beieinandersitzen und dies als tiefe Beziehung erfahren. So ergeben sich Eigenrituale solcher Beziehungen in ganz bestimmten Gesten und sprachlichen Kurzformeln bzw. Symbolen, deren Bedeutung und Tiefe für die Beziehung vorausgesetzt wird und nicht eigens formuliert sein muss.
Gerade dieses Beispiel kann aber auch eindrücklich deutlich machen, wie ambivalent die Ritualisierung von Beziehung sein kann, wenn sie die Oberhand gewinnt und überhaupt nicht mehr die unmittelbare Vergewisserung der Beziehung zulässt bzw. Konfliktgespräche verdrängt. Gab es im Anfang der Beziehung einen Vergewisserungszwang, so kann es später einen Ritualzwang geben, um das Problem der beiderseitigen erneuten Vergewisserung zu meiden. Dann gibt es irgendeinmal den Augenblick, dass man/frau feststellen muss, dass der Beziehung die eigene vitale Basis abhandengekommen ist. Erich Kästner hat diesen Augenblick in einer eindrucksvollen Weise (1928) in dem Gedicht „Sachliche Romanze“ festgehalten:
Sachliche Romanze
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Ähnlich kann auch ein religiöses Ritual funktionieren: nämlich dass es nur noch funktioniert und das eigentlich damit zu verbindende Leben ersetzt. Dies kann eintreten, wenn der kultische Vollzug einen Versuch darstellt, Gott für die eigenen Belange in Anspruch zu nehmen und damit die Beziehung zu Gott zu zerstören: mit einem Wenndann, das die Beziehung unter Bedingungen stellt. Nach der Ritualforscherin Mary Douglas ist Ritualismus jener Vorgang, in der in einer Gesellschaft die manchmal verunsichernden Erscheinungen unmittelbarer Religiosität (wie etwa in der Ekstase) zugunsten einer gesteigerten Kontrolle durch Rituale unterdrückt werden, die die lebendige Gottesbeziehung, vor allem die der Klage und Anklage, die widerständig ist, durch ein regelgeleitetes Verhältnis ersetzt.14
Es gibt in der Geschichte von Religionen wie auch in Biographien von gläubigen Menschen eine Abfolge unterschiedlicher Schwerpunkte von „direkter“ Gottesbeziehung und Sakrament bzw. Liturgie, ein Pulsieren zwischen diesen beiden Formen der Transzendenzbeziehung. Und offensichtlich scheint das jeweilige Durchbrechen zur unmittelbaren und aus der eigenen Situation heraus formulierten Begegnung immer auch eine Unterbrechung und Kritik allzu selbstverständlich gewordener oder inhaltlich problematisch gewordener Symbolvorgänge bzw. Rituale zu sein. Dafür steht die biblische Prophetie, die immer wieder die Sicherheit kritisiert, die man mit Ritualen zu erwerben glaubt.
Aus dieser Perspektive kann die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums als Flexibilisierungsschub einer relativ festgefügten Liturgie angesehen werden zugunsten einer persönlichen Erfahrungsbeteiligung an Symbolvorgängen in Richtung auf eine „actuosa participatio“ (aktive Teilnahme bzw. Teilhabe) der Gläubigen. Mit der Liturgiekonstitution ist damit für das Gesamtkonzil etwas eröffnet worden, was alle Texte durchzieht, nämlich das Bestreben, kirchlichen Glauben und die Erfahrung der Gläubigen, Dogma und Pastoral, Liturgie und Leben in einer sich gegenseitig erschließenden Weise aufeinander zu beziehen.15
1.5. Symbolhandlung als Erfahrung der Gnade
Die relative Vorgegebenheit und Kontinuität des Rituals bildet die „natürliche“ Entsprechung für jene Vorgegebenheit, dass den Menschen die Liebe Gottes geschenkt ist, noch bevor sie diesbezüglich etwas leisten müssten. Diesen Glauben formuliert vornehmlich die Gnadentheologie16 und Rechtfertigungstheologie. In der Lehre der Sakramente gilt das Sakrament demnach als ein von Christus eingesetztes wirksames Gnadenzeichen.17 Zu den anderen, den erzählerischen, bekenntnis- und lehrhaften Eingaben der Tradition, verhält sich das Ritual wie die Energiemitte eines Sterns, in dessen Mitte viele Strahlen, Geschichten und Inhalte münden und aus dessen Mitte viele Strahlen kreativer Geschichten sich zu entfalten vermögen.
Selbstverständlich ist Gott die personale Bedingung und Wirkursache dieses Symbolgeschehens und nicht das Symbolgeschehen selbst. Aber das Symbolgeschehen ist es, das durch sich selbst die Sicherheit dieser Ursache vermittelt. Die „Wirksamkeit“ der Sakramente aus ihrem Vollzug heraus (ex opere operato) bewahrt die Unbedingtheit der Gnade Gottes davor, von der Tätigkeit der empfangenden bzw. spendenden Person ursächlich abhängig zu sein. Was allerdings von der Tätigkeit ursächlich abhängt, sind selbstverständlich die Erfahrung dieser Gnade im eigenen Leben, die sprachliche Formulierung dieser Beziehung und das Innewerden ihrer Wirkmacht. Die katholische Sakramententheologie macht die Gnade nicht vom Glaubenserfolg der Empfänger/innen abhängig. Analog dazu könnte man die Theologie von der Selbstbewegung des Wortes, die nicht vom Verkündigungserfolg abhängig ist, bei Karl Barth auffassen.18
Leonardo Boff formuliert den Zusammenhang so: „In der christlichen Tradition ist immer behauptet worden, dass die göttliche Gnade unfehlbar in der Realisierung des Sakraments gegenwärtig wird. … Die Gegenwart der göttlichen Gnade im Sakrament hängt nicht ab von der Heiligkeit sei es dessen, der das Sakrament spendet, sei es dessen, der es empfängt. Denn die Ursache der Gnade sind weder der Mensch noch seine Verdienste, sondern einzig Gott und Jesus Christus: … Wenn einmal der sakramentale Ritus vollzogen ist und die heiligen Symbole gesetzt sind, handelt Jesus Christus und kommt in unsere Mitte. Aber nicht kraft der Riten selbst; diese haben ja aus sich selbst nicht die geringste Kraft, sie symbolisieren nur. Sondern auf Grund des Versprechens, das Gott gegeben hat.“19 Ich würde noch ergänzen, das sich in ihnen verleiblicht, so dass sie zur Repräsentanz dieses Versprechens werden. Ein Gebrauch der Sakramente mit Bedingungen (wenn ich das und jenes tue, dann ist mir Gott gut) ist weder nötig noch möglich, weil das, was mit ihnen als Bedingung geleistet werden soll, längst und auch ohne ihren Vollzug gegeben ist.
1.6. Sakramententheologische Vertiefung
Das durchaus anzustrebende korrelative oder korrespondierende Verhältnis von Symbolhandlung und Erleben oder Verstehen darf nicht zu der Ansicht führen,20 „seine (des Auferstandenen) wirkliche, aber von uns nicht geglaubte Präsenz wäre, banal gesagt, nur die halbe Miete“21. Es ist bereits die ganze Miete, ohne die es die in der korrelativen Erfahrung beanspruchte ganze Miete gar nicht gäbe. Und Milliarden von Menschen bedürfen eben nicht der Sakramente, können gut ohne sie leben, und doch erfahren sie Gottes Gnade in ihrem Leben, und doch feiert die Kirche stellvertretend für sie die Sakramente.22
Es ist gut, nicht allzu schnell den Wechsel von Gott zum Menschen zu vollziehen: Gott bleibt Verursacher und Geber der Gnade und aller Sakramentalität. Der Glaube, was immer darunter genauerhin zu verstehen ist, ist nicht Wirkursache der Gnade, sondern disponierende Ursache für die Erfahrung der Gnade. Was das Sakrament zusagt, ist auch nicht davon abhängig, ob die Menschen das erfüllen, was im Sakrament geschenkt ist, sondern es bleibt auch dann gegeben, wenn dies nicht geschieht. Denn Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (vgl. Mt 5,25).
So ist auch der Begriff des „unauslöschlichen Merkmals“, das grundlegend mit dem Sakrament der Taufe gegeben ist, auf diesem Niveau zu verstehen: Er sagt aus, dass die göttliche Zusage in diesem symbolischen Akt unverlierbar an ihm haften bleibt und sich beim empfangenden Menschen selbst substantiell auswirkt. Die Zusage bleibt gültig,23 auch kontrafaktisch, also im Gegensatz zur Tatsächlichkeit, sollte der Mensch diese Zusage vergessen oder ihr nicht gerecht werden. Gott selbst hat sich an dieses Garantiezeichen seiner Treue gebunden.
Auch der sog. Taufscheinchrist bleibt dann ein für allemal in der Liebe Gottes und fällt nie aus ihr heraus: „Gott ruft sakramental den Menschen ganz persönlich und zugleich als Glied der Gemeinde Jesu an, und zwar in schöpferischer Weise, damit der Mensch im Glauben darauf antwortet. Gibt der Mensch seine Antwort nicht in der geschuldeten Glaubenshingabe, so zieht Gott seinen wirksamen Anruf doch nicht zurück, die neue Chance und Aufgabe bestimmt den Menschen bleibend als unauslöschliches sakramentales Siegel.“24 Dessen dürfen die Gläubigen im Vertrauen auf dieses Versprechen Gottes sicher sein.25
Genau dies spüren die Menschen, die „nur“ zu besonderen Fällen zur Kirche kommen, vor allem zu den Sakramenten Taufe, Firmung und Eheschließung. Man nennt diese Pastoral, vom Lateinischen „casus“ für „Fall“, Kasualpastoral und deshalb diejenigen, die nur aus diesem Grund kommen, Kasualienfromme.26 Diese Menschen ahnen, dass in den Sakramenten eine Vorgegebenheit Gottes auf sie zukommt, auf die sie gewissermaßen ein „Anrecht“ haben, nicht weil sie das Recht selbst besäßen, sondern weil es ihnen von Gott geschenkt ist. Sie reagieren rechtfertigungstheologisch und ekklesiologisch „richtig“, wenn sie die Sakramente als Außenbezug der real existierenden Kirche beanspruchen, um mit ihnen in ihre Lebensräume hinein den Kirchenbegriff mit sich selbst zu erweitern. Auch wenn sie kirchensoziologisch (sozialgestaltbezogen) nicht dazugehören, gehören sie (sakramenten- und darin gnadentheologisch) zur Kirche, zum „Leib Christi“ (1 Kor 12,27).
Es wäre allerdings ein verhängnisvolles Missverständnis, die hier vorgelegte gnadentheologisch vertiefte Sakramententheologie und Ekklesiologie so zu verstehen, als käme es nicht mehr auf den Glaubensvollzug und das diakonische Handeln an. Hier wird nur in elementarer Weise ernst genommen, dass die Gnade allem Handeln vorausgeht, sowohl in den Symbolhandlungen als auch im sozialen und solidarischen Verhalten der Christen und Christinnen. Das Ganze wäre völlig missverstanden, wenn Gott uns seine Gnade schenkte, damit wir so bleiben, wie wir sind. Die Bibel unterstellt Gott, er habe im Lauf der geschichtlichen Begegnung mit den Menschen gelernt (was selbstverständlich den Lernprozess der Menschen selbst widerspiegelt), dass er mit Zwang und Forderungen nichts bei den Menschen erreichen kann. In der Perspektive des leidenden Gottesknechtes bzw. des Jesus am Kreuz verzichtet Gott völlig auf jede Art von zwingender Herrschaft, um so den Menschen etwas zu schenken, was sie zwischenmenschlich in dieser radikalen Weise nicht erfahren können, nämlich die Bedingungslosigkeit seiner Liebe und damit die Ermöglichung, aus dieser Liebe heraus entsprechend miteinander umzugehen. Gott fordert nicht, was er nicht im Übermaß geschenkt hätte. Befehle und Gesetze allein geben niemals die Kraft, sie in Freiheit zu erfüllen. Gott verzichtet darauf, zum Guten zu zwingen, sondern schenkt dafür die das Gute ermöglichende Gnade.
Es geht hier also nicht um eine billige Stabilisierung der bestehenden Praxis mit einer ebenso billig missverstandenen „Gnadentheologie“, sondern um eine Gnadenerfahrung, in der die Unendlichkeit des göttlichen Geheimnisses bis zur Hingabe unentgrenzter und damit radikalisierter Solidarität zu tragen vermag. Nicht Bestätigung ist die Wirkung, sondern eine Herausforderung, die tiefer geht als jede Aufforderung.
1.7. Vor-Sakramentale Symbolgabe
Wo es keine Sprache mehr gibt, keine Worte, um die Tiefen des Bösen und des Leides eines Geschehens zu begreifen, wo Menschen fassungslos dastehen müssen, hilflos nichts mehr verhindern können, wo es keine Antworten gibt, die beruhigen, wo man sich zugleich weigert, dem Zynismus oder dem Banalismus allzu schneller Antworten und Reaktionen zu erliegen, da öffnet sich die Sehnsucht nach anderen Ausdrucksformen als denen des Wortes und des Gesprächs. Viele Menschen, auch solche, die es sonst nicht tun, begeben sich dann in die religiöse Symbolwelt; zünden Kerzen an und bringen sie an entsprechende Orte des Gedächtnisses, legen Blumen nieder, schreiben Texte, auch wenn sie nicht unbedingt zum Lesen für andere gedacht sind. Es geht um die Verwortung ihrer Trauer und ihres Mitgefühls, darum also, dass sie geschrieben und mit Kerze und Blumen zusammen oder für sich hingelegt werden. Die eigene Ohnmacht und Anteilnahme können sich in dieses Ritual, in dieses symbolische Handeln hinein verleiblichen. Und damit verbindet sich nicht zuerst Reden, sondern Schweigen.
Von der Schreckenssprache des ersten Entsetzens, wenn sie denn verfügbar war, fällt man in die Symbolsprache, von der Aufregung in die Ruhe, die aber keine unangemessene Beruhigung darstellt, sondern in der Ruhe erst die Tiefe des Geschehens zu ertasten sucht. Solche Symbolhandlungen und Gottesdienste gibt es nach katastrophalen Ereignissen, öffentlich und privat. Dass sich die Kirchen mit ihren Räumen und Symbolen absichtslos zur Verfügung stellen, ist ein eigener sakramentaler Vorgang, nämlich kontrafaktisch zur Zerstörung dem Mitleid und der Solidarität Ausdruck zu geben, auch wenn dadurch das Geschehene nicht geheilt werden kann. Auch dies ist eine Art von Kasualpastoral und darf nicht mit der zynischen Vokabel eines kompensatorischen Zeremonienmeisters der Gesellschaft diffamiert werden. In solchen Tagen wächst bei vielen Menschen das Bedürfnis nach anderen als bisherigen Ausdrucksformen ihrer Existenz und ihrer Gefühle.
So werden die Kirchen ihre angesprochenen Ressourcen immer zur Verfügung stellen. Als Orte, wohin die Menschen sich zusammenfinden können in ihrem Bedürfnis nach Schutz und Heimat in der Situation der Fassungslosigkeit, als Räume, wo andere Ausdrucksmöglichkeiten geschenkt sind als die alltäglichen. Und zugleich werden sie sensibel, unindoktrinierend, aber deutlich das inhaltlich Andere mitbenennen, das diese religiöse Sprache trägt. Denn die kirchlichen Symbole haben nicht nur eine beleihbare Ausdruckskraft, sondern sie haben auch bestimmte inhaltliche Ausrichtungen.
So wird man es auch jenen gönnen, die Christophorus-Plakette im eigenen Auto anzubringen, die ansonsten nicht viel mit Kirche und christlichen Inhalten zu tun haben. Dies ist nicht das Problem. Das Problem liegt in der Verantwortung, die die Kirche auch noch für diese ausgewanderten Symbole hat, insofern sie (z. B. bei Autosegnungen) darauf besteht, dass die Christophorus-Plakette kein Freibrief für rücksichtsloses und menschengefährdendes Fahren ist, sondern dass sich hier der Schutz des eigenen Lebens mit dem Schutz der anderen verbindet. Die Enteignung der Symbole geschieht nicht dadurch, dass sie frei verfügbar sind, sondern sie geschieht erst dann, wenn sie für Handlungen und Positionen benutzt werden, die nicht im Ursprung ihrer Inhalte und der Inhalte des Evangeliums liegen. Ähnliches gilt für die Pastoral der Sakramente, und zugleich hat die Pastoral hier wie dort keine andere Macht als die vertiefte Erfahrung der Gnade. Verweigerungen und Zwänge verschärfen das Problem.
2. Unbedingte Vor-Gegebenheit
2.1. Überbrückende Kraft
Wenn das Verhältnis von Erfahrung und Ritual hinsichtlich der heilenden und erlösenden Zusage ein annähernd korrelatives, analoges und paralleles ist, dann geht es den Menschen gut, dann erleben sie etwas oder vielleicht sogar viel von dem Glück eines Gottes, der es gut mit ihnen meint. Dann wird als Erfahrung gefeiert, was im Ritual gezeigt und symbolisch versprochen wird. Neben dem analogen ist aber auch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Erfahrung und sakramentalem Symbolgeschehen in den Blick zu nehmen. Wenn die „direkte“ Erfahrung nicht mehr mithält, kann der Vollzug des Rituals dennoch wirken, ohne dass es Ritualismus ist. So kann auch in Beziehungen das Alltagsritual wie ein „Geländer“ über Krisenzeiten hinweghelfen, wenn es Blockaden gibt, ein Problem unmittelbar anzusprechen, wenn man also Zeit braucht, um miteinander zurechtzukommen. Dann trägt das Ritual über diese Kluft hinweg. Entsprechend kann sich auch eine Unsicherheit im Glauben durchaus mit der Aufrechterhaltung umso sichererer Rituale bzw. des Gottesdienstbesuchs verbinden.
Es ist, wie wenn man im Ritual einen Brief schreiben würde, von dem man aber nicht so recht glauben kann, dass er ankommt. Gleichwohl beinhaltet die Treue zum Ritual in sich die leise Hoffnung, dass diese formale rituelle Verbindung irgendwie nicht ins Leere geht. Vielleicht auch die Hoffnung, dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg dann doch die Chance gewahrt bleibt, dass auch die eigene Gottesbeziehung wieder Leben gewinnt. Wenn man es nicht moralisierend, sondern im Sinne eines tatsächlichen An-Gebotes auffasst, könnte man diese Überlegungen auch als Plädoyer für das Sonntagsgebot verstehen.
Der inhaltliche Sicherheitsverlust wird über die formale Verlässlichkeit aufgefangen mit der Hoffnung, dass darin nach kurzen oder auch langen Durststrecken wieder die inhaltliche Verlässlichkeit aufscheint. Man kann diesen Zusammenhang auch auf der Zeitschiene und damit endzeitlich verstehen. Was das Ritual vergegenwärtigt, ist immer zugleich ein Versprechen, das jetzt in vieler Hinsicht in den Erfahrungen der Menschen noch nicht zuhause ist, sondern auf Hoffnung hin und oft genug wider alle Hoffnung (vgl. Röm 8,24), eine Verheißung, die als etwas erfahren werden darf, was gleichwohl bereits in einer bestimmten Weise gegenwärtige Wirklichkeit ist. Das Ritual wird zum Platzhalter dafür, dass Gott am Ende dieses Äons all das erfahrungsmäßig einlösen wird, und weit über die jetzigen Vorstellungen hinaus, was im Symbolvollzug des Sakraments als „antizipiertes Faktum“, als im Glauben vorweggenommene Zukunftswirklichkeit geschenkt ist.27 Das Sakrament ist der Schwur Gottes, dass seine Liebe den Menschen gegenüber auch kontrafaktisch gilt, geglaubt und gehofft werden darf, ohne sie unmittelbar zu erfahren.
Ein Beispiel für so einen Prozess bietet der Psalm 22. Er ruft nach einer langen Klage zum Lob Gottes auf, obwohl sich die Situation des Leidens noch nicht verändert hat. Verändert hat sich aber das Gottesverhältnis, insofern Gott nun als der erlebt wird, der nicht nur dem Menschen, dem es gut geht, sondern auch dem, dem es schlecht geht, nahe ist. Hier ereignet sich die Transformation von der Wohlergehensreligion zu einem Vertrauen, das weder den Menschen noch Gott unter solche Wenn-dann-Bedingungen stellt. Israel stößt zu dieser Gottesbeziehung im persönlichen Gebet des einzelnen Menschen (hinsichtlich seiner Leidenserfahrungen) und kollektiv in den Erfahrungen des Volkes im Exil vor. Die Rettung ist zwar noch nicht sichtbar, aber in Gott für die Zukunft beschlossen.
Auch die Eucharistie hat diese endzeitlich-gegenfaktische Struktur: Sie vergegenwärtigt nicht nur die Erinnerung an die MählerJesu und an das letzte Abendmahl, sondern sie weist auch in die Zukunft und vergegenwärtigt von der Zukunft her das himmlische Hochzeitsmahl. Denn die christliche Erinnerung ist immer zugleich eine Verheißung und macht nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die erhoffte Zukunft gegenwärtig. Auch diese Zukunft ist im Ritual als Gnade vor-gegeben. So spiegelt sich die Transzendenz Gottes in der zeitlichen Transzendenz, im Überstieg zur Vergangenheit wie auch im Überstieg zur Zukunft. Für diese eschatologische Dimension der Eucharistie gilt näherhin, dass sie beides beinhaltet, nämlich die Erinnerung und geglaubte Rettung der Opfer (in der Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu) wie aber auch die dadurch erreichte Versöhnung der Sünder und Sünderinnen, also der Täter (siehe unten im Kapitel Eucharistie: Opfergedächtnis und Versöhnung vom Kreuz her).
Analog dazu kann man auch die christlichen Kasualrituale ansehen, insofern eine größere Anzahl derer, die sie beanspruchen, eher distanziert das Ritual suchen als die damit verbundene Glaubens- und Gemeinschaftserfahrung. Natürlich bleibt die Chance offen, dass die Betreffenden sich für die dahinterliegenden Wirklichkeiten öffnen. Aus diakonischer Perspektive sind die Kasualrituale jedenfalls in Bezug auf die sog. Fernstehenden ein Dienst daran, dass diese in unsicheren Übergangszeiten ein ihnen vorgegebenes Ritual erhalten, in dem sie diese Passage ihres Leben anfanghaft für die Transzendenz, also auf das hin, was sie nicht selbst sind und haben und was sie an „Größe“ übersteigt, öffnen und derart aushalten und bewältigen können. Von daher ist die Sakramentenpastoral nicht als ein Ausverkauf der Sakramente zu verdächtigen, sondern kann als ein bezüglich der Institution der Kirche absichtsarmes Unternehmen „ritueller Diakonie“ im Dienst an den Menschen angesehen werden, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Gegebenheit auch einmal das bewirkt, was sie symbolisiert. Nur: Kalkulieren kann man damit nicht. Ob ein biographisches Passagenritual auch zur Passage in die Erfahrungen und Gemeinschaft des Glaubens wird, ist nicht zu erzwingen, sondern nur zu ermöglichen und zu erhoffen.
2.2. Erfahrung jenseits der Erfahrung
Was eben zum eher negativen Verhältnis von Ritual und Erfahrung formuliert wurde, gewinnt insbesondere im jüdischen Bereich im Anschluss an die Katastrophe von Auschwitz eine erschütternde Radikalisierung, nämlich dass das Ritual (z. B. des Paschamahls) auch gegen die Erfahrung Gottes, nämlich angesichts seiner im Stich lassenden Abwesenheit, aufrechterhalten wird. Elie Wiesel hat diesen Zusammenhang immer und immer wieder erzählt und in seiner Dichtung aufgegriffen. Er nimmt damit die kühne jüdische Tradition auf, nämlich zu Gott nein zu sagen, ihn anzuklagen, und zwar um der Menschen willen. Im Prozess von Schamgorod28 bringt Elie Wiesel diesen Zusammenhang in das Drama, dass Gott für das unendliche Leid schuldig gesprochen und verurteilt wird, und unmittelbar im Anschluss daran ruft der Rabbi zum Gebet auf, zum Schema Israel, also dazu, sich in das alte Ritual dieses Gebetes zur Anerkennung Gottes im Lobpreis einzubringen, und so auch nicht aufzuhören, das Paschamahl zu feiern. Denn verstanden werden kann von diesem sich verbergenden Gott nichts mehr. Übrig bleibt ein Trotzdem: sich trotzdem in die vorgegebenen Formen der Gottesbeziehungen hineinzubegeben. Auch dies ist eine Erfahrung, eine Erfahrung allerdings, die auch das Un-Erfahrene an Gottes Anwesenheit nicht ausgrenzt.
Das Ritual ist also nicht nur verdichteter Ausdruck menschlicher Erfahrung, sondern kann Letzterer auch gegenüberstehen und so eine Wirklichkeit repräsentieren, die zur Erfahrung unzureichend oder gegenläufig ist. Die Liturgie hat in solchen Zusammenhängen eine Stellvertretungsaufgabe, indem sie in der Sicherung des Rituals jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, die auch gegen den Augenschein gilt und Wirklichkeit ist. „Es betet“ weiter, obwohl der Mensch aus seiner Situation heraus nicht mehr beten kann.29
Derart macht das Ritual jene Stellvertretung erfahrbar, die christologisch, durch die Stellvertretung des Geistes Christi „für uns“ (vgl. Röm 8,26), ermöglicht ist.30 Das Ritual realisiert das Gotteslob, nämlich Gott größer als alles andere sein zu lassen, gegen den Augenschein auch dann noch, wenn in der „direkten“ Kommunikation mit Gott nicht mehr viel erlebt werden kann.31 Im Ritual ist die Gnade noch vor der Erfahrung präsent, auch unabhängig zu ihr, um in dieser Vorgegebenheit gerade als solche erfahren werden zu können.
Bei Wiesel zeigt sich die überkommene Symbolhandlung als die Möglichkeit, die Paradoxie des Glaubens zu leben und auszuhalten, die Paradoxie, die darin besteht, Gott angesichts des Leidens der Menschen eigentlich die Beziehung aufkündigen zu wollen und zu müssen, dies aber letztlich dann doch nicht zu können und zu wollen. Hier zeigt sich eine Spiritualität, die die Beziehung zu Gott in der Schwebe zwischen radikaler Infragestellung und Anbetung lässt und Letztere in der Treue zum Ritual und damit in der Solidarität mit dem eigenen Volk vollzieht. Die Unsicherheit in der Gottesfrage verbindet sich hier eigenartig mit einem regelmäßigen Ritual in Solidarität mit Israel und letztlich dann doch mit seinem Glauben. Unvergleichbar damit und doch in vorsichtiger Analogie dazu könnte im christlichen Bereich in der Treue zur sonntäglichen Eucharistie, auch wenn die Gotteserfahrung nicht mithält, gleichwohl die Solidarität zu den vor allem weltweit verfolgten Mitchristen und Mitchristinnen zum Ausdruck kommen.
2.3. Programmatische Erfahrung eines Vergessenen
Es geht heute vielen, vor allem auch älteren Menschen ähnlich, wie es der „Nachkriegsdichter“ Reinhold Schneider hinsichtlich seines Hinausgleitens aus dem Glaubensbereich wahrnimmt. In seinem Buch „Winter in Wien“ formuliert er: „Ich fühle mich aus dieser Wirklichkeit, diesem Wahrheitsbereich gleiten, ohne Einwand, immer in Verehrung und Dankbarkeit, ohne jegliche Rebellion, … gezogen von meinem Daseinsgewicht, mit geschlossenen Augen, verschlossenem Mund.“32 Und: „Fest überzeugt von der göttlichen Stiftung und ihrer bis zum Ende der Geschichte währenden Dauer, ziehe ich mich doch lieber in die Krypta zurück; ich höre den fernen Gesang. Ich weiß, dass er auferstanden ist; aber meine Lebenskraft ist so sehr gesunken, dass sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag!“33
Reinhold Schneider weiß sich gerade mit seinem Zweifel und mit dieser Todmüdigkeit selbst im Raum des Gebets und der Kirche. So schreibt er: „Aber erst Papst Gregor an der Kanzel des Stephansdoms, der die Hostie zweifelnd in den Händen hält, und Hieronymus, der tote Kardinal, treffen mich ins Herz. Sie sind beherbergt im heiligen Raum. Es müssen Tod und Zweifel in der Kirche sein. Vor ihren Mauern bedeuten sie wenig, sind sie überall, aber hier! Welche Konzeption der Kirche, die Raum für solche Schmerzen, solche Haltungen hat!“34 Und so schreibt er: „Beten über den Glauben hinaus, gegen den Glauben, gegen den Unglauben, gegen sich selbst, einen jeden Tag den verstohlenen Gang des schlechten Gewissens zur Kirche – wider sich selbst und wider eigenen Wissens –: solange dieses Muss empfunden wird, ist Gnade da: es gibt einen Unglauben, der in der Gnadenordnung steht. Es ist der Eingang in Jesu Christi kosmische und geschichtliche Verlassenheit, vielleicht sogar ein Anteil an ihr; der Ort vor dem Unüberwindlichen in der unüberwindlichen Nacht. Ist diese Erfahrung aus der Verzweiflung an Kosmos und Geschichte, die Verzweiflung vor dem Kreuz, das Christentum heute?“35
Gegenwirklich zu seinem Glauben betet Schneider, kontrafaktisch zu seiner Depression und Verzweiflung bleibt er Kirchgänger. Das Ritual rettet die darin symbolisierte Wirklichkeit auch gegen die diesbezügliche Erfahrungslosigkeit und Erfahrungsmüdigkeit des Menschen. So kann Schneider schreiben: „Nicht mit unserm Glauben ergreifen wir das Sakrament, das Sakrament ist vielmehr so stark, dass es unsern Glauben immer aufs neue schafft. Vielleicht bedürfen wir nicht einmal der Überlieferung vom Leben des Herrn und seiner heiligen Worte; wir wissen: ER ist da; ER ist in dieser Welt und bleibt in ihr, und seine ganze heilige Macht will mit dem Sakrament in unser Leben treten.“36
Es ist sicher gut, möglichst viele Plausibilisierungswege zur Hoffnung über den Tod hinaus zu suchen und zu finden, doch die Erfahrung des Sterbens ist oft auch die Erfahrung des Sterbens aller Hoffnung. Es ist dies ein Nichtcredo, das den eigenen Nichtglauben nicht zum Maßstab dessen macht, was von Gott her „gegeben“ ist, auch was von ihm an Hoffnungsspur über den Tod hinaus gegeben ist. Denn es kann durchaus sein, dass mit dem Schwächerwerden des Körpers und dem Schwächerwerden der psychischen und geistigen Kräfte auch ein Schwächerwerden der Hoffnung einhergeht bis hin zum Tod der Hoffnung im Sterben selbst. So dass sich der radikale Bruch des Todes auch im radikalen Bruch einer Lebensund Denkmöglichkeit über den Tod hinaus spiegelt. „Es ist noch keiner zurückgekommen!“, sagt der Volksmund. Neues Leben ist gar nicht anders zu denken als durch eine göttliche Handlung, die diesen totalen Ab-Bruch überbrückt. Im Gebet und im Sakrament das von dieser sterbenden Hoffnung unabhängige Zeichen bleibender Hoffnung zu erfahren, zu sehen, kann ein Trost eigener Art in dieser Phase sein.
Diese Verobjektivierung des Ausstehenden im Wort und im Symbolhandeln ist eine Vorgegebenheit, analog zu den sakramentalen Ritualen, in denen die Vorgegebenheit der Liebe Gottes als Wirklichkeit gefeiert wird.37 Schneider geht zur Heiligen Messe, begeht sie gegenläufig zu seinen Erfahrungen. Eine eigenartige Paradoxie, die im Vollzug Doxologie ist: Anerkennung Gottes jenseits eigener Befindlichkeit und immer größer als das eigene Vermögen. Die Menschen müssen nicht daran glauben, damit die Verheißung wirksam wird, sie ist jenseits von Glaube und Nichtglaube wirksam. Der Glaubende in der Oberkirche glaubt stellvertretend–völlig frei von Zugriffsphantasien – für die Nichtglaubenden in der Krypta.
2.4. Liturgie auf der Grenze
Die Sicht auf die Differenz, auf den möglichen Widerspruch zwischen Ritual und Leben, hat enorme pastorale Konsequenzen: Die bisherige Perspektive, die Liturgie als zentrales Geschehen im Binnenraum der Kirche zu sehen, wird korrigiert durch die Perspektive, dass es sich mit dem Ritual immer auch um Vorgänge handeln kann, die zwischen innen und außen vermitteln. Sie liegen also auf der Grenze und haben auch in diesem Sinn liminalen, grenzüberschreitenden Charakter. So gibt es auf der einen Seite soziale und persönliche Erfahrungen, die dem, was in der Liturgie gefeiert wird, ähnlich sind. So wird man auf der anderen Seite auch damit „rechnen“ dürfen, dass die Liturgie auch gegen die erlebte Realität ihre Wirklichkeit entfaltet und entsprechende Auswirkungen „nach außen“ hat. Dabei kann sich das zum Ritual Konträre auch nach innen (bei unerträglichen Leiderfahrungen) und korrespondierend nach außen (bei Erfahrungen des Geschütztseins) ereignen.
Wer konnte schon voraussehen, dass gerade die Erfahrung eines Weihnachtsgottesdienstes am 25. Dezember 1886 in Notre-Dame in Paris beim freidenkerischen und gottlosen Paul Claudel die Bekehrung auslösen würde. „Ich fing damals mit schriftstellern an, und es schien mir, als könne ich in den katholischen Zeremonien, die ich mit einem überlegenen Dilettantismus betrachtete, ein geeignetes Reizmittel und den Stoff für einige dekadente Übungen finden. … Ich selbst stand unter der Menge, nahe beim zweiten Pfeiler am Chor-Anfang, rechts auf der Seite der Sakristei. Da nun vollzog sich das Ereignis, das für mein ganzes Leben bestimmend sein sollte. In einem Nu wurde mein Herz ergriffen und ich glaubte. Ich glaubte mit einer so mächtigen inneren Zustimmung, mit einem so gewaltsamen Emporgerissenwerden meines ganzen Seins, mit einer so starken Überzeugung, mit solch unerschütterlicher Gewissheit, dass keinerlei Platz auch nur für den leisesten Zweifel offen blieb. … Bei dem Versuch, den ich schon öfter angestellt habe, die Minuten zu rekonstruieren, die diesem außergewöhnlichen Augenblick folgten, stoße ich auf eine Reihe von Elementen, die indessen nur einen einzigen Blitz bildeten. … Denn meine philosophischen Überzeugungen waren unangetastet geblieben. Gott achtete ihrer nicht und überließ sie ihrem Schicksal; ich sah keinen Anlass, sie zu ändern; die katholische Religion kam mir nach wie vor wie ein Schatz törichter Anekdoten vor; ihre Priester und Gläubigen verursachten mir die gleiche Abneigung, die sich bis zum Hass, ja bis zum Ekel steigerte. Das Gebäude meiner Ansichten und Kenntnisse brach nicht zusammen, und ich entdeckte keinen Fehler an ihm. Ich war aus ihm herausgetreten, das war alles, was geschehen war. Ein neues gewaltiges Wesen mit schrecklichen Forderungen für den jungen Menschen und Künstler, der ich war, hatte sich offenbart, das ich mit nichts von dem, was mich umgab, in Einklang zu bringen verstand. Der Zustand eines Mannes, den man mit einem Schlag seiner Haut entrisse, um ihn in einen fremden Körper und mitten in eine ihm unbekannte Welt zu verpflanzen, ist der einzige Vergleich, den ich finden kann. … Was meinen Ansichten und Neigungen am meisten widersprach, gerade das sollte wahr sein, gerade damit sollte man sich wohl oder übel zurechtfinden. Ach! Dann aber wenigstens nicht, ohne dass ich nicht alles, was in meiner Macht stünde, an Widerstand aufzubieten versucht hätte. Der Widerstand hat vier Jahre lang gewährt.“38
Claudel war damals 18 Jahre alt. Sein Bericht zeigt sehr deutlich jene Spannung zwischen Liturgie und Leben, die er jahrelang in sich selber austrägt. Die externe Gegensatz-Erfahrung, die das Ritual ausgelöst hat, ermöglicht die innere Auseinandersetzung, die ihn nicht mehr loslässt. Hier zeigt sich eindrücklich, wie die Liturgie das Unbedingte und das Nicht-Hintergehbare der Gegebenheit Gottes in der Symboldramatik dem Menschen gibt und aufgibt. Auf diese Wirkung Gottes durch das Ritual hindurch ist in der Pastoral Vertrauen zu setzen.
Man darf auch nicht übersehen, was angeblich oder wirklich agnostische und religiös „unmusikalische“ Menschen gerade in der Vorgegebenheit der Liturgie wahrzunehmen vermögen: einen ihnen gegenüberstehenden Vollzug einer Hoffnung, die sie (noch) nicht teilen können, die sie aber um der Menschen willen „irgendwie“ schätzen, ja hochzuschätzen und zu schützen vermögen. Der Kulturphilosoph Ullrich Schwarz erzählt nach einem Vortrag von der Religion als „metaphysischer Abfalllösung gegen den Tod“, durchaus in der Sprachform eines analytischen Agnostikers: Bei einem zufälligen Kirchenbesuch zur Osterzeit hört er das alte Osterlied, in dem in der Auferstehung Christi die Auferstehung der Menschen besungen wird: „Christ ist erstanden von der Marter alle. Des solln wir alle froh sein; Christ soll unser Trost sein … Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen. Seit dass er erstanden ist, so freut sich alles, was da ist.“39 Religiös unmusikalisch, beeindruckt ihn dieses Lied doch, diese Funktion der Religion als Auflehnung dagegen, dass alles am Ende zu Ende sei. Zum Glauben kommt er dadurch nicht, aber er sieht in der Liturgie eine „Hohlform“, in der den Menschen ihre subjektive Unwichtigkeit genommen wird, von einem Gott, der ihnen unbedingte Anerkennung schenkt und, weil er allmächtig, diese auch mit ewigem Leben verwirklicht.
So steht hier die Liturgie des Ostertags für einen Gott, der das Flüchtige sucht und sammelt (vgl. Koh 3,15), der all die Myriaden von Individuen und ihre Einzelerlebnisse unendlich wahrnimmt und ihnen ewige Bedeutsamkeit verleiht. Dies geschieht kontrafaktisch zum leiblichen Tod, traut der Allmacht Gottes die neue Schöpfung in der Unendlichkeit von Leiblichkeit und Individualität zu. Die Liturgie wird hier tatsächlich als Vergegenwärtigung des elementaren Widerspruchs zwischen Tod und Leben erlebt: Der Ort des Verfalls wird zum Ort des Lebens, weil Gott der Asche und dem Staub neues Leben eingibt, dann ein für alle Mal.
2.5. Differenz im Sakrament
Das Ritual drückt nicht nur menschliche Bedürfnisse aus und verstärkt sie, sondern in ihm kann auch etwas von den Erfahrungen nicht Ableitbares, Fremdes und Sperriges entgegentreten, worin sich dann eine ganz neue Erfahrung ereignet.40 In dieser „symbolischen Differenz“ ereignet sich zwischen dem Menschen und einem Gegenüber jene Spannung, die ebenso anders sein darf, wie sie dann doch „passen“ muss.41 Dieses „Zusammenstimmen“ darf man allerdings nicht als Übereinstimmen missverstehen, sondern benennt, dass auch noch der schärfste Gegensatz zwischen Ritual und Erfahrung selbstverständlich mit der Erfahrung der Menschen zu tun hat. So kommt in den Blick, dass im Sakrament eine von Gott her geschenkte Wirklichkeit vergegenwärtigt wird, die zwar immer mit der Lebenswirklichkeit zu tun haben will, aber auch das göttliche Anderssein zu dieser Wirklichkeit zum Ausdruck bringt.
Im Modell der „symbolischen Erfahrung“ wird mit aller Deutlichkeit auf diese „Differenz“ abgehoben, indem die Sakramente eben nicht (nur) als Ausprägungen menschlicher Grundbefindlichkeiten zu verstehen sind, sondern als spannungsreiche Begegnung des Menschen mit einer objektiv vorgegebenen Wirklichkeit. Zwischen beiden kann auch das Eigene durch etwas Fremdes in Frage gestellt werden.42 Die Erfahrung des Rituals spiegelt also nicht einfach die alltäglichen bis nichtalltäglichen Lebenserfahrungen der Menschen wider, sondern kann das Gegenteil zeigen, bis hinein in die „negative Dialektik“43 zwischen dem, was im Ritual symbolisiert, und dem, was im Leben erfahren wird. Dann erfährt man das Ritual als etwas, was mit der eigenen Erfahrung nichts zu tun hat. Denn etwa erlittener Schmerz oder fassungslose Wut können niemals liturgisch wegsymbolisiert werden.
Diese heftige Dialektik ist bereits im Sakrament selbst enthalten. Denn jedes Sakrament44 vergegenwärtigt auf seine Weise das Geheimnis von Tod und Auferstehung Christi. Jedes Sakrament ist grundgelegt in der Taufe (vgl. Röm 6,1–11) und steht damit nicht als Heilszeichen dem Unheil der Welt gegenüber, sondern beinhaltet Unheil und Heil in sich selber. Zugleich kann in dem Zeichen daran geglaubt werden, dass Gott genau diese unvermittelbare Differenz von Glück und Unglück, von Tod und Rettung, von Kreuz und Auferstehung vertieft und zugleich heilsbedeutsam umfasst.45
Sakramente sind Heilszeichen, weil sie in sich selber dem Leid der Welt und dem Unheil der Welt den Ort geben, den sie aufgrund der katastrophalen Erfahrungen der Menschen und der Menschheit tatsächlich haben. Auch hier gilt: Was nicht angenommen und aufgenommen ist, ist auch nicht erlöst. Gott hat sich in Christus mit der Welt verbunden, und diese Verbundenheit besitzt in sich alle Rissigkeit, alle Widerborstigkeit dessen, was dieser Verbindung widersteht. Gott leidet und klagt selbst in Christus auf der Seite der leidenden Menschen mit und löst so die Widersprüchlichkeit nicht einmal in sich selbst auf, sondern lässt sie zur eigenen Wunde (im Auferstandenen) und Hingabe (im Sakrament) werden. Gottes Seitenwechsel verkleinert nicht den Widerspruch, sondern verschärft ihn. Was beides zusammenhält, ist dieser solidarische Gott selbst und nichts anderes. Diese anderortige Qualität der Liturgie ist also nicht nur eine Frage des alles ohnehin umfassenden Geheimnisses Gottes, sondern beinhaltet auch das widersprüchlichste Verhältnis zwischen Leid und Heil, zwischen Bösem und Versöhnung, zwischen der symbolisierten und der aktuellen Erfahrung.46
Es ist eben nicht nur so, dass Gott erlebt wird, wo Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen einen Widerhall finden, sondern auch, wo die Menschen Gottes Verborgenheit, Dunkelheit und Herzlosigkeit erfahren müssen. Wo diese sperrige Wirklichkeit nicht in das Verständnis von Sakramenten mit „aufgenommen“ wird, ist die Verhältnisbestimmung von Sakrament und Leben zu glatt. So sind die Sakramente ein Geschenk, das auch die Geschenklosigkeit Gottes und auch, im Kreuz, den Tod Gottes mit beinhaltet. Dies wirkt sich dann auch auf die Öffnung der Sakramentenpastoral aus, indem darin keine Ausschließungen möglich sind.
2.6. Religionskritische Konsequenzen
Es geht in einer Religion, die sich tatsächlich auf den unendlich geheimnisvollen47 und zugleich unerschöpflich liebenden Gott hin auszustrecken vermag, immer um beides, um die Offenbarung aus den eigenen Wurzeln heraus und um die „Auflösung“ dieser Offenbarung in die Tiefe und Weite Gottes und der Welt hinein. Die Er-Lösung von einem angstbesetzten bzw. narzisstischen Selbstbezug zeigt sich in dieser Lösungs- und Erlösungshaltung allen und anderen Menschen gegenüber.
Voraussetzung dafür ist, dass die Religionen bereits in ihren Wahrheitssystemen und -praktiken Gott als unergründlich ewig unbegrenzte Liebe verkünden und lebensgestaltend bezeugen. Religionen können Orte sein, diese Haltung einzuüben, wenn sie durchlässig sind für die ewige Unergründlichkeit Gottes, insofern dieser Gott alles noch einmal überholt, auch die je eigene Offenbarung.
Dabei plädieren die Religionen, wenn auch leider oft nur für ihre eigenen Gläubigen, für einen guten Gott, trotz all des Bösen und der Leiden in dieser Welt. Sie verkünden jedenfalls keinen total bösen Gott, der am Scheitern, an Schrecklichem und Leiden der Menschen sein grausames Vergnügen hat. Die inhaltlichen Richtungsanzeigen, die (nicht nur) aus den monotheistischen Offenbarungen kommen, sind Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Diese in das unendliche Geheimnis Gottes hinein unbegrenzt zu denken erreicht und überschreitet die Religionsgrenzen.
Im Christentum gibt es Lehraussagen, die diese Entgrenzung Gottes gegenüber aller Wirklichkeit eigens benennen. Das Dogma des vierten Laterankonzils formuliert,48 dass Gott zu allem Diesseitigen unähnlicher ist als ähnlich. Die christliche Wahrheit ist so angelegt, dass sie selbst überstiegen wird, geradezu in negativer Dialektik zu sich selbst. Hinter den Bekenntnissen und vor allem im Gotteslob tut sich die ganze unendliche Weite Gottes in ihrer Unerschöpflichkeit auf. So verstehen sich Religionen in dem Sinn symbolisch, dass sie eine Reise über sich hinaus antreten lassen in das Unausdenkbare, Unbestimmbare, Unmögliche, in das Nichtberechenbare. Dies geht aber nur, wenn sich Glaubenssysteme nicht integralistisch zeigen, sondern in dem Sinn als sakramental, dass sie immer nur Zeichen und Werkzeug für etwas sind, was sie selber nicht im Griff haben und was über sie hinausgeht.
Es geht darum, die Verkleinerung Gottes zurückzunehmen, die mit eigenen Grenzziehungen und Blockierungen geschieht, in die Offenheit der ewigen Unerkanntheit und Unbestimmbarkeit hinein. Und in den Religionen ist es vor allem die Mystik, die dafür eintritt, dass die Bekenntnisworte nicht das letzte Wort haben, sondern dass es darüber hinaus Gotteserfahrungen in anderen Gefilden gibt, wie in der Musik, in der Kunst,49 aber auch in Ritualen und in der Poesie.50
Es bleibt für die Religionen dann weiterhin richtig, was sie in ihren Offenbarungsräumen sagen, feiern, glauben und hoffen. Aber damit diese Systeme nicht selber in die Kälte kommen, indem sie Gott als Wenn-dann-Gefüge verwalten, werden sie sich auf diesen unendlichen Raum hin öffnen, in dem es beides nicht ohneeinander gibt, Liebe und Freiheit, Gericht und Versöhnung. Es geht um Gott, dessen inhaltliche Weite als Liebe mit der „unendlichen“ Weite des Universums mithalten kann. Um einen Gott, der nicht mickriger ist als das, was atheistisch-evolutionistische Positionen hinsichtlich des Universums erträumen.51
2.7. Was nicht zu haben ist
Die Sakramente sind erst in zweiter Hinsicht Zeichen des Glaubens. Zuerst sind sie Zeichen der vorbehaltlosen Liebe Gottes zu allen Menschen, damit sie glauben können.52 So gilt: „Der liturgische Ritus will gerade die Unverständlichkeit hüten, um so den Glauben erst zu ermöglichen. … Das Ritual muss immer den Glauben an das realisieren, was um alles in der Welt nicht zu haben und nicht zu machen ist.“53 Dass diese Vorgegebenheit nicht unter der Hand als Forderung vermittelt und aufgefasst wird, ist die eigentliche Herausforderung der Sakramentenpastoral.
Mit den Sakramenten tut sich damit ein praktischer Doppelweg auf:
– einmal nach innen in der Erinnerung der expliziten Hoffnung, die aus sich heraus die Haltung ermöglicht, nicht unverletzlich sein zu wollen. Diese Verwundbarkeit zeigt sich in der Struktur der Sakramente selbst, die jedes für sich, auf unverwechselbare Weise, das Paschamysterium vergegenwärtigen. So ist die Taufe ein Mitsterben mit Christus, um mit ihm leben zu können; so ist die Buße eine Unterbrechung des Bisherigen durch die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichtes in das gegenwärtige Leben,54 so wird in der Eucharistiefeier das Brot gebrochen, was den gebrochenen Leib Christi und die gebrochene Existenz christlichen Glaubens anzeigt. Und so könnte man es auch für die anderen Sakramente durchbuchstabieren.
– Als Zweites gibt es die Verausgabung der Sakramente nach außen. Auch für die Menschen, die nicht viel oder nichts von den kirchlichen Symbolen verstehen, die aber nicht weggehen wollen, die spüren, dass hier etwas von der Unendlichkeit und Unveräußerlichkeit des Lebens zum Vorschein kommt. So wird sozial eingeholt, dass die Sakramente über sich hinausweisen, in Gottes Allheit und von daher in alle Menschen hinein. Die radikale Selbstentäußerung Gottes ist erst „komplett“, wenn dies über alle Komplettheit und Kompaktheit kirchlicher Formen hinaus zu geschehen vermag, nämlich wenn die Sakramente als unbegrenzte Gabe gespendet werden.
So gilt: „Das Erschließen der Sakramente dient dann nicht primär der Weitergabe des kirchlichen Sakramentenverständnisses u. ä., sondern dem Erschließen der Möglichkeit, christliche Sakramente heute zur Lebensdeutung aufzunehmen.“55 Wobei ich hier hinzufügen möchte, dass es sich bei dem Letzteren und dem Verzicht auf (in-) doktrinäre Bedingungen just um das „Zuhandeln“ des katholischen Sakramentenverständnisses handelt. In entsprechenden Gesprächen wird „erschlossen, was jungen Eltern bei der Taufe ihres Kindes wichtig ist oder was Jugendlichen im Blick auf ihre ‚Bekräftigung‘, die Firmung, von Bedeutung ist.“56 In den Sakramenten beeinflussen und verändern sich Tradition und Leben wechselseitig, „ohne dass der Prozess … im Detail steuerbar ist“, weder hinsichtlich der Biographien noch der beteiligten sozialen Größen.57
Für beide Bereiche gilt dann das Ziel, dass die Sakramente Heil erfahrbar machen, „Leiden lindern, Angst mindern, Glück feiern“58. Es geht also nicht nur darum, für von kirchlichen Sozialgestalten Fernstehende neue Rituale anzubieten (das auch!), sondern dass man genau für diese, und zwar verstärkt, die Sakramente hergibt. Sakramente sind nicht nur an die gemeindlichen Vollzüge gebunden, sondern wirken weit darüber hinaus. Viel wichtiger als die Heranführung der Menschen durch die Sakramente an Glaube und Kirche ist die blanke Tatsache, dass das Sakrament gefeiert wird. Seine Selbstwertigkeit sperrt sich gegen allzu nutzungsorientierte Zugriffe.