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I. VORWORT
ОглавлениеLiegt das Abendland im Westen?
Wie deutlich die Welt
ist Im Fadenkreuz
des Theodoliten.
Das kühle Auge
der Dosenlibelle:
ein winziger Himmel.
Hans Magnus Enzensberger,
Blindenschrift (1960)
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Vor zwanzig Jahren haben wir auf der Mauer getanzt. Die kleine Firma, bei der ich arbeitete, der Berliner Rotbuch Verlag, hängte am 9. November »aus aktuellem Anlaß« ein Pappschild an die Tür. Wir schlossen unsere Fabriketage an der Potsdamer Straße und gingen rüber zum Brandenburger Tor, um zu feiern. ›Drüben‹ im Osten, in der DDR, waren wir natürlich auch vorher häufig gewesen (wir konnten ja einreisen). Schon um unsere Autoren aus der Dissidenten- und Literatenszene zu besuchen. Später stellte sich freilich heraus, daß der allergrößte Zampano unter den kritischen Kritikern ein Stasi-Offizier war.
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Über den ungarischen Riß im Eisernen Vorhang, über den Fall der Berliner Mauer, über die zwar unfreiwillige, aber (mit wenigen Ausnahmen) am Ende doch friedliche Entmachtung des Kommunismus in Osteuropa war die Freude noch allgemein. Während des Kalten Krieges hatten Ost- und Mittel- und Südosteuropäer jahrzehntelang von ihrer ›Rückkehr nach Europa‹ geträumt. Als sie dann nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in die Europäische Union aufgenommen werden wollten, waren die Völker im Westen deutlich weniger begeistert. Und dies hatte nicht nur ökonomische Gründe.
Denn nun führte der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums (und seiner Satelliten oder Varianten auf dem Balkan) zur Wiederbelebung von weitaus älteren nationalen, religiösen, kulturellen Bruchlinien. In Südosteuropa wurden in den neunziger Jahren blutige Volkskriege ausgefochten und ethnische Säuberungen durchgeführt – und das gerade erst mit dem Maastricht-Vertrag (1992/1993) entstandene politische (West)Europa war weder willens noch in der Lage, sie zu verhindern. Auf dieser Seite des Vorhangs hatte niemand damit gerechnet, daß die historischen Gegensätze zwischen lateinischer und orthodoxer Christenheit, zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungen auf dem Balkan, am Ende des XX. Jahrhunderts wieder von Bedeutung sein könnten.
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Und plötzlich behauptete die Türkei, auch sie gehöre in die Europäische Union. (So jedenfalls erschien es den meisten Westeuropäern. In Wahrheit waren Ankara schon jahrzehntelang Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt worden – aber niemand aus dem westlichen Club hatte dies offenbar ernst gemeint.) Angesichts der EU-Neuzugänge in Zentraleuropa und trotz einer wachsenden Anzahl muslimischer Einwanderer und Neubürger in West- und Nordeuropa (oder eben genau deswegen) löste nun die türkische Frage in Rom oder Paris oder Berlin oder Prag alte und neue Ängste aus. Weitaus weniger übrigens in London: Seit dem Ende des britischen Empire waren schließlich zahlreiche muslimische Commonwealth-Bürger, vor allem aus Britisch Indien oder Ostafrika, nach England gekommen.
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Zudem hatte sich der damalige Dekan des römischen Kardinalskollegiums Joseph Ratzinger in dieser Debatte über die kulturellen Grenzen Europas zu Wort gemeldet und (ausgerechnet in der französischen Presse!) eindeutig gegen die türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union Stellung bezogen. Für türkische Ohren kam damals Ratzingers Europa-Idee jener Vorstellung vom ›Christenclub‹ ziemlich nahe, die der Führer der gemäßigt islamistischen Gerechtigkeitspartei Tayyip Erdogan allen Türkei-skeptischen Europapolitikern des Westens unterstellte. Und ausgerechnet dieser kulturelle Lateineuropäer Ratzinger wurde dann im Frühjahr 2005 zum römischen Papst und Nachfolger Petri auserkoren.
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Unter der Hand hatte sich die kulturgeschichtliche (ebenso integrierende wie differenzierende) Frage nach einer europäischen ›Identität‹ in die Suche nach politischen Abgrenzungen verwandelt – Europa wird zum Ausschlußgrund. Nun besinnen sich sogar Ungläubige auf die christlichen Wurzeln Europas.
Beiderseits des Atlantik warnt seit dem 11. September 2001 ein neues Genre von Sachbüchern und Pamphleten vor dramatischen Entwicklungen in Alteuropa als ›dem schwächsten Glied der Kette des Westens‹: In drei, vier Jahrzehnten könnte sich der alte Kontinent, einst feste Burg der christlichen Zivilisation, in ein muslimisches ›Eurabia‹ verwandelt haben.
Bei seinem dritten historischen Ansturm auf das Herz der Christenheit finde nämlich ›der Islam‹ heute – anders als Anno Domini 732 bei Poitiers und dann 1683 vor Wien – keine westlichen Verteidiger mehr. Diesmal seien die Waffen der muslimischen Conquista freilich andere als jene, wider die Karl Martell bei Poitiers oder Jan Sobieski in der Schlacht am Kahlenberg vor Wien das Banner der Christenheit verteidigten. Heute und morgen bedrohe uns christlich-säkulare Europäer nicht nur der islamistische Terrorismus, sondern die Hingabe an Gott (denn nichts anderes heißt: Islam).
Und vor allem … die Demographie. Die eingeborene und zumeist christlich erzogene europäische Bevölkerung reproduziert sich nicht mehr: Ihre Geburtenrate ist weit unter das ›Erhaltungsniveau‹ von 2,1 Kindern pro Frau gefallen, wohingegen die meisten muslimischen Länder noch über eine ›aktive‹ demographische Bilanz verfügten. Die europäische Christenheit habe spätestens seit den sechziger Jahren ihre angestammten religiösen Überzeugungen aufgegeben und den regelmäßigen Gottesdienstbesuch regelrecht desertiert.
Da aber beide Trends irgendwie zusammenhängen – strikt religiöse Familien mit traditioneller geschlechtlicher Arbeitsteilung haben i. d. R. eine höhere Kinderzahl als säkulare Familien mit höherer Entscheidungsfreiheit der Frau –, scheint auch die Therapie offenkundig: Ihr am Christglauben zweifelnde Europäer, kehret zurück in den Schoß der Mutter Kirche, tut Buße, glaubet erneut und mehret Euch! Give me that old time religion! – oder die Mauren kehren zurück. Diesmal als Sieger.
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Das Jalta-System – der durch das atomare Gleichgewicht des Schreckens befestigte Ost-West-Gegensatz von Kommunismus und Freier Welt – schien in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts sämtliche älteren Konflikte ausgelöscht oder doch in ihrer politischen Bedeutung verschluckt zu haben, an denen sich zuvor in zwei Jahrtausenden Europas kulturelle Identität formiert hatte. Zu diesem ›Ende der Geschichte‹ hatte nicht nur die totalitäre ›Geschichtspolitik‹ des sowjetischen Kommunismus beigetragen, sondern auch das freiheitlich ›anti-historistische‹ Selbstbewußtsein Amerikas – in den Worten Georg Wilhelm Friedrich Hegels »ein Land der Sehnsucht für alle, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt«. (HW, Bd. 12, S. 114).
Amerikas Selbstbild als »Land der Zukunft« hat bereits eine über zweihundertjährige Geschichte. Die »nordamerikanischen Freistaaten«, wie Hegel sie nennt, verstanden und konstituierten sich schließlich Ende des XVIII. Jahrhunderts als Gegenmodell zur europäischen Kriegs- und Staatenordnung des Absolutismus, als bürgerliche Gesellschaft ohne »Bedürfnis eines organischen Staats«. (Hegel). Im Jahrhundert zuvor war ein Großteil der neuenglischen Siedler wegen ihres religiösen Dissenses aus der alten Welt der konfessionellen Staaten und Kriege Europas ausgewandert: Sie wollten in der Neuen Welt die »City upon the Hill« errichten, das Neue Jerusalem.
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Die Alte Welt des Abendlandes hingegen, die Vorgeschichte des sich politisch einenden und darüber streitenden Europa, bildete und gliederte sich durch kulturelle Brüche, welche in der Regel religiös oder ›theologisch-politisch‹ codiert waren. Um vier davon geht es in den folgenden Essays. Um zwei west-östliche Brechungen: Griechen versus Barbaren, ein Selbstbild, welches später auch das römische Imperium übernommen hatte (das ja kulturell mindestens ebenso griechisch wie römisch war); oströmische orthodoxe Christenheit versus weströmischen Katholizismus – und um zwei nord-südliche Bruchlinien: Islam versus Christenheit; Katholizismus versus Protestantismus und reformierte Kirchen.
An jeder dieser Fronten fanden im letzten Millennium wiederholt Kriege statt. Zahlreiche Entscheidungsschlachten wurden geschlagen, aber kein Konflikt ist entschieden, keiner dieser Gegensätze ist ›erledigt‹. Keine dieser Fronten wurde jemals begradigt – im Gegenteil: Heute sind sie durch Migration und globalisierte Kommunikationsnetze allgegenwärtig. Keine dieser Grenzziehungen wird durch Staatsgrenzen garantiert – gerade in der Diaspora werden sie heute am stärksten erlebt.
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Wie steht es also künftig um das Verhältnis zwischen dem politischen Code des Westens und dem historischen, kulturellen oder theologisch-politischen Gedächtnis des Abendlands? – Der Westen ist abendländisch entstanden; das europäische Abendland bildet die kulturelle Matrix des politischen Westens, der sich inzwischen normativ universalisiert und geographisch den Atlantik überquert hat. Die politischen Institutionen und Ideale des Westens sind ohne die europäische Geschichte nicht verständlich, aber nicht an sie gebunden. Die USA sind jener Teil des Westens, welcher das Abendland verlassen hat – ohne dessen Eingriff in den Zweiten Weltkrieg das Abendland jedoch vermutlich nicht überlebt hätte.
Die institutionelle Tradition des Abendlands ist zwar eine pluralistische (regnum versus sacerdotium, forum internum versus ius publicum, Marktfreiheit versus Landesherrschaft, usw.) – ein Pluralismus, der häufig übrigens wider den integristischen Willen der Beteiligten zustandekam. Aber sein kulturelles Gedächtnis bleibt bis ins XX. Jahrhundert hinein antidemokratisch verfaßt. Der spezifisch abendländische Pluralismus wird jedoch künftig ohne die institutionellen Minimalbedingungen politischer Freiheit, wie sie in den liberalen Demokratien westlicher Machart institutionalisiert sind, kaum überlebensfähig sein.
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Und nun die kompliziertere Frage: Gilt das auch umgekehrt? Ist auch der Westen auf eine politische Verkörperung des Abendlandes angewiesen? Und was wäre denn Europa, wenn es kein christlicher Club sein will? Welche Art von Staatswesen? Über ein souveränes Machtzentrum verfügen ja die in der EU vereinigten europäischen Staaten bis heute nicht. Und das ist kein Wunder: Die Reiche und Nationen, aus denen das heutige Europa hervorging, waren ja in ihrer Geschichte meist gegeneinander aufgestellt.
Wenn wir jedoch die Europäische Union als legitime Tocher des Abendlandes ansehen (und im letzten Kapitel versuche ich, diese Sicht zu begründen), dann spricht vieles dafür, daß der freie Westen auch das Gedeihen des politischen Europa braucht. Man kann dafür Gründe der internationalen Machtbalance anführen: Die alteuropäischen Nationalstaaten brauchen einen Entscheidungs-Pool, um sich nicht allein gegenüber der verbündeten Großmacht USA, sondern in der multipolaren Welt überhaupt behaupten zu können. Und es gibt ordnungspolitische Motive, welche die politische Kommunikation zwischen den Kulturen oder Zivilisationen betreffen: Denn die alteuropäische Staatenwelt unterhält schon als Erbe ihrer Kolonialgeschichte differenziertere, sensiblere und darum zuweilen auch störanfälligere Beziehungen zu ihrer geographischen und kulturellen Umwelt im Süden und Osten als die westliche Vormacht Amerika.
Der Westen liegt nämlich im Norden. Es gibt zwar südliche Ausnahmen: Australien liegt im Pazifik, Südafrika am Kap der Guten Hoffnung und Israel im Nahen (oder von London aus gesehen: Mittleren) Osten. Warum zählen wir diese Länder dennoch zum Westen? – Nun, es sind Demokratien, werden Sie sagen. Also gehört Indien, die größte Demokratie der Welt, auch zum Westen? – Und wenn nicht, warum nicht?
Die drei genannten Ausnahmen haben nicht viel miteinander gemein, aber alle drei Staaten sind entstanden als (weiße) Siedlergesellschaften in einem nichtwestlichen Umfeld – so wie die »nordamerikanischen Freistaaten«. Eine offene, bis heute politisch und kulturell ungelöste Frage hingegen bleibt das Verhältnis des Westens zu den ehemaligen Kolonien der abendländischen Imperien – sowie zum ›globalen Süden‹ überhaupt. Aber sie ist nicht Thema dieses Buches.
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Die politische Zukunft des Abendlandes liegt also vermutlich im komplexen (und nur in Grenzen rationalisierbaren) ›Monstrum‹ der Europäischen Union von Staaten und Bürgern. Anderfalls hätte das Abendland nur eine Zukunft: seine (erinnerte) Geschichte.
Europas alte Unübersichtlichkeit muß freilich kein Standortnachteil sein. Pluralismus und Multilateralismus – also: Routinen kultureller Vielfalt und Mechanismen politischer Konzertation unter zahlreichen Beteiligten – sind schließlich Tugenden, die wir im neuen Jahrtausend noch brauchen werden. Nicht nur in Europa.
Die Kapitel dieses auf Anregung von Anne Hamilton hin entstandenen Buches knüpfen an verschiedene Essays und Vorträge an, die von mir in den vergangenen Jahren verfaßt wurden. Im Anhang finden neugierige Leser einige Lektüretips.