Читать книгу Der Engel mit den Eselsohren - Otto Rung - Страница 8
ОглавлениеEjgil kam erst in seinem siebenten Jahr in die hatte sich jedoch vorher schon verschiedenes Wissen angeeignet.
Veronika begleitete ihn am ersten Tage zur Schule. Er trug, wie stets, wenn er an die Luft gebracht wurde, einen Überzieher, der ihm fast bis zu den Hacken reichte, und einen Filzhut (mit Gummiband um das Kinn, wenn es wehte); die langen Locken fielen über den Pelzkragen des Mantels. Von hinten glich er einem kleinen, würdigen, älteren Komponisten.
Auf dem Dach der Schule war ein Storch aus Zink, weiss bemalt und mit rotem Schnabel, angebracht, um, wie der Vorsteher den Eltern sagte, gleich am Schultor die Kinder daran zu mahnen, dass sie von droben auf weissen Schwingen zur Welt gebracht waren.
Gegenüber der Schule lag ein Bauplatz, mitten darauf eine ungeheure Schlammpfütze. Einige der kleinen Schulknaben, die Wasserstiefel hatten, wateten im Kot. Veronika warnte Ejgil vor solchen Unarten. Er trug nämlich feine hellgraue Gamaschen über seinen Knöpfstiefeln, hatte übrigens auch keine Lust, wie die anderen zu waten. Sie küsste Ejgil auf die Stirn und verliess ihn im Schulhof, der schon voll von Knaben war. Sie spielten nicht, sondern standen da und sahen artig auf die Lehrer der Schule, die mitten auf dem Platze um den Vorsteher versammelt waren.
Ejgil war erst spät im Schuljahre angemeldet; es waren eben Ferien gewesen, und der erste Schultag fiel auf einen Merktag für das ganze Land. Ein sicher übereiltes Gerücht hatte nämlich gesagt, dass das alte konservative Ministerium abgehen und dass Bauernlinke und die anderen Demokraten Land und König in ihre Macht bekommen sollten.
Die Lehrer standen in einer Gruppe und steckten die Köpfe zusammen wie Pferde im Schneesturm. Sie waren alle erbost, der Vorsteher, Herr Bonfils, jedoch am meisten. Es war eine fashionable Schule, die zumeist von Kindern aus der Bourgeoisie der Stadt und sogar von nicht wenigen aus adeligen Heimen besucht wurde.
Herr Bonfils pfiff auf einer Flöte, und die Knaben nahmen Aufstellung in Reih und Glied, mit der Front gegen die Schullehrer, die nach Fächern in der Reihe geordnet waren: zuerst die examinierten, zuletzt der Gesanglehrer.
Herr Bonfils stand vor ihnen, vorm Regen geschützt durch die junge Buche, die vor zehn Jahren unter grosser Feierlichkeit gepflanzt worden war. Man hatte damals einen Federkasten mit einem Dokument über diese Pflanzung und einigen Münzen, wie sie damals im Umlauf waren — jedoch keine Goldmünze darunter —, beim Baum niedergelegt.
Ejgil stand als neuer zuhinterst in seinem Glied von der Gruppe der zweiten Vorschulklasse, vor ihm ein Knabe, der, wie ihm klar wurde, der „Fuchs“ war. Er war gross und kräftig und trug ein Regencape über seinem Tornister. Er drehte sich um und betrachtete mit Abscheu Ejgils langes Haar.
Aber Herr Bonfils hatte ihn gesehen. Er rief den Namen des Knaben: „Petersen! Stillgestanden im Glied!“
Herr Bonfils pfiff auf seiner Flöte, räusperte sich und ergriff das Wort:
„Jungens!“ rief er. „Es ist heute ein Tag der Trauer für unser liebes altes Vaterland.“
Er putzte sich die Nase. Sie war lang und spitz, und er trug eine Brille aus echtem Gold. Er fuhr fort:
„Seit gestern werden unser Vaterland und unsere Fahne von einer Schmach bedroht, die ärger ist, als käme sie von den Feinden des Landes!“
Er pfiff auf seiner Flöte:
„Rasch! Alle Jungens die Mütze ab, wenn Fahne und Vaterland genannt werden!“
Er hob die Stimme: „Das alte Ministerium unseres Königs, das zwanzig Jahre lang Volk und Thron gegen den machtgierigen Haufen geschirmt hat, hat gestern, wie ich höre, seine Demission eingereicht.“ Er erklärte: „Demission, Jungens, ist dasselbe wie Abschied.“ Er fuhr fort: „Der jahrelange, verfassungswidrige Kampf der Linken gegen das Finanzgesetz und die Befestigung unserer Hauptstadt hat das unverletzliche Recht unseres Königs bedroht, sich selbst seine Minister zu wählen.“ Er sah auf die Schullehrer, die alle Beifall nickten.
Er räusperte sich: „Über die kommende Regierung will ich nichts sagen. Weder Böses noch Gutes, aber ich mache kein Hehl daraus, Jungens: Ich fürchte das Schlimmste!
Und jetzt frage ich euch: Soll das neue Säkulum die Farbe vom roten Banner des Sozialismus und der Kommune tragen? Soll das zwanzigste Jahrhundert nicht erstehen aus dem leuchtenden Meer — sondern aus einer stinkenden Schlammpfütze?“
Er hatte sich in Feuer geredet: „Denn mit Kummer sehe ich Knaben, ja, Knaben aus meiner Schule, die auf dem Wege hierher heute durch eine Schlammpfütze gewatet sind! Aber verlasst euch darauf, ich werde sie zu finden wissen, jeden einzelnen, ihre Wasserstiefel reden eine deutliche Sprache!
Doch genug davon. Die Schuldigen werden ihrer Strafe nicht entgehen. Ich wende mich, wenn auch mit Kummer, von ihnen ab und spreche nur zu den Knaben, die keinen Schmutz hier auf den Asphalt meiner Schule gebracht haben — und deren Herzen rein sind wie ihr Pfad. Gelobet denn mit mir und meinen Mitlehrern und im Geiste eurer Eltern, die Wacht zu halten vor allen unseren alten Idealen, vor unserem Thron und der Wehr unseres Reiches!“
Er wandte sich zu den Lehrern.
„Herr Mogensen trete vor!“
Der erste Turnlehrer, Oberkanonier Mogensen, trat vor. Er hatte einen Bart wie Pulverrauch um das ganze Kinn und eine Nase, rot wie eine Tomate, die alte Marinejacke war in Zivil umgearbeitet. Er trug dünne Turnschuhe, trat aber als alter Seemann in eine Pfütze.
Herr Bonfils hob feierlich die Stimme:
„Herr Sergeant Hansen. Wollen auch Sie vortreten!“
Der zweite Turnlehrer, Hansen, trat vor, in Infanterieuniform und mit Schnurrbart, jung, rasch und elastisch.
Herr Bonfils fächelte mit der Hand. „Etwas mehr rechts, Sergeant Hansen, damit alle Knaben Sie sehen können! So! Danke!“
Er wandte sich gegen die Schule:
„Herr Oberkanonier Mogensen und Herr Sergeant Hansen sind die Repräsentanten unserer Flotte und unseres Heeres. Und ich bitte sie, im Namen unserer Streitkräfte das neunfache Hurra meiner Jungens entgegenzunehmen!“
Der Primus der Schule dippte die Flagge an dem hohen Mast, hierauf befahl Herr Bonfils: „Rechtsum!“ Die Knaben begaben sich klassenweise nach der Treppe.
Herr Bonfils stand auf dem Absatz im ersten Stock und notierte die Knaben, deren Wasserstiefel Schlammspuren trugen. Sie sollten nächsten Sonnabend um drei Uhr das spanische Rohr schmecken.
Als Ejgil vorbeikam, strich der Vorsteher dem Knaben mit freundlicher Hand durch die langen Locken.
„Ein neues Engelchen“, nickte er mild dem Religionslehrer der Schule, Pastor Krabbe, zu, der mit gutmütiger Grossvatermiene die Knaben vorbeigehen sah.
Der Knabe Petersen, der jetzt hinter Ejgil ging, fing die Bemerkung des Vorstehers auf und stach dem neuen Kameraden eine Stecknadel, die er zwischen zwei Fingern hielt, durch den Überzieher tief ins Gesäss. —
Ejgil hatte längst allein fliessend lesen gelernt, und das träge Buchstabieren der anderen Knaben selbst durch einen ganz einfachen Text wunderte ihn ziemlich. Er ahnte, dass die Schule ihn viel unnütze Zeit kosten würde. Er fühlte, dass die Dummheit der anderen etwas war, mit dem er rechnen musste. Vom ersten Tage an hasste er es, sich als zum grossen Haufen gehörig betrachten zu müssen.
In der ersten Rechenstunde wurde er von dem alten, sehr unangenehmen Lehrer geprüft, den die anderen Knaben den „Sauren Hansen“ nannten. Er war der einzige, der einen Spitznamen hatte, obwohl er seiner harten Ohrfeigen wegen gefürchtet war. Aber die Knaben merkten, dass der Saure Hansen auch unter den anderen Lehrern ein Auswurf war. Er war arm, verschlissen, hässlich und schmutzig, im Lehrerzimmer wurde er eben noch geduldet. Er rächte sich für die Verachtung der Kollegen an den Knaben, er hasste und wurde gehasst, er lebte auf Wegelagererart im Krieg mit allen, war böse und litt an Fallsucht, war unglücklich und hatte vier Kinder auf Freiplätzen in der Schule. Der älteste ging in den abgelegten Hosen des Vaters, die viele Jahre lang von diesem getragen und in der Schule bekannt waren, die jüngeren erbten die Hosen, wenn die Reihe an sie kam. Die Hosen sassen beständig auf einer Bank in der dritten Klasse, aber alljährlich unter einem anderen Gesäss.
Es war eine sehr vornehme Schule, und Herr Hansen stand, wie alle wussten, auf schwachen Füssen, behielt seine Stellung nur aus Gnade. Die anderen Lehrer waren fein, fünf oder sechs von ihnen mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet; der Geschichtslehrer, Herr Carsten, hatte zwei königliche Prinzen unterrichtet, als sie klein waren. In Ejgils Klasse befanden sich nur Knaben, deren Eltern Rang oder doch jedenfalls ihre eigene Villa hatten: ein Baron Rönnow, Stammherr eines Gutes, der täglich auf einem Pony zur Schule kam; zwei Brüder Staffeldt, Söhne eines Hofmeisters; ein Kammerherrensohn und der kleine, dicke Dankvart, der Nachkomme eines Seehelden; einer, dessen Vater Künstler, aber doch zugleich Etatsrat war. Und nur einer hiess Petersen; sein Vater war nur Fuhrmann, aber Millionär, wie Petersen selbst sagte, und besass dreissig Hochzeitskutschen mit weissen Pferden.
Der Saure Hansen trat in seinen abgetretenen Zugstiefeln ein. Wie immer kam er eine Viertelstunde zu spät. Er legte einen Zigarrenstummel, sauer wie er selber, auf die Kante des Katheders. Sofort sah er den neuen Knaben; das war ein junges Hündchen von der Sorte süsser, lockiger Englein, die der Vorsteher, Herr Bonfils, unter den anderen zu seinen Lieblingen erkor. Er musste daher schleunigst gezähmt werden.
Er rief Ejgil an die Tafel.
„Na“, sagte er und sah von dem Finger auf, mit dem er sich in der Nase gebohrt hatte: „Du sagst, du hast allein Rechnen gelernt. Nun werde ich dich prüfen, und wenn es Lüge ist, dann weisst du, was es setzt!“ Er nahm sein langes Lineal und fuchtelte damit herum.
„Rechne also diese Aufgabe!“ Er schrieb mit Kreide ein paar Zahlen, die ihm gerade einfielen, auf die Tafel: 443×243.
Ejgil dachte einen Augenblick nach und sagte schnell: „Hundertsiebentausendsechshundertneunundvierzig.“
Er schrieb schnell die Zahl auf die Tafel und legte höflich die Kreide hin.
Herr Hansen sah ihn scheel an. „So, du versuchst zu raten, statt das Fazit auszurechnen. Streck die Hand aus!“ Und klatschend fiel das Lineal.
Die ganze Klasse lachte. Das gönnten sie dem Neuen.
Herr Hansen erhob sich, jetzt fühlte er seine Macht als Lehrer. Langsam und würdevoll schrieb er die Rechenaufgabe in Kolonnen hin, multiplizierte erst mit drei, mit vier, dann mit zwei, zog einen Strich, legte zusammen und schrieb das Fazit hin.
Rasch und mit tiefer Verachtung wischte er mit dem Schwamm Ejgils Fazit aus, ehe die Klasse sah, dass es dasselbe wie seines war.
„Ja, ich will dich rechnen lehren, das kannst du glauben! Aber du willst wohl ein Rechenkünstler sein, was? Mit langen Locken! Wunderkind in Samtbluse, was? Her mit der Hand!“