Читать книгу Der verschwundene Kohinoor - Otto von Gottberg - Страница 4

Pårlamentarier

Оглавление

sucht Heirat mit sehr schönem

und, gebildetem jungen

Mädchen. Zuschriften an

„X. Y. Z. 111“ Expedition.

Wie war es möglich? Aber lachen musste Magda Mehrhofer doch! Eine volle halbe Seite füllte die Anzeige und konnte keines Lesers Auge entgehen. Also hatte auch Frau von Güssow - den komischen Schrei nach der Frau vernommen und wohl darum das Blatt heute morgen vom Frühstückstisch sofort in ihr Wohnzimmer getragen. Pflegte sie doch auch Zeitungen mit Berichten von Mord oder Liebesirrung vor ihrer Gesellschafterin zu verstecken. Das Recht dazu gab ihr der Anstellungsvertrag, in dem vor drei Jahren abgemacht war, sie dürfe und müsse Magda wie ihr eigen Kind behandeln. Darum sprach sie auch von Taschengeld statt Monatsgehalt, und ein Taschengeld schien es wirklich, da die alte Dame Magda gewissenhaft jede Ausgabe für Kleidung und Tagesbedarf ersetzte. Immerhin hätte eine Mutter das Leben eines dreiundzwanzigjährigen jungen Mädchens wohl mit weniger strenger Hand geregelt. Wem konnte es schaden, die Anzeige zu lesen?

Wahrscheinlich gingen dem Parlamentarier viele Antworten zu. Vielleicht sass er morgen oder übermorgen, am Montag, vor Körben mit Briefen gefüllt. Hunderttausende lasen doch die Anzeige. Darunter gab es gewiss manch Mädchen, das so selten wie sie mit Männern zusammenkam. Wenn Frau von Güssow Herrenbesuch empfing, musste Magda gemeinhin in ihrem Zimmer bleiben. Kamen Verwandte der Herrin zu Tisch, dann wies sie der Gesellschafterin einen Platz zwischen den Damen an.

Auch heute abend sass sie nur zum Ausgang mit der alten Dame angezogen, weil deren Bruder, Herr von Güssow-Kolzin, mittags beim Einladen gesagt hatte: „Dass du mir Perlchen — es ist wirklich deine Perle — mitbringst. Das hübsche Dingchen soll auch ein Vergnügen haben.“

Aus dem Nebenzimmer hatte sie den entrüsteten Protest der Frau von Güssow und dann des alten Herrn Lachen gehört: „Lottchen, ich lade dich wieder aus, wenn du sie nicht mitbringst. Die Vettern sollen was Schönes sehen!“

Oft nannte er sie schön. Dann zwinkerten seine immer lachenden blauen Augen unter den weissen Haaren noch jugendlich wünschend. Magda stand vom Stuhl auf und trat vor den Spiegel. Durch die Lichterkrone erhellt hing er zwischen den beiden Fenstern des Wohngemachs mit den altfränkisch schweren Möbeln.

Durfte der alte Herr von Güssow sie schön nennen? Ihr Gesicht war nicht übel und noch weniger die Gestalt, obwohl ihr verboten war, sich modisch zu kleiden. Frau von Güssow kaufte ihr gute und keineswegs wohlfeile Kleider, aber stets von einem Schnitt, der vor Jahren Brauch war. Sie meinte, ein junges Mädchen dürfe nicht auffallen. Darum lag der Rock des schwarzen Jackenkleides eng um Hüften und Glieder bis zu den Fussspitzen, während andere Damen in kurzen weiten Röcken gingen.

Magda lachte. Frau von Güssow hatte sich verrechnet. Das Kostüm fiel auf, oder richtiger, es gefiel. Wie oft ein Unbekannter auf der Strasse hatte auch Herr von Güssow es heute mit anerkennendem Blick betrachtet und dann gescherzt: „Perlchen, mit der Figur bliebe auch ich bei der alten Mode.“ Seine Schwester schien darum zu zürnen und schlug ihm gar auf den gern neckenden Mund unter noch flottem weissem Schnurrbart, als er weitersprach: „Die weiten Röcke sind übrigens ein Hindernis in der Bahn, auf der ihr um den Mann rennt. Er weiss nicht, was darunter steckt, und wartet lieber die nächste enge Mode ab. Ehe ich die Katze im Sack kaufe . . .“

Da eben hatte sich die Hand der auch schon weisshaarigen Schwester auf seinen Schnurrbart gelegt, aber des alten Herrn lustige Augen sagten mit neuem Blick auf das schwarze Kleid: Sehr schön, sehr schön, Perlchen! —

Magda sass wartend wieder im Stuhl am Tisch nieder. Schön war sie also! Jung durfte sie sich auch nennen und nicht minder gebildet als Tochter des vor fünf Jahren verstorbenen, aber noch immer gerühmten Zoologen Mehrhofer. Mehr forderte der Parlamentarier nicht. Nochmals griff sie nach der Zeitung.

Da trat Frau von Güssow ein. Ihr Blick, der jedes Stäubchen in der grossen Wohnung fand, fiel auf das fast unbedruckte Weiss der halben Zeitungsseite. Steif aufgerichtet blieb sie stehen und zürnte:

„Aber, Magda.“

Sonst sagte sie Magdelchen. Also wollte sie tadeln. Selten geschah es nicht. Ihre Gewissenhaftigkeit war eine kleinlich-peinlich die Form wahrende. Die Grenze zwischen Gut und Böse wollte sie nie um Haaresbreite überschritten wissen. Doch mit unbefangener Fröhlichkeit war ihre Strenge oft zu entwaffnen. Magda lachte:

„Ach, gnädigste Tante, das Blatt lag vor mir und muss doch auffallen!“

„Aber lesen darf es ein junges Mädchen in gutem Hause nicht. Setzen Sie sich, Magda.“

Schon holte sie Atem zu einer der Strafpredigten, denen stets Belehrung über die Pflichten eines jungen Mädchens in gutem Hause folgte. Sie liess sich Zeit zu beginnen, weil das Predigen ihr Vergnügen machte. Den Hut auf dem Kopf sass sie nach einem Blick auf die Schreibtischuhr gemächlich im Sofa nieder. Harte Strenge sprach aus den blauen Augen, die nie in des Bruders Frohsinn lachten. Gegen die schmale lange Nase, geschult, jedes Stäubchen in der Wohnung von weitem zu riechen, hob sich der Mund, dessen Winkel Aerger, Zorn oder Kummer stets nach unten zogen. Mürrisch grollten schmale Lippen, die wohl nie oder selten geküsst hatten.

„Bauen Sie keine Luftschlösser, Magda! Männer, die durch die Zeitung freien, suchen Geld, und je grösser die Anzeige, desto mehr. Mindestens wollen sie ihre Kosten wieder einbringen, und es heisst, dass die Blätter für eine Seite zwischen fünfhundert und tausend Mark nehmen. Wollen Sie das bezahlen?“

Magda konnte lachen:

„Ach nein, gnädige Tante. Ich denke nicht daran.“

„Na also,“ nickte Frau von Güssow. Weitersprechend kam sie auf die Einladung des Abends:

„Dass Sie die Anzeige lasen, zeigt, wie recht ich hatte, als ich Sie nicht mitnehmen wollte. Aber mein Bruder muss seinen Willen haben, obwohl er vom Leben nichts oder leider zu viel versteht. Trauen Sie seinen Schmeicheleien nicht! Verlass war nie auf ihn, und unpünktlich ist er schon wieder. Die Uhr zeigt zwanzig Minuten vor acht, und um halb wollte er kommen. Das freilich mag hingehen, denn bessern will und kann ich ihn nicht mehr. Sie hörten mich ihm auch heute wieder sagen: ‚’Ran kommst du bald mit deiner Gicht und dem Rotweintrinken, aber rein nie, weil du dich unterwegs vertrödelst.‘ Was oben sonst noch gegen ihn sprechen wird, geht ein junges Mädchen in gutem Hause nichts an, aber passen Sie auf, dass er Sie nicht neben einen der jüngeren Vettern setzt. Allenfalls nehmen Sie neben dem Reichstagsabgeordneten oder dem Amerikaner Güssow Platz. Das sind Vierziger, und ein junges Mädchen guten Hauses mag von solchen Süsses nicht hören. Doch da geht die Klingel.“

Die alte Dame stand auf und begrüsste den ins Zimmer tretenden Bruder. Er war nicht für Handküssen. Darum hielt sie ihm die knochig hageren Finger so dicht vor den Mund, dass er sie wohl oder übel mit dem Schnurrbart streifen musste. Seine fröhlichen blauen Augen zwinkerten Magda zu:

„Lottchen, wenn du sowas Hübsches neben dir hast, küsse ich sie gern . . . deine Finger!“

Die Spitze ihres Munddreiecks näherte sich der Nase. Die Winkel sanken. Die Stimme kam fast männlich hart und streng über die schmalen Lippen:

„Bernhard! Er lässt dich auch nicht rein, wenn du dich zum erstenmal in deinem Leben nicht vertrödeln solltest!“

Güssow-Kolzin hielt schon Magdas Hand und drückte ihre Finger. Stets tat ihm leid, dass das hübsche, nein schöne Dingchen seine Jugend bei der engherzigen Schwester vertrauern musste. Doch er mahnte zum Aufbruch. Das Automobil warte, und ein zweites sei kaum zu erwischen.

Während der Fahrt zur Leipziger Strasse unterhielt er mehr sich als die alte Dame mit Nadelstichen:

„Die anderen Verwandten habe ich erst zu Achteinviertel bestellt. Aber da ich weiss, dass du immer spät kommst, Lottchen, meldete ich mich bei dir früher an.“

Sogar durch das Dunkel im Wagen sah er der Schwester hagere, hohe Gestalt in Entrüstung beben. Sie rühmte sich mit Recht, in sechsundsechzig Lebensjahren wie keine Pflicht auch nie eine Sekunde festgesetzter Stunden versäumt zu haben. —

Als die drei im Vorraum des Restaurants Traube die Ueberkleider abgelegt hatten, führte sie der Geschäftsführer zum Tisch im Mittelraum. In einer auf drei Seiten holzumwandeten Nische war für zehn Personen gedeckt. Das eine schmale Ende des Tisches stand vor der Mauer, das andere an der offenen Seite des Zimmerchens.

„Du sitzt wohl oben mit dem Rücken gegen die Wand, Lottchen, — nicht gerade als Mauerblümchen, aber als Aelteste.“

Das „Aelteste“ betonte er und sah schmunzelnd die Spitze des Munddreiecks wieder gegen der Schwester schmale Nase steigen. Obwohl ein Jahr jünger als er, war sie zeitlebens eine unnachsichtige Hofmeisterin auch für ihn gewesen. Dafür rächte er sich gern und neckte niemand lieber als sie. Tatsächlich war sie auch älter als Frau von Lindberg geborene Güssow, die mit ihrem Mann, dem Geheimrat, kommen sollte. Zur Linken der Schwester nahm er Platz. Sie wusste, warum. Auf dem rechten Ohr stocktaub, hörte er dann nicht, wenn sie sprach. Also musste sie sich Unterhaltung sichern und entschied:

„Der Stuhl zu meiner Rechten bleibt für Lindberg frei!“

Ihre schmale knochige Hand legte sie neben sich auf das Tischtuch, als habe sie den Platz gegen Einspruch des Bruders zu verteidigen. Güssow-Kolzin schien einverstanden. Doch ein junges Gesicht wollte er neben sich sehen und winkte Magda:

„Perlchen, an meine grüne Seite!“

In der Schwester Augen funkelte der ihm seit der Knabenzeit bekannte strenge Blick:

„Magda sitzt unten.“

Der Blick war auch Perlchen nicht fremd. Verlegen, aber gehorsam setzte sie sich an des Tisches unteres Ende. Womit hatte sie neue Ungnade der alten Dame verdient? Aber mit vier Güssows auf jeder Tischseite zwischen ihr und der gnädigen Tante — so musste ein junges Mädchen in gutem Hause sagen — konnte der Abend trotzdem fröhlich werden. Alle Güssows waren lustig, und die Herren meist nach dem Kolziner geartet. Bekannte lachten schon vergnügt, obwohl stets auch achtungsvoll, wenn er in ein Zimmer trat und ihnen nach Gewohnheit die Hand bis zum Schmerzen quetschte. Jetzt nahm er die Speisenkarte und sprach mit dem Kellner. Magda sah nach rechts den Mittelgang des Raumes entlang. Drei Stufen führten aus dem Zimmer längs der Strasse hinauf. Ueber sie tauchten Besucher aus der Tiefe wie aus halber Vergessenheit auf. So kamen jetzt die lange nicht gesehenen Lindbergs. Wie alle Güssows in Berlin gingen auch sie der Aeltessen der Familie gern aus dem Weg.

Das Paar begrüsste die Geschwister und gab freundliche Worte auch der Gesellschafterin.

„Reizend sieht Magda wieder aus,“ meinte Frau von Lindberg. Sie wollte sich nicht zu ihrem Mann, sondern neben den Kolziner setzen. Doch der alte Herr hielt die Hand auf den Stuhl:

„Bleib’ drüben, Kusinchen, damit ich dir ins Gesicht sehen kann. Hier sitzt Adelheid.“

Aus dem Gesicht seiner Schwester sprach wieder Entrüstung. Adelheid, die Schwester des Jägers, war nett und neunzehnjährig. Der Geheimrat erklärte sich bereit neben seiner Frau zu sitzen und fragte den Kolziner, ob er schon Essen bestellt habe. Da kamen, begleitet vom Artilleriehauptmann von Güssow, der Jäger und Adelheid — auch Geschwister. Der Oberleutnant im grünen Rock trug den linken Arm in der Binde. Der Artillerist ging am Stock. Die älteren Verwandten erkundigten sich nach dem Ergehen der Verwundeten. Die Vettern versicherten, dass sie wieder leidlich bei Wege seien, und sassen nieder, der Artillerist bei der Kusine Adelheid, während der Jäger nach dem Stuhl neben Magda griff. Doch Frau von Güssow zürnte vom oberen Ende des Tisches:

„Joachim, du vergisst, dass der Platz neben Tante Lindberg frei ist!“

Joachim blickte verblüfft. Wer mit zerschossenem Arm aus dem Lazarett kam, hatte das Recht, sich von der Seite einer sechzigjährigen Tante zu beurlauben, um aus nächster Nähe in Perlchens goldbraune Augen zu blicken. Aber mit Tante Lotte war nicht zu rechten. Als einzige Erbtante der Familie schulmeisterte sie jeden Güssow. Er beschied sich mit dem Platz neben Frau von Lindberg. Der Kolziner lachte:

„Seh’ mir einer den Jungen an. Wenn du draussen nicht tapferer bist . . .“

Doch alle männlichen Verwandten standen von ihren Stühlen auf. An den Tisch traten zwei Vettern in mittleren Jahren, ähnlich von Gestalt wie Gesicht. Der Reichstagsabgeordnete Karl von Güssow, mit kaum ergrauendem kurzem Schnurrbart, deutete auf seinen glattrasierten Bruder Eberhard: „Hier bringe ich ihn!“

Also das war der Amerikaner! Nicht übel und ganz wie andere Güssows sah er aus, obwohl er vor zwanzig Jahren nach Amerika gegangen war, — um die Ecke, hinter der leichtlebige junge Offiziere verschwanden. Bei Kriegsausbruch hatte er sich nach Deutschland durchgeschlagen und als sechsundvierzigjähriger Leutnant einen Zug geführt, bis ihn ein Kopfschuss traf. Im dunkelblonden Haar sass noch ein kleines Pflaster, aber der Genesende konnte Dienst im Bekleidungsamt des Gardekorps tun. Als der Kolziner während kurzen Aufenthalts in Berlin davon hörte, hatte er das Zusammenkommen der Verwandten angeregt und zu Tisch geladen. Es freute ihn, dass der für die Familie verschollene Träger ihres Namens auch in der Fremde den, Ruf zu den Waffen nicht überhört hatte. Als Aeltester wollte er ihn willkommen heissen:

„’Ran mit dir, Eberhard! Schlängle dich zu mir durch und höre, wer wir sind.“

Das Schlängeln schien nicht nötig, denn die Figur Eberhards war wie die seines Bruders so schlank, dass der schwarze Morgenrock um die Hüften eines Jünglings zu liegen schien. Aus noch ungefurchtem, aber gebräuntem Gesicht blickten die blauen Augen der Güssows, mit einem befremdenden Ernst, der vielleicht von bitterem Erleben oder auch nur von Zurückhaltung sprach. Ohne zu lächeln nahm er die ihm gebotene Hand des kleineren rundlichen Kolziners mit der Frage:

„Onkel Bernhard?“

„Richtig geraten! Doch um mit der Hauptsache zu beginnen“ — des Alten Augen zwinkerten listig — „hier ist deine liebe Tante Lottchen.“

Einen Stoss von harten, knochigen Fingern fühlte der Vetter, als er die Lippen gegen die Hand der Tante beugte. Aerger über des Bruders Worte hatte ihre Gebärde überhastet. Um den Tisch gehend, begrüsste Eberhard den Geheimrat, Frau von Lindberg und Joachim, den Oberleutnant von den Jägern. Dann warf er vor Magdas Gesicht mit den bernsteinfarbenen Augen unter rotbraunem Haar in so wahrnehmbarer Ueberraschung den Kopf zurück, dass des Kolziners Lachen dröhnte:

„Um den Geschmack scheinst du drüben nicht gekommen zu sein.“

Der Amerikaner gefiel ihm. Ehe er ihm die Verwandten auf der anderen Seite des Tisches vorstellte, musste er fragen:

„Was bist du eigentlich drüben?“

„Apotheker,“ sagte Eberhard kurz, laut und vernehmlich. Wie vorher blickte unbefangener Ernst aus seinen blauen Augen, die doch sahen, dass die Verwandten ihre Köpfe plötzlich gegen die Teller neigten.

Auch den alten Kolziner überraschte die Antwort, aber sie nahm ihm nichts von der Freude am Neffen. Eberhard hatte etwas gelernt, und war es auch nur Pillendrehen. Uebrigens trug er jetzt wieder den bunten Rock. Warum kam er nicht in Uniform?

Eberhard war von Magda die rechte Seite des Tisches hinaufgegangen. Nachdem er Fritz, den Artilleristen, und Adelheid, die Schwester des Jägers, begrüsst hatte, stand er wieder vor dem Alten und hörte ihn fragen:

„Warum trägst du Zivil?“

Wieder antwortete zunächst der kühle, ernste Blick und dann die selbstbewusst ruhige Stimme:

„Wer in die Uniform gehört, soll sie anlegen, Onkel Bernhard. Wer sie nur für Zeit trägt, um seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun, hängt sie nach dem Dienst besser in den Schrank!“

Der Kolziner nickte, denn er war auch aktiv und Anno siebzig von der Partie gewesen. Fritz, der Artilleriehauptmann, legte von hinten die Hand mit leichtem Klopfen um des fremden Vetters Schulter. Eberhard spürte in der alten Heimat die erste verwandtschaftliche Geste.

Der Alte war noch nicht fertig:

„Jetzt weisst du, wie wir heissen. Dich nennen wir den Amerikaner.“

Ohne Lächeln sah Eberhard ihm in die Augen wie vorher: „Bitte nicht, Onkel Bernhard. Warum soll ich als Amerikaner gelten? Ich habe mich immer Deutscher gefühlt wie genannt und nie verstanden, warum Landsleute nach ein paar Jahren in China oder Afrika plötzlich zu ‚alten Chinesen‘ oder ‚Afrikanern‘ werden. Wer deutsch fühlt, muss das als Kränkung empfinden.“

Güssow-Kolzin fand nicht den Scherz, der ihm sonst stets über die Lippen kam. Ueberrascht verbeugte er sich sogar leicht. Ihm war, als habe er eine verdiente Belehrung empfangen, und dann schien es unbehaglich, dass er den Neffen an das untere Ende des Tisches weisen musste. Er entschuldigte sich:

„Wir sitzen, wie wir kamen. Ich als erster am Platz erfreue mich der Ehre, Tante Lottchen neben mir zu haben. Trotzdem“ — er konnte lachend wieder mit den Augen zwinkern und hob flüsternd den weissen Schnurrbart gegen des Neffen Ohr — „gönne ich dir deine Nachbarin.“

Eberhard ging um den Tisch auf seinen Platz. Dabei suchte der Blick die hellbraunen Augen der Nachbarin. Niedersitzend beugte er sich gegen sie:

„Sie sind, wie ich hörte, keine Güssow, gnädiges Fräulein. Darf ich fragen, welche Verwandtschaft uns die Freude Ihrer Gesellschaft verschafft?“

Sie lachte vergnügt. Des Zufalls Gunst schien ihr den besten Platz geschenkt zu haben. Der Reichstagsabgeordnete, ihr rechter Nachbar, verstand gut zu unterhalten und pflegte ihr den Hof zu machen. Zu ihrer Linken aber sass der ohne Zweifel interessanteste der Güssows. Nicht ernst wie vorher, sondern heiter blickte er, während sie antwortete:

„Gar keine Verwandtschaft. Ich bin nur die Gesellschafterin Ihrer Frau Tante!“

Sie hob die Augen zur alten Dame am oberen Ende des Tisches und sah den Barometer ihrer Mundwinkel fallen. Streng und vorwurfsvoll blickte Frau von Güssow zurück. Vielleicht war ihr nicht entgangen, dass sie an dem Amerikaner Gefallen fand. Er sah gut aus, schien jünger als seine Jahre und ungemein liebenswürdig. Wieder konnte er lachen, als er fragte: „Warum nur Gesellschafterin, gnädiges Fräulein? Hätte ich sagen sollen: nur Apotheker?“

„Ach nein, Herr von Güssow! Das meinte ich nicht.“ Sie war verlegen.

Der Reichstagsabgeordnete glaubte den seit zwanzig Jahren fast vergessenen Bruder rühmen und Magdas Aufmerksamkeit auf sich lenken zu müssen:

„Perlchen, eine grosse Apotheke ist nicht übel.“

Eberhards Blick war wieder ernst, fast abweisend. Der Reichstagsabgeordnete verstummte. Magda war es heute peinlich, dass er sie nach dem Brauch der Güssowschen Familie Perlchen genannt hatte. Ein Recht auf den Namen hatte überhaupt nur der alte Kolziner, der jetzt die hohle Hand an den Mund setzte und in seiner derben Art ein Signal blies, das wohl „Futtern“ heissen sollte. Zwei Kellner setzten Austernschüsseln auf den Tisch. Zur Gabel greifend rief der alte Herr launig:

„Wer wird eine Perle finden?“

Seine lustigen Augen zwinkerten von Eberhard zu Magda, die sich erröten fühlte. Vom anderen Ende des Tisches glaubte die gnädige Tante mit strenger Stimme den Scherz seiner Bedeutung entkleiden zu müssen:

„Vorkommen soll es, aber ich habe es noch nicht erlebt!“

Der Kolziner nickte:

„Glaube ich, Lottchen. Du schluckst sie schnell ’runter, damit du genug kriegst. Kauen muss die Auster, wer Perlen finden will.“

Sie drehte ihm die linke Schulter zu und das Gesicht zur Kusine Lindberg:

„Er wird immer schlimmer. Wer mit ihm ausgeht, bereut es!“

Eberhard hatte zugehört. Auch er pflegte Austern zu verschlucken oder zu trinken. Heute wollte er sie kauen. Während er die erste auf die Gabel nahm, sah er den Bruder wieder auf Fräulein Mehrhofer einsprechen. Schon früher hatte Karl als Damenmann gegolten. Kein Wunder, dass er das fröhliche Lachen des hübschen jungen Mädchens weckte. Nein, nicht hübsch, sondern wirklich schön war der Tante Gesellschafterin mit den schmalen Wangen, unter deren feiner Haut gesundes junges Blut nach aussen drängte. Ihre schlanke Figur musste fast von der Höhe der eigenen sein. —

Zwei Austern lagen noch unberührt auf seinem Teller. Eine dritte wollte er eben verschlucken. Da spürte er zwischen den Zähnen Hartes und lachte. Magda drehte ihm das Gesicht zu, denn er fragte vergnügt:

„Darf ich sie aus dem Mund holen?“

Da begriff sie, dass er eine Perle — vielleicht eine ganz grosse — gefunden hatte! Welch Glückspilz und wie interessant! Sie wendete den Kopf ab und lachte:

„Ich sehe nicht hin!“

„Hier ist sie!“ rief er und legte ein rundes weisses Kügelchen auf das Tischtuch. Schnell beugte sie sich darüber:

„Es glänzt aber nicht wie eine Perle.“

In der Tat glänzte die Kugel nicht. Eberhard nahm ein kleines Taschenmesser aus der Weste und kratzte mit der Schneide die weisse Kruste von dem Kügelchen. Die Verwandten sahen flüchtig hin, aber glaubten nicht, er habe eine Perle gefunden. Er wollte wohl mit Magda scherzen. Nur Karl, sein Bruder, reckte den Hals. Eberhard war ein Duselmeier. Natürlich gab er die Perle Magda, um sich bei dem schönen Kind einzuschmeicheln. Doch der Hauptmann klopfte dem Reichstagsabgeordneten auf die Schulter:

„Windhund“ — so hiess der Reichstagsabgeordnete nicht nur wegen seiner Schlankheit in der Familie — „gib die Gläser herauf!“

Da die Kellner schon den Fisch reichten, war es Zeit zum Einschenken. Der Artillerist hob eine Flasche aus dem Eiskübel.

„Doch kein Franzose?“ fragte M. d. R. Der Hauptmann lachte:

„Solange wir pommerschen Greno und deutschen Geldermann haben, trinken wir keine Franzosen. Ist übrigens hiesiger.“

Befriedigt glättete M. d. R. mit einem Griff in die Knöpfe das schwarze Tuch seines Gehrocks, des Rocks des Staatsmannes:

„Ich trinke ganz gern französischen, aber die Quallen wollen es nicht.“

Hauptmann Fritz lachte wieder. „Quallen“ nannte der Windhund die Wähler, denn sie hatten wohl viele Arme, aber waren doch wehrlos und stumm. Sie konnten nicht beissen. Trotzdem lebte Karl in ewiger Scheu vor ihnen und meinte jetzt, man könne nie wissen, ob nebenan eine sässe oder der Kellner klatsche.

Eberhard hatte die Perle geputzt und liess sie unter dem Zeigefinger auf dem Tischtuch rollen. Dann hob er wieder vergnügte Augen zu Magda: „Die Perle der Perle“

Eigentlich hatte auch er kein Recht auf den Namen, aber aus seinem Mund verletzte er nicht. Sie tat, als habe sie nicht alles gehört.

„Wie eine echte sieht sie nicht aus:

Sie nahm die winzige Kugel, zeigte sie dem Reichstagsabgeordneten, legte sie dann auf einen Teller und reichte ihn dem Jäger zur Linken Eberhards. Der Leutnant verstand die Aufforderung, gab die Perle schnell weiter an Frau von Lindberg und machte sich über den Fisch. Seezungen waren zum Essen, aber Perlen nur zum Ansehen. Frau von Lindberg griff zögernd nach dem Teller. Sie argwöhnte einen Scherz des fremden Vetters, denn aus Amerika kam ausser Munition nur Humbug. Darum konnte die Perle nicht echt sein. Das meinte auch der Geheimrat. Die gnädige Tante strafte Magda und Eberhard gar mit einem zürnenden Blick. Der Barometer ihres Mundes fiel. Die jungen Leute wollten sie zum besten haben.

Doch der Kolziner widersprach:

„In Amerika finden sie das Geld auf der Strasse. Das hat er gelernt und darum eine Perle erwischt. Vergleicht sie doch mit einer echten!“

Seine Augen suchten am Hals der Schwester, der Frau von Lindberg und der Nichte Adelheid. Er sah keine Perle und scherzte:

„Wenn ich euch auch auf den Kopf stelle und ausschüttle, kann ich noch keinen Juwelierladen aufmachen.“

Das ärgerte die Schwester. Ihr Schmuck war ihr Stolz. Die Familie wusste, wie viele Steine und Perlen sie besass. Darum strafte ihr Blick den Bruder:

„Du suchst vergeblich, weil es sich für Damen guten Hauses nicht schickt, während des Krieges Schmuck zu tragen. Auch heisst es, dass sie Gold brauchen. Also liess ich meinen Schmuck entfassen und das Gold verkaufen!“

Der Kolziner nickte trocken:

„Dass du es nicht verschenkt hast, weiss ich, Lottchen!“

Der Geheimrat aus dem Finanzministerium hob die Brauen des sachkundigen Bürokraten:

„Ueberaus dankenswert ist es schon, dass die verehrte Kusine das Gold ihres Schmuckes abgeliefert hat. Wenn es alle täten, wäre dem Staat geholfen. Ich habe durch Schätzung festgestellt, dass Deutschland allein an getragenen oder in Schränken liegenden Trauringen ungefähr achtzehn Millionen hat. Bei einer Mobilmachung des Goldes würden sie — zu vierzehn Karat gerechnet — etwa achthundert Millionen, also nahezu eine Milliarde münzbaren Goldes liefern. Das Metall in Uhren, Ketten, Schlipsnadeln und Frauenschmuck könnte die Summe verdreifachen.“

Frau von Güssow dankte Vetter Lindberg mit warmem Blick. Adelheid aber blickte von der Perle auf dem Teller in ihrer Hand zur Tante auf:

„Tantchen, leg’ bitte eine von deinen echten daneben, damit ich vergleichen kann!“

Das junge Mädchen wusste, dass Frau von Güssow ihren Schmuck stets bei sich trug. Auch heute lag die der Familie bekannte kleine Handtasche unter ihrer linken Hand. Sie zögerte nicht, der Nichte Wunsch zu erfüllen. Es war ihr ein Vergnügen, die Kostbarkeiten bewundert und sich beneidet zu sehen. Also nahm sie aus der Tasche und einem kleinen Lederbeutel darin eine Perle von der Grösse einer Erbse. Winzig wie ein Stecknadelknopf lag Eberhards Kügelchen daneben. Aber eine Perle sei es doch wohl, meinten jetzt die Verwandten, während der Teller nochmals um den Tisch wanderte. Erstaunte Augen richteten sich auf den Finder. Er hatte in Amerika wirklich gelernt, das Geld auf der Strasse zu finden!

Der Kusine Adelheid Gesicht flammte in Erregung, als sie ihm gratulierte. Dann bettelten ihre Kinderaugen nach rechts:

„Nun zeige auch den Kohinoor, Tantchen!“

Gleich horchten die Güssows auf und drehten ihre Köpfe zur Aeltesten. Arm an Schmuck bis auf den, der mit schwarz-weissem oder buntem Band an der Brust der Männer hing, wussten sie Tante Lotte im Besitz eines grossen Diamanten von angeblich fünfzigtausend Mark Geldeswert. Den Kohinoor nannten sie ihn.

Ein äusserst gnädiger Blick der Tante dankte Adelheid. Freudig griff sie wieder in die Handtasche und nach einem anderen Lederbeutelchen. Der Kolziner protestierte:

„Wertsachen lässt man unter Verschluss.“

Aber Frau von Güssow wollte nicht um ihr Vergnügen kommen. Der Geheimrat hielt den Stein bald zwischen den Fingern und unter die Gläser des Kneifers. Andacht weitete seine Augen:

„Kolossal!“

Frau von Lindberg wartete nicht, bis ihr Mann sich satt gesehen hatte. Diamanten waren nichts für Männer. Sie nahm ihm den oft gesehenen Stein aus der Hand und betrachtete ihn wie immer mit ungläubigem Staunen. Drüben verlor Adelheid die Geduld. Tante Lindberg musste den blinkenden Kiesel in des jungen Mädchens ausgestreckte hohle Hand legen. Adelheid rieb ihn zwischen den Fingern und reichte ihn nur zögernd dem linken Nachbar. Aus der Hand des Artilleristen wanderte der Kohinoor schnell zum Windhund und zu Magda. Damit auch die Brüder Güssow den Stein gleich sehen konnten, legte sie ihn vor sich auf das Tischtuch. Drei Köpfe beugten sich über den Stein. Da . . . erlosch das elektrische Licht . . .

Im weiten Restaurant klangen Rufe wirklichen oder geheuchelten Erschreckens. Der lauteste Schrei ging vom obersten Ende des Tisches der Güssows auf. Die gnädige Tante rief, nein, kreischte:

„Mein Kohinoor.“

Der Kolziner brummte ärgerlich. Die Vettern suchten vergeblich nach Streichhölzern in den Taschen. Endlich flammte eins jenseits des Mittelganges. Aus der Küche kamen Kellner mit Lichten. Ein trübes Flämmchen setzte einer auch auf den Tisch der Güssows, und ihre Augen suchten angstvoll den Kohinoor.

Er lag vor der lachenden Magda!

„Hätte eine schöne Bescherung geben können,“ grollte der Kolziner. Mit ihm atmeten die Verwandten auf. Ein nervöses Lachen lief um den Tisch.

Frau von Güssow überhörte den Vorwurf des Bruders. Ihr Kohinoor lag auf dem Tisch, und ein brennendes Licht stand daneben. Auch rief der Geschäftsführer in den Saal:

„Meine Herrschaften, gedulden Sie sich gütigst eine Minute, dann haben Sie wieder Licht.“

Es flammte auf, als er gesprochen hatte. „Aah“ lachte es aus allen Ecken durch den Saal. Vergnügt schmunzelte jetzt der Kolziner:

„Das erinnert mich an den berühmten Serbenwitz. Alt ist er freilich, aber vielleicht kennt ihr ihn nicht!“

„Nein, nein,“ kam die Antwort, denn der alte Herr verstand sich auf das Erzählen von Witzen. Er trank noch einmal, wischte mit dem Mundtuch über den Schnurrbart und lehnte sich behaglich im Stuhl zurück:

„In Belgrad war Diner beim österreichischen Gesandten. Die Dame des Hauses sass oben, wo hier Tante Lottchen unseren Tisch ziert, und gegenüber an Perlchens Platz der Gesandte. Zu beiden Seiten des natürlich längeren Tisches taten die geladenen Serben wohl der Gesandtschaftsküche alle Ehre an, aber sie weideten die Augen auch an der Perlenschnur um den Hals der Gastgeberin. Einer fasste sich ein Herz und fragte, ob die Baronin nicht ihre Perlen zeigen wollte. Die Baronin war bereit wie Tante Lottchen, hakte die Schnur ab und liess sie auf einem Silbertellerchen um die Tafel wandern. Von Hand zu Hand waren die Perlen bis zur Mitte einer Tischhälfte gegangen, als plötzlich . . . . das elektrische Licht erlosch. Dann flammte es wieder auf. Das Silbertellerchen stand auf dem Tisch, aber . . . ohne Perlen. Der Baronin traten Tränen in die Augen. Auch der Gesandte war erschrocken, aber hob sich vom Stuhl, trat abseits des Tisches neben die Lichtschaltung und hielt eine Rede. Er sei den Herrschaften dankbar, denn sie hätten seiner Frau eine wohlverdiente Lektion erteilt. Jetzt werde er das Licht ausschalten, darauf bis drei zählen und wieder einschalten. Ohne Zweifel würden die Perlen dann wieder auf dem Silberteller liegen.“

Schmunzelnd nahm der Kolziner einen Schluck. Er freute sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Seit er zu sprechen begann, hatte keiner der Verwandten sich gerührt bis auf Eberhard, der einmal unter den Tisch nach dem von den Knien gefallenen Mundtuch griff. Alle Güssows sassen in Erwartung des Endes der Geschichte regungslos. Ungeduldig waren ihre grossen Augen auf die seinen gerichtet. Ein Weilchen liess er noch warten und räusperte sich:

„Der Gesandte drehte das Licht ab und zählte im Dunkeln eins, zwei, drei. Dann liess er das Licht aufflammen. Alle Augen suchten die Perlen und sahen: — das Silbertellerchen war auch weg!“

„Bravo!“ riefen zwei Vettern. Kichernd neigten die Damen ihre Köpfe, die Männer warfen sie laut lachend über die Kragen zurück.

Frau von Güssow war bald wieder ernst. Es kränkte sie, dass der Bruder stets Beifall fand. Auch musste gleich die Fleischspeise kommen. Vorher wollte sie ihre Juwelen bergen und rief über den Tisch:

„Magdelchen, den Kohinoor!“

Perlchen hatte sich beim Lachen verschluckt und hustete noch in ihr Mundtuch, aber hob schnell den Kopf. Ihre Augen und die der Nachbarn suchten nach dem Stein. Der Kohinoor war — verschwunden!

Von unten flog verblüfftes Schweigen, ansteckend und die Mienen wie Gestalten erstarrend, den Tisch hinauf. Die Verstummten schienen gepackt von gleich lähmendem und eisigem Erschrecken wie Magda, die aller Augen in furchtbarer Frage auf sich gerichtet sah.

Wo war der Kohinoor?

Endlich konnte der Kolziner sprechen. Ohne die Schwester anzublicken, schalt er:

„Das hast du davon! Wertsachen lässt man unter Verschluss! Wahrscheinlich hat jemand mit Arm oder Hand den Stein vom Tisch gefegt.“

Doch gerührt hatte sich während seiner Erzählung nur ein einziger, der Amerikaner! Jetzt sass er scheinbar unbekümmert. Aus den Augen sprach wieder kühle, ernste Unbefangenheit. Perlchen aber lag mit dem Rücken an der Lehne des Stuhls. Einen Ausdruck fast irren Entsetzens trug ihr bleiches Gesicht. In den Augen schimmerten Tränen.

Des Reichstagsabgeordneten Blick forschte unter gefurchten Brauen im Gesicht des Bruders. Wieder wagte keiner der Verwandten zu sprechen oder auch nur sich zu regen, bis der Hauptmann das allgemeine Schweigen der Erstarrung brach:

„Wir müssen suchen!“

Aufspringend nahm er das Licht vom Tisch und hielt es unter die Platte. So gut es mit lahmem Bein ging, beugte er sich über den Fussboden. Joachim, der Jäger, tat ihm nach. Langsam stand der Amerikaner und flink der Reichstagsabgeordnete auf. Für endlose Minuten sah Magda die Herren suchen. Auch sie erhob sich. Vielleicht war der Stein in eine Zufallsfalte ihres Kleides gefallen. Vergeblich schüttelte sie den Rock aus. Die Herren warfen die Zipfel des Tischtuchs auf die Platte und setzten die Stühle an die Wand. Auch die älteren Güssows standen jetzt. Tante Lottchen zitterte in zorniger Empörung. Der Kolziner suchte den Tisch ab, hob jeden Teller, jedes Mundtuch oder Glas, schob Messer und Gabeln, ja die Brötchen zur Seite. Dann schüttelte er finsteren Blickes den Kopf. Der Stein war nicht zu finden.

„Tretet, bitte, auf den Läufer im Mittelgang,“ rief der Hauptmann. Als ältester aktiver Soldat schien er sich Träger der Kommandogewalt zu glauben. Allein suchte er jetzt auf dem vom elektrischen Licht hellbestrahlten, blank und glatt getäfelten Fussboden der Nische. Aergerlich wies er die Verwandten zurück, wenn sie, befangen und verlegen, wieder in die Nische treten wollten. Mochten andere Gäste starren oder lächeln und die Kellner mit dem herbeigelaufenen Geschäftsführer tuscheln! Der Hauptmann wollte gründlich suchen. Den Kopf gebeugt und die Hände auf die Knie gestemmt, ging er nochmals die Nische ab. Mit dem Licht erhellte er die haarfeine Ritze zwischen Wand und Fussboden, griff zunächst mit dem Fingernagel und dann sogar mit dem Taschenmesser hinein. Achselzuckend richtete er sich auf. Den Rücken zur Nische trat er vor die Verwandten, die auf dem den Mittelgang bedeckenden Läufer standen. Auch hier hatte er schon gesucht, aber bückte sich nochmals. Hochrot hob er dann das heisse Gesicht mit den geschwollenen Adern:

„Der Läufer hat eine Dicke von zwei Fingern. Ueber ihn hinweg in den Gang kann der Stein also nicht gerollt sein. Er liegt hier in der Nische oder . . .“ Hauptmann Fritz verstummte. Der Argwohn in seinen Augen schien hinzuzufügen: „Einer von euch hat ihn!“

Unwillkürlich schlugen die Verwandten die Augen nieder. Niemand wagte zu atmen, niemand an seinen Platz zu gehen, obwohl die Kellner mit den Bratenschüsseln warteten. Der Kolziner sah sie und hinter ihnen neugierige Gäste des Restaurants. Die Familie durfte sich nicht lächerlich machen. Für sie fragte er den Hauptmann:

„Hältst du es für möglich, den Stein durch längeres Suchen noch zu finden?“

„Ausgeschlossen, Onkel!“

Da wendete der Alte sich streng zur Schwester:

„Dann wird gegessen und später meinetwegen nochmals gesucht. Um anderer Torheit willen mag ich meinen Braten nicht kalt werden lassen.“

Vergeblich widersprach Frau von Güssow. Zorn schüttelte ihre hagere Gestalt und nahm ihr den Atem. Eine Röte wie von brennendem Fieber färbte ihr Gesicht. Ihre Augen feuchteten sich, obwohl sie sich rühmte, niemals zu weinen. Aber der Bruder wies ihre Bitten und Einwände ab, fasste sie entschlossen beim Ellbogen und führte sie an ihren Platz. Die Verwandten folgten zögernd und beugten sich schweigend über die Teller, die der Kellner füllte. Ohne aufzublicken, assen sie spärlich und stumm. Ihr Appetit war geschwunden. Wer flüchtig die Augen hob, sah noch immer gerötete Gesichter, auf denen Unbehagen, Aerger oder gar Misstrauen lag. Vergeblich ermunterte der Kolziner die Herren zum Trinken. Auch der Wein schmeckte nicht mehr. Frau von Güssow ass überhaupt nicht. Ueber die Trauer um den Verlust des Kohinoors siegte Zorn. Wut kochte hinter ihren fieberroten Wangen. Der argwöhnische Blick ihrer harten Augen haftete vorwurfsvoll an Magda, an dem Vetter aus Amerika und — seltener — an Karl. Zwischen den dreien hatte der Stein gelegen. Einer von ihnen hatte ihn genommen.

Eberhard sah ihre Blicke und fühlte, dass ihr die drei unten am Tisch als Aussenseiter in der Familie von Grundherren und Soldaten galten. Auch Bruder Karl hatte ja seinen Beruf verfehlt und sich als Referendar ausser Dienst der Politik verschrieben. Die anderen Verwandten dachten wohl ähnlich wie die Tante. Joachim der Jäger und Fritz der Artillerist, die den Aussenseitern Nächsten, sassen steif. Wenn ihre Augen forschend nach unten glitten, schienen sie über eine Kluft zu schauen.

Auch er glaubte die Kluft zu sehen. Wer hier die Schuldfrage stellte, würde sie für die Kusinen und Vettern oben verneinen. Gewiss hatte der Stein allenfalls noch in Reichnähe des Jägers und des Artilleristen gelegen. Aber gar lang hätten sie die Arme recken müssen, um ihn zu nehmen. Beide hatten sich nicht gerührt. Auch sassen sie sicher im Schutz der Uniform. Als Offiziere galten sie frei von Schuld.

Sein Blick begegnete dem tief betrübten, todtraurigen der Nachbarin. Magda schien zu denken wie er. Nicht einmal um ihr Mut zuzusprechen, wagte er das Schweigen zu brechen. Doch mit warmem Mitleid kam ihm ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch das schöne Mädchen war rein von Schuld. Allein wäre er gern mit ihr, um den Kummer aus den Augen, lichtbraun wie das Gold Ostpreussens, zu bannen. Flüchtig streiften sie ihn jetzt und logen gewiss nicht, als sie sprachen: Wir waren es nicht! Das tat gut.

Die gnädige Tante brach das Schweigen. Von Magda und den Brüdern Güssow ungehört, hob sie die Lippen flüsternd zum Ohr des Bruders:

„Schickst du nicht nach der Polizei?“

Auf der Stirn unter den weissen Haaren schwoll die Ader.

„Soll der Schutzmann mir in die Taschen fassen?“

Sie tippte mit dem knochigen Zeigefinger auf die Platte. Ihre Augen streiften das untere Ende des Tisches:

„Nein, aber anderen Leuten.“

Er ballte die Faust. Mit Gewalt zwang er sich zu leisem Sprechen:

„Sie sitzen als Gäste an meinem Tisch.“

Es flackerte in ihren Augen. Sie senkte die Stimme noch mehr:

„Du fürchtest die Polizei, weil du weisst, dass jemand den Stein in der Tasche trägt!“

Da machte er laut seinem Zorn Lust und stiess die Fingerknöchel auf den Tisch:

„Ich weiss gar nichts. Lass deinen Stein vom Wirt suchen! Wird er nicht gefunden, musst du den Verlust verschmerzen!“

„Das könnte dir gefallen!“

Aus strengen Augen an den drei unten vorbeisehend, als wären sie ihres Blickes nicht mehr würdig, fragte sie den Artilleristen:

„Fritz, wo lag mein Stein zuletzt?“

Der Hauptmann hob den Kopf kaum. Eine fast wehmütige Trauer auf seinem Gesicht schien zu beklagen, dass so Grässliches unter Güssows geschehen könne:

„Ich weiss es nicht, Tante!“

Kurz sprach er. Wozu Worte machen? Der Stein war gestohlen.

Magda aber tippte mit dem Finger auf das Tischtuch:

„Hier lag er, gnädigste Tante — zwischen uns dreien und daneben nichts als ein halbes Brötchen, das wohl dem Herrn Abgeordneten gehörte.“

Der Windhund nickte. Seine Finger spielten an der Semmel, die er jetzt hob und zeigte.

Frau von Güssow forschte weiter:

„Wer hat sich gerührt, während mein Bruder sprach?“

Es klang, als frage der Untersuchungsrichter. Entrüstung liess ihren Bruder wieder auf den Tisch trommeln. Er wollte unterbrechen. Doch die Worte waren gefallen.

Magda antwortete klar und bestimmt, obwohl mit zitternder Stimme:

„Niemand hat sich bewegt. Meine Hände lagen auf dem Tisch. Die Linke des Herrn Abgeordneten spielte mit der Gabel und die Rechte mit der Semmel. Herr von Güssow aber“ — sie sah nach Eberhard — „hielt nur die linke Hand auf dem Tisch und mit der rechten die Serviette.“

Da fiel ihr ein, dass er sich nach der Serviette erst gebückt hatte. Aber das mochte sie nicht sagen. Es sähe aus, als wollte sie ihn verdächtigen, und sein warmer Blick hatte ihr gut getan.

Das Lindbergsche Paar flüsterte und stand bald auf. Des Geheimrats Gesicht schien beim Verabschieden zu sagen, mit einem Dieb wolle er nicht am Tisch sitzen. Dann gab der Artillerist vor, eine Verabredung zu haben. Der Jäger und seine Schwester schlossen sich an. Eberhard spürte, dass sie ihm die Hände nur flüchtig, fast widerwillig reichten. Freude aber machte es ihm doch, dass alle Vettern Magda freundlich in die Augen sahen, als wollten sie sagen, sie sei frei von Schuld. Ein hübsches Mädchengesicht galt auch dem strengsten Richter als Freibrief.

Der Kolziner blieb verärgert noch sitzen. Mehr als der heutige Abend war ihm verdorben. Wenn fortan die Güssows zusammenkamen, würde Misstrauen zwischen ihnen sein. Er wollte nur noch die Schwester überwachen. Sie sprach immer wieder von der Polizei. Er erlaubte ihr nur den Geschäftsführer zu beauftragen, er solle nach dem Stein suchen. Als sie dann mit Magda aufstand, folgte er nach. Auch die Brüder gingen und trennten sich auf der Strasse — — —

Der verschwundene Kohinoor

Подняться наверх