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Jesus von Nazareth
ОглавлениеWie sah er aus? Zeigt es der Abdruck eines Gesichtes auf dem Grabtuch in Turin? Es ist das Gesicht eines Mannes. Unzweifelhaft. Aber wessen Gesicht? Unbekannt. Nur in den Köpfen gläubiger Christen der Mann aus Nazareth. Fromme Mär dichtet ihre eigene Wahrheit. Zu glauben, was man nicht wissen kann. Aber vorstellen müssen wir es uns. Uns ein Bild machen von dem, was so eminent wichtig scheint. Wenn schon an jemanden glauben, dann wollen wir wissen, wie wir uns diesen jemanden vorstellen können. Abstrakta lassen uns kalt.
Als Kinder hatten wir das Bild des lieben Heilands auf Glanzbildchen und danach im Kopf. Stellten uns Jesus wie einen freundlichen Onkel vor. Der einem die Hand gibt und liebe Worte sagt. Die Künstler der Renaissance malten ihn mal so mal so. Leonardo da Vincis Jesus ein netter junger Mann. Mit seinen Freunden bei der gemeinsamen Abendmahlzeit. Michelangelo schuf einen Hero. Männlich, kraftstrotzend. Nazarener malten ihn mit entrücktem Gesicht, als sähe er Engel. Bis Emil Nolde in den Vierzigern des neunzehnten Jahrhunderts Christus mit wilden Hieben auf die Leinwand pinselte, als wüsste er noch nicht wie er auszusehen habe. Zerrissen zwischen Schwarz und Rot, Gott und Mensch, Können und Nichtkönnen. Glauben und Nichtglauben. Wie also sah er denn wirklich aus, der Mann aus Nazareth?
Für damals potentielle Auftraggeber von Künstlern war Jesus keiner, der es wert war in Stein verewigt zu werden. Oder in Bronze gegossen Jahrtausende zu überdauern. Im Gegenteil. Sie hielten ihn für einen Kriminellen, der das Volk aufwiegelte. Und kreuzigten ihn, wie wir lesen. Und von frommen Predigern anhören müssen in der tiefvioletten Fastenzeit. Kein einziges Bild seines Gesichtes gibt uns Auskunft darüber, wie er wirklich aussah. Kunst zeigt ihn ernst, zornig, verzweifelt, der Erde enthoben. Lässt uns rätseln, was hinter solchen Fassaden steckt. Göttliches vielleicht. Oder etwa nicht?
Alle Religionen dieser Welt haben ihre eigene Wahrheit. Und ihren eigenen Gott. Ob er nun vom Himmel gefallen, dem Meer, einer Höhle entstiegen oder aus der Fantasie geboren wurde. Nur die Christen haben einen Gott in drei Personen. Ansprechpartner ist dieser Jesus, Gottes Sohn. Alle Religionen dieser Welt hatten und haben Priester, die uns erzählen, wer ihr Gott ist. Wo er residiert und was er von uns erwartet. Bleiben wir bei Jesus von Nazareth.
Aus der Zeit seines Lebens auf Erden gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Erst deutlich später werden sie aufgeschrieben. Um neue Anhänger zu gewinnen. Die Namen Matthäus, Lukas, Markus und Johannes als Autoren untergeschoben. Zeitgenössische Beweise und Bilder gibt es nicht. Für Martin Luther ist der Evangelist Johannes aller Rollenmeister Gaukelsack.
Nichts gegen diese Berichte. Sie lesen sich spannend und machen nachdenklich. Einschließlich der Geheimen Offenbarungen des Johannes. Sogenannte Wunder sind geschönt, vieles übertrieben. Alles zeitgemäß. Unterstelle, die Erzähler waren selbst so begeistert von dem was sie erzählten, dass sie nicht objektiv sein konnten. Außerdem verlangt das Volk nach Worten, die die Welt erklären. Damals und heute.
Geschichtenerzähler haben immer Konjunktur. Der Orient lebt davon. Damals waren es der wunderpredigende Mann aus Nazareth und seine Apostel. Vor allem Paulus, Weltreisender in Sachen Jesus von Nazareth. Heute ist eines der bekannten Massenphänomene Michael Jackson, ein tanzender Sänger. Dessen Liedertexte für Millionen göttlicher Natur waren. „Ich glaube, was in der Bibel steht“ sagte er in einem Interview. Im Gegensatz zu Jesus kennen wir sein von der Hautkrankheit Vitiligo weißgebleichtes Gesicht. Das Rätsel dahinter aber nur in Bruchstücken.
Die Menschen konnten sich zweitausend Jahre lang nicht damit abfinden, von Jesus keine visuelle Vorstellung zu haben. Mensch aber braucht Bilder, um glauben zu können. Die Verantwortung trugen erkannten dieses menschliche Bedürfnis und suchten nach Möglichkeiten es zu befriedigen. Beauftragten Künstler, Bilder von Gott zu schaffen. Bildhauer, Maler, geniale Zeichner und Kupferstecher nutzten die Chance ihres Lebens. Religion war „In“. Bildhauerten, malten, zeichneten und stachen in Kupfer auf Teufel komm heraus. Bilder von Jesus und seinem Widersacher Luzifer. Den Heerscharen ihrer Anhänger. Die einen mit Engelsgesichtern oder Heiligenschein, die anderen mit Teufelsfratzen und flammenschlagenden Schwänzen.
Ob die Künstler nun Giotto heißen, Piero della Francesca, Raphael, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Rembrandt, Jan van Eyck, Rubens. Um die größten zu nennen. Wir können die neuere Kunstgeschichte durchblättern, jeder Jesus ist jeweils ein anderer. Sein Gesicht ähnelt dem Künstler. Ist nichts anderes als das Gesicht seiner Zeit. Gibt es also viele Jesusgesichter? Klingt interessant. Ist Jesus Gott, der alles kann und möglich macht? Ändert sein Gesicht, damit wir uns in ihm wiedererkennen? Keine schlechte Theorie.
Orthodoxe Christen verehrten im frühen Mittelalter den Abdruck seines Gesichtes auf einem Taschentuch. Ähnlich dem Schweißtuch der Veronika in der westlichen Welt. Das berühmte Abgarbild von Edessa war bis 1204 das Reichspalladion von Byzanz. Schutzbanner der Stadt.
Das Abbild von Jesus auf Ikonen gibt Laien Rätsel auf. Weil jedes Jesusgesicht aussieht wie das andere. Im Gegensatz zum Variantenreichtum der Römisch-Katholischen Kirche. Die orthodoxe Theologie deutet Hintergründe und beantwortet nicht alle Fragen, die moderne Menschen plagen. Behalten Sie Ihre Geduld, lieber Leser, wenn ich jetzt ein wenig ausführlicher werden muss. Damit Sie verstehen wie sie es damals meinten. Das Gesicht Jesu auf der Ikone ist kompliziert. Komplizierter als die immer gleiche Gestaltung vermuten lässt.
Orthodoxe Theologie hat eine sogenannte Ikonen-Theologie. Ikonen sind wie der Begriff sagt theologisch untermauert. Als gelte es, ein Prinzip zu bewahren. Die Menschwerdung Christi verlangt seine Abbildung. Damit das Abbild Jesu aber nicht unter das Verbot des Götzendienstes fällt, muss es ein echtes Portrait sein. Das Aussehen eines Mannes authentisch wiedergeben. Daraus ergab sich die bis heute unveränderte Art und Weise Gesichter Jesu darzustellen. Das Urbild eines Mannes ist gewissermaßen ein Prototyp. Verbindliche Vorlage für alle Jesus- oder Christus-Ikonen auf unbegrenzte Zeit. Dann erst, so sagt der Theologe, ist das Bild mit dem Wesen des Dargestellten und seinem Sein unlösbar verbunden. Nur dann kann die im Bild vorhandene göttliche Kraft aus ihm wirken.
Verehrung und Gebete gehen durch das Bild hinüber in die Sphäre des dargestellten Jesus. Der seinerseits durch die Ikone in die Welt hinein wirkt. Ikonen verbinden Diesseits und Jenseits. Auf der Grenze zwischen Erde und Himmel. Ikonen dürfen nicht das Produkt künstlerischer Fantasie, brillanter Darstellungstechnik sein. Die Darstellung Jesu ist Gottesdienst. Kopieren des Originals heilige Pflicht. Die Ikone ist religiöse Wirklichkeit. Römisch-Katholische Bilder bloße Symbole.
Sehen wir uns eine Ikone an. Streng der Gesamteindruck. Distanziert. Matt schimmernde Farben, glänzende Emaille, Gold. Die Augen des Mannes blicken uns nicht an. Die freie Gesichtsfläche wie ein Ei im Nest. Eingerahmt von langem Haupthaar, Oberlippen- Wangen- und langem Kinnbart. Es könnte das Antlitz eines Großfürsten sein. Wenn man nicht wüsste, es ist Christus.
In römisch katholischen Abbildungen trägt Jesu eine ähnliche Haartracht. Der Bart je nach Künstler und wechselnder Mode mal mehr, mal weniger kurz geschnitten. Das Haupthaar aber immer lang. An Fassaden der großen Kathedralen bewundern wir Majestät und männliche Schönheit der Christusfiguren. Die in Vézelay und Autun in Frankreich mit hocherhobenem Haupt. Das offene Gesicht uns zugewandt. Durch das Fernglas sehen wir einen, der ist wie er ist. Von Rätsel dahinter keine Spur. Allenfalls für Historiker, Pfaffen und neugierige Literaten.
Ullrich Zollinger, Professor für Rechtsmedizin in Luzern, untersuchte den Leichnam Jesu auf dem Gemälde von Hans Holbein dem Jüngeren von 1521. Der tote Christus im Grab. Der ausgestreckte Leib, Physiognomie, Haarwuchs und Haltung interessierten den Arzt. War es so oder nicht? Überspringe die Einzelheiten der Untersuchung. Der hinzugezogenen Beweise Dritter. Zwei Dinge passen hier hin. Jesus´ Gesicht war rundlich. Schädelfunde in derselben Gegend beweisen es. Nicht schlankoval, wie es Künstler aller Zeiten darstellten, idealisierten. Jesus muss sein Haar kurz getragen haben. Schließt der Forscher aus dem Paulusbrief an die Korinther: „Es ist eine Schande für einen Mann, langes Haar zu tragen.“ Spannende Frage: haben wir alle ein falsches Bild von Jesus, den wir Christus nennen?
Stimmt vielleicht auch nicht, dass er Gottes Sohn ist? Das Rätsel hinter der Fassade? Frage mich: müssen wir es wissen? Noch mehr darüber nachdenken als wir es ohnehin tun. Wenn es uns denn überhaupt interessiert. Denken in solchen Dimensionen hilft nicht weiter. Je mehr wir denken, desto verworrener das Ergebnis, das kein Ergebnis sein kann. Rätsel werden Rätsel bleiben. Hinter dem Schleier noch unergründlicher, unbegreifbarer Geheimnisse der Schöpfungsgeschichte.
Unsere Zeit hat andere Probleme. Sie zu lösen, ist dringlicher als immer wieder den Versuch zu unternehmen das Rätsel hinter allen Jesusgesichtern der Welt zu lösen. Lösen wir die unsrigen nicht, fallen sie uns auf den Kopf. Zerstören die Umwelt. Wir verlieren die Hoffnung auf eine schönere und endlich friedliche Welt.
Lösen wir das Rätsel hinter dem Antlitz des Jesus von Nazareth nicht, verlieren wir nichts. Weil wir nichts wissen. Erkenntnisse stellen sich ein, wenn man nicht an sie denkt. Jede neue Erkenntnis ist Nichtwissen. Glauben eine andere Sache.
Mag sein, dass Menschen glücklicher sind, die glauben. Und dabei vor ihrem inneren Auge ein Gesicht haben, das sie schweigen lässt. Das Gesicht eines, den ihr Gefühl vorgibt zu kennen. Glauben ist Fühlen. Fühlen ist alles. Vielleicht muss man den Verstand ausschalten, um dahinter zu kommen.
Schon möglich, den Jesus von Nazareth und das unlösbare Rätsel dahinter wirklich nur zu fühlen. Wie man einen geliebten Menschen fühlt? Ohne Unbekanntes zu recherchieren. Ob er nah bei einem oder weit weg ist. Beruhigt seine Stimme hört, auch wenn sie am Telefon fremd klingt. New York ist sechstausend Kilometer entfernt. Heute hilft Skype. Auf der Mattscheibe das geliebte Gesicht sehen, fern wie einen Gott. Sich freuen auf baldige Heimkehr. Es zu streicheln wieder und nicht aufhören damit. Welche Frau kann sich vorstellen, das Gesicht Jesu zu lieben wie das eines Mannes? Erschiene er ihr auf dem Bildschirm statt in der Fantasie. Blasphemie?
Damit liegt sie gar nicht so verkehrt. Judentum und Christentum sind von Männern bestimmt. Jesus einer von vielen. Und doch ein anderer, wie die Schriften sagen. Frauen saßen zu seinen Füßen. Lauschten seinen Worten, reichten ihm Brot und Wein. Wischten ihm den Schweiß von der Stirn. Höchste Eisenbahn, Frauen zuzulassen. Die in Gesichtern lesen können. Einfühlsamer als Männer. Mit Sicherheit kommen sie eher dahinter, was sich hinter den Fassaden verbirgt. Und holen es heraus. Sagen es anderen und beschreiben, was sie fühlen ist glauben. Die Rätsel mit ihrer Unbeantwortbarkeit lassen sie sein, was sie sind. Rätsel.
Das Gesicht des Jesus von Nazareth ist Religion. Und Religion Rätsel und Offenbarung. Rätsel für Wissbegierige, die unter ihrer Unsicherheit leiden. Offenbarung für alle, die glauben. Frauen nehmen es so. Männer, besonders deutsche Männer, wollen alles genau wissen. Deshalb sind sie ungemütlich. Und areligiös. Entfernen sich vom Gegenstand, wenn sie nicht dahinter kommen. Vorsichtshalber. Rätselhaftes macht sie nervös.
Sie könnten umgänglicher sein, wenn sie Rätsel Rätsel sein ließen. Statt sich mit ihnen herumzuplagen. Und mit falschen Schlüssen ihre Umwelt zu drangsalieren. Geheimnisse bleiben besser Geheimnisse. Tabus Tabus. Das Gesicht des Jesus von Nazareth einfach nehmen als das, was es ist. Gleich in welcher Kunstform. Gedruckt, in Gips gegossen, eingerahmt oder einfach geglaubt. Das Gesicht eines, dessen wahre Existenz für alle ein Rätsel bleibt.
Sie werden feststellen, es ist nicht anders als ihr eigenes. Wer weiter denkt, ahnt: Gott ist wie ich. Ohne den Menschen gäbe es keinen Gott. Dies wissen, muss auch Männer befreien, froh machen. Und demütig. Frauen sind bereits soweit. Streicheln die Wangen ihres Gottes. Und fragen nicht weiter.