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LUCCA – Männerbeine und Sankt Michael

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Lucca im Nordwesten Italiens war im frühen Mittelalter eine reiche Stadt. Hier wirkten die Weber wertvolle Stoffe. Ihre Seide war in ganz Europa berühmt wegen der unübertroffen großen Farbpalette. Samt und Brokat waren mit Goldfäden und Edelsteinen verarbeitet. Daher der hohe Preis. Königs- und Fürstenhäuser zahlten in barer Münze. Sie hatten viel davon. Und sei es nur geliehen. Bei Bankern wie Fugger zum Beispiel. Hauptsache, sie konnten angeben.

Männer ließen sich golddurchwirkte Bänder weben. Banden sie um ihre Oberschenkel, um den Frauen zu imponieren. Wer ist der Schönste im ganzen Land? Zeitgenössische Berichte beschreiben es in allen Einzelheiten. Der Leser muss wissen, damals schrieb die Herrenmode statt Beinkleider hautenge Strumpfhosen vor.

Lucca wurde berühmt und reich. Dom und die zwei wichtigsten Kirchen nahe der Stadtmauer zeigen es jedem. Der sogenannte Pisaner Stil charakterisiert alle Bauten. Also halbplastische Arkadenbögen statt glatter Fassadenflächen vorher. Oder als offene Galerien. Der schlanke Kampanile steht nebendran. Die Kathedrale San Martino strotzt mit extrem hoher Westfassade. Ebenso San Michele und San Frediano. Die Höhe ergab sich aus einer Zwangslage. Das Langhaus wurde um drei bis vier Meter erhöht, um Fläche für gemalte Bibelszenen zu gewinnen. Für Fenster, den dämmrigen Raum zu erhellen.

Ob sie mehr Raumluft für kranke Lungen im Kerzendunst wollten, darf bezweifelt werden.

Die Fassade konnte nicht anders, sie musste höher werden. Auch höher als das Langhaus. Sie war das Vorzeigeobjekt jedes Bauherrn, Fürst oder Bischof. Jeden Aufwand wert. Hier mit durchlaufend horizontalen Arkaden und Zwerggalerien. Sie bringen Ruhe und Rhythmus gleichermaßen auf die Flächen.

Außergewöhnlich und attraktiv die fünfstöckige Fassade von San Michele. Über dem geschlossen wirkenden Baukörper des untersten Geschosses vier offene Galerien. Ihre Säulen scheinen gedrechselt zu sein. In einer Formenvielfalt, die wir sonst nirgends sahen. Jede ist anders. Fantasiereicher.

Nach oben werden die Säulen immer kleiner, zierlicher. Himmelwärts über dem massiven Untergeschoss liftet sich sozusagen die Wand. Endet im schmaleren Giebel. Auf ihm thront ein riesiger Sankt Michael. Im Rücken gestützt von einem potthässlichen Eisengerüst. „So sind die Italiener. Vorne hui. Hinten pfui.“ Sagte meine Großmutter. Hier sehe ich das anders. Fassaden sind der Gipfel einer künstlerischen Entwicklung. Reine Schönheit. Auf Hinterhöfen sähe sie niemand. Nicht nur Menschen dürfen zeigen, was sie können, auch Kirchen.


Rose stimmt mir zu. Lacht: „ChouChou, ohne Dich könnte ich vieles nicht so sehen.“ „Verlass Dich auf Dein Gefühl“. Hast bisher immer richtig damit gelegen. Was sind schon Worte? Wie schrieb Goethe: „Wenn Ihr´s nicht fühlt, Ihr werdet´s nicht erjagen.“

Die reich gewordene Stadt beschloss, sich mit einem Befestigungsgürtel zu umgeben. Sicherheitshalber. Die Stadtstaaten damals überfielen sich am laufenden Band. Lucca lockte. Sein Reichtum war bald über die Grenzen hinaus bekannt. Zog Kaufleute und Künstler an. Heilige hatten sie ohnehin, mit ihnen auch Wallfahrer und zusätzliche Einkünfte. Konkurrierende Städte sowieso.

Bis dann im 14. Jahrhundert soziale Unruhen ausbrachen. Die Weber flohen und verlegten ihr Geschäft nach Venedig. Damit war die Grundlage des Reichtums weg. Das schöne Stadtbild aber ist geblieben. Bis heute. Wir durchqueren es von Südost nach Nordwest.

„Lass uns zum Antikmarkt gehen. Gleich um die Ecke.“ Rose möchte private Geschichten erleben. Wir schlendern los. Aus Porzellanvasen winken Puppen mit dem abgewinkeltem Celluloidarm, den die Fabrik ihnen mitgegeben hat. „Ich hätte gern auch den Ellenbogen meiner Billa bewegt.“ Rose schmollt wie ein kleines Mädchen. Küsse ihre unschuldige Wange. Da, zwei Messingkübel mit dickverstaubtem Adler-Ornament. Viel leicht aus einem Generalshaushalt. Und lange nicht geputzt. Wer weiß schon, ob ein Altertümchen alt ist? In Lucca ist das nicht anders als in Düsseldorf oder Freiburg.

Schnell noch ein Foto vom alten Lehnsessel für die Lucca-Story in meiner Dia-Show. Dann sind wir auf der Promenade. Flanieren über den roten Kies, schweben auf Wolke siebzehn. Die Akazien kühlen unsere Stirn mit grünem Schatten. San Martino schickt seine Glocken los, uns zum Himmel heimzuholen. In dem wir schon lange sind. Der Mesner weiß es nur nicht. Vom Gesang der Amsel lassen wir uns in die schönste Stimmung singen. Der Duft dunklen Kaffees lockt uns in die nächste Cafeteria. „Oh mia Rosa.“

Wir sind rundum glücklich. Planen den nächsten Besuch im Klosterhotel von Pistoia. Hundertzehn Kilometer östlich von Lucca. Richtung Florenz. Auf unserer Landkarte stehen noch viele Orte, die wir kennenlernen wollen. Damit wir vergleichen können. Zwischen Vergessen oder Wiederkommen. Eines Tages.

Am Ende unseres Spaziergangs in Lucca San Frediano. Nicht weil diese Kirche die sehenswerteste, also ein Höhepunkt ist. Sondern weil sie an unserem Heimweg liegt. Hier wieder die überhöhte Fassade. Es muss damals ein Bilderwahnsinn geherrscht haben. Hier schmückt die Fassade ein riesiges Mosaik der Himmelfahrt. Engel zur Seite, natürlich. Und eine große Volksmenge darunter, die jubelt. Es wird dunkel. Die Szene verschwimmt ins Ungenaue. Wir fahren ins Hotel.

Die Locanda mit dem schönen Namen Elisa empfängt uns zwar mit hell erleuchteten Fenstern. Verabschiedet sich aber zur Nacht mit einem verbrannten Abendessen. Nun ja, den Lucca-Tag verdirbt es uns nicht. Werden ihn nicht vergessen. Brokatbänder um Männerschenkel nicht. Den riesigen Michael nicht. Die Amsel im Ohr.

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