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1 2 DIE ZWICKMÜHLE DER FAMILIE LEE

Wie das auf dem Land so üblich war, schliefen alle zusammen im einzigen Raum des Hauses: Mama und Papa in einem Doppelbett, die Kinder jeweils in Einzelbetten, jedes Bett war mit einem Moskitonetz geschützt. Als dann alle bei Tagesanbruch aufwachten, schlichen sie auf Zehenspitzen herum, um Heng nicht zu wecken.

Sie wussten, dass etwas nicht stimmte, weil er normalerweise als Erster aufstand und sich auf den Weg machte, sogar wenn der Morgen sehr kalt war. Sie lugten durch das Moskitonetz in sein leichenblasses Gesicht und sahen besorgt aus, bis sie die Mutter hinausscheuchte.

„Din, tu uns einen Gefallen, Liebes. Mir gefällt nicht, wie dein Vater aussieht, dusch dich schnell, lauf zur Tante und finde heraus, ob sie uns schon etwas sagen kann, sei so gut. Wenn sie noch nicht fertig ist, weil es so früh ist, dann bitte sie, sich für ihren Lieblingsneffen besonders zu bemühen bevor es zu spät ist.“

Din fing an zu weinen und rannte zur Dusche. „Tut mir leid, Liebes, ich wollte dich nicht erschrecken!“, rief Wan hinter ihrer Tochter her.

Als Din eine Viertelstunde später bei ihrer Großtante eintraf, war die alte Schamanin bereits wach und angekleidet, saß auf dem großen Tisch vor dem Haus und aß Reissuppe.

„Guten Morgen, Din, schön dich zu sehen, magst du eine Schale Suppe? Sie schmeckt sehr fein.“ Da war in ihre Großnichten vernarrt, besonders in Din, aber als sie hörte, was diese zu sagen hatte, konnte sie nicht anders: Sie musste einfach loswerden, dass ihre Mutter eine Menge verlangte, wenn sie in so einem Fall innerhalb von 24 Stunden eine ordentliche Diagnose erwartete.

„Deine Mutter, also wirklich! Nun gut, sehen wir mal, was wir tun können … dein Paw sieht schlecht aus?“

„Ja, Tante Da, er ist leichenblass, aber wir glauben nicht, dass er schon gestorben ist … Als ich weg bin, wollte ihn Mama gerade mit einer Nadel piksen und schauen, ob er reagiert, aber ich habe nicht abgewartet was passiert. Ich will nicht, dass Paw stirbt, Tante Da, bitte rette ihn.“

„Ich werde alles tun, was ich kann, mein Kind, aber wenn Buddha ruft gibt es niemanden auf der ganzen Welt, der ‚nein‘ sagen kann. Trotzdem, schauen wir mal, was sich machen lässt. Komm mit.“

Da ging voraus zum Kultraum, zündete eine Kerze an und schloss die Tür hinter ihnen. Sie hoffte, dass Din Interesse für die ‚alten Gebräuche‘ zeigte, solange sie noch jung genug war, sie ihr beizubringen. Sie wusste, dass sie eines Tages eine Nachfolgerin brauchte, wenn der Job in der Lee-Familie bleiben sollte.

Sie deutete auf die Matte für Hilfesuchende auf dem Boden, Din setzte sich, dann wanderte Da durch die Hütte, murmelte Gebete und Beschwörungen und zündete noch mehr Kerzen an, bevor sie Din gegenüber Platz nahm, die ihre Hände auf dem Schoß mit den Handflächen nach oben anstarrte.

Da sah ihre Nichte an, fühlte wie ein leichtes Zittern ihren Körper durchlief, starrte sekundenlang auf die eigenen Handflächen und blickte wieder zu Din auf.

„Du bist gekommen, um für eine andere Person Rat einzuholen? Bitte stelle deine Frage“, sagte Dan, aber mit einer tiefen, grollenden Stimme, die außerhalb ihrer Hütte noch nie jemand vernommen hatte.

Die Verwandlung erschreckte Din. So war es jedes Mal, wenn ihre Tante in Trance versank und einem anderen Wesen erlaubte, von ihrem Körper Besitz zu ergreifen. Es war nicht so sehr die Verwandlung ihres Gesichtsausdrucks, obwohl das beängstigend genug war. Es war vielmehr die subtile Veränderung ihres ganzen Körpers, ähnlich wie ein Schauspieler oder Darsteller seine Haltung verändert, um sich der zu verkörpernden Persönlichkeit anzupassen. Es war jedoch noch mehr als das. Es war, als ob Das Inneres durch ein anderes Wesen ersetzt worden war, wodurch sie nicht nur anders aussah, sondern auch anders klang.

Din sah die alte Schamanin an, die nicht länger ihre Tante war.

„Schamanin, mein Vater ist sehr krank. Ich muss wissen, was mit ihm los ist und was wir tun können.“

„Ja, dein Vater, der auch ‚Paw‘ genannt wird.“

Die Tante klang jetzt wie ein Mann, der seine Hand auf die Bündel legte, die Heng gestern dagelassen hatte und die Augen der Tante schloss. Es entstand eine lange Pause, jedenfalls schien es Din so, und die Stille war so tief, dass sie hören konnte, wie Ameisen auf dem harten Lehmboden herumkrabbelten.

Din hatte bereits an einem Dutzend solcher Sitzungen teilgenommen, obwohl bei keiner ein so ernster Grund vorgelegen hatte. Einmal hatte sie bei einem Magenproblem und vor einigen Jahren wegen ihrer Regel um Rat gebeten und neulich hatte sie wissen wollen, ob sie bald heiraten würde. Sie hatte keine Angst vor der Sitzung selbst, sondern vor dem Ergebnis. Sie wusste aber auch, dass sie nur dasitzen, warten und beobachten konnte, denn sie fand den Vorgang zugleich faszinierend.

Die Schamanin wickelte langsam das erste Päckchen mit dem Stein aus, untersuchte es sorgfältig, roch daran und legte es in das Bananenblatt zurück, dann nahm sie das Blatt mit dem Moos und roch ebenfalls daran, bevor sie es vor sich auf die Matte legte.

Die Schamanin sah Din feierlich an und nach ein paar Minuten ergriff sie das Wort.

„Der, um den du dich sorgst, ist sehr krank. Eigentlich war er dem Tod schon sehr nahe, als er diese Proben ablieferte, aber noch ist er nicht gestorben … Einige seiner inneren Organe, insbesondere die zur Reinigung des Blutes, sind in sehr schlechtem Zustand … Das, was man die Nieren nennt, haben ihre Funktion eingestellt und ein Leberversagen ist nur noch eine Frage der Zeit. Das bedeutet, dass der Tod kurz bevorsteht. Es gibt dafür kein Heilmittel.“

Die Schamanin erschauerte aufs Neue und ihre Gestalt verwandelte sich wieder in die alte Tante Da, die jetzt ein paarmal blinzelte, sich die Augen rieb und herumrutschte, als ob sie wieder ein altes enges Kleid überstreifte.

„Das waren keine guten Neuigkeiten, mein Kind, oder? Weißt du, wenn ich besessen bin, kann ich nicht immer alles hören, aber ich habe einiges davon mitbekommen und sehe dir an, dass es um deinen Vater schlimm steht.“

„Der Geist sagte, dass Paw sicher bald sterben wird, weil es kein Heilmittel für Nieren- und Leberversagen gibt …“

„Es tut mir leid, Din, du weißt, dass ich deinen Vater sehr gern habe … Jetzt hör mir mal zu, ich habe mir über die Jahre außer der Besessenheit selber ein paar Tricks angeeignet. Sehen wir mal … ja, der Stein … siehst du, wo dein Vater draufgespuckt hat? Keine Flecken! Das bedeutet, in seinem Speichel sind weder Salz noch Mineralien, keine Vitamine, einfach nichts, nur Wasser. Jetzt zu dem Moos.“ Sie hielt es von sich weg, schnüffelte und brachte es näher an ihre Nase. „Dasselbe! Riech mal!“ Sie streckte es Din entgegen, aber Din widerstrebte es, am Urin ihres Vaters zu riechen. „Nun mach schon, es beißt nicht!“, sagte Da. Din tat, was ihr gesagt wurde.

„Nichts, nur ein moosiger Geruch.“

„Genau! Männerurin riecht wie Katzenpisse, wenn man ihn verpackt aufbewahrt, aber der von deinem Vater nicht. Das bedeutet, dass er keine Substanz enthält, die ihn schlecht werden lässt. Das heißt weiterhin, dass der Urin deines Vaters auch nur Wasser ist.

Man kann nicht lange leben, wenn das Blut aus Wasser besteht. Das leuchtet doch ein? Das Blut ist für alle wertvollen Inhaltsstoffe im Körper verantwortlich, aber dein Vater hat keines und deswegen ist er auch die ganze Zeit so schwach! Lauf jetzt nach Hause, sieh nach, ob es schon zu spät ist und wenn er immer noch am Leben ist, komm zurück und hole mich mit deinem Roller. Los, beeil dich!“

Din stürzte nach Hause davon.

Während Din nach ihrem Vater sah, machte sich Da zum Aufbruch fertig, denn in ihrem Inneren wusste sie, dass Heng noch nicht tot war, nicht ganz zumindest. Sie wählte einige Kräuter aus und legte sie in eine Tasche, spritzte sich Wasser ins Gesicht und band sich für die bevorstehende Rollerfahrt die Haare mit einem Kopftuch zusammen gegen die Zugluft. Dann ging sie nach draußen, um auf ihre Nichte zu warten.

Einige Minuten später kam Din in einer Staubwolke zurück.

„Beeil dich, Tante, Mama sagt, er liegt im Sterben, komm schnell.“

Da setzte sich im Damensitz auf den Roller, wie es sich gehörte, sie rasten los und Da versuchte, Dins langen Haaren auszuweichen, die ihr schmerzhaft in das runzlige alte Gesicht peitschten. Sobald sie angekommen waren, sprang Da herunter, denn sie war gelenkig für ihr Alter und wurde ins Haus geführt.

„Danke, dass du so schnell gekommen bist, Tante Da, er ist oben im Schlafzimmer.“

„Ja, das dachte ich mir schon, dass er im Bett liegt und nicht bei seinen geliebten Ziegen ist!“

Sie hob das Moskitonetz und setzte sich neben Hengs Kopf auf den Holzboden. Zuerst betrachtete sie seine Haut, dann seine Augen und Lippen, schließlich öffnete sie seine Augen und spähte hinein.

„Hm, aha … zeig mir seine Füße!“ Wan deckte eilig die Füße ihres Mannes auf, Da lehnte sich darüber, um sie zu drücken und genauer anzusehen.

„Hm, ich habe noch nie so einen schweren Fall von Substanzmangel im Blut gesehen wie bei ihm. Erlaubst du mir, deinen Kindern zu sagen, was sie ab jetzt tun sollen? Gut, ich komme bald wieder, bette inzwischen den Kopf deines Mannes mit ein paar Kissen etwa höher, ich schicke Din herein, damit sie dir hilft und Den soll mir draußen helfen.“

„Ja, Tante, natürlich. Alles, was du willst, um meinem lieben Heng zu helfen.“

„Gut, schauen wir, was wir tun können.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und stieg ins Erdgeschoss hinunter.

„Din, geh und hilf deiner Mutter, Den, komm mit mir, wir müssen alle schnell und gezielt handeln.“

Din reagierte sofort und Den fragte, wie er helfen könnte.

„Geh und hole mir den kräftigsten jungen Hahn, den ihr habt. Beeil dich, Junge!“

Als er mit dem Vogel unter dem Arm zurückkam, nahm ihn Da entgegen.

„Jetzt binde den stärksten Ziegenbock so eng an einen Pfahl, dass er sich keinen Zentimeter rühren kann – er kann sitzen oder stehen, das ist mir egal.“

Während Den davonrannte, hockte sich Da auf die Tischkante, schlitzte dem Junghahn die Kehle auf, ließ das Blut in eine Schüssel fließen, warf seinen leblosen Körper in den Gemüsekorb auf dem Tisch und eilte nach oben.

„Din“, sagte sie, „hast du Ziegenmilch oder irgendeine andere Milchsorte im Kühlschrank? Wenn nicht, dann nimm einen Krug und hole bitte frische Milch, Mädchen.“

Man musste ihr nicht sagen, sie solle sich beeilen, so schnell war sie weg.

„Gut, Wan, ist er wach?“

„Nicht wirklich, Tante, halbwach.“

„Gut, jetzt halte ihm die Nase zu und ich werde ihm dieses Blut einflößen.“ Sie presste mit Daumen und Mittelfinger gegen seinen geschlossenen Kiefer um ihn zu öffnen, drückte seinen Kopf nach hinten und goss ihm einige Mundvoll Hühnerblut in den Hals. Hengs spuckenden Geräuschen nach, die wie ein Benzinauto klangen, in das man Diesel gefüllt hatte, schloss Dan, dass etwa die Hälfte davon den richtigen Weg durch den Hals fand.

Heng öffnete ein wenig seine Augen.

„Was macht ihr beiden alten Hexen mit mir?“, flüsterte er. „Das war ja furchtbar!“

„Ah, das habe ich mir gedacht“, sagte Da und goss noch etwas nach. „Es ist zu reichhaltig, man muss ihn daran gewöhnen.“

Din kam zurück und sagte: „Frische, noch warme Milch von Blume, unserer besten Ziege.“

Da nahm sie, mischte sie zur Hälfte mit dem restlichen Blut und goss sie Heng wie zuvor in den Hals mit demselben Ergebnis, nur war sein Widerstand etwas stärker.

„Seht ihr!“, rief sie, „Er wird schon kräftiger! Heng versucht, sich zu wehren, er leistet Widerstand. Vielleicht ist er noch nicht ganz am Ende!

Gut! Wan, du machst weiter mit der Milch, aber lass die Hälfte vom Rest übrig. Ich bin gleich wieder da.“

Sie ging hinunter und rief nach Den.

„Ist der Ziegenbock schon bereit?“

„Ja, Tante, da drüben steht er.“

„Gut. Komm mit.“

Da ritzte mit einem rasiermesserscharfen Taschenmesser die Halsschlagader der Ziege und zapfte ein paar Milliliter Blut ab.

„Siehst du, wie ich das gemacht habe, Junge? Versuche, es dir zu merken, weil ich glaube, dass du das ab heute jeden Tag tun musst.“

Sie gingen beide nach oben und waren überrascht, als sie sahen, wie Heng mit Frau und Tochter sprach, ganz so wie ein Patient im Krankenhaus nach einer Vollnarkose – benommen, schwach und zögernd, aber verständlich.

Da mischte das Ziegenblut halb und halb mit der übrigen Milch, aber zum Versuchen gab sie ihm das Zeug zuerst unverdünnt.

„Oh, Tante, das ist widerlich! Du lieber Himmel …“

„Dann versuch das“, sagte sie und reichte ihm ein Glas mit rosa Flüssigkeit.

„Ja … das ist ganz in Ordnung … was ist das? Ich spüre schon, wie gut es mir tut.“

Heng trank es gierig.

„Es ist, äh, ein Milchshake mit Kräutern … Gut, nicht wahr?“

„Ja. Tante, sehr gut … sehr erfrischend. Hast du noch mehr davon?“

Wan sah die alte Schamanin an und diese nickte. Wan goss ein weiteres Glas voll und half ihrem Mann beim Trinken.

„Oh, ich bin so froh, Heng“, sagte Da. „Ich glaube, dass wir mit diesem Milchshake die Lösung für deinen schlimmen Zustand gefunden haben, obwohl ich sicher bin, dass wir ihn noch ein bisschen verfeinern können. Vielleicht finden wir noch andere Zutaten, um ab und zu den Geschmack zu verändern, damit er nicht langweilig wird.“

„Ja, Tante, ich habe gewusst, dass du etwas für mich tun kannst.“

„Ich tue doch alles für meine Familie, ich bin froh, dass ich helfen konnte“, antwortete sie und schenkte ihm ein aufrichtiges warmes Lächeln, was selten vorkam.

Sie mischte das restliche Blut mit der Milch und ein paar Kräutern zu etwa einem halben Liter Milchshake und meinte dann:

„Heng, ich glaube, du musst jetzt ruhen. Schau, hier ist noch mehr Milchshake für später, ich zeige deiner Familie unten, wie man ihn zubereitet, ja? Du schonst dich jetzt. Ruf, wenn du mich brauchst. Bis demnächst und gute Besserung.”

Als alle bequem auf dem großen Tisch im Garten saßen und Wan Erfrischungen mit frischem Obst und kaltem Wasser serviert hatte, übernahm Da den Vorsitz der Familienversammlung.

„Wie ich vorher schon sagte habe ich noch nie einen so extremen Fall wie diesen hier erlebt, aber scheinbar haben meine Erfahrung und die Geisterführer dafür gesorgt, die richtige Lösung zu verschreiben.

Wir haben aber bis jetzt nur benutzt, was man ein ‚Mittel für Notfälle‘ nennen könnte. Sehen wir der Sache ins Auge: Wir haben Heng Blut von Tieren gegeben, die nicht dasselbe wie wir Menschen essen, also werden ihm immer noch bestimmte lebenswichtige Zutaten fehlen.

Was wir wirklich tun müssen ist, für eine regelmäßige und dauerhafte Versorgung mit Blut von Tieren zu sorgen, die das fressen, was auch wir Menschen essen. Je ähnlicher umso besser für Heng.

Nun wissen wir alle, dass nicht jeder genau das isst, was der Körper täglich braucht. Wir können daher annehmen, dass Heng das auch nicht nötig hat. Wenn wir ihm aber nur Hühnerblut geben, dann wird ihm eine Menge fehlen und nur der Teil von ihm, der sozusagen ‚huhnähnlich‘ ist, wird gedeihen und überleben.

Dasselbe gilt, wenn er nur Ziegenblut trinkt, weil Gras für Menschen auf Dauer gesehen nicht ausreicht.“

„Also, was bedeutet das, Tante Da?“, fragte Den. „Dass wir Affenblut für ihn beschaffen müssen?“

„Nun ja, das geht in die Richtung von dem, was ich sagen will, richtig, Den, aber Affen fressen auch nicht genau dasselbe wie wir, nicht wahr?“

Sie ließ die Bedeutung des Gesagten ins Bewusstsein dringen. Din verstand als erste.

„Tante, meinst du damit, dass Papa eine regelmäßige Zufuhr von Menschenblut braucht?“

„Ja, Din, das wäre die einfachste Lösung und auf lange Sicht gesehen vielleicht die einzige. Wenn ihr keine regelmäßige Versorgung mit Menschenblut sichern könnt, müsst ihr ihm große Mengen Blut von vielen verschiedenen Tierarten geben, um die menschliche Ernährung zu ersetzen. Schweine fressen zum Beispiel sehr viele Dinge, die wir auch essen, aber sie fressen nicht viel Obst und kein Schweinefleisch.

Ich nehme an, ihr könntet nur für Heng eine paar ‚Spender-Schweine‘ halten und ihnen besonderes Futter geben, um das richtige Blut zu bekommen und es dann mit dem Blut anderer Tiere ergänzen, aber das wäre eben wieder sehr aufwändig. Ihr könntet eine Mischung aus Hühner-, Ziegen-, Schweine-, Hunde- und Katzenblut herstellen und im Kühlschrank aufbewahren, aber soweit ich weiß, hat das noch nie jemand gemacht … Das Ergebnis wäre bestenfalls unvorhersehbar.

Die Lösung liegt wirklich auf der Hand und heißt menschliches Blut. Wir haben die Proben eures Vaters vor mindestens sieben Stunden getestet und es ist ganz offensichtlich: Euer Vater hat kein Blut! Gar keines! Nicht mal einen Tropfen! Ich zeige es euch.“

Da griff in ihre Umhängetasche und nahm das in ein Bananenblatt gewickelte Moos heraus. „Das ist die Urinprobe eures Vaters. Seht her.“ Sie zündete es an. „Die Flamme zischt ein bisschen wegen der Feuchtigkeit, aber schaut mal, die Flammen sind farblos, das heißt, da sind weder Vitamine noch Salz, also nichts in seinem Blut. Er hat nur Wasser in seinen Venen, auch wenn es noch etwas rötlich ist.

Wir können ihm etwas später noch Blut absaugen und es kontrollieren, wenn ihr wollt. Wenn er richtiges Blut hätte, dann wäre das Moos jetzt ausgetrocknet und würde aussehen, als wäre es verbrannt.

Dasselbe ist mit dem Stein passiert, schaut her! Heng hat hier draufgespuckt, aber man sieht keinen Salzring, nichts, das heißt: einfach wieder nur Wasser. Euer Vater hat kein Blut in sich. Keinen Tropfen.“

„Ist das schlecht, Tante Schamanin?“, fragte Den.

„Schlecht? Ob das schlecht ist? Junge, ein Mensch kann ohne Blut nicht überleben! Ich habe dich sehr gerne, Den, aber manchmal kannst du wirklich extrem dumm sein! Nichts als Sex im Kopf, denke ich mal, so wie alle Jungs in deinem Alter! Und außerhalb des Kultraums bin ich für euch einfach ‚Tante‘. Euer Vater hat sich in einen Vampir verwandelt … hat er in letzter Zeit jemanden in der Familie gebissen?“

„Nein, Tante, aber vielleicht beißt er die Ziegen, das können wir nicht wissen“, erwiderte Den.

„Oh, das ist Ernst, wirklich äußerst Ernst. Ich habe von solchen Fällen gehört, aber noch nie einen gesehen mit meiner … meiner … äh, großen Erfahrung.“

„Irre”, sagte Den, „Papa hat sich in Pee Pob, einen Vampir, verwandelt? Wartet, bis ich das meinen Freunden erzähle! Heng – Pee Pob! Das ist der Wahnsinn!“

„Wird er bald sterben?“, fragte Din.

„Wir versuchen, ihn zu retten, Din, wir tun alles, was wir können, aber das heißt, dass ihr es niemandem erzählen dürft. Den! Hast du mich verstanden? Niemandem, absolut niemandem. Du dummer Junge! Bist du sicher, dass der Bub ein Lee ist, Wan?“ Sie warf Wan einen anklagenden Blick zu, die finster und mit so viel Verachtung zurückstarrte, wie sie einer alten Frau gegenüber aufbringen konnte, die gerade das Leben ihres sterbenden Mannes gerettet hatte.

„Also, so sieht es aus. Das sind eure Möglichkeiten. Am Ende ist es eure Entscheidung – die von allen vier – weil ja ihr es seid, die die ‚Medizin‘ beschaffen müsst, die Heng für den Rest seines Lebens braucht, denn diese Krankheit kann man nicht heilen.“

Da ließ sich schwer gegen eine der Dachstützen sinken und schloss die Augen, als ob sie ein Buch schließen und damit die Sitzung beenden würde. Die Familienmitglieder sahen zuerst sie und dann sich gegenseitig an, sie grübelten, wie man das Problem lösen könnte.

Während Tante Da scheinbar in Trance verfiel oder vielleicht sogar eingeschlafen war, debattierten die Drei, was als Nächstes zu tun wäre.

„Also”, sagte Wan, „von den hiesigen Bewohnern bekommen wir wohl nicht viel Blut. Die meisten würden einem ja nicht mal die Haut auf einem kalten Reispudding geben, geschweige denn einen halben Liter Blut und kaufen können wir es auch nicht von ihnen, das können wir uns nicht leisten.“

„Wir könnten Touristen einfangen, das Blut von denen in Flaschen absaugen und es im Kühlschrank aufbewahren …“, sagte Den.

„Hier oben gibt es eigentlich nicht viele Touristen, oder, Den?“, meinte seine Mutter und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Wir könnten eine Mischung aus dem Blut verschiedener Tiere machen und jeder von uns spendet pro Monat einen halben Liter Blut“, steuerte Din bei.

„Also, ich weiß ja nicht, wie viel Blut eine Person im Jahr spenden kann, aber zwölf Mal ein halber Liter klingt schon nach einer Menge Blut – aber eine nette Idee, Liebes. Vielleicht wären ein paar Mitglieder unserer gesamten Sippe bereit, ab und zu Blut zu spenden, euer Vater ist in der Gegend ja recht beliebt …“

„Wir könnten anbieten, all das Blut von Leuten zu kaufen, die sterben“, schlug Den vor.

„Ich glaube, mein Lieber, du musst das Blut aus dem Körper herausbekommen, bevor derjenige stirbt, ansonsten schlägt ja das Herz nicht mehr und kann es auch nicht mehr herauspumpen.“

„Könnten wir sie nicht an den Füßen aufhängen und ihnen einen Zapfhahn in den Hals stecken … oder in ihr Herz … oder beides?“

„Aber sicher, wenn also die alte Mama von jemandem im Sterben liegt und alle deswegen weinen, ist dein Vorschlag, dass wir dorthin rennen, noch bevor sie kalt ist und fragen, ob wir sie an den Füßen aufhängen und ihr Blut in einen Eimer fließen lassen dürfen, damit dein Vater es später trinken kann, richtig? Das kommt bestimmt sehr gut an, ja.“

„Wir könnten anbieten, schon vorher etwas abzusaugen …“

„Denk nicht mal an so etwas Widerliches und Dummes!“

„Was ist mit Babys … naja, eher nicht, oder?“, meinte Den und verfiel in Schweigen, da man bisher all seine Vorschläge abgewiesen hatte.

„Also, fassen wir mal zusammen: erstens, Blut von Familienmitgliedern sammeln und zweitens, eine Mischung aus Tierblut fabrizieren, wobei wir von keiner Idee wissen, ob sie funktioniert. Sonst noch was?“

„Wir könnten … nein, eher nicht”, sagte Den.

„Sag schon, spuck’s aus, dumm oder nicht“, sagte seine Mutter. „Wir sind verzweifelt und müssen jede Möglichkeit prüfen.“

„Naja, ich könnte Moslem werden … dann könnte ich vier Frauen nehmen und damit hätten wir vier Blutspender mehr … und wenn von denen, sagen wir mal, jede vier Kinder hat, dann sind das nochmal sechzehn Spender mehr und…“

„Fein, Den. Danke! Jetzt wünsche ich mir, ich hätte nicht gefragt … als nächstes schlägst du vielleicht vor, dass deine Schwester anschaffen geht und einen Liter pro Nummer verlangt!“

Din lief bei dem Gedanken puterrot an und war schockiert, dass ihre Mutter das sogar ausgesprochen hatte, aber Den nickte gedankenverloren, bis Wan ihm einen Tritt versetzte.

„Soweit ich das sehe gibt es noch zwei Probleme, die wir noch gar nicht bedacht haben“, sagte Din. „Tante Da hat gesagt, dass Papa mit unserem Plan einverstanden sein muss, weil er das Zeug trinken soll und außerdem brauchen wir etwas für morgen.“

„Vielleicht können wir morgen den Ziegenblut-Milchshake verwenden, weil dein Papa den scheinbar lieber mag als den mit Hühnergeschmack. Aber ja, du hast recht, wir müssen uns bald etwas Dauerhaftes einfallen lassen. Wir können später Tante fragen. Und was euren Vater angeht: Er wird eben das trinken, was wir ihm geben und dankbar dafür sein müssen, bis er kräftig genug ist, seine eigenen Nahrungsbedürfnisse auf die Reihe zu bekommen. Aber ich bin sicher, er wäre froh, dass ihr euch Gedanken um ihn gemacht habt.“

Während die Drei ein paar Minuten lang ihren eigenen Gedanken nachhingen, ‚erwachte‘ Da.

„Habt ihr es geschafft, neue Ideen zu entwickeln oder sollte ich besser Lösungen sagen?“

„Nein, Tante“, gab Wan zu. „Den hatte ein paar einfallsreiche Vorschläge, aber die waren nicht wirklich umsetzbar. Leider stecken wir immer noch bei denselben Ideen fest, die du vor ein paar Stunden gemacht hast.“

„Ja, ich dachte mir schon, dass du das sagst, aber mal ganz ehrlich, es gibt keine einfache Lösung für das Problem. Bei meinen Meditationen kam auch nichts heraus, aber es ist schon später Nachmittag und ich bin müde. Könnte eines von euch Kindern mich heimbringen und wir überschlafen das Ganze?“

Sie warteten mit dem Essen auf Dens Rückkehr, dann kümmerten sie sich um die Tiere, duschten einer nach dem anderen und verbrachten die letzten Augenblicke des Tages zusammen, bevor sie früh zu Bett gingen, denn sie waren alle emotional erschöpft. In Wahrheit wollte jedoch keiner von ihnen alleine zu dem Vampir nach oben gehen, also gingen sie lieber alle zusammen.

Wan wollte sich nicht einmal neben ihn legen, aber sie fühlte sich dazu verpflichtet. Also ging sie als Älteste mit einer Kerze in der Hand vorneweg und die Kinder versteckten sich zitternd hinter ihr.

Sie blieben am Ehebett stehen und starrten. Heng saß kerzengerade im Bett und seine blasse Hautfarbe zusammen mit den korallenroten Augen leuchteten in der Dunkelheit.

„Guten Abend, Familie!”, sprach er mit tiefer rauer Stimme.

Alle drei legten sich jeweils in ihr Bett, aber sie konnten die Augen nicht von Heng abwenden, der einfach nur reglos vor sich hinstarrte.

Die Unerwünschten

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