Читать книгу Die große Fälschung - P. M. - Страница 10
ОглавлениеRote Fähnchen markieren Städte, von denen wir wissen, dass sie bald ‚reif‘ sind – ein rundes Dutzend bis hinauf zur Ostsee und hinunter nach Grado an der Adria. Weiße Fähnchen bezeichnen Gegenden und Orte, aus denen wir Besucher oder Delegationen empfangen haben, also gute Kontakte. Dazu gehören Braga, Cordoba, Ramsbury, Rodez, Blois, Masowien, Kiew, Bologna usw. Gelbe und schwarze Fähnchen stehen für die Truppen unserer Feinde, je ein Fähnchen für hundert Ritter oder Fußknechte. Uns steht im Frühling wahrscheinlich ein Heer von dreitausend Rittern und fünftausend Fußsoldaten gegenüber, wobei diese Truppen heute noch weit verstreut sind und sich zuerst sammeln müssen. Da wird unsere Strategie ansetzen, denn wir werden versuchen, die kaiserliche Dampfwalze gar nicht erst entstehen zu lassen. Jetzt schon brennen hie und da Burgen besonders eifriger, kaisertreuer Ritter bis weit nach Franken und Sachsen hinein. Unsere entschiedensten Feinde sind jene Ritter, denen Adelheid Güter in Mittel- und Süditalien versprochen hat. Ich verstehe sie ganz gut: Endlich haben sie eine realistische Chance, aus dem Dreck heraus und in den Süden zu kommen. Überhaupt ist das Klima noch eine Schwachstelle unseres Aufstands. Erst wenn der Weg zum Mittelmeer frei wird, haben wir gewonnen.
Doch wir machen Fortschritte. Soeben habe ich ein weißes Birkenrindenfähnchen auf die lakonische Südspitze der Peloponnes gesteckt, denn neben mir steht eine Delegation aus der Stadt Monemvasia. Wie immer, wenn eine wichtige Delegation eintrifft, versammeln sich allerlei Leute im Rathaussaal. Sie kommen in Arbeitskleidern, aus Herbergsküchen und Schweineställen. Das Kaminfeuer und die Körper der Versammelten haben die Luft aufgewärmt und gewürzt. An den Wandhaken hängen dicke Pelze, Schaffelljacken, Wollmäntel, Kappen, Halstücher. Die meisten haben auch die Stiefel ausgezogen. Ich selbst zeige mich schon lange in meinen nun surrealistisch-konstruktivistisch gemusterten, selbstgestrickten Wollpullovern (à la Mondrian) und errege damit jedes Mal viel Aufsehen. Imitationen sind hie und da schon aufgetaucht. Wir haben die Möblierung des Saals verändert. Statt steifer Bänke haben wir nun eine bequeme Sofalandschaft, ein gemütliches H, geöffnet zur Weltkarten- oder Chemineeseite, je nach Traktanden.
Die monemvasische Gruppe besteht aus drei jungen und einem alten Mann. Es sind die drei Brüder Alexis, Ioannis und Theodoros sowie ihr Onkel Chrisostomos. Die Brüder sind zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, haben alle dichte, gestutzte schwarze Bärte, dicke Augenbrauen und dunkle Augen. Alexis ist rundlich, Ioannis hager, Theodoros bleich und schüchtern – der Intellektuelle der Gruppe. Der Onkel ist ein graumelierter, skeptischer Mittfünfziger, der wenig sagt und oft freundlich nickt. Er ist Weinhändler und hat sich auf die Reise nur widerwillig und aus Familiensolidarität eingelassen. Die vier Männer tragen unauffällige Kleider aus grauem und braunem Tuch, denn sie sind nicht darauf aus, die Aufmerksamkeit von Zöllnern, Räubern und betrügerischen Gastwirten zu erregen. Doch ihre spitzen Mützen mit den langen Ohrenklappen sind innen mit feinstem, schwarzem Zobel gefüttert. Sie sprechen alle Sprachen. Wo ein Wort Althochdeutsch fehlt, springe ich ein. Die vier verneigen sich befremdend förmlich vor der locker gruppierten Gesellschaft, die amüsiert, aber freundlich zurücknickt. Die meisten sitzen im Schneidersitz oder schräg angelehnt auf den Kissen. Alexis, der Rundliche, stellt ein bauchiges Zehnliterfässchen auf einen Tisch und fragt:
»Habt ihr Becher?«
»Immer!«, schallt es von verschiedenen Seiten. Einige junge Leute eilen zum Schrank und bringen Trinkgefäße aus Ton, Zinn und Holz. Alexis sticht das Fässchen umständlich an und verkündet mit piepsiger Stimme:
»Dies ist Monemvasierwein, Jahrgang 971, ein Süßwein erster Qualität, sonst für Fürstenhöfe reserviert. Aber da wir in dieser Gegend keine Fürsten mehr finden konnten, bitten wir euch, ihn zu kosten.«
Die Degustation wickelt sich zügig ab. Alexis füllt die Becher, die sofort zirkulieren und von ‚Ahs!‘, ‚Ohs!‘ und ekstatischen ‚Mhms!‘ begleitet werden.
»Dieses bescheidene Fässchen hat eine lange Reise hinter sich«, erzählt dann sein Bruder Theodoros. »Wir sind im Oktober in Monemvasia aufgebrochen …«
Er zeigt mit einer Gerte auf das weiße Fähnchen auf dem Leintuch.
»… mit einer gemischten Ladung von Wein, Stoffen, Glas, Gewürzen und Kosmetika. Per Schiff, auf unserem Gemischtwarenladen zu Wasser, überquerten wir das ägäische Meer und kamen nach Konstantinopel. Dort wickelten wir die ersten Geschäfte ab und nahmen weitere Waren an Bord. Wir waren eine Gesellschaft von zwanzig Händlern, dreißig privaten Leibwächtern und vierzig Sklaven. Dazu die Schiffsbesatzung. Nach Konstantinopel kamen wir zuerst zu den wilden Bulgaren, denen wir wenig Wein und Stoffe gegen viel Gold verkauften. Die Armen haben keine Ahnung von den Weltmarktpreisen. Dann ging’s durch das Gebiet der Petschenegen den Dnjepr hinauf, mit Geleitschutz von den Normannen, die dort Waräger heißen. In Kiew haben wir ein Kontor. Dort luden wir die meisten unserer Waren aus. Wir bildeten ein Joint Venture mit normannischen, litauischen und friesischen Händlern und zogen weiter nach Norden. So kamen wir bis Nowy Torg und Nowgorod und dann mit der letzten Knarr nach Wollin in Pommern. Auch dort haben wir ein Depot. In Wollin haben wir vom Tannenbaum-Aufstand gehört, allgemein als ‚diese Schweinerei in Mitteleuropa‘ bekannt. Da wir ohnehin den ganzen Winter durch in Wollin festgesessen wären, entschlossen wir uns, die beschwerliche Reise durch Schnee und Sturm zu wagen, um die neuen Wunder zu sehen …«
»Mein Neffe ist nämlich Philosoph«, erklärt der alte Chrisostomos mit einem um Entschuldigung bittenden Grinsen, »und nur beschränkt für den Handel tauglich. Er interessiert sich mehr für Sitten und Gebräuche fremder Völker als für ordentliche Gewinne.«
»Aha, die ersten Ethnologen kommen«, ruft ein Mädchen vom Bau dazwischen, »der Anfang vom Ende.«
»Oder es sind Spione«, ergänzt ein finsterer Alter.
Theodoros hebt beschwörend die Hände.
»Natürlich sind wir Händler und immer auf der Suche nach neuen Absatzmärkten. Aber diesmal kommen wir als Freunde. Wir kommen vor allem, um euch zu warnen. Was wir in Wollin und Magdeburg gehört haben, wird euch gar nicht gefallen. In Händlerkreisen werdet ihr furchtbar verleumdet. Man wirft euch Wirtschafts- und Handelsfeindlichkeit vor. Die von euch vertriebenen Kaufleute heizen die Propaganda gegen euch an …«
»Umso besser!«
»Händler sind Blutsauger, das wisst ihr selbst am besten«, sagt die schwarzgelockte Bauarbeiterin ganz ruhig.
»Das ist richtig«, antwortet Theodoros unbeeindruckt. »Wir stellen Preisunterschiede fest und leben davon, doch wir machen sie nicht. Wir reisen, riskieren unser Leben, verschieben Waren – und dafür wollen wir auch bezahlt werden. Es ist eine Tragödie, dass es keine anderen Formen des Austauschs unter Menschen gibt. Doch wie ihr wisst, wird der direkte Verkehr unter den Völkern von den Herren aller Art systematisch unterbunden. Das Symptom dieses Übels ist der Handel mit Geld. Doch darüber können wir später reden. Es ist ein Kriegsfonds der vereinigten Händler zur Finanzierung des Vernichtungsfeldzugs gegen euch eröffnet worden. Die reichsten Handelshäuser von Venedig bis Nowgorod beteiligen sich daran. Am kaiserlichen Hof ist man überglücklich. Es können jetzt den Rittern nicht nur italienische Landgüter, sondern auch hohe Prämien in Gold und Silber angeboten werden. Die kaiserliche Armee wird sozusagen zur Privatarmee der vereinigten Kaufherren. Es werden überall Söldner rekrutiert, bis hinauf nach Schweden und hinunter nach Toulouse. Der Abschaum Europas kommt aus seinen Löchern. Eure Feinde organisieren sich.«
»Und was schlagt ihr vor?«, fragt Arthur, der Schmied.
Alexis antwortet:
»Da wir auf der Seite der Republik stehen und gegen Papst und Kaiser sind, möchten wir euch helfen – soweit das in unseren bescheidenen Kräften steht. Was wir hier in Tuckstett gesehen haben, hat uns vollkommen überzeugt. Ihr seid eine wahre Republik, demokratisch, vernünftig, effizient. Auch wir haben genug von Monarchen, Tyrannen und ihren Klüngeln. Kurz und gut: Wir sind bereit, in eine planetare Baisse zu investieren.«
Gelächter, Schmunzeln, ungläubige Blicke.
»Und was könntet ihr konkret tun?«, will Alda, die Kürschnerin mit den ausgefallenen Mützenmodellen, wissen.
»Wir möchten euch bei der Beschaffung von Waffen helfen«, antwortet der magere Ioannis. »Es fehlt euch sicher inzwischen auch an Eisen.«
»So ist es«, meint Arthur.
»Als Händler können wir euch Eisen verschaffen, noch diesen Winter. Wir werden euch das Geld vorschießen.«
»Wir haben einige Tonnen in Magdeburg bereit«, erklärt Alexis. »Und noch werden wir nicht verdächtigt, auf eurer Seite zu stehen.«
»Zur Tarnung haben wir sogar in den Händlerfonds einbezahlt«, ergänzt Theodoros.
»Dann müsst ihr uns mindestens das Zehnfache geben«, wirft Alda ein.
Theodoros hebt wieder seine Hände.
»Wir setzen alle unsere liquiden Mittel für euch ein. Was braucht ihr sonst noch?«
»Salz«, sagt jemand.
Ioannis notiert es sich.
Pergament, Papier, Schmiedewerkzeuge, Öl, Kupfer, Getreide kommen noch auf die Wunschliste.
»Schön und gut«, meint schließlich eine blonde Frau mit dicken Zöpfen und Doppelkinn, »aber nun erklärt uns mal, warum ihr das wirklich für uns tun wollt. Ich glaube nämlich zufälligerweise nicht mehr an den Weihnachtsmann.«
»Ja, was ist der Haken an der Sache?«, fragt der skeptische Alte in der Ecke.
»Da hast du es, Theodoros«, seufzt Chrisostomos achselzuckend, »sie trauen uns nicht.«
Theodoros gestikuliert mit seinen schlanken Händen.
»Die Welt«, beginnt er zu leise, »ist in einem schlechten Zustand.«
»Lauter!«
»Die Welt«, setzt Theodoros mit überschlagender Stimme nochmals an, »ist in einem erschreckenden Zustand. Das Übel, das vor viertausend Jahren begonnen hat, steckt immer weitere Teile des Planeten an. Das Geschwür der Herrenklüngel ist eine entfesselte Landplage geworden. Sie terrorisieren mit ihren bewaffneten Banden ihre eigenen und benachbarte Bevölkerungen. Angst beherrscht das Leben und macht unterwürfig und abhängig. Diejenigen, die die Lebensmittel produzieren, werden ruiniert, damit die Herren weiterhin ihre Heere unterhalten können – angeblich, um sie zu schützen. So verkommt die Landwirtschaft, und bei der geringsten Dürre oder Kälte entstehen Missernten und Hungersnöte. In der Not suchen die Bauern Trost bei den Kirchen. Doch diese stecken mit den weltlichen Herren unter einer Decke, seien es nun Kaiser oder Kalifen. Die, die plagen, und die, die trösten, sind dieselben. Die, die das Jammertal beklagen, stellen es absichtlich her. Eine perverse, lähmende Situation ohne Ausweg. Sie kann nicht verbessert, nur zerschlagen werden. Was ihr hier versucht, ist schon oft versucht worden. Wir kennen es aus unserer eigenen Geschichte. Ursprünglich war Monemvasia eine Fluchtburg der peloponnesischen Bauern. Wir flohen vor Byzantinern, Normannen, Sarazenen, vor Piraten und Banditen. Der Fels vor der Küste von Lakonien war gut gewählt. Er ist nur über einen schmalen Damm zugänglich, und die Stadt ist praktisch uneinnehmbar. So überlebten wir als freie Stadtrepublik – und wurden sogar reich. Ganz ähnlich übrigens wie Venedig. Doch wir blieben isoliert, und unser Reichtum lockt die großen Herren immer wieder. Sie lassen uns nicht in Ruhe. Die Sarazenen und Normannen planen neue Belagerungen, der Vertrag mit Basilios kann jederzeit gekündigt werden. Verzweifelt versuchen wir, uns im Handelsbereich unentbehrlich zu machen. Doch eigentlich möchten wir lieber ruhig unsere Weinberge pflegen, unsere Oliven ernten, unsere Weizenfelder bestellen. Die Stadt, in die wir geflüchtet sind, ist unser vergoldeter Käfig geworden. Als Städter werden wir untergehen. Unseren Mitbürgern wird das, was ihr hier in Tuckstett macht, sofort einleuchten. Doch darf euer Experiment nicht enden wie unseres. Es darf nicht isoliert werden. Diesmal brauchen wir Kontakte in allen Ecken und Enden der Welt, auch in Arabien, bevor wir uns als Feinde auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen. Vor uns liegen weitere tausend Jahre Krieg, wenn es uns diesmal nicht gelingt. Wir sind für Auschwitz und Hiroshima verantwortlich, wenn wir es nicht schaffen.«
»Wo liegen Auschwitz und Hiroshima?«, fragt eine ältere Frau scheinheilig.
»Das sind Prophezeiungen«, antwortet Leo, »die besagen, dass Menschen millionenweise wie lästiges Ungeziefer getötet und verbrannt werden.«
Er blickt Theodoros halb strafend, halb mitwisserisch an. Die Firma scheint wirklich die Kontrolle über die erlaubten Gesprächsstoffe verloren zu haben. Namen wie Auschwitz und Hiroshima werden sie linguistisch furchtbar herrichten müssen, damit sie in tausend Jahren nicht mehr erkennbar sein werden. Es gibt allerdings Leute in der Desinformationsabteilung, die solche Knacknüsse nur zu gerne übernehmen.
»Wir haben gute Beziehungen mit Alexandria, Damaskus, Susa, Tunis, Antiochia«, erklärt der besonnene Ioannis. »Wir werden sie benützen, um Kontakte zu euch herzustellen.«
»Und wie steht’s mit den Ungarn, Russen, Warägern, Petschenegen und Bulgaren?«, fragt Lambert, der Kesselmacher.
»Auch da können wir einiges unternehmen, denn überall haben wir Kontore und Kontaktpersonen.«
»Am besten wäre es«, meint Theodoros wieder, »wenn einige von euch uns auf der Rückreise begleiteten. So könnt ihr selber mit den Leuten reden und euch in Monemvasia von unserer Aufrichtigkeit überzeugen.«
Sogleich meldet sich ein halbes Dutzend meist jüngerer Leute. Das Reisebüro Tuckstett hat soeben seine Geschäfte aufgenommen. Wenn noch mehr abreisen, ist im Frühling niemand mehr da, um die kaiserlichen Heere abzuwehren.
Die Monemvasier haben eine gute Geschichte, aber ganz glauben mag ich ihnen nicht. Sie sind Konkurrenten Venedigs. Venedig ist mit dem Kaiser verbündet – er ist sogar Pate des Sohns des Dogen. Der Kaiser wiederum hat Streit mit Byzanz, dem er Süditalien abnehmen will. Monemvasia ist mit Byzanz verbündet. Dieses kann ein Interesse daran haben, die kaiserlichen Heere in dessen eigenem Land zurückzuhalten. Otto kann nicht gut in Apulien, das noch Langobardien heißt, einfallen, wenn er mit Rebellen in Franken und Schwaben beschäftigt ist. Sind also die Malvasier Agenten von Byzanz? Die politische Großwetterlage fördert das Vertrauen in sie nicht gerade. Vielleicht versucht die Firma uns darin logisch einzuordnen: eine byzantinische Verschwörung in Mitteleuropa?
Während einige unserer Leute mit Ioannis, Alexis und Chrisostomos ihre Reisen planen, finden Unna, Hilda, Lambert und andere sich mit Theodoros am Kaminfeuer zusammen.
Wir probieren noch einmal den Monemvasier, den ich zu süß finde und der mich melancholisch stimmt. Sehr pflaumig, leicht modrig, ein Hauch von Rhabarber. Doch – unbestreitbar – ein abgerundetes Tröpfchen.
»Nun, Theo, wie siehst du die Sache wirklich?«, wende ich mich an den Mann, der uns aus dunklen Augen anblickt.
»Ja«, meint Unna, »wie schätzt du unsere Chancen ein?«
Sie trägt ein weißes Gewand mit weißem Fellkragen und darüber eine schwere Goldkette mit einem Schlangenamulett. Wie schon oft versuche ich aus ihrem Gesicht auf ihr Alter zu schließen: dreißig, vierzig, fünfzig?
»Ihr seid wahnsinnig«, erwidert Theodoros mit einem mitleidigen Lächeln.
Wir lassen diese Worte auf uns arme Psychopathen wirken. Er schaut uns nachdenklich, vorsichtig, an. Er weiß, dass man Verrückte nicht provozieren sollte, sonst rasten sie aus. Da wir nichts sagen, erklärt er uns die Sache im Einzelnen:
»Ihr seid daran, Veranstalter und Opfer eines so ungeheuerlichen Massakers zu werden, dass es nicht einmal in die Geschichte wird eingehen dürfen. Zehntausende werden abgeschlachtet werden, weil ihr in eurem Übermut der Firma einen Streich spielen wollt. Ihr seid alle auf der Entlassungsliste – das ist euch wohl klar. Ja, mehr noch, auf der Liquidationsliste. Das habe ich aus direkter Quelle vom Sicherheitsdienst. Bis jetzt ist es mir gelungen, sie hinzuhalten. Ich habe versucht, ihnen eure seltsamen Geschäftspraktiken zu erklären – mit Zitaten aus Lehrbüchern und Kursunterlagen. Zudem habt ihr unwahrscheinliches Glück gehabt. Auf Grund rätselhafter Pannen ist die Geschäftsleitung über das volle Ausmaß eurer Sabotageaktionen nicht im Bild. Auf ihren Operationskarten gibt es einige weiße Flecken. Es scheint, als ob viele Feldagenten mit euch sympathisierten. Offenbar werdet ihr von gutmütigen Idealisten, sentimentalen Abteilungsleitern, die in der Midlife-Crisis stecken …«
»Die Welt ist in der Midlife-Crisis, mein Guter«, versetzt Unna lachend, »an beiden Enden des Jahrtausends.«
»Was hat die Firma uns zu bieten?«, meint Lambert, der blonde Kesselmacher mit dem dünnen Bärtchen. »Offenbar sind sowohl Agenten wie Agierte in der Krise. Niemand glaubt den Versprechungen der Firma mehr, weder heute noch morgen. Sie hat keine attraktive Zukunft mehr zu bieten. Aber schau dich hier um. Was können tausend Jahre Entwicklung da noch verbessern?«
Theo schaut sich gehorsam um. Er sieht eifrig plaudernde Gruppen, beobachtet das laute Eintreffen einer Delegation aus Prag, eine Auseinandersetzung in einer Ecke, gerötete Gesichter, eine entfesselte Mode. Es wird eine Schale mit Hafer-Honig-Plätzchen herumgereicht. Während wir arme Irre zugreifen, fährt Theo beschwörend fort:
»Ganz bezaubernd, wirklich schön, das Leben, wie es sein soll. Eure kleine Realität wird viele anstecken und überzeugen, aber sie ist eine Illusion, nur Schein, das Flackern einer Kerze, die beim leisesten Windstoß verlöschen muss. Versteht ihr: Die Handelsherren ganz Europas und halb Asiens haben sich gegen euch verschworen. Millionen von Goldmark und Dinaren stehen gegen euch. Schafft es der Kaiser nicht, so kommt der Kalif. Auch die Ungarn sind noch nicht ganz zur Ruhe gekommen. Die Logik des Zeitalters steht gegen euch, der Prozess ist irreversibel, das akkumulierte Kapital schon zu groß. Die Widersprüche sind zu gut orchestriert, die Maschine läuft – ihr könnt sie nicht mehr aufhalten.«
Leo, der schon früh abgesprungene Mönch, gesellt sich zu uns. Sein Rossschwanz ist buschiger, und eine rötliche Narbe hat einen kriegerischen Akzent auf seine Wange gesetzt.
»Plötzwald«, erklärt er, da wir alle hingestarrt haben.
Hilda wendet sich hitzig an den pessimistischen Provokateur:
»All das wissen wir schon lange. Wir wurden, ohne es wirklich zu wollen, hineingezogen. Konrad erschlug den herzöglichen Emissär, Ulrich setzte Rodulf unter Druck, Rodulf machte mit usw. Die ganze Bewegung entstand in einem unüberlegten Augenblick, in einer unkontrollierten Tausendstelsekunde. Aber sie hat trotzdem ihre Logik.«
»Auch das Universum ist im Bruchteil einer Sekunde und ohne Ursache entstanden«, fügt Leo hinzu.
»Das weiß ich«, erwidert Theodoros ungehalten. »Doch ihr macht es euch zu einfach, bloß Opfer der Umstände sein zu wollen. Natürlich gibt es – rein theoretisch – eine minimale Chance, mit eurer Sache durchzukommen. Aber mein Szenario ist das wahrscheinlichste. Bisher habt ihr Glück gehabt, doch jetzt ist der Moment für ein vernünftiges Krisenmanagement gekommen. Ihr habt einen historischen Atommeiler an den Rand des Meltdowns getrieben. Wenn er kippt, werden Betreiber und Saboteure zusammen umkommen. Ich schlage euch ein Abkühl- und Normalisierungsszenario vor.«
»Brauchen wir das?«, entrüstet sich Unna, »sollen wir uns das anhören?«
»Nehmen wir einmal an, es sei nichts geschehen«, fährt der Malvasier stur fort, »und im Frühling schüttelt ihr und das Land Schnee, Frost und Rebellion ab. Rodulf ist wieder Ritter in seiner Burg, der Bischof kommt zurück, die Bauern bestellen ihre Äcker wie früher, alle tun, als ob nichts gewesen wäre. Dann verwandeln wir diesen denkwürdigen Winter in eine Legende und feiern ihn als Karneval. An einem bestimmten Tag wählen wir den ärmsten Schweinehirten zum Fasnachtskönig, und einen Tag lang steht die Welt kopf – zur Erinnerung. Vielleicht wird der Karneval von Tuckstett sogar weltberühmt und zu einem ausgezeichneten Geschäft. So kann das Schlamassel, in dem ihr steckt, entsorgt werden. Kein Massaker, kein Krieg, keine Endzeit. Gewöhnliches Leben, etwas enttäuschend, aber erträglich.«
»Nieder mit dem Karneval!«, ruft Leo aus.
»Du machst Witze«, antwortet Unna dem Monemvasier. »Zu viel ist schon geschehen. Herzog Lothar wurde getötet. Was, meinst du, wird seine Familie dazu sagen, wenn wir ihr vorschlagen, einfach zur Tagesordnung überzugehen?«
»Sie wird glücklich sein. Sein Sohn Bernhard wird Herzog, ein munterer Bursche von achtzehn Jahren, gut ausgebildet, sympathisch. Auch überall sonst werden Lebendige nur zu gern für die Toten nachrücken. Die Pfaffen werden sich über die Bußprozessionen freuen, die Händler über ihre schön renovierten Stadthäuser … Man wird die Bauern und die kleinen Ritter hinfort mehr respektieren, denn alle wissen natürlich, dass hinter der Legende mehr steckt. Sagen wir es so: Ihr werdet auf den Putz gehauen haben, und alle werden das verstehen. Aber nicht, wenn ihr das ganze Haus in Schutt legt. Einen Aufstand muss man im richtigen Moment beenden können, das ist die große Kunst. Jetzt ist die letzte Gelegenheit zum Ausstieg.«
»Und die kaiserlichen Truppen?« frage ich, »werden die sich in Luft auflösen?«
»Die ziehen gerne ohne unliebsame Verzögerungen nach Italien. Ja, der Hof in Aachen wird euch dankbar sein, dass ihr ihm mit eurem Aufstand indirekt zu mehr Geld und zu größerem Zuzug verholfen habt. Der kleine Otto will von euch nur hören, dass ihr zu seinem Römischen Reich gehört. Er träumt. Weckt ihn nicht auf. Enttäuschte junge Kaiser können besonders grausam werden. Man soll schlafende Löwen nicht wecken.«
Theodoros gibt sich Mühe. Er liebt das Leben, wie es ist, unvollkommen, tragisch, aber ohne allzu große Leiden. Er versucht, uns aus unserem Wahn zu befreien, appelliert an unsere Vernunft, unsere Lebenserfahrung, unser Erwachsensein. Ein richtiger Sozialdemokrat. Selbstverständlich hat er in unserem Kindergarten nicht die geringste Chance.
»Und das ist der neueste Vorschlag der Geschäftsleitung?«, erkundige ich mich.
Er zögert, legt die Fingerspitzen aufeinander.
»Nicht direkt, aber ich bin sicher, dass er gute Chancen hätte. Es wird danach kein besseres Angebot mehr geben.«
Unna schüttelt ihren edlen Kopf und sagt verärgert:
»Gut zu wissen, dass wir noch eine Wahl haben. Nur teilen wir deine Einschätzung nicht. Es gibt keinen Grund, den Aufstand gerade jetzt abzuwürgen. Er breitet sich mit jedem Tag ungebremster aus. Es wird lange keine solch gute Gelegenheit mehr geben, den Wahnsinnspfad der Firma zu verlassen. Es wäre unverzeihlich, dieses historische Fenster nicht zu nutzen. Unser Untergang ist keineswegs programmiert. Der Kaiser hat Mühe, seine Truppen zusammenzubekommen – unsere Überfälle behindern ihn überall. Der Frühling wird eine Welle von Stadtrebellionen bringen, bis weit nach Frankreich und Italien hinein. Prag wird in wenigen Tagen fallen – so vernehmen wir gerade. Die Lawine ist losgetreten; auch wenn wir wollten, könnten wir sie nicht mehr aufhalten.«
»Es ist keine Lawine. Die Leute hören auf euch, ihr habt einen großen Einfluss und könntet sie zur Vernunft bringen. Ich weiß, dass die Firma alles vorbereitet hat, um euch darin zu unterstützen. Ihr braucht nur ja zu sagen, und die Operation ‚ultima ratio‘ wird ausgelöst. Noch habt ihr Sympathisanten im Innern der Firma, die euch schützen. Doch sie werden abspringen, wenn sie sehen, dass ihr bis zum Letzten gehen wollt. Der Wunsch nach Veränderungen ist überall groß, da habt ihr Recht. Aber niemand will das Kind mit dem Bad ausschütten. Ihr kennt doch unsere Kollegen: Sie murren gerne einmal ein bisschen, spielen gerne ein paar böse Streiche und fluchen über die Chefs, aber Pensionsanspruch, Krankenkasse und ein gefülltes Bankkonto behalten doch die Oberhand. Ihr müsst auch an euch selbst denken: Ihr seid auf dem Weg, Kriminelle zu werden. Jetzt bietet man euch eine Amnestie an, wenn ihr umkehrt. Wollt ihr den Rest des Lebens in ständiger Angst verbringen? Ihr riskiert noch mehr als all jene, die nicht in der Firma sind.«
»Wer von euch ist denn nicht in der Firma?«, fragt Hilda laut.
»Per aspera ad astra!«, schallt es rund um uns herum und endet im Gelächter.
»Ein Hoch auf den Generaldirektor!« ruft einer, der schon etwas mehr Malvasier getrunken hat.
Theodoros starrt uns wütend an – doch sein Hals wird für meinen Geschmack nicht rot genug. Er gibt sich verärgert, ganz wie ein missverstandener, aber im Herzen radikaler Gewerkschaftsfunktionär, dem dumme Extremisten die Mitglieder verhetzt haben.
»Wisst ihr wirklich, was ihr tut?«, fragt er uns enttäuscht.
»Wissen wir«, versetzt Unna forsch.
»Wollt ihr bis zum Ende gehen? Seid ihr ganz sicher?«
»Ganz.«
Theodoros nickt düster. Dann hellt sich sein Gesicht plötzlich auf, und er sagt fröhlich grinsend:
»Okay, ihr habt den Test bestanden. Ich bin dabei. Und mit mir haufenweise Leute in allen Etagen der Firma. Nun aber wollen wir seriös an die Sache herangehen …«
»Was soll das heißen?«, empört sich Hilda. »Woher nimmst du das Recht, uns zu testen?«
»Das musste ich. Ich habe Dutzende von Leuten zum Mitmachen überredet und dadurch die Firmenspitze völlig desinformiert. Sie alle riskieren Kopf und Kragen. Da wollen wir doch wissen, woran wir sind. Ob wir es mit einem seriösen Aufstand oder nur mit etwas Bürgerschreck zu tun haben. Von Antiochia bis Trapezunt, von Warna bis Kiew, in Smolensk, Ladoga, Kolberg, Wollin, Hamburg, Bremen und Haithabu haben wir Leute in Filialen und Außenposten. Wir haben Vertrauensleute in Susa, an den Höfen von Kairuan, Cordoba, Kairo und Bagdad. Ich habe ein Informationsnetz aufgebaut, über das wir aus dem Kaiserhof, aus allen Fürstenhöfen und aus Rom unterrichtet werden können. Das Ganze ist durch Handelsbeziehungen getarnt. All diese Leute müssen endgültig aktiviert werden. Das werden wir nun tun. Was ich hier gesehen und gehört habe, überzeugt mich restlos. Gute Arbeit! Bravo!«
»Merci«, murmeln wir.
»Das tönt ja wie die Gründung einer neuen Firma«, sagt Leo spöttisch grinsend, »ein neuer Stern am historischen Firmament, eine Supernova.«
»Richtig«, nickt Theodoros grinsend, »die Chrisostomos Trading Company – CTC – verknüpft östliche und westliche Märkte und Diwane, sichert den Zugang zum indischen Ozean und wird demnächst die ersten Saatkartoffeln aus Mittelamerika einführen. Der Kaffee ist im Prinzip schon erfunden – zufällig fielen einige grüne Bohnen in die Glut –, und bald werdet ihr den ersten anständigen Espresso unter einem Tannenbaum genießen können.«
»Perfekte Tarnung«, lobe ich Theo.
»Na gut«, sagt Unna abgründig lächelnd, »du traust uns nun. Warum aber sollen wir dir trauen?«
Theodoros nickt und zieht eine lederne Kapsel von der Größe eines Zigarrenetuis aus den Tiefen seiner schwarzen Tunika.
»Das da ist das größte Geheimnis des byzantinischen Reichs, ein wertvolles Rezept.«
Er holt ein Pergamentröllchen aus dem Behälter, entrollt es und schwenkt es. Viele Neugierige stoßen zu unserer Gesellschaft.
»Dieses Rezept darf unter Androhung der Todesstrafe den Hof von Konstantinopel nicht verlassen. Unter höchster Gefahr für Leib und Leben haben wir es für euch ergattern können.«
»Nun sag’s schon!«, ruft eine rothaarige junge Frau.
»Es geht um …«
»Gefüllte Auberginen!«, unterbricht ihn Leo.
»Das griechische Feuer. Die Geheimwaffe der byzantinischen Flotte, die bisher die arabische Eroberung verhindert hat. Es ist eine schreckliche Brandwaffe, ein Flammenwerfer, die Atombombe des zehnten Jahrhunderts. Wenn ihr sie habt, haben die kaiserlichen und andere Heere keine Chance mehr gegen euch. Das ist der Beweis unseres Vertrauens.«
Der Zettel wird skeptisch von Schmieden, Zimmerleuten, Köchinnen studiert und herumgereicht.
»Könnte funktionieren«, meint Arthur schließlich.
»Und habt ihr auch die Zutaten?«, fragt Leo.
»Alles da, in den Fässern unten im Hof«, erklärt Theodoros stolz.
»Die Konstruktionen schaffen wir in einigen Wochen«, meinen die Handwerker.
»Vielleicht sollten wir eine Kopie des Rezepts anfertigen«, flechte ich ein.
Doch mein Vorschlag geht unter im allgemeinen Planen, Diskutieren und einem weiteren Umtrunk zu Ehren unserer neuen Verbündeten.
Ich muss weg zum Kochdienst. Als ich mir den Mantel überziehe, bekomme ich noch mit, dass Tuckstett in Haselheim umgetauft werden soll. Der alte Tukko, ein mythischer fränkischer Stammestyrann, soll nicht mehr weiter herumgeschleppt werden. Der Haselstrauch ist der erste, der im Frühling blüht. Dann muss sich auch Haselheim bewähren.
Der Weg durch Haselheims Gassen gleicht dem Gang durch eine Zauberhöhle. Eiszapfenorgeln, Schneeskulpturen, hüfthohe Schneemauern haben die Stadt architektonisch verwandelt. Vermummte Gestalten, zottige Pelzkugeln auf zwei Beinen, improvisierte Eskimos treiben sich herum, tragen Kessel und Körbe, treiben Wollschweine und skandalisierte Gänse ins Verderben. Stiefelausklopfend betreten sie dampfende Herbergen, aus denen Gesprächs- und Musikfetzen dringen. Leichter bekleidete Männer und Frauen sitzen auf Gerüsten, rücken Balken zurecht, mischen Mörtel, sägen, hacken, schnitzen, klopfen und nageln. Haselheim entsteht erst – vielleicht wird es nie fertig sein. Es sind wieder Pilger eingetroffen. Aus den Unterkünften tönt es böhmisch, polnisch, magyarisch, rätoromanisch, alemannisch, friesisch, französisch. Tore und Türen sind mit Tannenzweigen eingerahmt worden. Kinderhorden flitzen herum, liefern sich Schneeballschlachten. Die letzten in der Stadt verbliebenen Reinen spielen mit. Die Kirche ist zu einer Volkskantine mit Schlafplätzen geworden. Dort wird die berühmte Haselheimer Zentralsuppe ausgegeben, nahrhaft, traditionsreich und heiß.
Ich liebe die Arbeit in der Küche. Der Aufstand hat auch neue Rezepte gebracht – meist vegetarische, aber raffinierte. Nachdem ich meinen Mantel verstaut habe, ziehe ich die Holzschuhe an und mache mich zusammen mit Günter, Helgard, Norbert und Rollo ans Werk. Zuerst grabe ich aus dem Sandbeet im Keller einen Korb voll Rüben aus und hole Kohl vom Haufen im Schuppen. Natürlich schwirren jede Menge Kinder um uns herum, die helfen, stören, fragen – also lernen. Zum Kohlschneiden konjugieren wir zum Beispiel talyo, talyis, talya, talyams, talyatz, talyan – bestes, hausgemachtes Italo-Französisch. Schon dampft der Kessel auf dem Holzherd. Unsere Küche ist groß und geht in den allgemeinen Wohnraum über. So wird die Wärme optimal genutzt, und die Köche fühlen sich nicht einsam. Weiter hinten sind Mitbewohner am Nähen, Pelzkappenmachen, Schnitzen und Teigkneten. Wostar aus Polen bemalt die neu eingezogenen Balken mit abstrakten, heidnischen Mustern. Das Problem sind die Fenster. Sie werden mit Pergament oder Ölpapier vermacht, lassen daher zu wenig Licht herein. Lässt man sie offen stehen, dringt Kälte ein. Entweder Licht oder Wärme. Doch in der Unterstadt ist ein Glasofen im Bau, und einige Leute aus Torcello (bei Venedig) werden schon in wenigen Wochen am Glasblasen sein. Dann werden wir Scheiben haben und voll durchblicken.