Читать книгу Der Weg nach Sacramento - Palmi Ranchev - Страница 5

Оглавление

Er träumt noch immer seinen Danse macabre. Ringsherum drängen sich kleine Bengel. Nur kleine Bengel. Der Zeigefinger tanzt nicht mehr, sondern dirigiert die allgemeine Lebhaftigkeit – droht, verbietet, verweigert, ruft, zeigt und drückt am Ende den Abzug einer Pistole. Einer imaginären oder echten. Wichtig sind nur seine erneut lebhaften ausdrucksvollen Bewegungen. Gesättigt von Sinn. Manchmal gar magisch. Und sie stehen nicht im Widerspruch zu den bereits aufgezählten. Die Bewegungen eines riesigen Zeigefingers, unter dessen Diktat nicht nur seine Jugendjahre standen, sondern sein ganzes Leben. Seines und das der meisten seiner Freunde.


An dieser Stelle war der Fluss ganz schmal. Mit Anlauf könnte er hinüberspringen. Er sah sich vom flachen Ufer aus die Wohnblocks ringsherum an. Sie ragten ohne Spiegelungen aus dem unbeweglichen, trüben, fast schwarzen Wasser hervor. Die Plattenbaukartons sahen unbewohnt aus, verlassen, kein Mensch war zu sehen. Wartete man still auf die nächste Verteuerung beim Brot? Das nächste große Unglück, das in viel zu kleinen Portionen kam? Nahm man es hin und wartete voller Hoffnung darauf, dass am Ende etwas Bedeutendes geschehen würde? Dann würden die Menschen die Fenster weit aufreißen, sich auf den Balkonen zeigen und schreien, schreien, schreien. Aber das Schlechte kam erneut in kleinen Portionen, jeden Tag. Mehrmals täglich. So oft, dass sie es schon nicht mehr bemerkten. Und alle schrumpften mehr und mehr. Wurden geradezu unsichtbar an einem frühen Abend wie diesem.

Auf der Seite tauchten zwei Straßenköter auf. Sie schnupperten mit erhobenen Köpfen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er ließ sie nicht aus den Augen, während er auf die Anhöhe aus aufgehäufter Schlacke stieg. Er blieb auf dem höchsten Punkt stehen, die Hände in den Hosentaschen seiner ausgeleierten Hose. Die Hunde drehten sich abrupt um und rannten in Richtung des sumpfigen Ufers. Bald verschwanden sie hinter den herumliegenden Blechdosen. Auf manchen waren stilisierte rechteckige Käsestücke mit dunklen Löchern zu erkennen. Er hätte Lust gehabt, noch lange dazustehen und sich umzusehen. Er wartete darauf, dass es dunkel genug wurde. Nur die Dunkelheit verbarg das widerwärtige Bild. Plötzlich rief jemand nach ihm. Er sah den blauen Lada vor dem gegenüberliegenden Haus. Erneut hörte er seinen Namen.

Zwei weitere Wagen – ein schlammbespritzter grüner Jeep und ein anderer Lada – hielten hinter dem blauen. Aus den Autos ergoss sich eine Schar junger Leute. Neue Bewohner der Wüste ringsherum. Sie sahen ausgesprochen lebensfroh aus. Sie ließen zwei Flaschen Wodka der Marke »Atlantik« die Runde machen. Aus dem blauen Lada stieg noch ein Mädchen. Eine schlanke Gestalt mit hoch aufragenden, spitz zulaufenden Brüsten. Sie schaukelte mit tänzelnden Schritten zu den anderen. Er erkannte in ihr Mariana, und es lief ein Schauer über seinen Körper, wie oft in letzter Zeit, wenn er an sie dachte.

Wenn sie einander trafen, tauschten sie für gewöhnlich Banalitäten aus. Einzig und allein ihr Lächeln hatte Bedeutung. Der Blick, die übertriebenen Gesten. Ihre Handgelenke waren unnatürlich zart. Verrückt, dass er für dieses Mädchen so starke Gefühle verspürte. Einmal hatte er den Mut, sie aufzuhalten und nach ihrem Namen zu fragen. Es wunderte ihn, dass sie ihm antwortete. Er sah sie an und schwieg. Mariana, wiederholte sie, und brach in Gelächter aus. So verliefen fast all ihre zufälligen Treffen. Manchmal gelang es ihm, sich ein paar Sätze abzuquälen. Aber er zog es vor, schweigend neben ihr herzugehen.

Beim letzten Treffen war er vorbereitet, gab sich angriffslustig, schlug vor auszugehen. Er habe es satt, sie zwischen den Blocks abzupassen. Er erklärte ihr, wie gern er mit ihr allein sein wollte. Aufgeregt wedelte er mit den Armen und achtete darauf, nicht wieder zu verstummen. Er begriff dann irgendwann, dass Mariana die Einladung freundlich ablehnte. Er sprach aus Trägheit weiter. Er lächelte noch immer, als sie auseinandergingen. Er hatte gesagt, was er sich zurechtgelegt hatte. Aber seither schien sie ihm aus dem Weg zu gehen. Nie traf er sie irgendwo. Einige Male am Tag ging er an ihrem Block vorbei und schaute zu den Fenstern im fünften Stock hinauf. Manchmal hatte er Lust, an ihrer Tür zu läuten, was war schon dabei? Er würde sie ja nicht fressen. Aber die Eingangstür war immer verschlossen. Die alten Frauen, die davor herumschlenderten, sahen ihn misstrauisch an. Sie öffneten die Tür nur so weit, dass sie sich hineinzwängen konnten und zogen sie sofort wieder hinter sich zu. Oft stellte er sich vor, wie sie ihn von oben beobachtete. Und sich über seine Bemühungen lustig machte.

Auf der anderen Seite des Flusses hatte Mariana jetzt einen bärtigen Typen umarmt. Sie hing geradezu an seinem Hals. Sie ließ ihn mit dem einen Arm los, griff sich die Wodkaflasche, nahm einen Schluck, den Kopf in den Nacken geworfen. Wieder blickte sie zu ihm hinüber und rief mit voller Stimme:

»He, Pavel, wie lange soll ich noch auf dich warten? Seit einem halben Jahr willst du mir die Sterne vom Himmel holen. Was ist jetzt? Komm schnell, wir fahren gleich los. Du verstehst schon. Ehe du dich versiehst, ist dein Fallschirm aufgegangen.«

Er ging ohne zu zögern zu der kleinen Holzbrücke und war erstaunt, dass der Pavel, den sie rief und dem sie Zeichen machte, er selbst war. Aber es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er versuchte, seinen Gang lässig aussehen zu lassen. Die Gruppe gegenüber geriet in Bewegung. Man verteilte sich wieder auf die Autos. Kein anderer beachtete ihn außer Mariana. Sie hatte die Flasche zwischen ihre Brüste gepresst und winkte ihm mit ihrer freien Hand zu.

»Beeil dich!«, forderte sie ihn auf, »sonst werd ich dir keinen Tropfen geben. Nur dass du’s weißt.«

Sie hielt ihm die Flasche direkt an den Mund. Damit er einen großen Schluck nahm.

»Du kommst mit uns!«, ordnete sie lachend an. »Tu nicht so unschuldig! Du lebst nicht auf dem Mars. Das Leben ist ein Karussel. Wir müssen uns mit ihm drehen.«

Der Wodka ließ ihn husten. Seit er aus dem Wehrdienst entlassen worden war, hatte er keinen Alkohol angerührt. Er sah sie hilflos an, sie ermunterte ihn, noch einen Schluck zu nehmen.

»Los, nur noch ein klitzekleiner Schluck. Du willst doch ein freier Mensch sein. Ein Schlückchen noch, und wir steigen ins Auto. Sie warten nur noch auf uns. Die Party hat längst begonnen.«

Er nahm noch einen Schluck und holte mit offenem Mund Luft. Innerlich stand er in Flammen. Sein Kopf füllte sich mit Nebel. Er folgte Mariana auf die andere Seite des Ladas. Er beugte sich hinunter, um einzusteigen, aber auf dem Rücksitz saßen schon vier. Mariana drängte sich hinein, ohne sie zu beachten. Jemand ächzte vor Schmerz auf, dann ein anderer. Am Ende setzte sie sich auf jemandes Knie, beugte sich zu ihm hinüber und reichte ihm die Hand.

»Mach schon, nur Mut, wir machen uns dünn. Es sind höchstens zwanzig Minuten. Und Čiko ist der König des Lenkrads. Er kennt einen Schleichweg. Er kennt alle Schleichwege.«

Mariana deutete mit einer übertriebenen Geste auf den schmalen Jungen am Steuer. Er war kahlrasiert. Man konnte deutlich drei Vertiefungen sehen, die der Länge nach über seinen dünnen Nacken liefen. Sie fuchtelte mit der Flasche vor ihrem Gesicht herum, überzeugte sich davon, dass noch genug drin war, und reichte sie Čiko.

»Nicht jetzt, danke!«, lehnte er ab. »Ich habe den Jungs versprochen, nicht zu trinken, wenn ich fahre. Später werde ich es nachholen. Und wie!«

Bald ermunterte sie ihn wieder, einen kleinen, einen wirklich nur klitzekleinen Schluck zu nehmen. Ihre Stimme war verführerisch. Verlockend. Aber Čiko schüttelte nur lächelnd den Kopf. Mariana trank, Pavel trank, die anderen tranken. Sie reichten die Flasche herum, lachten, zwinkerten sich zu. Mariana drehte die Flasche um, als der Wodka alle war.

»Leer!«, trällerte sie.

Im Auto begann ein allgemeines Gekichere. Sie schüttelten sich geradezu vor Lachen. Pavel hing in der Luft zwischen den Beinen von irgendeinem hinter ihm. Er bemühte sich, ihn nicht zu berühren. Die Muskeln seiner Oberschenkel waren steif vor Anstrengung. Er bereute, dass er so unüberlegt in den Wagen gestiegen war. Er wusste nicht einmal, wer der Gastgeber war. Mariana war bestimmt eingeladen. Sicher hatte man ausgerechnet, wie viele Mädchen auf einen Jungen kamen. Bei Partys herrscht immer Frauenmangel. Er wollte nicht die Rolle eines aufdringlichen Typen spielen. Im Jeep erkannte er einige bekannte Gesichter. Sie spielten oft Billard im Café. Er sagte »Hallo« zu ihnen. Mehr nicht. Aber der Alkohol und das allgemeine Geplauder machten ihn bald lockerer. Er lachte mit den anderen. Er hatte den Gesprächen im Auto entnommen, dass die meisten sich nicht kannten.

Es tauchte eine neue Flasche »Atlantik« auf, man hörte begeisterte Ausrufe. Sie prüften, ob auch wirklich Wodka drin war. Jemand öffnete den Verschluss und reichte die Flasche Mariana. Sie umschlang Pavel, bot ihm an, gleichzeitig zu trinken. Ihre vorgestreckten Lippen berührten sich. Wodka tropfte auf seine Hose.

»Wenn wir erst da sind«, rief Čiko wieder, »werde ich alles nachholen, aber wie.«

Er fuhr mit stocksteifem Rücken, beide Arme ausgestreckt. Das starre Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. Er gab Gas, ohne seine Miene zu verändern, und bog abrupt ab. Er schaltete in den zweiten Gang und überholte seitlich auf dem Gras den Jeep und den anderen Lada. Auf einer steilen Wiese endete der Weg. Dort stellte er den Wagen quer und hielt an. Die Autos hinter ihnen überholten sie, fuhren noch weiter hinauf. Sie bogen in die entgegengesetzte Richtung ab. Das Chaos beim Parken passte zur allgemeinen Stimmung. Die Türen gingen auf, alle stiegen erheitert aus. Man hörte »Auf-zur-Party«-Rufe. Sie stießen indianische Kampfschreie aus, zeigten auf das Wochenendhaus. Es war ein solides zweistöckiges Gebäude mit alpinem Dach und hölzernen Fensterläden. Zwei von ihnen rannten los, wetteiferten, wer zuerst am Haus wäre. Außer Atem versuchten sie, sich durch die Gitterstäbe des Zauns zu zwängen. Der Blonde, mit Haaren, die zu einem nach hinten abstehenden Schwanz gebunden waren, blieb mit seiner Lederjacke an den Metalldornen hängen. Der andere schlüpfte zurück. Er beugte sich über den Blonden und half ihm, sich zu befreien. Er beruhigte ihn, dass das Loch in der Jacke so gut wie gar nicht zu sehen sei.

»Dreihundertfünfzig Dollar hab ich dafür hingelegt«, sagte der Blonde. »Aber scheiß drauf, das spielt keine Rolle.«

Inzwischen hatten sich alle versammelt. Jemand entdeckte eine Eisentür. Dorthin zogen sie unter Lachen und Rufen. Ein fülliges Mädchen mit dicken Lippen wedelte mit einem großen Schlüssel. Sie gab ihn wie einen Staffelstab dem, der ihr am nächsten stand. »Aufmachen, aufmachen, aufmachen«, rief sie kichernd. Die Typen um sie herum hoben sie hoch und trugen sie über ihren Köpfen wie eine afrikanische Prinzessin. Sie stimmten den Hochzeitsmarsch an, bald sangen sie im Chor.

Sie gingen über den gepflasterten Pfad zwischen wucherndem Gras und hohen Brennnesseln. Die Prozession wurde von Lachen geschüttelt. Auch das Mädchen mit den dicken Lippen lachte und ruderte mit Armen und Beinen. Als sie den asphaltierten kleinen Platz erreichten, bat sie darum, sie herunterzulassen. Sie zog aus dem Leinenbeutel, der über ihren Brüsten hing, einen Schlüsselbund und klimperte damit über ihrem Kopf.

Alle warteten, bis sie die Haustür aufgeschlossen hatte, und stürzten in den Flur. Sie rannten, stießen sich, wetteiferten, wer zuerst das Ende erreichen würde. Jemand fragte, ob es Strom in dieser Höhle gäbe. Einem anderen war es egal, ob es Strom gab. Die Ungeduldigen wurden gemahnt, dass es noch nicht an der Zeit war, miteinander zu knutschen. Die Lampen im Flur und in dem riesigen Zimmer in L-Form leuchteten gleichzeitig auf. Einige Hände versuchten wieder, das Mädchen mit den dicken Lippen hochzuheben. Es gelang ihm, sich zu befreien, und es begann, sich durch den Flur zu zwängen.

»Jeder soll sich einen bequemen Platz suchen«, ordnete sie mit lauter Stimme an. »Und fühlt euch nicht wie zu Hause. Nicht jeder hat es ja gut zu Hause. Fühlt euch wie im Paradies. Aber macht nichts kaputt. Aber wenn etwas kaputtgeht, dann macht euch keine Sorgen.«


Ich will dir erklären, warum ich gegangen bin, liebe Mutter, warum ich weggelaufen bin und warum ich auf dieser Pritsche herumhänge und versuche, nicht nachzudenken. Mir fehlen die Worte. Ich wiederhole immer nur »liebe Mutter, liebe Mutter«. Ich kann dir nicht erklären, warum ich gegangen bin, warum ich weggelaufen bin. Die Augen fallen mir zu, aber ich will standhaft sein. Ich will mich erinnern und standhaft bleiben. Ich werde nur auf der Pritsche sitzen und schauen. Ich erwarte, dass sie mich auf ein Schiff laden, in ein Flugzeug, in eine Weltraumrakete. Und dass sie mich irgendwohin schicken. Damit ich noch weiter weg bin, mich mit jeder vergangenen Stunde noch weiter entferne. So weit weg, dass es, wenn ich mich wie jetzt frage, warum ich gegangen bin, warum ich weggelaufen bin, keine Antwort mehr braucht. Oder die Erklärung findet sich in den Ozeanen, auf den Kontinenten, in den kosmischen Weiten.

Liebe Mutter, ich sehe dich, wie du Kinder in der Grundschule unterrichtest. Ich weiß, dass du nie Lehrerin gewesen bist. Aber ich sehe dich, wie du durch die Reihen gehst, vor den ungehorsamsten Kindern stehen bleibst und ihnen erklärst, was sie nicht verstehen. Ich sitze ganz hinten, am Fenster, und du kommst nie bis zu meiner Bank, so sehr ich es mir auch wünsche. Obwohl auch ich nichts weiß, denn ich verstehe genauso wenig wie die anderen.

Liebe Mutter, du nähst Reißverschlüsse an Hosen und willst nicht dazulernen. Es reicht dir, dass du mit den Reißverschlüssen zurechtkommst. Liebe Mutter, ich möchte gern lernen, wie man Hosen näht. Aber das, denke ich, ist keine Männerarbeit. Obwohl die besten Schneider Männer sind. Ich kneife die Lippen zusammen, würde dir gern Mut machen, Hosen zu nähen. Später, liebe Mutter, werde ich verstehen, wie recht du gehabt hast. Spielt es eine Rolle, ob du nur Reißverschlüsse annähst oder ob du Hosen schneiderst? Hat überhaupt irgendetwas einen Sinn, liebe Mutter?

Ich kann jetzt nicht erklären, was der Grund ist. Ich verstehe ihn nicht, besonders nicht auf dieser Pritsche, wenn ich versuche, nicht an dich zu denken. Liebe Mutter, denk an alles, was du nicht leiden kannst. Das Warten auf eine Unterschrift – was für eine Unterschrift auch immer. Aber ohne sie geht es nicht. Vor der Tür, auf der »Chef« steht. Und du wartest, wartest, wartest. Aber jetzt gehst du nach Hause zurück. Und erzählst, wie du gewartet und gewartet hast. Ich wollte, dass sie mich als Gepäck auf ein Schiff laden, in ein Flugzeug, in eine Weltraumrakete und dass sie mich irgendwohin schicken, Hauptsache weit weg. Aber ich lauschte nicht nur deiner Erzählung über das Warten vor der Tür, die nicht die Güte hatte aufzugehen. Ich selbst wartete. Ich wartete und wartete, liebe Mutter, und füllte mich mit Unerträglichkeit an. Am Ende explodierte ich. Ich zersprang in tausend Stücke. Ich flog mit dem Wind, trieb im schmutzigen Fluss vor dem Wohnblock. In mir drängelten sich Wörter, Absichten, Versprechungen. Ich bemerkte nicht, dass ich in Stücke gegangen war. Nur in meinem Kopf lebendig, nur in der Brust, nur … nur … Ich bemerkte nicht, dass mich die Unzufriedenheit in Stücke gerissen hatte. Ich war explodiert, gesprengt. In Stücke gerissen, aber ich lebte, jeder Teil von mir war lebendig. Bereit zu überleben. Auch wenn ich weiß, dass es keinen Sinn hat, das hast du ja selbst gesagt.

Liebe Mutter, ich versuche vergeblich, es dir zu erklären. Ich kann mich nicht erinnern, was genau, aber du hast es sicher verstanden, so wie auch ich, der ich es dir nicht sagen werde. Es bleibt das Wichtigste. Du bist viel zu weit weg, als dass ich den Versuch unternehmen könnte, dir zu helfen. Du nähst schon lange keine Reißverschlüsse mehr an. Du hast nie etwas angenäht. Und deshalb sehe ich dich, wie du den braven und weniger braven Kindern hilfst. Ich weiß, liebe Mutter, dass du nie Lehrerin gewesen bist. Aber ich sehe, wie du denen, die Fehler machen, hilfst.

Du beugst dich zu den Köpfen der Kinder hinunter, führst ihre Hand, während sie angestrengt Buchstaben malen, die wie Häkchen aussehen. Und wie oft ich mich auch melde, du bemerkst mich nicht, siehst nicht, dass ich ebenfalls Hilfe brauche. Es gelingt mir nicht, dir die Hauptsache zu sagen, auch nicht das Nebensächliche, ich sehe nur, wie ich dir schon seit Jahren von der letzten Bank ein Zeichen gebe, aber du bemerkst mich nicht. Du bewegst dich zwischen den anderen Kindern, und ihnen hilfst du geduldig.

Ich will dir nur das sagen: liebe Mutter. Es reicht, ich habe es jetzt verstanden. Da, ich gebe dir kein Zeichen mehr von meiner Bank, sondern wiederhole nur aus der Ferne: liebe Mutter, liebe Mutter … Ich interessiere mich nicht dafür, was ich falsch gemacht habe und wie oft ich es noch falsch machen werde. Ich habe das Heft mit den darin gemalten Häkchen endgültig zugeschlagen. Ich will dir etwas sagen, und du sollst mich dann ansehen und verstehen, dass ich, egal wie leise ich es wiederhole, wie weit weg ich auch sein mag, nur zu dir sage: liebe Mutter, liebe Mutter. Ich will dir das erzählen, von dem bereits klar ist, dass ich es nicht mehr tun werde. Aber ich bin sicher, es reicht – liebe Mutter! …

Manche Dinge kann man nur seiner Mutter sagen. Andere nicht. Man kann sie bestimmt nicht seiner Mutter sagen. So ist das mit der Frau, die dich in ihrem Leib getragen hat. Ich bin sicher, dass du geträumt hast, als du mich in dir spürtest. Noch war es nicht ich. Erst allmählich habe ich mich herausgebildet mit Hilfe deines verträumten Blicks. In ihm war Licht. Es erinnerte schon an den zukünftigen Menschen.

Die Entfernung und die Zeit machen die Verbindung zwischen uns deutlicher. Während einiger Stunden des Tages fühle ich mich wieder mit einer Nabelschnur mit dir verbunden. Körperlich. Ich spüre, wie viel von dir in mir ist. Und umgekehrt. Eher umgekehrt. Ich fühle mich leer, ohne jede Identität. Alles, was ich bin oder sein sollte, ist abgeflossen. Es ist zu dir hinübergeströmt. Dann denke ich mir, was du fühlst. Jetzt schon Hunderte Kilometer und wahrscheinlich ein ganzes Leben weit entfernt.

Mein Vater, oder eher der Mensch, der dir half, mich aufzuziehen, war mir immer fremd. So sehr ich ihn auch liebte, als ich ein Junge war. So nachsichtig ich auch seinen kleinen Mängeln gegenüber war. Was für ein Tänzer früher, bei den Abendveranstaltungen! Sein Stolz, dass alle im Viertel ihn kennen. Er lachte glücklich. Er trank das dritte Schnäpschen und begann den Kampf gegen den Wunsch, sich einen vierten Rakija einzuschenken. Nie schenkte er sich ein. Ich gestehe, dass es vorkam, dass ich ihn gerade wegen dieser Anstrengung gehasst habe. Drei Rakija. Mehr nicht. Das hielt sein Gefühl für Anstand am Leben. Plus die Geste, ein von einem anderen schwangeres Mädchen zu heiraten. Ganz gleich von wem.

Ich bin sicher, dass der Mensch, der dir geholfen hat, mich aufzuziehen, einfach ein jämmerlicher Unglücksrabe war. Natürlich mit seinem eigenen Heldentum. Er hatte seine eigenen unlösbaren Konflikte. Und andere, die er löste. Ich sehe seinen Gesichtsausdruck. Nicht ein bestimmtes Gesicht, nur einen Ausdruck, in dem ich seine Züge erkenne. Ziemlich verwischt, ziemlich undeutlich. Er zeigt das Geld, das er mit zusätzlichen LKW-Fuhren verdiente. Er hatte auf ein Bett gespart. Ein echtes Bett. Bis dahin wusste ich nicht, dass ich auf zwei Brettern schlief, die auf Böcken standen. Glaub mir, ich wusste es wirklich nicht.

Mein altes Bett war mir bequem. Ich verstand ihn nicht, als er sagte, dass ich endlich in einem richtigen Bett schlafen würde. Ich fühlte mich sogar beleidigt. Ich erwartete immer, dass er mich auf irgendeine Weise beleidigen würde. Ich weiß, dass das Ausdruck einer gewissen Undankbarkeit ist. Aber das liegt daran, weil ihr mich nie belogen habt, dass er mein Vater sei. »Er ist nicht dein echter Vater!« – hatte ich immer im Hinterkopf. Hätte man mir das auf eine behutsame Art erklärt, wären mir sicherlich einige Spannungen erspart geblieben. Sicherlich ist es so. Aber denk nicht, ich würde dich verurteilen, dich, ihn, wen auch immer. Nicht einmal den Zufall. Die Zufälligkeit.

Ich habe kein Recht zu urteilen. Ich habe ein Recht dazusitzen und nachzudenken. In der Wunde der Vergangenheit zu bohren. Und sollte ich mich wundern, dass sie noch manchmal blutet, werde ich mir einen Spiegel suchen. Und werde mich betrachten. Hier muss ich dir wohl sagen, dass ich mich seit langer Zeit nicht mehr betrachtet habe. Es kommt mir so vor, ob du es glaubst oder nicht, als hätte ich mich nie im Spiegel betrachtet. Oder dass ich, wenn ich mich in einem sauberen, kristallenen Spiegel betrachtete, nur dich und ihn sehen würde. Ich würde mich vergebens im Spiegel suchen. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war. Ich sehe, wie ich meine Vergangenheit verlasse. Sie ist ein Gipskorsett. Sie bekommt Risse. Sie bricht auf. Sie wird zu einem Haufen Gips. Und keine Spur mehr von der Frische und Schönheit, die das Leben einmal war. Weil ich auch so ein Gefühl habe, dass ich an einem Feiertag am lautesten Ort gewesen bin. Ich habe mich wirklich amüsiert.

Kannst du dir vorstellen, wohin ich in so einer tiefen Nacht aufsteigen kann? Inmitten so vieler schnarchender, im Schlaf sprechender, schmatzender Typen. Wie hoch ich wohl fliegen kann? Nur um möglichst weit weg zu sein. Oder tief hinunterzusteigen. Genau – auch in dieser Richtung liegt Rettung. Ich glaube, in der Tiefe fühle ich mich besser. Ich reibe meine Augen mit den Handflächen. Einfach wegen der Schmerzen. Ich will nicht schlafen. Ich habe das schreckliche Gefühl, dass ich nie einschlafen werde. Dass ich immer ins Dunkel schauen werde. So weit mein Blick reicht. Und das ist nicht weit. Mein Blick löst sich einfach in der Dunkelheit auf. Er wird Teil der schmatzenden, stinkenden, winselnden, weinenden, schnaufenden Dunkelheit.

Mutter, erst jetzt, erst hier spüre ich, dass die Verbindung zwischen uns nicht mehr dieselbe ist. Es gibt keine Nabelschnur zwischen uns. Jahrelang war sie da. Am Beginn der Nacht war sie da. In ihr pulsierte unser Egoismus gegenüber diesem Unglücksraben, der es sich nie erlaubte, sich einen vierten Rakija einzuschenken. Er erlaubte es sich nicht, laut zu werden und sparte Geld, um uns mit verwundertem Gesicht anzusehen, wie ein Taschenspieler, wenn er feststellte, was wir noch brauchten.

Alles, was er für uns beide tat, schien mir auf irgendeine Weise beleidigend. Immer, immer, immer. Jetzt nicht mehr. Jetzt wo ich mich nicht mehr mit dir verbunden fühle. Wir beide duldeten ihn. Jetzt sehe ich ihn anders. Er ist mir noch fremder. Aber er ist inzwischen ein ganz anderer Mensch. Nicht der, der unser Verhalten ihm gegenüber verdiente. Ich habe mir nie erlaubt, diesen Menschen kennenzulernen. Und ich denke mir, dass er sich schlau, mit dem Hochmut unserer Harmonie spielend, versteckt hatte. Absichtlich. Und bis zum Schluss.

Er war sicher, dass ich ihn in einer Nacht wie dieser verstehen würde. Und nichts kann mir helfen. Nicht einmal der Wunsch, Schmerz zu spüren. Einen so starken Schmerz, dass ich vergesse, was ich entdeckt habe. Ich spüre keinen Schmerz. Ich fühle mich nur leer. Alles ist ausgeflossen. Ich bin ein leeres Gefäß, das sich Tropfen für Tropfen mit dem Schmutz dieses dunklen Ortes füllt.


In dem Durcheinander hatte er sie an der Hand gefasst. Die Wärme durch die Berührung und den Wodka vermischten sich. Sie setzten sich aufs Sofa unter den riesigen, von den Holzläden verdunkelten Fenstern. Im nächsten Augenblick stand der Bärtige, den er die ganze Zeit über im Verdacht hatte, ein Verhältnis mit Mariana zu haben, ihm gegenüber. Er legte ihm rituell die Hände auf die Schultern.

»Hör zu!«, sagte er und nickte zur Seite. »Sie weiß, dass du sie liebst. Und sie wird auf dich warten. Doch nun brauche ich ein wenig Aufmerksamkeit.«

Pavel war dankbar, dass der Bärtige das Wichtigste aussprach. Zumindest im Moment brauchte er keine nochmalige Liebeserklärung. Die Hände auf seinen Schultern erlaubten ihm nicht, sich zu rühren. Es war schwer zu erkennen, mit wem Mariana sprach. Er saß auf ihrer anderen Seite, hatte lässig die Beine nach vorn ausgestreckt. Sie stand auf, drehte sich um, zerzauste sein lockiges Haar und lachte schallend. Sie hatte sich schon einem anderen zugewandt, die Hand warnend erhoben. Sie erlaubte nicht, dass jemand die Flasche berührte. »Das ist meine!« Dann schenkte sie großzügig in die gereichten Gläser ein. Alle ringsum kannten sie, es war eine vertraute Runde. Die beiden, denen sie Wodka einschenkte, küssten sie auf die Wange. Sie strichen ihr liebevoll übers Haar. Mariana trank direkt aus der Flasche. Sie hatte die Rockschöße ihres Seidenkleids mit weit gespreizten Knien aufgespannt, sah zu Pavel hinüber und warf ihm eine Kusshand zu. Wieder lachte sie schrill, wie nach einem unerwarteten Scherz. Es würde ihr nicht gelingen, sich woanders hinzusetzen. Er, Pavel, würde sofort bemerken, wenn jemand versuchte, sie zu entführen. Zu ihrer anderen Seite erhob sich der Lockige. Er entfernte sich mit unsicheren Schritten.

Über ihm, sich auf seine Schultern stützend, sprach der Bärtige auf Deutsch. Er blinzelte mit seinem trüben Augen, schüttelte den Kopf und fuhr auf Englisch fort.

»Ich versteh dich trotzdem nicht«, sagte Pavel, »außer ein paar Wörtern. Auf dem Gymnasium hatte ich ja Englisch.«

Der Bärtige stieß sich von seinen Schultern mit einer abrupten Bewegung ab, drehte sich um und taumelte. Er machte einige weit ausladende Schritte. Es gelang ihm, sich mit seinen nach vorn gereckten Armen am Tisch abzustützen, auf den Čiko gestiegen war. Er stand gebeugt und mit hängenden Schultern da. Einige Jungs umringten ihn. Der mit dem runden Kopf, karierten Hemd und breiten Hosenträgern verkündete mit tiefer Stimme:

»Achtung – Achtung! … Čiko möchte was sagen.«

»Ich hab keine Lust zu reden«, schüttelte Čiko den Kopf. »Ich hab was anderes vor.«

»Gut, einverstanden, aber sag zuerst was«, meinte der mit dem runden Kopf. »Nur ein paar Worte.«

»Ich werde nichts sagen«, weigerte sich Čiko und schüttelte wieder den Kopf. »Lasst uns doch zum Wesentlichen kommen!«

Der mit dem runden Kopf begann ziellos hin und her zu laufen, irgendjemand hinter ihm gab ihm eine Literflasche »Sibirska«. Er hob sie über seinen Kopf, zeigte auf Čiko und sagte, alle sollten jetzt gut aufpassen. Dann reichte er ihm die Flasche. Er wartete mit ausgestrecktem Arm, um sicherzugehen, dass Čiko sie fest genug hielt. Alle ringsum waren verstummt. Es herrschte gespannte Erwartung. Er hielt die Flasche hoch und begann, sie gut hörbar in seinen Schlund zu schütten. Sein Adamsapfel stand hervor, zuckte. Der mit dem runden Kopf und den Hosenträgern forderte einen Tusch für ihn. Er wedelte wie ein Dirigent mit beiden Armen, stürzte nach vorn und es gelang ihm, Čiko festzuhalten, der bedrohlich zu wanken begann. Ein paar andere Arme halfen mit und versuchten, ihn zurück auf den Tisch zu stellen. Aber er ließ die halbleere Flasche fallen. Seine Knie knickten ein, klappten zur Seite. Čiko hockte sich auf dem Tisch.

Die vier Lautsprecher der Anlage begannen fürchterlich zu knacken. Sie waren hoch oben an der Decke in den Zimmerecken montiert. Ein erneutes Knacken. Dann war der Schaden endlich behoben und das ganze Zimmer begann im Rhythmus zu pulsieren. Die meisten sprangen auf, um zu tanzen. Nur der mit dem runden Kopf und den Hosenträgern blieb da, um sich mit Čiko zu befassen. Er half ihm vom Tisch und schleppte ihn zu einem freien Sessel. Dort ließ er ihn liegen, auf dem Rücken, mit weit ausgebreiteten Armen. Dann drehte Pavel sich um und schüttelte begeistert im Takt mit der Musik die Fäuste über dem Kopf. Neben ihm flog ein Pärchen mit komplizierten Rock’n’Roll-Figuren vorbei. Er stand ihnen im Weg. Sie rempelten ihn an und zwinkerten ihm zu.

Nachdem er gewartet hatte, bis Čikos Auftritt vorbei war, drehte sich der Bärtige auf den Hacken mit dem Rücken zum Tisch um. Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, trat auf die Tanzenden zu. Er wartete, bis sich ein freier Korridor bildete, und stürzte wieder auf Pavel los, stützte sich wieder auf seine Schultern. Er hauchte ihm geräuschvoll ins Gesicht und begann, Französisch zu sprechen. Dann eine andere Sprache – Norwegisch oder Schwedisch. Pavel schlug ihm entrüstet ins Gesicht und stotterte:

»Du bist ja ein Sprachgenie, Mann!«

Er versuchte, Mariana zu folgen, als sie aufstand, um zu tanzen. Der Bärtige drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht aufs Sofa. Pavel versuchte sich zu befreien und der Bärtige fiel auf ihn, stammelte etwas in einer jetzt unbekannten Sprache. Er fasste ihn um die Hüfte, stieß ihn angeekelt zur Seite und ließ ihn, Gesicht nach unten, auf dem Sofa liegen. Der Bärtige lallte weiter, den Kopf in den Damast vergraben. Seine unbequeme Lage gefiel ihm nicht. Pavel stand auf und sah sich um. Mariana hatte noch bis vor einer Minute in der Mitte des Zimmers getanzt. Jetzt waren nur noch drei Pärchen da. Die übrigen waren in der kurzen Zeit verschwunden. Der Rock eines großen Mädchens mit auf dem Rücken überkreuzten Schulterträgern rutschte bei jeder Bewegung ihrer Arme fast bis zur Hüfte hinauf. Ihr Slip blitzte auf, gelb, mit kleinen Fliegenpilzen gesprenkelt.

Der Langhaarige und der Kahle, die vor zehn Minuten hereingekommen waren, stritten monoton. Sie hatten sich vor Čikos Sessel an der Kleidung gepackt. Mit steifen Bewegungen machten sie einen Schritt nach rechts, einen nach links. Ein nicht sonderlich rhythmischer Tanz. Allmählich bewegten sie sich schneller. Und bald würden sie wohl mit Fäusten aufeinander einschlagen.

»Ich hab dir gesagt, du sollst deine Rechnung bezahlen«, sagte der Kahle voller Wut. »Du steigst in mein Taxi, willst, dass ich dich wie einen König behandle. Du machst dich wichtig, rauchst Zigarre. Dreimal hab ich sie dir angezündet. Alle deine Spielchen mitgespielt. Und nun willst du dich, ohne zu bezahlen, aus dem Staub machen.«

»Ich hab dir doch die Flasche dort auf dem Tisch angeboten«, sagte der Langhaarige träge. »Anstelle von Geld. Der Whisky hat genausoviel gekostet.«

»Damit fangen wir erst gar nicht an!«, meinte der Taxifahrer. »Ich will, dass du mich bezahlst. Weißt du, was das bedeutet? Du bedeutet du. Los jetzt! Der Whisky gehört ja noch nicht einmal dir.«

»Was interessiert’s dich?«, fragte der Langhaarige.

»Es interessiert mich!«, erhob der andere die Stimme. »Ich hätt dich in Ruhe gelassen, wenn du ein echter Säufer wärst. Aber so einem Arschloch wie dir schenk ich doch nichts!«

Der kahle Taxifahrer hatte ihn schon mit beiden Händen gepackt, schüttelte ihn mit ausladenden Bewegungen vor und zurück. Er zischte durch die Zähne und lachte gehässig. Der Langhaarige hatte offenbar aufgegeben. Sein Kopf schaukelte willenlos hin und her. Neben ihnen erhob sich, ohne die Augen zu öffnen, Čiko aus dem Sessel. Er schwankte, aber es gelang ihm das Gleichgewicht zu halten.

»Schlag ihn nicht!«, brachte er mit Mühe hervor. »Das ist der Amour. Ein großer Liebhaber. Sonst ist er Geologe. Das heißt, er hat Geologie studiert. Eine romantische Natur. Er ist ein bisschen ein Ekel. Aber was soll’s. Nimm ihn nicht ernst.«

Pavel beugte sich vor, um den Taxifahrer an der Jacke zu ziehen. Es gelang ihm nicht, er streifte ihn nur mit den Fingerspitzen. Er wollte Čiko helfen. Er war auf seiner Seite, was auch geschehen mochte. Irgendeine dunkle Flasche kam von der anderen Seite des Zimmers geflogen. Sie zersprang über Čiko an der Wand. Das Geräusch warf ihn wieder zurück in den Sessel. Er fiel auf den Rücken, die Arme über der Brust gekreuzt, das Gesicht bleich. Der Taxifahrer sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er hielt den Amour mit nur einer Hand fest. Er schüttelte ihn nicht mehr. Am Ende ließ er ihn los und nahm die Flasche Whisky vom Tisch.

»Nimm dir ein Glas!«, sagte er. »Lass uns trinken. Ekel sind meist nicht so widerlich, wie es aussieht.«

»Ich bin kein Ekel!«, stammelte der Amour. »Ich bin ein cooler Bastard.«

»Bedank dich bei dem«, sagte der Taxifahrer und zeigte auf den Sessel. »Seinetwegen bist du noch mal davongekommen.«

Čiko hatte den Kopf auf seine über der Brust gekreuzten Arme sinken lassen. Im Mundwinkel, zwischen seinen schmalen Lippen, bildete sich eine glänzende Blase. Der Taxifahrer sah ihn immer noch an, dann nahm er einen Schluck aus der Flasche. Er reichte sie dem Amour, der noch kein Glas gefunden hatte. Pavel kehrte ihnen den Rücken zu. Es würde wohl nichts Gefährliches mehr passieren. Sie würden nur die Flasche Whisky leeren. Ringsum lagen alle kreuz und quer auf dem Boden und den drei riesigen Sesseln herum. Die Pärchen saugten sich noch tiefer in den Rhythmus des traurigen Blues hinein. Die Lippen bewegten sich wie Raupen. Rosa Zungen zeigten sich. Ihre Beine waren ineinander verschränkt. Einige Pilze mit roten Köpfchen waren zwischen weit gespreizten Fingern gewachsen.

Am gegenüberliegenden Ende des Zimmers hockte ein Geschöpf mit nach vorn hängendem Haar und dem Kopf zwischen seinen Knien. Es ähnelte dem Wrubelschen Dämon. In seiner über der Schulter abgewinkelten Hand maß er rhythmisch mit einer leeren Bierflasche den Takt. Er warf sie hinter sich. Man hörte sie nicht zerbrechen. Sicher war die Flasche auf dem Sofa gelandet. Pavel durchmaß mit breiten Schritten das Zimmer. Er fürchtete, etwas könnte ihn aufhalten. Ihn wieder auf das Sofa zu dem Bärtigen zurückbringen, der sich dort räkelte. Am Ende kniete er sich hin und legte den Kopf auf seine überkreuzten Arme.

Im dunklen Korridor wurde er langsamer. Er fragte sich, welche der Türen er öffnen sollte. Ihm war schwindlig, und er spürte einen leichten Kopfschmerz. Einige Male taumelte er, seine Grimassen zeigten, wie überdrüssig er seines Zustands war. Langsam drückte er die Klinke der nächstgelegenen Tür, daran ein Plastikschild mit einem rosa Mädchen. Er erwartete, dass sich jemand von drinnen melden würde. Als er bereits sicher war, dass der Raum frei war, stieß er auf einen angsteinflößenden Blick. Er schauderte am ganzen Körper. Ein Boxer mit feuchter Schnauze sah ihn an, ohne zu blinzeln. Er ähnelte einem uralten Greis. Neben ihm hatte ein kahlrasiertes Mädchen, wie der Hund auf allen Vieren, seine spitze Schulter gegen die Wand gelehnt. Ihre Schuhe mit Stahlkappen steckten zwischen Kloschüssel und Bidet. Der Boxer knurrte, auch das kahle Mädchen knurrte.

»Hier kann man nirgends in Ruhe pinkeln«, sagte jemand hinter seinem Rücken. »Nicht, ohne sein Leben zu riskieren. Oder zumindest ein Körperteil.«

»Der Hund sieht gefährlich aus«, bemerkte Pavel. »Das ist selten bei dieser Rasse.«

»Überall vögeln, blasen, fummeln sie«, fuhr die Stimme im Bass fort. »Sie knurren wie Verrückte. Geht etwa die Welt unter und ich habe es nicht mitbekommen?«

Der Junge hatte einen ausgebleichten Jeansanzug an und eine Jockeymütze auf, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Er hielt einen Heizstrahler mit nur einem glühenden Heizstab in der Hand. Der andere hing locker aus dem Gehäuse. Ein langes Kabel schleifte hinter ihm her, es führte zur gegenüberliegenden Tür. Pavel machte einen Schritt zurück. Er ging um ihn herum und warf einen Blick in das Zimmer. Auf dem dicken Teppich lag ein Mädchen mit an den Knien zerrissenen Jeans und einem grauen Baumwollpullover. Er war weit über die großen Brüste hinaufgeschoben. Pavel näherte sich, berührte mit dem Zeigefinger die gesträubte Brustwarze, die die Farbe einer überreifen Weichsel hatte.

»Bi-bip!«, reagierte das Mädchen.

Pavel drückte sie wieder leicht.

»Du bist doch Ivan?«, fragte sie und fügte hinzu: »Nein. Dann hupe ich auch nicht.«

»Du hast schon gehupt.«

»Ich nehm mein Hupen zurück.«

»Ich könnte auch zu Ivan werden.«

»Ah, damit fangen wir gar nicht erst an!«, sagte der Junge mit dem Jeansanzug und dem Heizstrahler. Er schaute konzentriert unter dem Schirm seiner Jockeymütze hervor. »Ich bin Ivan. Zumindest in diesem Fall.«

»Na gut. Dann geh ich jetzt.«

Er ging hinaus auf den Korridor und verschwand sofort im nächsten Zimmer. Dort kniete das Mädchen mit den dicken Lippen, das vermutlich die Hausherrin war, auf einer Wolldecke mit Fransen. Sie machte ein Hohlkreuz, ihr riesiger runder Hintern ragte in die Höhe. Ihre dicken Lippen näherten sich dem Ohr des Jungen, der im Türkensitz auf einem großen, in der Mitte geknickten Kissen saß. Sie kitzelte ihn mit ihrer nach oben gebogenen Zunge.

»Lass mich!«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Stör mich nicht. Ich muss herausfinden, was genau er sagen wollte.«

»Nichts Besonderes«, sagte das Mädchen und leckte ihn weiter. »Er hat Ereignisse aus seinem Leben aufgeschrieben. Ganz gewöhnliche Ereignisse.«

»Die Zeit, die vergangen ist, verändert alles«, wendete der Junge ein. »Verstehst du nicht, dass die Entfernung die Dinge vergeistigt.«

»Nimm einen Zug«, sagte sie und fischte aus dem Aschenbecher eine brennende Zigarette. »Das wird dich entspannen.«

»Ich will kein Gras.«

»Jetzt nimm einen Zug!«

»Zuerst werde ich diese Seiten lesen. Ich muss erfahren, warum niemand dem Manuskript Beachtung geschenkt hat.«

»Er hat vor viel zu langer Zeit gelebt«, sagte sie und zog blinzelnd an der Zigarette. »Und alle, die ihn gekannt haben, sind auch schon tot.«

»Diese Seiten sind ein ganzes Menschenleben«, fuhr er fort. »Möchtest du nicht erfahren, was irgendwann einmal mit irgendwem passiert ist? Einem Verwandten. Deinem Urgroßvater oder Ururgroßvater.«

»Verstehst du nicht, es ist doch alles schon so lange her«, rechtfertigte sich das Mädchen und rückte näher an ihn heran. »Kriegst du keinen hoch? Rauch, dann wirst du dich entspannen.«

»Ich hab dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.«

»Du wirst schon noch einen Ständer kriegen«, fuhr sie zärtlich fort, legte ihr rundes Kinn auf seine Schulter. »Schau, ich werde ihn ein wenig halten. Ich werde ein bisschen daran lutschen. Das gibt’s ja nicht, dass du keinen hochkriegst.«

Pavel wich zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er war erregt. Er hatte einen Ständer. Fast hätte er sich gemeldet, um zu verkünden, dass da jemand schon bereit war. Er lehnte die Tür leise an, ging den Korridor weiter. Dann stieg er die Stufen in den zweiten Stock hinauf. Noch auf dem ersten Treppenabsatz tauchte er in ein glänzendes, wie ein Springbrunnen aufgefächertes Kleid ein. Es hatte goldene Fäden.

»Entschuldigen Sie, wo ist sie? …«, fragte das Mädchen erschrocken. »Ich will sagen …«

»Für wen interessieren Sie sich? Für die Party, die Gesellschaft?«

»Für die Gäste.«

»Sie sind überall. Wo Sie auch hineingehen.«

»Ja, aber wo ist Bubi? … Sie hat heute Geburtstag. Wir kennen uns von klein auf.«

»Bubi ist in dem Zimmer da«, zeigte er. »Sie raucht Gras. Und erklärt, warum sie sich nicht für die Lebensgeschichte ihres Ururgroßvaters interessiert. Und sie versucht, einem Spinner eine Erektion zu verschaffen.«

Er berührte mit der Hand das Kleid, als sie aneinander vorbeigingen. Und er ging weiter bis zu den hölzernen Stufen. Nach einigen Schritten stürzten von oben zwei schnaufende Typen auf ihn zu. Sie zogen im Gehen ihre Hemden zurecht, drehten sich um und schauten nach oben. Der erste rief begeistert:

»Beeil dich, wenn du vorhast, die Königin zu kosten. Solang sie noch nicht eingeschlafen ist. Wir waren gerade bei ihr. Sie liegt da, sieht dich nicht mal an. Sie macht es sich nur ein bisschen bequem. Und wackelt mit dem Hintern.«

»Trag dich ein!«, forderte der andere ihn auf. »Aber vergiss es, wenn du kein Kondom hast. Sie ist zu einer Rutschbahn geworden.«

Beide grinsten verschmitzt, zwinkerten einander zu und rannten weiter nach unten. Pavel sah ihnen nach, dann schloss er die Augen. Er wollte den aufkeimenden Verdacht vertreiben, Mariana sei die Königin. Erst die Ahnung, dann war er sicher, dass sie es war. Unerwartet lachte er ein kehliges, trockenes, sinnloses Lachen. Er wischte mit den Handflächen die Tränen aus seinen Augenwinkeln. Er ließ die Arme sinken, blickte an die Decke. Dann drehte er sich um und ging die Stufen wieder hinunter. Es kam kühle Luft herein. Er ging hinaus, rannte quer durch den Garten. Seine Hand brannte, als er das Tor erreichte, er hatte wohl in der Eile die Brennnesselsträucher am Wegesrand berührt.

Aber allmählich erfrischten ihn der kühle Wind und die Finsternis um ihn herum. Irgendwie grundlos erfüllte ihn ein angenehmes Gefühl. Es war nicht sicher, dass Mariana die Königin war. Die Königin war doch bestimmmt eine aufgedonnerte Dicke. Unter einer rosa Steppdecke. Mariana hatte sich wohl von irgendeinem Schönling abschleppen lassen. Das passte besser zu ihr.


Hier, ja, hier, wo es keine Rolle spielt, wo du bist – es reicht dir, dass du hier bist und nicht dort –, hier habe ich wirklich erfahren, was es bedeutet, sich auf unbekannten Straßen zu bewegen. Die unbekannt sind und unbekannt bleiben, wie viele Male du auch durch sie gegangen bist. Ich werde nie wieder über bekannte Straßen gehen. Sie sind widerlich, so wie ich sie kenne. Ich werde es nicht bereuen. Aber du musst wissen, dass du hier am besten verstehen kannst, was es bedeutet, durch wirklich unbekannte Straßen zu gehen. In einer wirklich unbekannten Stadt. So oft du auch durch diese Stadt gehst, die Straßen bleiben unbekannt. Und sehr langsam und unter großer Anstrengung begreifst du, was du schon beim ersten Mal begriffen hast. Und das ist, dass du durch Straßen gehst, die unbekannt bleiben. Immer unbekannt. So oft du sie auch kreuz und quer durchwanderst.

Ich bleibe an der Ecke stehen. Die eine Straße trägt einen Namen. Die andere Straße trägt auch einen Namen. Mein Blick reicht nie bis zum Schild mit dem Namen hinauf. Er reicht nicht einmal bis zum Schild selbst. Ich weiß einfach, dass dort ein Schild mit dem Namen der einen Straße ist. Und ein Schild mit dem Namen der anderen Straße. Die Namen interessieren mich nicht. Ich lehne mich an der Ecke gegen die Wand. Direkt an der Ecke. Versuche, einen Lufthauch zu erhaschen. Mir kommt es so vor, als spielte gerade dieser Platz eine entscheidende Rolle. In der Gegend geschehen irgendwelche grundlegenden Verschiebungen. Von ihnen muss man zumindest in der Luft diese Bewegung spüren. Irgendeinen Wind.

Ich stehe stundenlang an dieser Ecke. Ohne in eine andere Richtung zu sehen. Nur unbestimmt nach vorn. Ich will einen Windhauch spüren. Dann weiß ich, dass ich begreifen werde, was wichtig ist. Die Antwort wird mir auch die Frage bringen. Und solange stehe ich nur da, stundenlang. Ohne meinen Blick abzuwenden. Und ich bin mir sicher, dass die Passanten, so wenige es auch sein mögen, meinen, ich schaue irgendwohin. Es wird wohl kaum zu erkennen sein, dass ich nur lausche. Manchmal fühle ich, dass wirklich ein Wind geht. Etwas geschieht. Nie ausreichend klar. Ich habe weder die Antwort verstanden noch die Frage, die mir der leise Wind bringt. An dieser Ecke. An diesem Ort.

Ich weiß nicht, ob meine Beschreibung klar ist. Aber stell dir diesen Menschen vor. Er steht stundenlang an der Ecke und lauscht. Gesteh dir ein, was du über ihn denkst. Gesteh es dir ein. Er schaut irgendwohin. In eine Richtung. Es muss immer eine Richtung geben. Eigentlich lausche ich nur dem Wehen des Windes. Das ist sehr wichtig. So wichtig, dass ich es nicht verpassen will. Da, ich beuge mich herab, halte mein Ohr hin. Schließe meine Augen leicht. Manchmal spüre ich den leichten Wind. Ich höre ihn. Ich kann seine Antwort nicht verstehen. Und die Frage, die auch eine Antwort ist, vermute ich. Bis dahin weiß ich, dass ich immer länger an dieser Ecke stehen werde. Ich weiß, dass das der Ort ist. Hier werde ich erfahren, was ich erfahren muss. Oder ich werde meine Gestalt dort lassen – als Ergänzung sozusagen zur Einsamkeit dieses Ortes.


Es gibt eine Grenze zwischen Schlaf und Erwachen. Manchmal überquerst du sie mit einem wonnigen Gefühl. Du kannst noch einmal umkehren und wieder einschlafen. Aber nicht an diesem Morgen. Die Grenze ist jetzt eine Schlucht. Er hielt sich mit wunden Fingern am Rand einer Klippe fest. Die Kräfte würden nur noch für ganz kurze Zeit reichen. Dann würde er loslassen. Er wusste nicht, was das bedeutete. Ob er wieder einschlief. Oder ob er aufwachte. Jedenfalls hatte er fürchterliche Kopfschmerzen.

Er lag mit geschlossenen Augen auf dem schmalen Sofa. Im Zimmer nebenan regte sich seine Großmutter. Irgendjemand läutete. Sie ging mit schlurfenden Schritten durch die Diele. Er hörte, dass sie aufmachte. Danach erkannte er die Stimme des Popen. Er wohnte im zweiten Stock. Das heißt ziemlich weit unterhalb ihrer Einzimmerwohnung. Der Pope fragte nach ihm. Seine Großmutter antwortete, dass er diese Nacht nicht nach Hause gekommen sei. Pavel lauschte nach der Stimme des Popen, verstand aber nicht, was er sagte.

Das war sicher alles wegen des großen Glases Bienenhonig. Er hatte es aus dem Keller des Popen geklaut. Es passierte ganz zufällig. Er lehnte sich gegen die Tür – sie war gegenüber von ihrem Kellerabteil – und hätte sich fast das Genick gebrochen. Wahrscheinlich hatte der Pope vergessen abzuschließen. Oder jemand hatte sie aufgebrochen. Er schaltete das Licht nur für ein paar Sekunden ein. Auf den hölzernen Regalbrettern an den Wänden standen zahllose Einmachgläser. Aber er nahm nur das ihm nächste mit dem Honig. Seine Großmutter hatte sicher gestern Abend ihren Tee damit gesüßt. Er hatte ihn auf den Kühlschrank gestellt, damit man ihn sehen konnte. Der Pope und sie wechselten noch ein paar Worte, dann ging sie in ihr Zimmer zurück. Dort fuhr sie fort, leise zu klappern. Sie achtete darauf, ihn nicht zu wecken. Das Gespräch mit dem Popen hatte nichts geändert.

Noch hatte er Angst, sich zu rühren. Sein Schädel war voll von schwerem, dichtem Schmerz. Gestern Nacht war er in der Dunkelheit zwanzig Kilometer weit gelaufen. Irgendwann kam er zu einem nicht sehr dichten Wald. Man konnte nur ein paar Meter weit sehen. Wehte ein leichter Wind, so kam es ihm vor, als würden die Schatten und die runden Blätter der Bäume erklingen. Ein Geräusch irritierte ihn, wohl nur Einbildung. Dann tauchte die Angst auf. Sie kam von innen, grundlos, vermischte sich mit den Schatten der Bäume und Blätter. Sie streifte umher und kam wieder zurück. Er war ihr Bau, ihr Nest, der Ort, an dem sie sich bei jedem leichten Hauch des kühlen Windes versteckte.

Es kam ihm schon eine geraume Zeit so vor, als wäre jemand in der Nähe. Er fühlte eine Anwesenheit. Er spürte sie neben sich, hinter sich, er lauschte nach gedämpften Schritten. Er rannte zwischen den Bäumen los, inmitten der unvorstellbaren Menge lebendiger Schatten. Jeder Schritt schien ihm gefährlich. Er stieß gegen einen Baum, fast mit Absicht, er hielt sich am dünnen Stamm fest und wartete bis die Gefahr vorüber war. Sie drohte irgendwo in der Nähe. Wenn er lauschte, hörte er nur das Geräusch des Windes.

Er hatte sich auf dem nassen Laub zusammengekauert, lehnte mit der Schulter am Baum. Alles ringsum bewegte sich, tanzte, seine Unbeweglichkeit schien ihn jetzt in Gefahr zu bringen. Er versank, versteckte sich inmitten des unerwarteten Lebens rundum. Plötzlich verspürte er Bedauern, dass er so winzig war, so erbärmlich und unbedeutend. Er konnte nicht länger bei diesem Baum bleiben. Er musste sich bewegen, etwas tun, fühlte sich wie ein altmodisches Blechspielzeug mit Aufziehmechanismus. Die kleinen Räder begannen zu quietschen, liefen nicht. Sie gingen kaputt. Er stand auf, stützte sich mit der einen Hand am Baumstamm ab und rannte los.

Als er endlich wieder auf offenem Feld war, fiel er vornüber. Er war gerettet. Weit weg von den Schatten, von den Geräuschen, den Bewegungen. Er drehte sich auf den Rücken und begann, leichter zu atmen. Er lauschte auf seinen Atem, kam allmählich wieder zu sich. Aber er fand keine Kraft, um zu lachen. Sich einfach zu sagen, dass sein Entsetzen ein Hirngespinst gewesen war. Irgendeine Urangst. Die Blätter, selbst wenn sie vom Mondlicht beschienen wurden, erklangen nicht metallisch. Die Schatten wurden durch den Hauch des Windes lebendig, und es blieb nur die grundlose Panik. Jetzt schien der Mond ganz gewöhnlich. In sicherer Entfernung wirkte er bleicher. Pavel rappelte sich auf und ging langsam den Weg am Waldrand entlang.

»Du hast doch nicht etwa in der Nacht den Garten umgegraben?«, fragte seine Großmutter von drüben. »Deine Turnschuhe sind ja voller Dreckklumpen.«

»Ich habe nichts umgegraben.«

Er wisperte. Sie hatte es wohl kaum gehört. Und höchstwahrscheinlich sprach sie ohnehin mit sich selbst. Langsam öffnete er die Augen. Er war sich nicht sicher, was mit seinem Kopf geschehen würde, wenn er zu sprechen begänne. Der Schmerz verhallte nach oben, versuchte seinen Scheitel zu durchbrechen. Er schaute angespannt an die Decke, die Augen weit aufgerissen. Es war ihm inzwischen angenehm, so dazuliegen. Es kam ihm vor, als hätte er ein gefährliches Abenteuer überlebt, einen rituellen Kampf gegen böse Mächte. Er muss sie wohl besiegt haben. Allein die Tatsache, dass er jetzt in seinem Bett lag und sich erinnerte, war ihm genug.

»Hast du mir was zu sagen?«, fragte seine Großmutter laut. »Du hast es doch nicht etwa getan, oder?«

»Beinahe.«

»Na, das wird schon irgendwann. Ist nichts Besonderes. Ich will sagen, für den Mann. Bei Frauen ist das anders.«

»Es ist dasselbe!«

»Du hast keine Ahnung. Bring’s erst mal hinter dich, dann reden wir weiter.«

Er stützte sich auf die Ellenbogen, drehte sich und setzte sich vorsichtig aufs Sofa. Sein Kopf ähnelte einem übervollen Glas. Er achtete darauf, nichts zu verschütten. Der oberste Knopf seines Pyjamas war offen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er ihn angezogen hatte. Seine Großmutter ging immer noch in der Diele hin und her. Sie kam nicht zu ihm herein. Sie ließ ihm Zeit, zu sich zu kommen. Manchmal bedauerte er, dass sie von seiner unnatürlich lang anhaltenden Jungfräulichkeit wusste. Er erzählte ihr von einem seiner zahllosen Versuche mit verschiedenen Mädchen. Er war wohl nicht dreist genug. Und von ihrer Seite kam nur Mitgefühl. Vielleicht standen einfach die Planeten nicht in günstiger Konstellation. Er akzeptierte sich als den einzigen Mann mit normalen Wünschen, der es noch nicht geschafft hatte, ein Mädchen zu finden. Einfach, weil es auch jemanden wie ihn geben musste.

Er machte endlose Analysen seiner Misserfolge. Eher seiner teilweisen Misserfolge. Beim Heimbringen begnügte er sich gewöhnlich mit einem schnellen Handjob. Mehr wollte er nicht. Spürte er Frauenfinger, ertappte er sich sogar dabei, dass er die Ereignisse in diese Richtung lenkte und gefügig auf weitere Bemühungen verzichtete. Die Einzelheiten teilte er seiner Großmutter natürlich nicht mit. Das war nicht nötig. Sie verstand etwas von diesen Dingen. Das ist normal, wenn man den ganzen Tag auf der Straße ist. Er war zufrieden, dass er sie nicht belogen hatte, als er aus der Kaserne entlassen worden war. Es wäre leicht gewesen, sich eine Geschichte auszudenken. Er brauchte nur eines der zahllosen tatsächlichen oder erfundenen Soldatenabenteuer zum Besten geben. Jemanden, zu dem er völlig offen sein konnte. Bis jetzt gab es keinen geeigneteren Menschen als sie.

Sie drückte die Türklinke hinunter, wartete aber, bevor sie die Tür öffnete.

»Wie geht’s dir? Bist du angezogen?«

»Ich brauch noch ein bisschen.«

»Du hast gestern Abend getrunken.«

»Ich hab mich geradezu vergiftet.«

»Willst du einen Tee?«

»Ja, mit zwei Löffeln Honig.«

»Du hast doch mitbekommen, dass der Pope nach dir gefragt hat? Er fragt in allen Wohnungen.«

»Ich habe dir doch schon erklärt, dass die Kellertür offen war. Man könnte sagen, ich habe das Glas nur zufällig mitgenommen. Ich werde mich jetzt seinetwegen nicht umbringen.«

Die Großmutter stellte zwei Tassen auf den kleinen rechteckigen Tisch unter dem Fenster. Sie rückte die drei Stühle zurecht. Sie zögerte ein bisschen, welchen Platz sie wählen sollte. Am Ende setzte sie sich so hin, dass sie ihn gut sehen konnte. Immer wenn sie die Absicht hatte, mit ihm zu sprechen, erwartete Pavel, dass sie ihren Damenbart mit den Fingern glätten würde. Es gab auch andere Frauen wie sie. Er traf sie auf der Straße. Aber keiner war ihr Damenbart so gleichgültig. Sie jedoch hatte ihn wachsen lassen. Hart werden lassen. Und jetzt passte er seiner Meinung nach zu ihrem beinahe quadratischen Körper, den dicken Armen und den schweren Beinen. Sie sah aus wie eine Cousine des berühmten Ringers Dan Kolov. Manchmal kommentierte er höhnisch ihr Äußeres. Für gewöhnlich schenkte sie ihm keine Beachtung. Sie riet ihm, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Und sie in Ruhe zu lassen. Manchmal erklärte sie ihm großmütig, warum er verhältnismäßig schlank und groß war. Es stellte sich heraus, dass ihr Bruder Ljubo, der irgendwann einmal Partisan gewesen war und den sie später wegen anarchistischer Aktivitäten ins Lager Belene am Arsch der Welt gesteckt hatten, Pavel ähnlich gewesen war. Und auch Peca, wie sie ihren Sohn nannte, also sein Vater, war wie er. Peca hatte er nur auf einem Foto gesehen. Ein altes, vergilbtes und schmutziges Foto. Er hatte einen Leichtathletikwettkampf in der Schule gewonnen und posierte mit einer Urkunde in Händen.

Auf dem Foto hatte Peca, der sein Vater war, aber irgendwie auch nicht, einen Mittelscheitel. Gute Figur, fesch herausgeputzt. Jetzt hatte er eine Glatze. Irgendwie konnte er ihn sich nicht vorstellen, so sehr er es auch versuchte. Er lebte, zumindest in den letzten Jahren, in Sacramento, dem administrativen Zentrum Kaliforniens. Dieses Wissen verdankte er ihm. Es sei ein weitläufiges, aber ordentliches Städtchen, was ihn nicht weiter verwunderte. Amerika war Amerika. Seltsam fand er nur, dass sich Sacramento und nicht L. A. als Hauptstadt des Staates herausstellte.

Sein Vater war vor zwanzig Jahren geflohen. Damals war es gefährlich gewesen, das Land zu verlassen. Die Chancen standen gut, dass man erschossen wurde. Oder dass man auf eine Bodenmine trat. Jetzt riskierten, so schien es ihm, an der Grenze nur noch Kurden, Zigeuner und Prostituierte ihr Leben. In den Zeitungen wurde über sie geschrieben. Sie suchten ihr Glück in den Nachbarländern. Wollten alle in den Westen. Zu Pecas Zeiten war das entschieden gefährlicher gewesen. Als er versuchte, die Grenze zu überschreiten – einmal hing er erfolglos unter dem Zug nach Jugoslawien, beim zweiten Versuch hatte er jedoch Erfolg –, da war Pavel noch im Warmen, in Didas Bauch. So hieß seine Mutter. Die Details erfuhr er natürlich von seiner Großmutter. Sie erzählte ihre Version der Ereignisse. Manchmal berief sie sich auf das, was sie von einem Freund Pecas zwei Jahre später gehört hatten, als der aus dem Gefängnis gekommen war. Ihm war es nicht gelungen, die Grenze in Triest zu überschreiten. Peca und der Dicke, der andere aus der Gruppe, waren über den Zaun gesprungen. Den dritten hielten die jugoslawischen Grenzer auf. Es waren ganz junge Burschen. Sie wiederholten, dass sie schießen würden. Aber sie schossen nicht. Peca und der Dicke riskierten es und sprangen über den Grenzzaun. Der dritte, mit dem sich seine Großmutter irgendwann getroffen hatte, obwohl er sonst alle Verbindungen zu seiner Vergangenheit mied, hatte Angst bekommen und war gefasst worden.

Danach hätten sich die beiden in Triest herumgetrieben, bis sie am Ende einer Polizeistreife auffielen. Dort war man an solche Ausflügler gewöhnt. Seine Großmutter erwähnte auch oft Mirko – sie sagte immer: »Möge Gott ihn behüten!« –, den die drei schon im Bus kennengelernt hatten. Mirko war auf dem Heimweg aus der Kaserne gewesen. Sie unterhielten sich, und bald stellte sich heraus, dass er helfen könnte, sie an ihr Ziel zu bringen. Die drei tauschten unsichere Blicke aus. Alles fügte sich bedenklich gut. Es wäre ganz normal gewesen, wenn Mirko sie hereinlegte. Nach kurzer Beratung gaben sie ihm fünfhundert Mark. So hatte er schon einen Grund, nach Triest zurückzukehren. Er erwies sich als cooler Typ, tat, was nötig war, zeigte ihnen, wo sie die Grenze passieren könnten und winkte zum Abschied. »Wie’s weitergeht, müsst ihr selber wissen«, sagte er und brach auf. Er hatte sich sein Geld verdient.

An der Erzählung seiner Großmutter beeindruckte ihn am meisten, wie Peca und seine Freunde sich unter den Zug gebunden hatten. Es beeindruckte ihn auch die Art und Weise, wie die beiden die hundert Meter zurückgelegt hatten, die sie noch vom Zaun trennten. Die Läufe von Maschinenpistolen waren auf sie gerichtet. Pavel wusste nicht, ob er eine solche Prüfung bestehen würde. Vergeblich suchte er in sich die Fähigkeit für solch eine Waghalsigkeit. Aber er konnte sie auch nicht im Gesichtsausdruck des Jungen, der den Schulwettbewerb in Leichtathletik gewonnen hatte, entdecken. Er fragte seine Großmutter, in welcher Disziplin Peca angetreten war. Sie wusste es natürlich nicht. Und so sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht, den Text der Urkunde zu lesen.

Seit damals hatte sich Peca bei niemandem mehr gemeldet. Nicht einmal bei seiner Mutter. Das heißt bei Pavels Großmutter. Nicht eine Zeile kam. Neuigkeiten brachten erst einige mutige Emigranten, die es wagten zurückzukehren. Das waren herausgelockte, erbettelte Nachrichten. Nicht etwa Peca wollte, dass man sie überbringe. Der einzige reale Beweis dafür, dass er sich an jemanden in Bulgarien erinnerte, waren die hundert Dollar, die er Pavels Großmutter immer zum Geburtstag in einem Umschlag schickte. Immer vorsichtig gefaltet zwischen dicken Blättern Papier. Seine Großmutter bewahrte die Dollars und die leeren weißen Blätter am selben Ort auf. Für sie war beides gleich kostbar. Es fehlte nur ein Blatt. Er wagte es nicht, mehr zu nehmen. Aber auch in diesem Fall machte sie ihm einen Riesenszene. Er gab nicht zu, dass er es erhitzt hatte, er suchte nach einer Botschaft, die mit Geheimtinte geschrieben war. Er war sich sicher, dass er am Ende etwas entdecken würde. Aber als die Oberfläche dunkel zu werden begann und er erwartete, dass Wörter auftauchen würden, fing das Blatt Feuer und verbrannte.

Er würde ihm schreiben, wenn er nur seine Adresse hätte. Er war sogar bereit, ihn zu besuchen. Seine Großmutter hatte schon fast zweitausend Dollar gesammelt. Das würde sowohl für die Hinals auch für die Rückfahrt reichen, falls es ihm dort nicht gefiel. Aber wenn er daran dachte, dass es ihm auch hier gefiel, gleich welche verrückten Dinge ihm auch passierten, was würde er dann erst zu Amerika sagen. Er würde Peca erklären, dass er schon lang keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter unterhielt. Letzten Monat hatte sie zum fünften Mal geheiratet. Wen, war ihm egal. Dida fand immer passende Männer, die bald unpassend wurden. Sie trennte sich von ihnen, ohne es zu bereuen. Pavel tat es manchmal um einen fröhlichen Kerl leid. Aber das war schon ziemlich lange her. Jetzt interessierten ihn ihre Ehen nicht mehr. Überhaupt nicht. Er war sauber, falls Peca meinen sollte, Dida würde ihn aus Zorn über seine unerwartete Flucht gegen ihn aufwiegeln. Verlassen, verletzt, machtlos – so beschrieb sie ihren damaligen Zustand. Sie bestritt, dass es irgendwelche triftigen Gründe dafür gegeben habe, dass Peca sie verließ. Sie liebte ihn, er war ihr Erster, und er, so schien es ihr, liebte sie auch. Sie wusste nicht, was genau geschehen war. Irgendein Wahnsinn habe ihn befallen. Die ganze Nacht über habe er The Voice of America gehört. Er nahm die Sendungen sogar auf. Das bedeutete, dass er sie auch den ganzen Tag über hörte. Er war Rettungsschwimmer im Schwimmbad »Republika«, und die Saison war schon zu Ende. Er hatte nicht die Absicht, eine neue Arbeit anzunehmen. Statt dessen wurde er Geldwechsler und sie verfügten über Geld. Aber sie lebten nicht normal. Peca wurde immer schweigsamer. Manchmal kam der Dicke, dann flüsterten sie und verrieten nichts. Didas Ansicht war, er hätte einen Hass gegen alles entwickelt, was ihn mit diesem Ort verband. Sie meinte Bulgarien. Die Milizionäre, der Abschnittsbevollmächtigte, die Tratschtanten in der Nachbarschaft. Er hasste Sofia, sein Haus, sogar die Leute, von denen man annahm, er müsse sie lieben. Jedes Gefühl war ein Seil, das ihn band und durchschnitten werden musste.

Pavel fragte sich, warum er Dida und ihn nicht später über das Rote Kreuz nachgeholt hatte. Das wäre die einzige Möglichkeit gewesen. Er hatte Dida unendlich oft gebeten, ihm zu sagen, was sie verheimlichte. Ein Geheimnis, ein verborgener Schritt. Sie leugnete immer, dass es auch nur irgendetwas Schlechtes zwischen ihnen gegeben hätte. Das verwirrte ihn noch mehr. Aber er versuchte, sich Pecas Verhalten zu erklären. Oft träumte er von ihm, wie er die Urkunde vom Leichtathletikwettkampf in der Hand hielt. Dann waren Pavel und der Junge auf dem Foto Freunde. Dort war Peca noch ein paar Jahre jünger. Aber Pavel sprach nicht gönnerhaft mit ihm. Zwischen ihnen hatte sich seit Jahren nichts verändert. Er sagte ihm nicht einmal, dass er aus der Kaserne entlassen worden war. Im Traum standen die beiden einfach nebeneinander. Sie unterhielten sich, lachten manchmal sogar.


Sicherlich möchtest du wissen, ob der Dicke und ich uns gegenseitig helfen. Ob wir gemeinsam im Supermarkt stehlen. An der Bushaltestelle. Inmitten der Leute, die sich aus mir unbekannten Gründen versammelt haben. Doch sie sprechen ganz freundschaftlich miteinander. Sie mustern dich und sie mustern dich nicht, damit du dich besser fühlst. Normal, wie man sagt. Aber du durchwühlst ihre Taschen. Wie der Dicke und ich uns gegenseitig helfen? Er mir dabei, vor Scham zu sterben, und ich ihm, seinen Wunsch zu erfüllen, zu sterben. So schnell wie möglich. Am besten sofort. Du weißt nicht, was es bedeutet, jemanden fast ohne Grund zu hassen, nur weil er die Taschen der Leute durchwühlt. Während sie sich freundschaftlich unterhalten und versuchen, dir nicht im Weg zu stehen, weil sie der Meinung sind, dass du einer von ihnen sein möchtest. Ihn so sehr zu hassen, dass du ihn anschreist. Ja, anschreist. Und er versteht dich nicht. Er schaut beschämt und versteht dich nicht. Während du schreist. Immer wütender darüber, dass dein Schrei ihn nicht umbringt.

Ich schoss wie der Korken einer Sektflasche heraus. Ich hatte nichts mehr mit der Flasche gemein. Ich war weder Sekt noch Flasche. Nur ein fliegender Korken. Ich landete nicht. Ich fiel irgendwo hinunter. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ausgerechnet hierher geraten wollte. Irgendein ungeheuerlicher Zufall hat seine Finger im Spiel gehabt und mich an diesen Ort gebracht. Ohne dass ich irgendjemanden kennen würde. Ohne jemanden kennenlernen zu wollen. Und ich kann nicht einmal mehr einen Zeitraum überspringen, zu irgendwelchen kommenden Monaten und Jahren, wo das Licht der Zukunft alles annehmbarer macht. Ich habe gelernt, jede Andeutung einer besseren Zukunft zu hassen.

Ich war überzeugt, dass Zukunft eine Lüge ist. Selbst wenn ich sie mir selbst ausmalte. Aber ich male sie mir nicht aus. So wie ich mir auch den Korken eines längst geköpften Sekts nicht ausmalen kann. Ich bin einfach an diesem Ort heruntergefallen. Es fiel mir verhältnismäßig leicht, den Dicken nicht mehr zu bemerken. Ich wundere mich nicht darüber, dass er sich darüber wundert, dass ich ihn hasse. Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen. Ich hasse ihn nicht mehr. Ich bin mir sicher, dass ich ihn nie wieder sehen werde. Es gelingt mir bei so vielen anderen Menschen in meiner Umgebung, sie nicht zu bemerken. Es bedarf nicht einmal einer Anstrengung, den Dicken nie mehr wiederzusehen.

Jetzt bin ich mir bereits sicher, dass ich ihn nicht sehen werde. Mehr nicht. Ich werde ihm nicht verzeihen, wie leicht er sich den Widerlichkeiten hingegeben hat. Er selbst wurde widerlich. Ich werde es ihm nicht einmal nach einem, nicht nach zwei Jahren verzeihen. So wie es für gewöhnlich passiert. Ich werde ihn einfach nur nicht mehr sehen. Ich werde ihn auch vergessen. Das ist ganz leicht. Dreimal mit den Fingern schnippen. Ich sehe mich um, als wäre ich vor Sekunden zur Welt gekommen. Ich kenne niemanden um mich herum. Ich erinnere mich nur an dich, liebe Mutter. Und deshalb möchte ich niemanden kennenlernen.


»Also gut, hast du denn wenigstens eine Vorstellung davon, was du in nächster Zeit machen willst?«, fragte ihn seine Großmutter, während sie ihm Tee einschenkte. »In den nächsten paar Monaten. Oder einem Jahr. Es ist normal, zu planen, was man im nächsten Jahr tun will. Auch wenn nicht alles zu hundert Prozent realisierbar ist.«

»Ich weiß, was ich nicht tun werde«, antwortete Pavel und tat sich mit einem Esslöffel Honig in den Tee. »Ich werde nie wieder Wodka trinken. Nicht in solchen Mengen.«

»Denk realistisch. Bleib am Boden.«

»Was meinst du damit?«

»Wir können morgens gemeinsam arbeiten gehen. Wir werden mehr an den Kartons verdienen. Das lohnt sich, nur dass du es weißt. Du musst nur in einigen Cafés und Geschäften Kontakte aufbauen. Wir können auch noch ein paar Treppen mehr putzen.«

»Ich will keine Firma mit dir gründen. Ich werde mein eigenes Privatunternehmen aufbauen. So sagt man doch?«

»Mach, was du willst. Aber von mir wirst du kein Geld bekommen. Iss, was im Kühlschrank ist. Aber Geld wirst du nur haben, wenn du es dir selbst verdienst.«

»Du hast mir doch dreihundert Dollar gegeben«, erinnerte sie Pavel. »Offenbar ist dir die Idee vom Essen ohne Geld erst später gekommen.«

»Die sind von deinem Vater. Nach der Entlassung solltest du dich fühlen wie ein Mann.«

»Ich kann es immer noch nicht ganz.«

»Warum bestellst du dir nicht eine übers Telefon?« Seine Großmutter sah ihn spöttisch an. »Die Zeitung ist voll von Annoncen.«

»Wir haben kein Telefon.«

»Bestell dir eine von der Telefonzelle aus.«

»Das geht nicht. Aber ich kann vom Billardsalon aus anrufen. Dort bestellt der Chef manchmal welche für allerlei Bonzen.«

»Dann bestell dir von dort eine.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass der Chef sie bestellt. Ich weiß nicht, ob er Lust haben wird, mir eine zu bestellen. Ich denk eher, er wird keine haben. Oder er wird mich verspotten.«

»Wie viele Dollar sind dir noch geblieben?«

»Ich habe sie nicht angerührt.«

»Dann hast du kein Problem«, sagte seine Großmutter und stand auf. »Wenn du bar zahlst, hat es keine Bedeutung, wer du bist. So ist das in Bulgarien. Du bestellst dir, was du haben möchtest. Und kannst sogar ein finsteres Gesicht machen, wenn es dir nicht gefällt.«

Er wollte sie gern bitten, heute keine Kartons zu sammeln. Und die x Treppen, die sie putzte, konnten auch warten. Sie sollte mit ihm zum Billardsalon gehen und ihm eine Frau bestellen. Sie kennt sich da besser aus. Er hatte schon längst die Schnauze voll, auf eine romantische Liebe zu warten. Überhaupt auf irgendeine Liebe zu warten. Er hasste den durstigen Blick, mit dem er jedes Gesicht einer Frau, ihren Gang, ihre zufälligen Gesten prüfte. Er hatte immer Angst, es könnte die Richtige sein und er könnte sie verpassen. Aber die Richtige nahm einen anderen Weg. Oder sie waren aneinander vorbeigegangen, falls er sie doch getroffen haben sollte. Er hatte sich auch schon vor dem gestrigen Verschwinden von Mariana endgültig mit der Situation abgefunden. Er erwartete, dass er nicht zum Ziel kam.

Sonst war ihm im Billardsalon alles schmerzlich bekannt. Er beobachtete das Ritual oft. Die Bonzen spielten erst Billard, danach steckten sie einige hundert Tausender in die Automaten. Zwischenzeitlich leerten sie drei, vier finnische oder schwedische Wodkas. Dann war der Chef, rausgeputzt mit Anzug und Krawatte, immer zur Stelle. Lächelnd, was gleichzeitig fröhlich leuchtende Augen und viele und gleichmäßige Zähne bedeutete. Er nahm die Bestellung wie ein vertrauter Freund entgegen. Für gewöhnlich hatte er schon die Nummer des Clubs gewählt. Der Bonze musste nur im Voraus seine Vorlieben bekanntgeben. Blond oder dunkel. Dick oder dünn. Oder volles Programm. Einer verlangte eine Rothaarige. Überall rothaarig, fügte er hinzu, als sie sich daran machten, das von ihm gewünschte Modell zu suchen. Sie riefen in anderen Clubs an. Es dauerte ein wenig, aber am Ende tauchte eine Rothaarige mit Sommersprossen auf. Er betrachtete sie mit leicht zusammengekniffenen Augen. Offenbar unterschieden sich Wunsch und Wirklichkeit. Der Typ bezahlte, was der Spaß kostete, und ging wieder zu den Automaten. Er beachtete sie gar nicht weiter. Pavel wollte ihn bitten, ob es nicht möglich wäre, an seiner Stelle mit ihr zu verschwinden. Um dem Mädchen die Enttäuschung zu ersparen. Sie wäre sonst bestimmt traumatisiert. Aber jede Einmischung in eine solche Situation barg in sich eine reale Gefahr. Sie würden ihn aus dem Billardsalon werfen. Oder er würde eine in den Nacken bekommen.

»Also gut, ich gehe!«, verkündete seine Großmutter. »Du iss, trink und denk nach. Es wird dir schon was einfallen.«

»Zuerst will ich mir eine Freundin zulegen.«

»So wie ich dich kenne, können Jahre bis dahin vergehen.«

»Entmutige mich nicht.«

»Ich habe dich mit dreihundert Dollar ermutigt. Was willst du noch?«

Der Schmerz hatte sich im vorderen Teil des Schädels lokalisiert. Dort lagen die Zentren für allerlei höhere Funktionen. Bedeutete das, dass er sich in der Nacht mit seinen niederen Funktionen auseinandergesetzt hatte? Er schaute skeptisch zum Pyjama zwischen seinen Beinen. Dort hatte sich ein Zelt aufgestellt. Eine unverschämte Demonstration. Ein selbstzufriedenes Zeichen seiner unerschöpflichen niederen Funktionen. Er könnte sich einen runterholen. Oder pinkeln gehen. Er hielt ihn ein wenig zwischen seinen Fingern. Er würde pinkeln gehen. Er war in einem erbarmungswürdigen Zustand, und das Wichsen würde ihn vollends fertig machen.

Er wartete, bis seine Großmutter gegangen war, und schleppte sich aufs Klo. Bis er die Kloschüssel erreicht hatte, war er schon weich geworden, und er konnte in Ruhe pinkeln. Er hatte keine Lust, länger zu Hause zu sitzen. Er begann, seine Kleider zusammenzusuchen. Gestern Nacht hatte er seine Hose über den Kleiderhaken neben der Tür geworfen. Seine Boxershorts waren unter dem Stuhl. Er legte alle seine Klamotten auf einen Haufen und betrachtete sie. Die Kopfschmerzen blitzten erneut auf. Jetzt wartete er auf ein Abebben des Schmerzes. Er beugte sich langsam hinunter, hockte sich hin. Er war sich nicht sicher, ob das der passendste Moment war. Aber er begann, sich anzuziehen.


Der Abschnittsbevollmächtigte, nicht das kleine Männlein, das er war, sondern ein Riese, geradezu ein Koloss, setzt ein Bein vor das andere und führt eine Kolonne von ebenso riesigen, schwer hinter ihm Auftretenden an. Am Anfang erkannte er sie nicht. Aber jetzt gelingt es ihm. Hinter dem Abschnittskoloss entdeckt er den Komsomolsekretär des Gymnasiums. Er trägt eine Brille. Auch jetzt. Sie prangt stabil in seinem Gesicht. Er wiederholt, dass er überall nur Einsen hat.

Der Weg nach Sacramento

Подняться наверх