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DREI

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Auch sein erster voller Arbeitstag begann mit einer Andacht, dieses Mal allerdings gemeinsam mit Pfarrerin Margaret und ihrem Mann Frank, die um halb neun am Kircheneingang zur Morgenandacht zu ihm stießen. Ein bisschen unruhig schaute Neil zu, wie die Pastorin das schwere Kirchenportal aufschloss, das bei seinem ersten Besuch von St. Stephen's solche Probleme gemacht hatte. Margaret registrierte sein Unbehagen und lächelte ihm zu, bevor sie den Mittelgang entlang zur Sakristei vorausging und sich dabei die Zeit nahm, ihm zu erklären, wo er finden konnte, was er brauchte, wenn er in der Kirche war. Als sie wieder aus der Sakristei zurückkamen, stellte Neil erfreut fest, dass sich noch ein paar weitere Gemeindeglieder eingefunden hatten. Peter, der Vorsitzende des Kirchenvorstandes – diesmal Gott sei Dank ohne seine furchterregende Ehefrau – winkte ihm vom anderen Ende der Kirche aus zu, wo er neben einer zierlichen Frau mittleren Alters stand und sich mit ihr unterhielt. Auf dem Weg zu der kleinen Kapelle, die in einem Seitenschiff der Kirche untergebracht war, entdeckte er ein weiteres neues Gesicht, einen älteren Mann, dessen blaue Augen freundlich unter buschigen Brauen und einem wuscheligen Haarschopf von gleicher Farbe zwinkerten.

Er kam auf Neil zu und stellte sich vor. »Ich bin Harry Holloway«, sagte er. »Herzlich willkommen in St. Stephen's!«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Harry«, entgegnete Neil. »Sie sind also offenbar auch ein Frühaufsteher!«

»Ja, so bin ich es schon mein ganzes Leben lang gewohnt«, antwortete Harry lächelnd. »Ich war vierzig Jahre lang Milchmann und habe morgens den Leuten ihre Milch ins Haus geliefert. Sobald es draußen hell wird, kann ich nicht mehr schlafen. Auch heute bin ich schon um fünf Uhr aufgestanden, und deshalb fühlt es sich für mich jetzt auch schon fast wie Mittagszeit an.«

»Dann kommen Sie also regelmäßig zur Morgenandacht?«

»Ja, wenn eine stattfindet, bin ich dabei – aber ich komme eigentlich immer gerne her, weil ich mich hier in der Kirche an meine Rose erinnere. Es ist unmöglich, hier drinnen nicht an sie zu denken, denn wir haben vor einundfünfzig Jahren in dieser Kirche geheiratet. Sie hat es leider nicht ganz bis zu unserer goldenen Hochzeit geschafft, was jammerschade ist, weil ich nämlich zu dem Anlass mit ihr eine Reise nach Rom machen wollte. Sie wollte schon immer gerne einmal dorthin und drei Münzen in diesen Brunnen werfen …«

»In den Trevi-Brunnen …?«

»Ja, genauso heißt er. Ihr hat den Song von Frank Sinatra darüber immer so gut gefallen«, sagte er leise glucksend. »Aber Sie sind viel zu jung, um sich an das Lied zu erinnern.«

»Doch, ich kenne die Aufnahme, die Sie meinen. Sie ist auch auf dem Sinatra-Album, das ich meiner Mutter vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt habe.«

»Also Rose fand das jedenfalls total romantisch, und sie hat sich immer bei mir beschwert, ich wäre kein bisschen romantisch. Na ja, aber wenn man so lange verheiratet ist, wie wir es waren, dann verfliegt ja meistens doch irgendwann die Romantik.«

»Und Romantik ist ja auch nicht alles«, stimmte Neil zu und hoffte, wie jemand zu klingen, der sich mit diesem Thema auskannte, obwohl seine Erfolgsbilanz in Sachen Beziehungen eher mager war – gelinde gesagt. »Letztlich kommt es doch darauf an, dass man sich liebt …«

Neil hielt mitten im Satz inne, als er sah, dass in Harrys blauen Augen Tränen schimmerten.

»Genau das ist der andere Grund, weshalb ich nachts nicht schlafen kann«, sagte Harry jetzt, und seine Stimme war eigentlich kaum noch mehr als ein Flüstern. »Ich habe sie geliebt. Natürlich habe ich das. Sie war meine Welt, mein Ein und Alles – aber ich habe es ihr nie gesagt – wissen Sie? Ich habe immer gedacht, sie wüsste ja sowieso, was ich für sie empfinde. Warum wäre ich denn wohl sonst jeden Tag zur Arbeit gegangen und hätte die Familie versorgt? Wieso hätte ich denn sonst all die kleinen Reparaturen und Verschönerungen am Haus vornehmen sollen? Ich habe sie geliebt. Das hätte sie wissen sollen.«

»Aber Sie sind nicht sicher, ob sie es gewusst hat?«, fragte Neil leise nach.

»Bei ihrer Beerdigung hat mir ihre Freundin Elsie – die beiden kannten sich schon aus dem Sandkasten – gesagt, Rose hätte sich immer wieder darüber beschwert, dass ich ihr nie sagen würde, dass ich sie liebe.«

Der alte Mann holte ein ordentlich gebügeltes und gefaltetes weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich damit diskret Augen und Nase ab. Neil schaute schweigend zu und wusste nicht so recht, was er sagen sollte.

»Ich komme also an den meisten Tagen an den Ort, wo wir jeden Sonntag zusammen gesessen haben. Und wenn ich dann bete, dann bitte ich Gott, dafür zu sorgen, dass es ihr gut geht, und ihr auszurichten, dass ich sie liebe. Das kann er doch, oder?«

»Auf jeden Fall kann er das«, bestätigte Neil.

»Ich vermisse sie so.«

»Wie lange sind Sie denn jetzt schon allein?«

»Nächsten Monat werden es zwei Jahre – und wissen Sie, ich bin immer noch genauso wund wie damals, vielleicht sogar noch mehr. Rosie ist auf dem Friedhof hier an der Kirche begraben, weiter hinten, oberhalb des Flusses. Irgendwann werde ich auch dort liegen, und ehrlich gesagt sehne ich mich danach, wieder mit ihr zusammen zu sein. Dann kann ich alles mit ihr klären, nicht wahr? Dann kann ich ihr endlich sagen, was ich ihr jeden Tag hätte sagen sollen, den wir zusammen waren.«

»Wenn Sie dann so weit wären, Neil …«, hörte Neil Margaret sagen, und als er aufblickte, sah er, dass sie schon ihren Platz vorne eingenommen hatte.

»Können wir dann endlich anfangen?«

Mit einem schiefen Grinsen schaute Harry in Margarets Richtung und sagte leise: »Ja, das können sie, die Frauen, einem Schuldgefühle machen, auch wenn man gar nichts falsch gemacht hat. Darin war auch Rose richtig gut.«

»Aber Sie haben doch gar nichts falsch gemacht, Harry. Ihre Frau hat bestimmt Ihre liebevolle Fürsorge erkannt und verstanden, dass Sie sie lieben, auch wenn Sie das vielleicht nie ausgesprochen haben.«

»Kommen Sie jetzt, Neil, oder nicht?«, fragte Margaret in einem Tonfall, der ihn an eine Schuldirektorin erinnerte, die er einmal gehabt hatte.

»Ich komme!«, rief Neil zurück.

»Das tut Weihnachten auch!«, entgegnete Margaret mit einem Augenzwinkern. »Geht es vielleicht auch ein bisschen schneller?«

Harry grinste, als Neil rot wurde und nach vorn eilte, um dort seinen Platz einzunehmen.

Neil hatte es schon immer als beruhigend und hilfreich empfunden, den vor ihm liegenden Tag ganz in Gottes Hand zu legen. Die vertrauten Worte des Morgengebetes an seinem ersten Tag als Vikar in der neuen Gemeinde zu sprechen fühlte sich ganz besonders und sehr persönlich an, und am Ende der kurzen Andacht war Neils Stimmung beschwingt, und er war zuversichtlich in Bezug auf alles, was ihm der neue Lebensabschnitt bringen würde. Er hatte gehofft, hinterher noch kurz mit Harry reden zu können, aber anscheinend war der alte Mann sofort nach Ende der Andacht wieder gegangen. Wer allerdings unbedingt noch ein paar Worte mit Neil wechseln wollte, war Margaret.

»So!«, sagte sie in barschem Ton. »Ich habe jetzt einen Termin mit einer Frau aus der Gemeinde, die zurzeit heftige familiäre Probleme hat. Ich glaube es wäre ihr lieber, wenn ich erst einmal allein komme. Ich stelle sie Ihnen dann zu gegebener Zeit vor – und am Sonntagmorgen werden Sie ja sowieso der ganzen Gemeinde vorgestellt. Am Sonntag ist der Gottesdienst bestimmt besonders gut besucht, denn wo Sie jetzt endlich da sind, wollen eigentlich alle kommen, um Sie zu begutachten.«

»Ach«, seufzte Neil, für den wegen seiner angeborenen Schüchternheit die Aussicht, von den Gemeindegliedern beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden, höchst erschreckend war, »dann hoffe ich mal, dass sie nicht enttäuscht sind.«

»Na, das liegt ja nun ganz bei Ihnen!«, entgegnete Margaret daraufhin, und Neil war richtig erleichtert, als er sah, wie ihr trotz ihrer knappen, fast barschen Entgegnung ein weiches Lächeln übers Gesicht huschte.

Und sie hatte natürlich recht. Natürlich war sein Leben das, was er daraus machte. War das nicht auf dem ganzen Weg, den er bis jetzt schon hinter sich hatte, der springende Punkt gewesen? Urplötzlich kam ihm das Bild seiner Mutter mit ihrer gewohnt verbitterten und enttäuschten Miene in den Sinn, und er straffte unwillkürlich die Schultern und zog seine Jacke an.

»Und was soll ich tun, solange Sie weg sind?«

Margaret schaute kurz auf ihre Uhr und sagte dann: »Es ist jetzt Viertel nach neun, um halb zehn beginnt im Gemeindesaal der Spielkreis. Fragen Sie einfach nach Barbara, das ist die Mitarbeiterin, die für den Spielkreis zuständig ist. Lassen Sie sich kurz dort sehen und sagen Sie Hallo. Das ist bestimmt auch eine gute Möglichkeit, ein paar der Leute hier aus dem Ort kennenzulernen. Danach können Sie gern wieder ins Pfarrhaus kommen, dann essen wir dort zusammen eine Kleinigkeit zum Mittag. Ich werde Frank bitten, uns ein Sandwich zu basteln, und danach können wir uns anschauen, was diese Woche so anliegt und einen Arbeits- und Aufgabenplan für Sie machen, ja?«

»Ja, gut!«

Als die gefürchtete Kirchentür ge- und auch verschlossen war, ging Neil einfach hinter Margaret her.

»Neil.« Margarets Stimme klang betont geduldig. »Ich gehe in diese Richtung, weil mein Haus in dieser Richtung liegt. Sie gehen zum Gemeindesaal – und der ist da drüben!«

Er spürte, wie sie ihn mit beiden Händen fest an den Schultern packte und umdrehte, sodass er genau in die entgegengesetzte Richtung schaute.

»Den Weg dort entlang zu dem großen Gebäude, bei dem es durchs Dach regnet, mit den Fenstern, die unbedingt einen frischen Anstrich bräuchten. Sie können es gar nicht verfehlen!«

Und mit diesen Worten ging Margaret zielstrebig ihres Weges. Auch Neil machte sich auf den Weg, allerdings sehr viel langsamer und zaghafter, und dabei schaute er sich die Namen auf den Grabsteinen zu beiden Seiten des Weges an. Die meisten davon waren hundert Jahre alt oder sogar noch älter, aber sein Vater hatte ihm beigebracht, sich bei den Namen, Daten und manchmal auch kurzen Inschriften auf den Grabsteinen die entsprechenden Geschichten der Personen vorzustellen. Er blieb kurz stehen, um zu überlegen, was wohl das Schicksal der Familie von William Stephen Allard gewesen war, den man 1868 zur letzten Ruhe gebettet hatte, nur drei Jahre nach seiner jungen Frau Mary, die im Kindbett gestorben war. Mutter, Vater und Kind waren im selben Grab begraben – für immer vereint. Neil fragte sich, woran William wohl gestorben sein mochte, an einer zur damaligen Zeit üblichen Krankheit – oder an gebrochenem Herzen? Als Neil weiterging, war er voller Mitgefühl. Der von Buchen gesäumte Weg war gesprenkelt von dem Sonnenlicht, das seinen Weg zwischen den roten und grünen Blättern der ausladenden Äste hindurchfand. Als Neil hinter die Reihe von Buchen schaute, bemerkte er, dass das Gelände dort abschüssig war, wahrscheinlich zum Fluss hin, den Harry vorhin erwähnt hatte. Irgendwo dort hinten musste also Roses Grab sein – und es dauerte gar nicht lange, da hatte Neil es tatsächlich gefunden. Es war prachtvoll bepflanzt mit Primeln, die in allen Farben leuchteten – ganz sicher Harrys Werk. Es war deutlich zu erkennen, dass hinter der phantasievollen Gestaltung und offensichtlichen Pflege des Grabes mehr steckte als nur Pflichtgefühl oder Gewohnheit. Das hier war seine Rose, und die Pflanzen wurzelten in Liebe.

Neil wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als die Kirchturmuhr zur halben Stunde schlug. Er kehrte also rasch wieder um zum Hauptweg und erreichte kurz darauf das schmiedeeiserne Tor, durch das es weiter zum Gemeindesaal ging. Das Tor hatte ganz offensichtlich schon bessere Tage gesehen, denn als Neil den Riegel hochhob und versuchte, es aufzudrücken, rührte es sich nicht. Er stieß daraufhin ein paar Mal, schon etwas heftiger, mit der Handfläche dagegen, und als auch das nichts nützte, gab er dem Tor schließlich einen Tritt, hinter dem der gesamte, geballte Frust steckte, den er verspürte. Doch auch diese Maßnahme blieb völlig wirkungslos. Das Tor blieb zu.

»Ziehen!«, hörte er eine Stimme sagen.

Neil drehte sich abrupt um und sah sich dem kühlen Blick der grünsten Augen ausgesetzt, die er jemals gesehen hatte. Sie gehörten einer zierlichen jungen Frau mit Igelfrisur in Gummistiefeln, die ihm, auf eine Gartenforke gestützt, mit der sie allem Anschein nach gerade in einem der Blumenbeete gearbeitet hatte, mit abgeklärtem Interesse zuschaute.

»Nicht drücken, sondern ziehen. Es geht nach innen auf.«

»Ach so!«, murmelte Neil und lief hochrot an, als er merkte, dass sich das Tor mit Leichtigkeit aufziehen ließ.

»Sie müssen der neue Vikar sein«, fuhr Grünauge fort. »Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie ein Problem mit Riegeln und Schlössern haben.«

»Eigentlich gar nicht«, entgegnete Neil mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte. »Ich bin auf dem Weg zum Gemeindesaal.«

»Durch das Tor und dann nach rechts. Der Seiteneingang ist offen.« Und dann verzog sie ihr Gesicht plötzlich zu einem spitzbübischem Grinsen und fügte noch hinzu: »Aber vielleicht ja auch nicht, wenn Sie davorstehen. Soll ich lieber mitkommen, damit Sie damit zurechtkommen?«

»Ich komme schon allein zurecht, danke«, entgegnete Neil steif. »Guten Tag.«

Und als er weiterging mit einer, wie er hoffte, Aura der Selbstsicherheit, konnte er sich ganz genau den amüsierten Blick vorstellen, mit dem sie ihm nachschaute.

Am Ende war es dann kein Problem, durch den Seiteneingang ins Gemeindehaus hineinzugelangen, aber es erwies sich als echte Herausforderung, sich zu orientieren, als er erst einmal in dem Gebäude war. Der besagte Seiteneingang führte nämlich in eine große Eingangshalle, die an beiden Seiten mit Garderobenhaken und Bänken ausgestattet war – zumindest war es das, was Neil durch den Pulk schwatzender, gelegentlich schreiender Kinder und ihrer Mütter sehen zu können glaubte, wobei die Mienen Letzterer von völlig vernarrt bis völlig entnervt reichten, während sie ihren aufgeregten Nachwuchs aus Jacken und Stiefeln pellten und ihm Hausschuhe und quietschbunte Overalls anzogen.

»So, bitte ein bisschen leiser jetzt! Vergesst nicht, eure Namensschildchen anzukleben, damit auch jeder weiß, wer ihr seid!«, war über das ganze Chaos hinweg eine Stimme zu hören, die Autorität ausstrahlte. »Du willst als Erstes in den Sandkasten, nicht wahr, Joseph? Dann geh mal los und suche Debbie, die ist heute fürs Sandspielen zuständig. Lass das Phoebe, ja? So ist brav! Schau mal, da drüben wartet Amy schon auf dich. Dahinten im Spielhaus, siehst du? Ach, da bin ich aber froh, dass ich Sie sehe, Mrs. Howard. Sie sind ein bisschen im Rückstand mit Ihrem Beitrag. Könnten Sie ihn vielleicht heute bezahlen? Schau mal bei Christine nach. Sie hat die Bücher. Ja! Kann ich etwas für Sie tun?«

Erst jetzt merkte Neil, dass die Frau mit den kurzen Haaren und der lauten Stimme, die die Ansagen gemacht hatte, mit dieser letzten Frage ihn gemeint hatte. Als sie seinen Pastorenkragen sah, lächelte sie.

»Ach, endlich lernen wir uns kennen! Sie müssen der neue Vikar sein.«

»Neil Fisher«, stellte er sich vor und fragte dann grinsend: »Brauche ich auch einen Namenssticker?«

»Gar keine schlechte Idee. Ich habe jedenfalls einen«, sagte sie und zeigte vage auf den Klebesticker auf ihrem Overall, auf dem in roten Großbuchstaben BARBARA stand. Bevor Neil auch nur Luft holen konnte, hatte sie einen Filzstift gezückt und pappte ihm ein Etikett mit der Aufschrift NEIL auf das Revers seiner Jacke.

»Okay, können Sie Tee kochen? Normalerweise ist Jan fürs Tee Kochen zuständig, aber sie ist schwanger und hat heute einen Vorsorgetermin. Das Wasser kocht bestimmt gleich. Becher sind im obersten Regal im Schrank, Zucker und Kekse im unteren – ach ja, und könnten Sie bitte noch Milch einkaufen? Holen sie vier Packungen Vollmilch für die Kinder, und für die Erwachsenen brauchen wir dann noch einen Liter fettarme. Und bringen Sie doch bitte auch noch ein paar einfache Butterkekse mit. Also wirklich, Daniel, ich hab dir doch vorhin schon gesagt, dass du das lassen sollst! Gib Kylie sofort die Puppe zurück! Wo sind denn ihre Kleider? Warum hast du der Puppe denn die Kleider ausgezogen? Ihr wird doch ganz kalt …«

Und dann war Barbara auch schon wieder weg, einfach zur Tür hinaus und verschwunden in einem Gewusel von kleinen Menschen und Lärm.

Drei Stunden später war Neil zu der Entscheidung gelangt, niemals eigene Kinder zu haben. Vielleicht lag es daran, dass er selbst ein Einzelkind war, aber die furchterregende Vorstellung, für eines dieser fordernden, unvernünftigen, bedürftigen kleinen Geschöpfe verantwortlich zu sein war zu erschreckend, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Aber es gab natürlich auch Ausnahmen. So hatte er zum Beispiel einen kleinen Engel mit einer Mähne goldener Locken ins Herz geschlossen, der ihm auf den Schoß geklettert war, während er mit einer der Mütter ins Gespräch vertieft gewesen war. Die Kleine hatte ihren Daumen in den Mund gesteckt und war dann auf der Stelle eingeschlafen.

»Das ist Chloe«, erklärte Barbara, als sie ihm das schlafende Kind abnahm und es mit zärtlichem Blick betrachtete.

»Ihr Vater hat die Familie verlassen, und die Mutter kommt nicht besonders gut damit zurecht. Ich glaube, Chloe fehlt die Vaterfigur sehr. Sie müssen wohl irgendwie zuverlässig und tröstlich wirken …«, sagte Barbara und musterte ihn mit kritischem Blick, »… jedenfalls für Chloe. Ach du liebe Güte, ich habe ja völlig die Zeit vergessen! Die Mütter werden jeden Moment da sein und ihre Kleinen abholen. Würden Sie bitte Debbie helfen, den Sandkasten einzuräumen und die Fingerfarben wieder einzupacken, seien Sie so lieb, ja?«

Als Neil schließlich gehen durfte, verabschiedete er sich mit einem lauten »Auf Wiedersehen« von all den Mitarbeiterinnen, die er kennengelernt hatte, und ging durch die Eingangshalle, in der die Hektik beim Umziehen der Kinder gerade ein wenig abzuebben begann, zurück zum Seiteneingang. Doch dann schweifte sein Blick in die nächstgelegene Ecke der Halle, wo eine Mutter sich mit ihm zugewandten Rücken nach vorn beugte, um ihrem Sohn die Stiefel zu schließen und ihm ihre recht ansehnliche in Jeans gekleidete Hinterseite präsentierte. Er merkte selbst gar nicht, dass er hinstarrte, bis die Erscheinung sich aufrichtete und zurückstarrte, und zwar mit wütenden grünen Augen.

»Versuchen Sie gerade, die Tür zu finden?«, fragte sie ihn kühl. »Die ist gleich da drüben. Wenn Sie Hilfe brauchen beim Aufmachen, sagen Sie mir einfach Bescheid.«

»Ich wollte Ihnen eigentlich nur kurz hallo sagen …«

Die ganze Situation war ihm so peinlich, dass sich ihm die Zehennägel hochkrempelten und er vom Hals aufwärts krebsrot anlief.

»Aber das sagt man doch eigentlich eher von vorne, ins Gesicht, finden Sie nicht?«

»Natürlich«, sagte Neil und ging mit großen Schritten zu ihr hinüber, um ihr die Hand zu geben. »Wir sind uns ja schon auf dem Friedhof begegnet, aber anscheinend haben wir uns auf dem falschen Fuß erwischt, was? Ich bin Neil Fisher, der neue Vikar.«

»Ich weiß schon, wer Sie sind«, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten, als wolle sie entscheiden, ob er es wert war, sich überhaupt mit ihm zu befassen. Was dann anscheinend nicht der Fall war, denn ohne ein weiteres Wort lächelte sie hinunter zu dem kleinen Jungen, nahm ihn bei der Hand, ging mit ihm hinaus und machte die Tür ganz fest von außen zu. Die Hand immer noch zur Begrüßung ausgestreckt, stand Neil einen Moment lang völlig perplex da, bevor er die Hand in die Tasche steckte und auf dem Absatz kehrtmachte, um die Eingangshalle durch die Tür zu verlassen, die er an der Vorderseite des Gebäudes zu finden hoffte. Ehrlich gesagt wäre ihm in diesem Moment jede Tür recht gewesen, außer der, die ihm gerade vor der Nase zugeschlagen worden war.

***

Als er am Ende seines ersten Arbeitstages als Vikar endlich den Schlüssel im Schloss der Haustür des Hauses Nummer 96 umdrehte, herrschte in seinem Kopf ein großes Wirrwarr von Dingen, an die er sich erinnern musste und wollte, und solcher, die er am liebsten sofort vergessen hätte.

War es ein guter Einstand gewesen? In mancherlei Hinsicht schon, allerdings mit einer erheblichen Ausnahme …

Hatte es ihm Spaß gemacht? Insgesamt auf jeden Fall – aber war er wirklich für diese Art von Aufgabe geschaffen?

Mit einem Seufzer erhaschte er im Flurspiegel einen kurzen Blick auf sein eigenes Spiegelbild. Auf jeden Fall sah er für seinen Beruf gut gerüstet aus – ordentlich in Hemd und schwarzem Jackett, das einen starken Kontrast zu dem strahlenden Weiß seines Priesterkragens darstellte. Aber nur richtig auszusehen genügte ja nicht. Wie lange es wohl dauern würde, bis er sich in seiner neuen Rolle sicher fühlte? War er wirklich der Typ Mensch, der anderen im Auf und Ab ihres Lebens und Glaubens beistehen konnte? War das wirklich möglich, wenn er daran dachte, wie er sich an diesem Tag ein paar Mal unglaublich hilflos gefühlt hatte – und wie er bei der geringsten Aufregung oder Verlegenheit tief errötet war. Er war immerhin fünfundzwanzig Jahre alt, hatte aber an diesem Tag Situationen erlebt, in denen er sich wie ein völlig ahnungsloses Kind gefühlt hatte.

Er musste sich zusammenreißen. Dies war schließlich erst sein erster Tag gewesen. Ganz plötzlich machte er kehrt und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Er brauchte keine zwei Minuten, um sich umzuziehen und in Jeans und Sweatshirt wieder die Treppe hinunterzukommen. Er war bis jetzt noch nicht dazu gekommen, Lebensmittel einzukaufen, sodass das, was sich zu einem Abendessen hätte verarbeiten lassen, eher dürftig war, und aus Erfahrung wusste er, dass Angst und Stress immer Heißhunger bei ihm auslösten. Essen! Ja, das brauchte er, und zwar etwas Warmes, nicht von ihm selbst Zubereitetes. Es wurde Zeit, sich in Dunbridge einzuleben – und damit würde er jetzt im nächstgelegenen Pub bei einem guten Stammessen anfangen. Ihm waren in der alten Marktstadt einige Pubs aufgefallen, von denen ein paar mit hausgemachtem Ale warben, das er gern probieren wollte. Wenn es einen Ort gab, wo man als Zugezogener Kontakte mit Ortsansässigen knüpfen konnte, dann im vollsten Pub der Stadt.

In Dunbridge hieß dieser Pub »Zur Weizengarbe« und lag etwas abseits in einer Gasse, die vom Marktplatz abzweigte. Ein Blick auf die Liste von Gerichten auf der Tafel vor der Tür machte die Wahl einfach. Bratwürstchen und Kartoffelbrei! Schon bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Nachdem er den Pub betreten hatte, zauberte ihm die Anzahl der verschiedenen Biere auf den Etiketten der Zapfhähne ein Lächeln ins Gesicht. Wenn der Kartoffelbrei nicht klumpig war und die Soße halbwegs anständig, dann konnte die »Weizengarbe« durchaus sein Stammlokal werden.

»Einmal Bratwürstchen mit Kartoffelbrei bitte«, sagte Neil zu dem Barmann, der kam, um seine Bestellung aufzunehmen. »Und ein großes Bishops Finger zum Runterspülen.«

»Wussten Sie«, sagte ein Mann, der auf die Bar gestützt neben ihm stand, »dass dieses Bier nur freitags gebraut werden darf?«

»Wirklich?« Überrascht drehte sich Neil zu seinem Nachbarn um. Es war ein Mann um die dreißig mit rundem Gesicht, das zu seinem definitiv runden Körper passte, und Neil schaute ihn sich ein bisschen genauer an. »Und warum ist das so?«, fragte er dann.

»Ach, es gibt irgendeine alte Urkunde mit dieser Bestimmung – und außerdem darf das Bier nur in einem uralten russischen Teakholzmaischefass gebraut werden, das sie dafür haben.«

»Und wo genau ist das?«, fragte Neil nach.

»Irgendwo in Kent, glaube ich, aber ganz genau weiß ich das auch nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich das mal irgendwo gelesen habe. Wenn ich irgendwo einen Artikel über Bier entdecke, lese ich ihn mir immer durch.«

»Sie mögen Bier, was?«

Der Mann hob seinen halb vollen Humpen mit einem geradezu verliebten Blick an und sagte: »Wenn es richtiges Bier ist, dann auf jeden Fall.« Dann tätschelte er liebevoll seinen Bauch und fügte hinzu: »Es hat aus mir den Mann gemacht, der ich bin – Graham Paterson übrigens – tagsüber Leiter des Fachbereichs Mathematik an der Oberschule Dunbridge und abends geselliger Biertrinker.«

Lachend reichte Neil Graham die Hand.

»Ich bin Neil Fisher, Vikar.«

»Das ist ein Scherz, oder?«

»Nein, ich bin der neue Vikar von St. Stephen's.«

»Na ja, wahrscheinlich weiß ich als alter Heide davon nichts.«

»Kein echter Bier-Liebhaber kann jemals ein absoluter Heide sein«, sagte Neil grinsend. »Sie mögen nicht zufällig auch Bratwürstchen und Kartoffelbrei, oder?«

»Ich liebe es!«, antwortete Graham. »Und die Würstchen sind richtig gut hier.«

»Da bin ich aber froh. Ich habe nämlich gerade bestellt.«

»Eine gute Wahl. Ich hätte allerdings nicht erwartet, dass ein Vikar auswärts essen muss. Habt ihr nicht immer irgendwelche Damen in der Gemeinde, die euch unbedingt bekochen wollen?«

»Das Glück habe ich leider nicht – jedenfalls noch nicht. Heute ist erst mein erster Arbeitstag als Vikar hier.«

»Anscheinend ein ziemlich schwerer, was?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Fangen Sie schon an zu glauben, dass Sie sich den falschen Job ausgesucht haben?«

»Nein, der Job ist absolut in Ordnung – jedenfalls wird er das sein. Es ist heute nur alles ein bisschen viel gewesen, so viele neue Menschen und so viele Informationen, was hier in Dunbridge so los ist.«

»Das ist gar nicht so viel, glauben Sie mir. Damit werden Sie auf jeden Fall fertig.«

»Wie lange leben Sie denn schon hier?«

»Schon immer. Ich bin zur Lehrerausbildung nach Brighton gegangen – was toll war wegen des guten Bieres dort –, aber danach bin ich wieder zurückgekommen und habe da weitergemacht, wo ich aufgehört hatte. Ich esse meinen Sonntagsbraten immer noch zu Hause bei Muttern, und inzwischen unterrichte ich sogar an der Schule, auf die ich früher selbst gegangen bin. Auch da hat sich so gut wie nichts verändert, außer dass es jetzt keine reine Jungenschule mehr ist, und die kleinen Quälgeister jetzt wenigstens Mädchen haben, die Ihre Phantasie so anheizen, dass sie förmlich sabbern im Unterricht.«

»Ich glaube, dass ich irgendwann in den kommenden Wochen bei Ihnen in der Schule eine Versammlung abhalte.«

Graham zog eine Augenbraue hoch.

»Sie haben aber eine Panzerweste, oder?«

»Ach, sagen Sie doch nicht so was! Mir macht ja schon der Gedanke Angst, überhaupt öffentlich zu sprechen, aber vor einer ganzen Schule voller Teenager, das ist wirklich ein Alptraum für mich.«

»Aber Sie sind doch Vikar. Sie müssen doch andauernd Predigten halten und Beerdigungen und solche Sachen. Gehört das Reden vor Menschen nicht zu Ihrem Job?«

»Doch, leider.«

Graham stellte seinen Bierhumpen vorsichtig auf den Tresen und schaute Neil eine ganze Weile einfach nur an.

»Aber warum wird man denn dann Pfarrer?«

»Es ist eine Berufung. Ich fühle mich ganz einfach dazu berufen.«

Wieder zog Graham fragend die Augenbrauen hoch.

»Von Gott«, fuhr Neil fort. »Ich fühlte mich von Gott berufen, in der Kirche zu arbeiten.«

»Und wie hat er Sie berufen? Was genau hat er gesagt?«

»Das war kein direktes Gespräch, und ich hatte auch keine Vision oder so etwas. Es war einfach ein Gefühl, das in mir hochkam – eigentlich sogar eher eine Gewissheit, dass ich dazu gedacht bin, dass es das ist, was ich tun soll.«

Graham starrte Neil noch ein, zwei Sekunden länger neugierig an, bevor er sich wieder seinem Bier zuwandte.

»Wird es denn wenigstens gut bezahlt?«

»Nein, eher nicht. Aber ich habe ein eigenes Haus solange ich hier bin.«

Graham grinste. »Na, das ist ja schon mal was. Und es heißt ja auch, dass die Frauen Männer in Uniform lieben. Wo ist denn übrigens Ihre Uniform? Müssen Sie den Kragen nicht immer tragen, damit wir anderen wissen, dass wir aufpassen müssen, was wir sagen?«

Neil gluckste. »Mein Kragen hat heute ein bisschen gescheuert. Ich war froh, als ich wieder in Zivil war.«

»Ist es denn wirklich so, dass die Leute mit Ihnen über ihre Probleme reden wollen, wenn Sie den Kragen tragen? So wie manche Leute auch ständig über ihre Krankheiten reden wollen, wenn sie wissen, dass jemand Arzt ist …«

»Wenn das passiert, dann finde ich es wirklich gut, weil nämlich einer der Hauptgründe, weshalb ich überhaupt Pfarrer werden wollte, der ist, anderen in ihren Sorgen und Problemen beizustehen.«

Graham schnaubte, als er den Bierhumpen hob, um einen tiefen Schluck daraus zu trinken.

»Ich habe bisher noch nie ein Problem gehabt, das mir nicht nach ein zwei großen Bieren schon viel kleiner vorgekommen wäre«, sagte er und setzte den Humpen mit einem Knall wieder auf der Bar ab. »Auch eine Runde Darts hilft meistens. Lust auf ein Spielchen, bevor Ihr Essen kommt?«

»Aber ich warne Sie«, sagte Neil lachend und schob die Ärmel seines Sweatshirts hoch, »ich war im Theologiestudium unangefochtener Darts-Champion.«

»Und ich muss Sie warnen, dass ich mir nicht zu schade bin, auch ein wenig zu schummeln, wenn ich Angst bekomme zu verlieren!«, entgegnete Graham. »Möge der Kampf beginnen.«

Ein kleines Stückchen Seligkeit

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