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Home again in Milchschnittenhausen
ОглавлениеWenn ich an 1989 denke, fällt mir nicht zuerst der Mauerfall ein. Auch nicht die erste Loveparade in Berlin. Oder die schwere Ölpest vor Alaska. Ich denke an Nazis. Zugegeben, als Schwarze Deutsche fallen mir immer erst Nazis ein, wenn es um mein Heimatland geht. Egal, um welches Jahr es sich handelt. Denn was auch immer sie uns in der Schule eingetrichtert haben: Die braune Brut war nie weg. Dafür war sie zu einflussreich. Man hat verzichtbaren hohen Tieren einen medienwirksamen Prozess gemacht, die eine oder andere Führungspersönlichkeit prestigeträchtig eingesperrt und den Rest verschont. Okay, ein paar feige Verpisser, darunter auch der Arsch, der uns das ganze Elend eingebrockt hat, haben sich vor Kriegsende selbst aus dem Leben gekugelt, aber der große Teil der Nazis ist einfach so durchgekommen. Schließlich ging es um das Wohl des Landes – und das fußt ja bekanntlich auf Wirtschaft und Wachstum. Was wiederum die ideale Spielwiese für das ganz große Geld ist. Und wenn es ums Geld geht, kennen die Nachfahren der Dichter und Denker nichts, das haben sie ja schon im Krieg bewiesen, als sie Nachbarn, Freunde und sogar Familienmitglieder verraten und an die Gestapo ausgeliefert haben. In der Folge zogen die braven, arischen Deutschen, angeblich nichtwissend, dass Juden, Sinti und Roma, Andersdenkende, Menschen mit Behinderungen, Schwarze und Queers auf grausamste Art ermordet wurden, in deren leerstehende Häuser ein, übernahmen deren florierende Geschäfte und rissen sich deren wertvolle Kunstgegenstände unter die Nägel. Hätte man nach Kriegsende alle Nazis zur Rechenschaft gezogen, wäre unser Land heute vielleicht so sozial, antifaschistisch und zukunftsorientiert, wie es sich die wahren, aber leider wenig einflussreichen Demokraten damals erträumt haben. Und 1989 wäre auch für mich einfach nur das Jahr des Mauerfalls. Stattdessen aber ist es das Jahr, in dem ich auf die Zyankali-Nazi-Verschwörung stieß.
Es war September 1989, nur wenige Monate vor dem legendären Versprecher eines überforderten weißen Mannes, der Deutschland und die DDR wieder zu einem Land verschweißen sollte. Drüben, hinter der Mauer, brodelte es, immer mehr mutige Menschen gingen friedlich auf die Straße, um für ihre Freiheit und Selbstbestimmung einzustehen. Hier, vor der Mauer, erstarkte der Glaube an die Wiedervereinigung und sogar diejenigen von uns, die keine Verwandten in der DDR hatten, hofften, dass bald endlich wieder zusammenwuchs, was zusammengehörte.
Ich allerdings hoffte etwas anderes. Nämlich, dass ich nicht allzu lange in der Pampa würde bleiben müssen. Genauer gesagt in Sieglar, einem kleinen Ort in Troisdorf bei Köln. Am Tag zuvor war ich aus Bielefeld in dieses Nest gezogen, um im Elektrikerbetrieb meines Vaters – Nobby – auszuhelfen.
Seit einem Arbeitsunfall war Nobby nicht mehr wiederzuerkennen. Er war die meiste Zeit apathisch und absolut unfähig, den Betrieb zu führen – fand Frauke, die bei ihm eine Lehre zur Bürokauffrau machte und jetzt um ihren Ausbildungsplatz bangte. In einem endlosen Telefongespräch hatte sie mir erzählt, dass es unzählige Kundenbeschwerden gab und kaum noch neue Aufträge eintrudelten. Da ich meinen Vater liebte und mich in meinem Job als Elektrikerin in Bielefeld sowieso unterfordert fühlte, kündigte ich kurzentschlossen und zog von heute auf morgen ins Rheinland. Meine Mutter Alice, eine stolze Schwarze Jamaikanerin, die für die Britische Armee arbeitete und jeden Tag drei Kreuze machte, dass sie seit vielen Jahren von Nobby geschieden war, setzte alles in Bewegung, um mich aufzuhalten. Sie hatte damals nach der Trennung dafür gesorgt, dass ich bei ihr in der ostwestfälischen Großstadt aufwuchs, umgeben von Schwarzen Identifikationsfiguren. Aber ich war schon immer ein Papa-Kind gewesen, und dass Nobby im Gegensatz zu mir so weiß wie ein Vampir war, änderte daran nichts. Es hatte uns im Gegenteil nur sensibler gemacht für die Dinge, die wir gemein hatten: unter anderem unsere Begeisterung für US-amerikanischen Hip-Hop, die Vorliebe für bayrisches Weißbier … und unsere Fähigkeit, Geister zu sehen. Doch während Nobby die Gabe angenommen hatte und unter dem Radar als Geisterjäger arbeitete, wollte ich damit nichts zu tun haben. Es reichte mir, dass ich durch meine Hautfarbe auffiel, ich hatte keine Lust, auch noch als verrückt abgestempelt zu werden. Sollten die Leute doch allein mit den Polter- und Klopfgeistern, den Dämonen, den Wesenheiten aus anderen Dimensionen und den vielen schuldbeladenen Seelen der Verstorbenen fertigwerden, die im Krieg an allem Unrecht vorbeigesehen hatten und denen das Karma jetzt den verdienten Arschtritt verpasste, indem es ihnen den Weg ins Jenseits verwehrte.
***
»Du hättest wirklich nicht kommen müssen, Kassy. Ich krieg den Laden schon allein gestemmt.« Nobby sah mir zum ersten Mal in die Augen, seitdem ich am Tag zuvor angekommen war. Er sah mitgenommen aus: Seine Haut war viel zu kalkig-weiß, sogar für seine Verhältnisse, und seine Augenringe erinnerten an die eines Dauerkiffers. Ich dachte an meine Koffer oben im Dachzimmer, das Nobby immer für mich freihielt, obwohl ich schon seit Jahren nur noch selten und meist viel zu kurz bei ihm aufschlug. Auch diesmal würde ich nicht länger als nötig in Troisdorf bleiben. Vielleicht musste ich nicht mal alles auspacken. Vielleicht war mein Vater in ein, zwei Wochen wieder der Alte. Dann konnte ich ohne Zwischenstopp in OWL direkt nach England fliegen und endlich das Workcamp machen, von dem ich seit meinem Realschulabschluss träumte. Mit meinem Vater Nobby hatte dieser Fluchtimpuls nichts zu tun. Ich liebte ihn und war gern bei ihm zu Besuch, aber dieses Dorf hier war einfach nichts für mich. Ich brauchte die Großstadt, das bunte Nachtleben mit DJs, die die neuste Musik auflegten – und vor allem die Vielfalt der Hautfarben, Nationalitäten und Religionen. Denn wenn man selbst nicht die Norm ist, fühlt man sich denen zugehörig, die es auch nicht sind, egal, wie sehr sie sich von einem unterscheiden. Zu meinem Freundeskreis in Bielefeld gehörten Leute aus dem damaligen Jugoslawien, aus Griechenland, der Türkei, Sri Lanka und Großbritannien, aus Spanien, Portugal und Polen, aus Jamaika, Eritrea, Tunesien und Marokko. In Gegensatz dazu gab es hier in der rheinischen Pampa ausschließlich durchschnittsdeutsche Milchschnittengesichter – wenn man von KaySer und Errol absah, die einzigen Menschen neben Nobby und seinem Freund Peter, mit denen ich in diesem Dorf etwas anfangen konnte. Als Schwarze Frau – meine Haut ist so dunkel, dass selbst meine Mutter neben mir hell wirkt – fühlte ich mich hier wie auf dem Präsentierteller. Wenn ich vor die Tür trat, beobachteten mich Hunderte neugierige Augenpaare, ich konnte niemals einfach untergehen in der Masse, mich treiben lassen. Und da die Milchschnitten ständig miteinander tratschten – was soll man auch sonst tun, in einem Kaff, in dem Dreiviertel der Bevölkerung miteinander verwandt sind – wusste jeder über mich und meine Aktivitäten Bescheid. Wann immer ich meinen Vater zu Weihnachten, in den Sommerferien oder zum Geburtstag besuchte, war ich der Talk of the Town.
Nobby räusperte sich. Ich unterbrach meinen Gedankenkreisel. Von Frauke wusste ich, dass er nicht eben positiv darauf reagierte, wenn man ihn auf den Arbeitsunfall ansprach. Ich beschloss, das Thema behutsam anzugehen.
»Ich hatte keinen Bock mehr auf den Job in Bielefeld. Außerdem brauchst du jemanden, der dir aushilft. Oder hast du schon Ersatz für Arnulf gefunden?«
»Ich hab doch Peter.«
»Peter ist Frührentner«, wischte ich Nobbys Antwort beiseite. »Außerdem ist er kein Elektriker.«
Vorn, im Schaufensterbüro, hörte ich Peter schnauben.
»So ein paar Strippen zusammenzwirbeln kann ich ja wohl noch!«, empörte er sich. Anscheinend belauschten er und Frauke unser Gespräch. Kurz dachte ich darüber nach, die Tür zu schließen, doch hier im Lager, das gleichzeitig als Werkstatt diente und in dem zumindest früher noch der Spind mit Nobbys Geisterjägerwaffen gestanden hatte, gab es nur ein Kuppelfenster, das ins Flachdach eingelassen war und das weder für besonders viel Licht noch Luft sorgte. Sollten die beiden da draußen also ruhig zuhören. Ich wusste, dass sie meine Sorge um Nobby teilten, auch wenn wir alle anders damit umgingen.
Nobbys Augen wurden wieder glasig und wanderten ins Unendliche. Verdammt. Ich wollte ihn noch so viel fragen!
»Papa?«
Er schwieg.
»Komm schon. Sag mir wenigstens, warum Arnulf gekündigt hat. Er stand kurz vor der Gesellenprüfung. Da schmeißt man doch nicht von jetzt auf gleich das Handtuch.« Nobby sah mich an. Beziehungsweise durch mich durch. Frauke hatte recht. Mein Vater hatte sich wirklich verändert. Vom energiegeladenen Sprücheklopfer war nichts mehr übriggeblieben. Dieser Arbeitsunfall hatte ihn komplett auf links gezogen. »Papa! Lass mich nicht hängen. Ich bin hier, um dir zu helfen. Du kannst Peter ja wohl unmöglich allein zum Kunden schicken. Starkstrom ist nichts für Laien. Das musst du doch am besten wissen!«
Nobby zog die Brauen zusammen. Seine faltige Haut war in den letzten Jahren noch faltiger geworden, das konnte auch der struppige Bart nicht verbergen, den er seit neuestem trug. In Kombination mit seinem chronischen Untergewicht, der über die Schädelplatte kriechenden Glatze und den schwarzen, ungebügelten Klamotten, sah er aus wie ein depressiver Philosophielehrer. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und versuchte einen weiteren Anlauf.
»Ich übernehme deine Aufträge, bis du wieder fit bist. Okay?«
Nobbys Augen erwachten.
»Auf keinen Fall! Das ist viel zu gefährlich!«, polterte er.
»Ich bin ausgebildete Elektrikerin«, blaffte ich zurück. »Ich weiß, wie man mit Starkstrom umgeht. Und das anscheinend besser als du!« Einen Moment lang war ich wütend, weil er mir das nicht zutraute. Schließlich arbeitete ich seit Jahren in dem Beruf. Oder ging es hier nicht um den Elektrikerjob? Der Verdacht war mir schon einmal gekommen, vor ein paar Tagen, als Frauke am Telefon von Nobbys Wesensveränderung erzählt hatte. Stromschläge hatte er im Lauf seines Lebens nämlich schon einige erhalten, aber bisher war er danach immer wieder sehr schnell der Alte gewesen. »Was ist passiert, Papa?«, flüsterte ich. Wenn sich mein Verdacht bestätigte, dann hatte kein Arbeitsunfall, sondern ein Geisterkontakt Nobby traumatisiert. Besser, Peter und Frauke bekamen das nicht mit. »Hast du wirklich nur einen gewischt bekommen?«
Eine gefühlte Ewigkeit später verließ ich das Lager ebenso schlau, wie ich es betreten hatte. Nobby war nicht wieder aus seiner Lethargie erwacht. Ich hatte mich allerdings auch nicht getraut, ihn deutlicher auf einen möglichen Geisterkontakt anzusprechen, denn ich wollte verhindern, dass Frauke und Peter mitbekamen, dass Nobby und ich Geister sehen konnten. Mein Leben lang hatte mein Vater mir nämlich eingeschärft, dieses »Talent« geheim zu halten.
Während Nobby im Lager weiter vor sich hinstarrte, enterte ich das Schaufensterbüro. Der Raum war nicht sehr groß, rechteckig und besaß eine Fensterfläche, die fast die komplette Frontseite bedeckte. Sogar die Tür in der Ecke war weitestgehend aus Glas. Auf der Schaufensterscheibe stand in bronzefarbenen Lettern: »Elektrikermeisterbetrieb Krause: Schnell, kompetent, preiswert«. Vor Nobbys Einzug hatten der Betrieb und der angrenzende Kiosk zusammengehört und einen Raum gebildet. Die Wand, die jetzt beide Einheiten voneinander trennte, war dünner als die Fensterscheiben und genauso zugig. Zum Betrieb gehörte außerdem das kleine Lager mit der Werkbank und ein winziges, fensterloses Klo mit Dachluke, das Frauke mit Postern von Madonna, Cindy Lauper und Grace Jones dekoriert hatte.
Ich lehnte mich an die Theke, hinter der Frauke in einem Ordner blätterte. Dass sie Madonna-Fan war, sah man ihr auf den ersten Blick an. Zurzeit kopierte sie Madonnas Bad-Boy-Look: Sie trug kurze, blondgefärbte Haare mit dunklem Ansatz, hatte sich die ohnehin prominenten Augenbrauen dunkel nachgezogen und ihre Marilyn-Monroe-blasse Haut mit knallroten Lippen und einem künstlichen Leberfleck verziert, der allerdings an warmen Tagen gern mal im Gesicht herumwanderte. Über ihrem üppigen Busen trug sie ein tief ausgeschnittenes, weißes T-Shirt, darüber eine einen Tick zu große Lederjacke. Dazu schwarze Jeans, Turnschuhe, einen albernen Hut und jede Menge klirrender Ketten und Armreifen.
Sie klappte den Ordner zu und lächelte mich mitfühlend an. Nobbys Freund Peter, ein kleiner, dicker Mann mit breitem Schnubbi, der neben mir an der Theke lehnte, drehte sich neugierig zu mir ein. Sogar in meinen flachen Sicherheitsschuhen war ich anderthalb Köpfe größer als er.
»Bei Nobby alles im Lot?« Er faltete die Hände vor seinem kugelrunden Bauch und musterte mich mit eisgrauen Augen. Ich kannte Peter, seit Nobby hierhergezogen war und ich ihn das erste Mal nach seiner Scheidung von Alice besucht hatte. In all den Jahren hatte ich Peter als einen gutmütigen, absolut zuverlässigen, meist maulfaulen Menschen kennengelernt. Ein waschechter Solinger aus dem Bergischen Land, der lieber anpackte, als große Reden zu schwingen.
»Ich hab keine Ahnung«, stöhnte ich. »Ich erkenn Papa nicht wieder. Der guckt einfach durch mich durch.«
»Das macht er mit uns allen«, mischte sich Frauke ein. »Nimm das bloß nicht persönlich.«
»Nobby war immer aus dem Häuschen, wenn er wusste, dass du zu Besuch kommst, Kassy. Das ist auch diesmal so. Er kann grad nur nicht zeigen, wie froh er ist, dass du hier bist«, versuchte Peter, mich aufzumuntern. Ich war mir da nicht so sicher. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Nobby mich lieber heute als morgen wieder loswerden wollte. Frauke lehnte sich zu uns über den Tresen.
»Peter hat Recht. Nobby freut sich total, dass du ihm aushilfst.« Sie reichte mir einen Zettel, auf den sie eine Adresse gekritzelt hatte. »Stromausfall in der Grundschule. Der Hausmeister war ziemlich angefressen. Nobby hat da erst letzte Woche eine neue Leitung gelegt. Kannst du dir das mal anschauen?«
»Und ihr wisst wirklich nichts Genaues über Nobbys Arbeitsunfall?«, fragte ich, schnappte mir den Zettel und vergrub ihn in der Hosentasche meines Blaumanns. Frauke warf Peter einen schwer zu deutenden Blick zu.
»Ich weiß nicht mal, wie Nobby an den Auftrag gekommen ist. Geschweige denn, wo er war. In meinen Unterlagen findet sich nichts.« Wieder so ein merkwürdiger Blick, den sie Peter zuwarf. Ich sah ihn an. Er hob abwehrend die Arme.
»Mit mir spricht er doch auch nicht.«
»Aber?«, hakte ich nach.
»Na ja …«, Peter suchte nach Worten, »ich glaub langsam nicht mehr an einen einfachen Stromschlag. Da muss noch irgendwas anderes passiert sein.«
»Vielleicht hatte er ja eine Nahtoderfahrung oder so«, flüsterte Frauke.
»Keine Ahnung.« Peter wackelte unbestimmt mit dem Kopf. »Irgendwas ist jedenfalls mit ihm.« Er sah auf seine Armbanduhr, zog einen Autoschlüssel aus der Hosentasche und warf ihn mir zu. »Sieh zu, dass du loskommst. Das Auto steht auf dem Parkplatz vorm Büdchen. Blauer Golf, weißte ja.«
***
Als ich den Wagen vor der Grundschule parkte, war gerade große Pause. Es herrschte das bekannte Bild: Ein Großteil der Jungs berserkte über den Schulhof und rempelte dabei bevorzugt schwächere Jungs und schüchterne Mädchen an. Gelangweilte Lehrer liefen Streife und sorgten halbherzig für Ordnung. Größere Mädchengruppen, zu denen wenige Jungs gehörten, spielten Gummitwist, sprangen seilchen, manche sogar im Double-Dutch. Die Kletterstangen und Klatschspiel-Gruppen schienen fest in Mädchenhand und an den im Schatten liegenden Schulhofwänden hockten anscheinend ausschließlich Jungs, die mit Murmeln spielten. Der Lärmpegel war unglaublich. Falls Nobby hier einen Fehler beim Verlegen neuer Leitungen gemacht hatte, konnte ich ihn gut verstehen. Wir beide waren empfindlich, was Geräusche, Gerüche und andere Informationen anging, die unaufhörlich auf uns einprasselten. Unsere Konzentration und Schlagfertigkeit litt, wenn das Informationsgewitter zu stark wurde. Heute nennt man das hypersensibel, es gibt Tonnen von Ratgebern und Studien zum Thema. Doch in den Achtzigern schoben wir es auf unsere Geistersehergabe und versuchten, irgendwie damit klarzukommen.
Ich öffnete den Kofferraum und sah auf das Durcheinander aus Kabeltrommeln, Bohrmaschinen, Stemmeisen, verschiedenen Hämmern und Gummimatten. Mit Arnulfs Kündigung war anscheinend auch die Ordnung aus dem Betrieb desertiert. Ich entdeckte den Werkzeugkasten, zog ihn mit einiger Anstrengung aus dem Chaos heraus und schmiss die Heckklappe zu. Das Schloss war defekt, das hatte mir Peter noch hinterhergerufen, als ich mich auf den Weg gemacht hatte, deshalb versuchte ich erst gar nicht, den Wagen abzuschließen. Auch die Fenster ließ ich heruntergekurbelt, es würde sowieso niemand auf die Idee kommen, die Karre zu klauen. Erstens, weil sie zerbeult war und sich rundherum in Rost auflöste und zweitens, weil sie selbst bei so durchschnittlichen Temperaturen wie heute unfassbar stank. Wer oder was auch immer darin verwest war, die olfaktorischen Überreste hatten sich unauslöschlich ins Innere des Wagens eingefressen, da halfen auch die vielen bunten Duftbäumchen nicht, mit denen Frauke den Geruch zu übertünchen versuchte.
Auf meinem Weg zum Schuleingang kam ich mir vor wie Moses, der das Wasser teilte. Nur dass es in meinem Fall kein Wasser war, das sich von mir zurückzog, sondern Kinder. Angst, Irritation, Abneigung – kein schönes Gefühl, wenn einem Kindergesichter sowas entgegenwerfen. Selbst die rotbäckigen, widerlichen Knirpse, die eben noch andere Kinder in den Staub gerempelt hatten und null Respekt vor ihren Lehrern zeigten, machten einen Bogen um mich. War ich etwa die erste Schwarze Person, die ihnen leibhaftig begegnete? Da blieb mein Blick an einem schmächtigen Jungen hängen, dessen Haut fast so dunkel wie meine war. Seinem Gesichtsausdruck nach war er gleichermaßen überrascht und froh, jemanden zu sehen, der hautfarbentechnisch in seine Richtung ging. Ich zwinkerte ihm freundlich zu, er winkte schüchtern zurück. Die Blicke der Jungen und Mädchen auf dem Schulhof, die neugierig zwischen uns hin- und hertitschten, ignorierten wir. Noch heute liebe ich diese Momente der Begegnung mit anderen Schwarzen, dieses kurze Bonding mit Fremden, auf der Straße, auf einer Party, in der Bahn. Momente, in denen wir uns wortlos grüßen, einander versichern, dass wir nicht allein sind. Dass wir wissen, was der andere durchmacht. Wie es ist, Schwarz unter Weißen zu sein, Rassismus zu erleben und ihn nicht klar benennen zu können – es sei denn, wir nehmen in Kauf, dafür von den Tätern belächelt, beschimpft oder sogar bestraft zu werden.
»Kann ich helfen?« Vor mir stand ein Lehrer, der stark nach Kunstunterricht aussah. Klamottenmäßig hing er noch in den Siebzigern fest. Trotz der angenehmen 20 Grad trug er eine dicke braune Cordhose, ein weißes Rüschenhemd, das Prince zu Beginn der Achtzigerjahre wieder hip gemacht hatte, und seine Füße steckten in gelben Holzklotschen. Sein helles, leicht gelbliches Gesicht war glattrasiert und ziemlich attraktiv, mit schmaler, ein wenig schiefer Nase, hellbraunen Fuchsaugen und straßenköterblonden, welligen Haaren, die ihm bis auf die Schulter fielen. »Ich bin Thomas. Kunst und Sport«, stellte er sich vor.
»Krause.« Ich ergriff seine ausgestreckte Hand. Sie war warm und sein Händedruck genau richtig, nicht zu schlaff und nicht zu fest. »Ich bin die Elektrikerin.«
»Ah, der Stromausfall«, nickte Thomas. »Kommen Sie. Ich bring Sie zum Hausmeister.«
Er legte mir seine Hand auf den Rücken und schob mich am Haupteingang vorbei zur Rückseite des Schulgebäudes. Dort führte eine kurze Treppe in den Keller, wo die Grundschüler in einer Art provisorischem Büdchen Milch, Kakao und Limonadenpäckchen für 80 Pfennige das Stück kaufen konnten. Kerzen auf einem zur Verkaufstheke umfunktionierten Biertisch deuteten darauf hin, dass ich hier genau richtig war.
»Hey, Jupp«, grüßte Kunstlehrer Thomas einen alten, grauhaarigen Mann mit grauen Augen im grauen Kittel. Sogar seine Gesundheitsschuhe waren grau. »Gleich wird’s wieder Licht.«
»Das wird aber auch Zeit«, brummte der Angesprochene. Dann fielen seine Augen auf mich. Er zog missbilligend die Stirn in Falten. »Wer ist die denn? Wo ist der Krause?«
»Ich bin Krause«, antwortete ich und registrierte, wie mein Herzschlag sich spontan verselbständigte. Nazis und Rassisten, ob tot oder lebendig, erkenne ich sofort. Dafür hat unsereiner einen feinen Radar. Dieses Exemplar hier war nur ein ekliger Rassist, also nicht lebensgefährlich, wie zum Beispiel die Nazis, die in Bielefeld ihr Unwesen trieben, psychisch aber war er ebenso verletzend und unangenehm. Ich ballte die Fäuste und zählte bis zehn. Ich war nicht in dieses Dorf gekommen, um Nobbys Kundschaft noch weiter zu dezimieren. Deshalb schluckte ich meine bissigen Kommentare und zwang mich zu einem neutralen bis semi-freundlichen Gesichtsausdruck. »Was gibt es denn für ein Problem?«
Hausmeister Jupp deutete verächtlich zur Wand in seinem Rücken.
»Da hat der richtige Krause am Freitag geschlitzt und eine neue Leitung verlegt. Die Lampe«, er zeigte nach oben, über seinen Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen, »hat er auch montiert. Hat heute Morgen den Geist aufgegeben.«
Ich stellte meinen Werkzeugkasten ab und betätigte den Lichtschalter.
»Mädchen, am Lichtschalter liegt das nicht. So schlau war ich auch schon«, brummte Jupp. Der Schulgong ertönte. Kunstlehrer Thomas wandte sich mir zu.
»Ich muss dann mal. Kunst mit der 4a.«
»Danke fürs Bringen.« Ich lächelte. »Dann mal viel Spaß mit den kleinen Monstern.«
Thomas zögerte, sah nachdenklich zum Hausmeister hinüber und zog ab. Zurück blieb ich, mit einem auch auf den zweiten Blick durchweg unangenehmen grauen Zeitgenossen.
Draußen verebbte das Kindergeschrei, und bald hörte ich nur noch Jupps asthmatisches Röcheln in meinem Rücken. Er sah mir über die Schulter und beobachtete jeden meiner Handgriffe. Der würzige Mix aus Käsefuß und Zigarre, der mich von hinten umwaberte, war schwer auszuhalten, mehr als das nervten mich allerdings seine Fragen.
»Woher kommst du? Aus Afrika?«
»Aus Ostwestfalen«, antwortete ich einsilbig und versuchte mich nicht auch noch darüber zu ärgern, dass er mich einfach duzte.
»Nein. Ich meine wirklich«, beharrte er. »Du bist keine Deutsche, das sieht man doch.«
»Ich bin in Bielefeld geboren. Im Schatten des Teutoburger Walds, direkt beim Hermann. Deutscher geht nicht.«
»Und deine Eltern? Sind die aus Afrika?«
»Nein.« Ich schwieg, denn ich hatte keine Lust, diesem Trottel meinen Stammbaum zu erklären. Jupp räusperte sich. Ich hörte, wie er in seiner Tasche wühlte, kurz darauf vernahm ich ein metallisches Klicken.
»Und du bist also Elektrikerin? So richtig mit Meisterbrief?«, setzte er das Verhör fort und zog etwas durch die Nase. Vermutlich Schnupftabak. Wieder dieses metallische Klicken. Am liebsten hätte ich ihm das Döschen durchs Nasenloch ins Hirn gestoßen.
»Noch bin ich Gesellin.«
»Eine N****in als Elektriker … Früher hätte es das nicht gegeben«, wunderte er sich. Ich wiederum wunderte mich, dass ich ihn für das N-Wort nicht unangespitzt in den Boden rammte. Aber er würde eh nicht begreifen, wie verletzend es war, deshalb schwieg ich, in der Hoffnung, dass Leute wie er über kurz oder lang aussterben würden. Heute weiß ich, wie falsch ich damals lag. Wenn heute jemand das N-Wort benutzt oder sich anderweitig rassistisch äußert, lasse ich das nicht mehr unkommentiert, egal wie einflussreich, sympathisch oder alt die Person ist. Das hat mich schon einige Jobs und Freundschaften gekostet – aber das ist eine andere Geschichte.
»Und warum heißt du Krause?«, bohrte Jupp weiter.
»Norbert Krause ist mein Vater.« Ich legte den Spannungsprüfer zur Seite. Die Leitung, die Nobby verlegt hatte, war in Ordnung, ebenso die neue Steckdose, zu der sie führte. Der Fehler lag entweder in der Lampe oder im alten Kabel, das zur Lampe führte. »Gibt’s hier eine Leiter?«
Jupp grunzte empört.
»Natürlich. Da hinten in der Ecke. Neben dem Sicherungskasten.«
Ich entfernte mich aus seinem Dunstkreis, schraubte die Sicherung für den Keller raus und schnappte mir die Leiter. Kurz überlegte ich, Jupp zu bitten, mich zu sichern, denn das Teil sah nicht sehr vertrauenswürdig aus. Doch ich entschied mich dagegen, noch weniger als dem morschen Holz vertraute ich diesem ätzenden grauen Mann, der mir jetzt schon eine Viertelstunde meiner kostbaren Lebenszeit mit seiner rassistischen Weltsicht versaut hatte.
Oben auf der Leiter gab ich alles, damit der alte Zausel meine Höhenangst nicht mitbekam. In größeren Höhen zu arbeiten, war ein fester Bestandteil meines Jobs, trotzdem drehte sich mir dabei regelmäßig der Magen um, besonders, wenn ich ohne Absicherung, mit beiden Händen über Kopf, auf einer wackligen, morschen Leiter stand. Endlich fand ich das Problem: Ein Kabelbruch in einer uralten Lüsterklemme im Deckenhalter, die das Lampenkabel mit der Zuleitung aus der Decke verband. Ich entfernte die alte Klemme und zog eine neue aus meiner Hosentasche.
»Warum bist du ausgerechnet Elektriker geworden? Das viele Lernen fällt euch doch sicher schwer?«
Ich starrte genervt auf Jupp herab. Er war schon wieder dabei, sich eine Line Schnupftabak zu ziehen.
»Wem soll es schwerfallen? Frauen? Oder Schwarzen?«, fragte ich heiser. Langsam verließ mich meine anerzogene Geduld. Bevor Jupp antworten konnte, enterte eine dralle Blondine den Raum.
»Herr Kahn, in der 3a ist das Waschbecken verstopft. Können Sie sich das bitte kurz ansehen?«
Jupp steckte das Döschen in die Tasche seines Kittels, schnäuzte sich in ein nicht mehr ganz weißes Taschentuch und musterte mich unschlüssig.
»Hat das noch Zeit?«, fragte er die Blondine. »Ich muss hier aufpassen …«
»Ich bin hier eh fertig«, unterbrach ich ihn. Das Ende des Lampenkabels steckte in der neuen Lüsterklemme, jetzt machte ich mich daran, das gebrochene Kabel etwas zu stutzen, abzuisolieren und ebenfalls in die Klemme zu stecken.
»Es ist wirklich dringend«, beharrte die Blondine. Jupp sah unschlüssig zu mir herauf. Ich zog die Lüsterklemme fest und schraubte den Deckenhalter zurück unter die Decke.
»Die Rechnung schicken wir wie immer per Post«, sagte ich und kletterte von der Leiter. Unten angekommen, klappte ich sie zusammen, schraubte die Sicherung wieder hinein und betätigte zur Kontrolle den Lichtschalter. Es wurde hell. Hausmeister Jupp brummte zufrieden. Ein Danke kam ihm natürlich nicht über die Lippen, aber das war mir herzlich egal. Ich konnte es kaum erwarten, aus diesem Kellerloch herauszukommen. Ob der alte Zausel den kleinen Jungen of Color auch so löcherte? Ihm das Gefühl gab, nicht dazuzugehören? Anders zu sein? Wenn ja, hoffte ich, dass der Knirps Eltern hatte, die ihn empowerten und die ihm beibrachten, sich gegen rassistische Sticheleien zu wehren. Microaggressions nannte Alice das. Man braucht ein dickes Fell, um davon nicht verletzt zu werden. Zum Glück hatte mich meine Mutter schon als Kleinkind darauf vorbereitet. Sie hatte lange Zeit in England gelebt, wo die Auseinandersetzung mit Rassismus sehr viel weiter fortgeschritten war als in Deutschland. Doch trotz ihrer Aufklärungsarbeit ließen mich solche Sticheleien damals nicht unbeeindruckt. Ehrlich gesagt treffen sie mich auch heute noch. Aber dank Alice wusste ich immer, dass ich okay bin und mich nicht vor weißen Menschen beweisen muss, nur weil ich eine andere Hautfarbe habe.
***
Als ich in den Betrieb zurückkehrte, war Peter schon wieder gegangen, denn für den Tag stand kein weiterer Einsatz an. Nobby hatte sich nach oben in seine Wohnung verzogen. Mir graute davor, den Rest des Tages Kabel und Schrauben im Lager zu sortieren, deshalb ließ ich mir von Frauke Nobbys erledigte Aufträge der letzten Wochen zeigen. Viele waren es allerdings nicht, schon am frühen Nachmittag hatte ich einen guten Überblick darüber, wo Nobby gearbeitet hatte und auf welche Probleme er gestoßen war. Anscheinend alles eher harmlose Jobs, meist ging es um brüchige Stromkabel oder Leitungen, die er verlegt hatte. Ich arbeitete mich in seine Orga ein – die im Grunde nur aus einem Ordner bestand, in dem er für seine Verhältnisse erstaunlich akribisch protokollierte, was er beim jeweiligen Kunden getan, wie lange er dafür gebraucht und welche Materialen er benutzt hatte. Frauke machte daraus dann eine Rechnung, die Nobby nur noch unterschreiben musste. Nobbys Aufzeichnungen der letzten Aufträge waren einwandfrei, es gab also nichts für mich zu tun, deshalb verzog ich mich dann doch ins Lager, inspizierte die Bestände und überlegte, wohin mein Vater den Spind mit den Geisterjägerwaffen geräumt hatte. Vermutlich hoch in seine Wohnung. Aber warum? Die Geräte jedes Mal die Treppe hinunter und hinauf zu wuchten erschien mir widersinnig. Irgendwann kurz vor Feierabend, ich kannte die Lagerbestände inzwischen auswendig, hielt ich die Langeweile nicht mehr aus. Ich schnappte mir den Autoschlüssel und fuhr zu KaySer. Frauke konnte den Laden ohne mich abschließen.
KaySer und ich kannten uns seit unserer Teenagerzeit. Ihren Eltern gehörte der Schrottplatz, auf dem Nobby regelmäßig nach Bauteilen für seine Geisterjägerwaffen suchte. Ursprünglich hatte KaySer Bildhauerin werden wollen, doch nach dem Tod ihres Vaters vor ein paar Jahren hatte sie ihr Studium abgebrochen und sich erstmal um ihre Mutter gekümmert. Als diese dann zurück in ihre Heimat Schottland zog, stand für KaySer fest, dass sie das Erbe ihres Vaters keinem Fremden überlassen wollte. Eine Künstlerin war sie trotzdem geworden: Sie schweißte faszinierende Gebilde aus Autowrackteilen zusammen und dekorierte damit den Schrottplatz.
Auf den ersten Blick wirkte KaySer maskulin, und das nicht nur, weil sie wie ein Mann rumlief, meist mit derben Schuhen, schlabbrigen Jeans und karierten Hemden. Sie war groß, kräftig gebaut, mit starken Armen, flacher Brust und muskulösen Beinen. Ihr Gesicht war markant, mit breiten Wangenknochen, einem eckigen Kinn und algengrünen Augen. Die lockigen roten Haare, die an den Seiten abrasiert waren und auf ihrem Kopf eine Handbreit in die Höhe standen, hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die großen, quadratischen Hände und den sinnlichen Mund von ihrem Vater.
Ich schloss mein Fahrrad auf dem kleinen Parkplatz ab, der zum Schrottplatz gehörte. Direkt daneben, eingerahmt von KaySers neuesten Werken, zwei beeindruckenden Flugdrachen mit Flügeln aus verrosteten Autotüren, stand ein kleines Haus, in dem KaySer wohnte und in dem sich ihr chaotisches Büro befand. Ähnlich wie Nobby war KaySer eine Niete, wenn es um Ordnung und Struktur ging. Kein Wunder, dass sie fast ihre ganze Zeit auf dem Schrottplatz verbrachte.
Das Büro war leer, die Tür verschlossen, KaySer also vermutlich in ihrem Element. Und richtig, ich hörte sie in einiger Entfernung hämmern und schweißen. Eine etwa zwei Meter hohe Steinmauer, die mit bunten Graffitis besprayt war, schloss sich an das Haus an und schützte das Innere des Schrottplatzes vor neugierigen Blicken. Nur die Spitzen der Schrottberge, der uralte Kran und eine stahlblaue Schrottpresse, die in der Abendsonne funkelte, lugten darüber hinaus. Ich zog die weißlackierte Stahltür in der Mauer auf und ging auf den Geräuschherd zu.
KaySer schweißte zwei Metallplatten aneinander und produzierte dabei einen imposanten Funkenkranz, der wild um sie herum irrlichterte. Ich blieb mit zwei Metern Abstand neben ihr stehen. Sie trug ihre »Arbeitskleidung«: Sicherheitsschuhe, abgewetzte Jeans und ein kariertes, feuerfestes Hemd in den Farben des Clans ihrer Mutter, also grün, blau und rot. In Kombination mit dem Schweißhelm sah sie aus wie eine Gladiatorin im Karnevalskostüm. Als sie mich bemerkte, klappte sie ihren Helm nach oben und grinste breit.
»Krause! Ich dachte schon, du willst mich nicht sehen!«
»Ich bin erst gestern Abend angekommen«, grinste ich zurück. »Musste mich erstmal um Nobby kümmern.« KaySer legte Schweißgerät und Helm zur Seite, zog diezog die Arbeitshandschuhe aus und nahm mich in den Arm.
»Besser spät als nie. Wie geht’s dir, Kleine?« Sie war die Einzige, die mich so nennen konnte, denn trotz meiner einsvierundachtzig überragte sie mich um einen halben Kopf.
»Ich vermisse die Großstadt«, antwortete ich und dachte an die ängstlichen Kinderaugen. Und an die nervigen Fragen von Hausmeister Jupp.
»Du wirst ja nicht ewig bleiben müssen«, lachte KaySer und zog mich zu einem Wohnmobil, das zwar nicht mehr fahrtüchtig war, dafür aber umso liebevoller eingerichtet. Die meiste Zeit des Jahres hielt sich KaySer hier auf, ins Haus ging sie nur, um zu duschen, etwas zu kochen oder weil sie Bürokram erledigen musste. »Setz dich«, sagte sie und deutete auf die zwei Campingstühle vor dem Wagen unter einer verwitterten Markise. Dazwischen stand ein wurmstichiger Holztisch. »Ich hab uns extra Weißbier gekauft.« Sie verschwand im Inneren des Wagens. »Hast du Hunger?«
»Nee, danke.« Ich fläzte mich auf einen der beiden Stühle und schaute in den blutorangefarbenen Abendhimmel. Kurz darauf kam KaySer mit zwei Bierflaschen zurück und ließ sich in den anderen Stuhl fallen. Sie zog ein Feuerzeug aus der Hemdtasche, öffnete die Flaschen, und wir stießen scheppernd an.
»Slàinte Mhath«, prostete KaySer.
»Cheers«, prostete ich zurück. Das Bier schmeckte angenehm süffig und wenig bitter. Das musste ich unbedingt mal für Nobby und mich besorgen. Vielleicht gelang es mir damit, ihn etwas länger aus seinem Schneckenhaus zu locken. KaySer verzog den Mund.
»Was?«
»Nix«, wehrte sie ab. »Ich guck nur. Kommt selten genug vor, dass sich so eine Schönheit auf meinen Schrottplatz verirrt.«
»Quatsch«, überging ich ihr Kompliment, »ich bin doch regelmäßig hier.«
»Das warst du mal.« Sie lehnte sich zurück. »Aber in den letzten Jahren sehen wir uns doch eigentlich nur noch zu Weihnachten. Okay, und die paar Tage im Sommer, wenn du zu Nobbys Geburtstag kommst.« Sie prostete mir zu. »Schön, dass du erstmal eine Weile bleibst.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. KaySer lachte leise.
»Du willst hier schnellstmöglich wieder weg. Zurück nach Bielefeld. Stimmt’s?«
»Ja. … Nein«, stotterte ich.
»Was jetzt?«
»Ich will hier nicht bleiben, das stimmt. Aber ich muss nicht zurück nach OWL.«
KaySer sah überrascht aus.
»Das sind ja mal ganz neue Töne. Weiß Alice schon davon?«
»Ich bin erwachsen«, entgegnete ich schärfer als geplant. »Meine Mutter muss sich langsam mal damit abfinden, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe.«
»Hört, hört …« KaySer steckte den Zeigefinger in die Bierflasche und ließ ihn mit einem lauten Knall herausploppen. »Das Küken ist flügge geworden. Hätte ich nicht schon einen Crush on you, ich würd mich glatt in dich verknallen.«
Ich verdrehte geschmeichelt die Augen. Seit wir uns kannten, flirtete KaySer mit mir. Als wir fünfzehn waren, hatten wir sogar einmal geknutscht, im Sommer am Fühlinger See in Köln. Damals wollte ich wissen, ob ich vielleicht lesbisch war, denn ich hatte als Einzige in meiner Klasse kein Interesse an Jungs. KaySers Küsse hatten mir geschmeckt und auch die Streicheleinheiten hatten sich okay angefühlt. Aber so richtig geflasht war ich nach unserem Schäferstündchen nicht gewesen. Was vermutlich auch daran lag, dass Nobby uns in flagranti erwischt hatte. Noch Jahre später gab er den liberalen Vater und behandelte KaySer wie meinen Freund. Während KaySer das gut gefiel – Nobbys Reaktion empowerte sie –, nervte mich seine plakative Toleranz. Dass ich mir die Frage gestellt hatte, ob ich hetero oder homo war, lag jetzt schon Jahre zurück. In der Zwischenzeit waren KaySer und ich beste Freundinnen geworden und Nobby hatte begriffen, dass er sich besser aus meinem Liebesleben heraushielt.
»Wie läuft es eigentlich mit Branco«, wechselte KaySer das Thema. Ich winkte genervt ab und beobachte das kleine Rudel Fledermäuse, das in der aufkommenden Dämmerung über uns seine Kreise zog. Überall zwischen den Schrottbergen und Skulpturen hatte KaySer verschieden große Tonkrüge mit Pflanzen aufgestellt, die die verschiedensten Insekten anlockten. Tagsüber tummelten jede Menge Bienen und Schmetterlinge auf dem Schrottplatz und abends kam die Fledermausbande. »Seid ihr noch zusammen?«, setzte KaySer nach, »Oder hast du dich endlich getrennt?«
»Musste ich gar nicht. Er hat Schluss gemacht, nachdem ich seinen Antrag abgelehnt habe.«
KaySer verschluckte sich und sah mich fassungslos an.
»Er hat was?« Sie stellte die Bierflasche ab und zog einen Joint aus der Hosentasche. In der Nähe der holländischen Grenze zu wohnen, hatte schon in den Achtzigern seine Vorteile. »Erzähl. Aber nicht die Kurzversion. Ich will die peinlichen Details.« Sie lehnte sich zurück und entzündete die selbstgedrehte Zigarette. Sie rauchte Gras immer pur, genau wie mir war ihr Tabak zuwider. Sofort lag der beruhigende Geruch von Cannabis in der Luft.
»Na schön«, ließ ich mich nicht lange bitten und nahm ihr den Joint ab. »Kurz nach Nobbys Arbeitsunfall …«
»… habt ihr das erste Mal gepoppt. Ich weiß«, unterbrach mich KaySer ungeduldig. »Komm zum Wesentlichen.«
»Entweder, ich erzähl dir die Story, wie ich es will, oder du kannst es dir selbst zusammenreimen.«
KaySer verschloss ihre Lippen mit einem unsichtbaren Reißverschluss und nahm mir den Joint aus der Hand.
»Ich hatte schon da nicht das Gefühl, dass wir gut zusammenpassen«, nahm ich meinen Erzählfaden wieder auf. »Betttechnisch, mein ich. Aber ich wollte ihn auch nicht nur aus diesem Grund in den Wind schießen.«
»Warum nicht? Also ich …« KaySer verstummte und hob die Hände, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Okay, okay. Ich bin ja schon still.«
»Wir haben es langsam angehen lassen. Er ist unglaublich nett, musst du wissen.« KaySer gähnte theatralisch. Selbst ich war gelangweilt, als ich mich reden hörte. »Er ist klug«, schob ich hinterher. »Nächstes Jahr schließt er sein Jura-Studium ab. Er startet sicher richtig durch.«
»Schön für ihn.« KaySer hielt mir den Joint hin. Ich lehnte ab. Das Zeug, das sie rauchte, konnte einen Elefanten sedieren. Nicht zu vergleichen mit dem Gras, das in Bielefeld kursierte. »Weiter im Text«, animierte sie mich.
»Als ich ihm gesteckt hab, dass ich meinen Job kündige und zu Nobby ziehe, war er nicht besonders begeistert. Von wegen Fernbeziehung. Am Freitag hat er mich dann zum Essen eingeladen.« Ich machte eine dramatische Pause.
»Und in der Nachspeise hat er dir dann einen Ring versteckt?«
»Schlimmer. Er hat ‘nem Rosenverkäufer zwanzig Rosen abgekauft …«
»Arrrghhhh …« KaySer schlug die Hände vor die Augen. »Peinlicher geht’s ja wohl nicht.«
»Selbst, wenn ich gewollt hätte …«, stimmte ich ihr lachend zu, »in dem Moment hätte ich nicht Ja sagen können.«
»Und dann?«
»Ist er abgerauscht. Seitdem hab ich nichts mehr von ihm gehört. Meine Klamotten hat er mir noch in derselben Nacht in einem Karton vor die Tür gestellt.«
»Was für ‘ne Wurst.« KaySer exte den Joint und spülte mit dem Rest Weizen in ihrer Flasche nach. »Noch ein Bier?«
»Wasser wär mir lieber«, gähnte ich. »Ich muss noch nach Hause radeln.«
»Quatsch. Du schläfst hier. Wie in alten Zeiten. Wird eine sternenklare Nacht heute. Ich hol uns die Matratze raus.« Sie zeigte auf das aus Schrott zusammengeschweißte Bettgestell, das in der Nähe stand.
»Na gut. Ich helf dir.« Ich folgte ihr durch einen klirrenden Holzperlenvorhang in das Wohnmobil, einen ausgebauten Mercedes-Kastenwagen. Gleich am Eingang, hinter dem Fahrersitz, lag eine gemütliche Matratze auf einem Sockel. Schlängelte man sich am Bett vorbei in den hinteren Teil des Wagens, erreichte man eine Küchenzeile, die KaySer allerdings nur zum Teekochen benutzte. Außerdem stand da noch ein Telefon: Wenn es drüben im Haus klingelte, konnte KaySer den Anruf entspannt hier annehmen. Auf der Fahrerseite, zwischen Matratze und Küchenzeile, waren hinter einem Vorhang Toiletteneimer und Duschschlauch versteckt, beides benutzte KaySer allerdings nie.
Wir schleppten die Matratze aus dem Wagen und legten sie aufs Bettgestell, warfen erst das Bettzeug und dann uns auf die Laken. Der Himmel verdunkelte sich von Minute zu Minute. Bald war das Orange der Sonne verschwunden, und die Sterne leuchteten auf. Sie erschienen mir unfassbar hell, im Gegensatz zu Bielefeld gab es hier kaum Licht, das einem die Sicht verdarb.
»Schon ein Grund, die Einöde zu lieben, oder?« KaySer sah nicht in den Himmel. Sie musterte mich, das Kinn auf die Hand gestützt, und in ihrem Mundwinkel klebte schon der nächste Joint. Ich stieß ihren Ellenbogen zur Seite, und sie sackte rücklings aufs Kissen. Lachend zog sie ihr Feuerzeug aus der Brusttasche. »Hast du endlich mal mit Errol gesprochen?«
Errol. Allein sein Name ließ mein Herz aussetzen. Mit einer Mischung aus Scham, Frust, Verzweiflung und Herzschmerz dachte ich an unsere letzte Begegnung. Statt zu antworten, presste ich die Zähne aufeinander.
»Ich hab euch gewarnt …« KaySer entzündete das Feuerzeug und hielt den Joint in die Flamme. Sie paffte zwei, dreimal daran und reichte ihn mir. Ich nahm einen Zug und stellte mich den Gefühlen, die mein Innerstes bedrängten.
»Ich trau mich einfach nicht. Was soll ich ihm sagen? Dass ich es schön fand? Dass ich mir eine Wiederholung wünsche?«
»‘ne Schnuppe! Haste gesehen?« KaySer zeigte in den Sternenhimmel.
Ich nickte abwesend, dabei hatte ich nicht mal hochgeguckt.
»Ich hätte auf dich hören sollen. Sex mit dem besten Freund ist eine Eins-A-Schnapsidee.«
KaySer brummte zustimmend. Für eine Weile starrten wir stumm in den Himmel.
»Wenn du eure Freundschaft retten willst – und darum bitte ich doch dringendst«, sie sah mich ernst an, »dann musst du endlich mit ihm sprechen. Ihr müsst das aus der Welt schaffen. Was auch immer da eigentlich ist zwischen euch.«
Ich wusste es ehrlich gestanden ebenso wenig wie sie. Zwischen Errol und mir hatte es irgendwie schon immer geknistert. Er war mit sechzehn mit seinen Eltern nach Troisdorf gezogen, kennengelernt hatte ich ihn über KaySer. Die beiden spielten im selben Fußballverein. KaySer war eine herausragende Torhüterin, und als Errols Team vor einem entscheidenden Spiel ohne Torwart dastand, sprang sie kurzerhand ein – ohne dass der Gegner oder die Schiedsrichter erfuhren, dass sie eine Frau war. Dass der Name Kay sowohl einen Mann als auch eine Frau bezeichnen konnte, hatte sich damals noch nicht herumgesprochen, und zusammen mit ihrer maskulinen Erscheinung kamen erst recht keine Zweifel an ihrer Männlichkeit auf. Das Spiel ging damals unentschieden aus, ein wesentlicher Schritt in Richtung Meisterschaft, die Errols Team dann auch tatsächlich gewann. Seitdem war KaySer im Verein so etwas wie eine Heldin, auch, wenn sie ihre aktive Karriere mit Beginn ihres Studiums an den Nagel gehängt hatte und seitdem nur noch sporadisch mitkickte.
»Er kommt seine Eltern besuchen«, ließ KaySer die Bombe platzen. »Zumindest ist das seine offizielle Begründung.« Obwohl ich sie nicht ansah, wusste ich, dass sie grinste. Mein Magen krampfte sich zusammen. Errol war auf dem Weg hierher?
»Schön für ihn«, antwortete ich so ausdruckslos wie möglich.
»Sag mal! Hast du mir nicht zugehört?« KaySer klang genervt. »Ihr zwei seid meine besten Freunde. Schlimm genug, dass du in Bielefeld wohnst und er nach Berlin gezogen ist. Ich will, dass ihr euch wieder zusammenrauft! Ich habe keinen Bock auf diese awkward moments!«
Im Grunde hatte sie Recht. Der One-Night-Stand zwischen Errol und mir lag über ein halbes Jahr zurück. Wenn ich unsere Freundschaft retten wollte, mussten wir uns endlich aussprechen.
»Was genau hat dein Dad eigentlich?«, wechselte KaySer dankenswerterweise das Thema. »Die Goldap aus der Bäckerei meint, er ist kaum wiederzuerkennen.«
»Er ist immer noch Nobby«, antwortete ich ratlos. »Aber seine Energie ist vollkommen flöten gegangen. Die meiste Zeit sitzt er bloß rum und starrt in die Luft.«
»Hoffentlich kommt er schnell wieder auf die Beine. Ich mag deinen Dad.«
Ich wusste, dass KaySer die Wahrheit sagte. Lügen war nicht ihr Ding. Wenn sie jemanden oder etwas nicht mochte, dann sagte sie das entweder – oder sie schwieg.
»Du kriegst doch viel mit hier im Dorf«, fragte ich. »Hast du irgendwas gehört, was erklären könnte, warum ihn der Unfall so verändert hat?«
»Leider nicht.« KaySer schnippte den aufgerauchten Jolly zur Seite in den Blumenkübel mit Sonnenblumen. »Aber hast du schon mal Peter gefragt? Also ich meine unter vier Augen?«
Überrascht drehte ich mich zu KaySer.
»Sag nicht, Nobby hat ihn eingeweiht!«
»Und ob er das hat. Willst du auch ein Wasser?« Sie stand auf und verschwand im Wohnmobil. Ich starrte fassungslos in das Sternenmeer über mir. Da! Noch eine Sternschnuppe! Ich schloss die Augen und wünschte mir, dass Nobby bald wieder der Alte sein würde. Warum hatte er Peter eingeweiht? Er war immer strikt dagegen gewesen, Nicht-Sehenden von unserer Gabe zu erzählen. Schon, dass KaySer Bescheid wusste, hatte er damals nicht gutgeheißen. Aber ich hatte sie einweihen müssen, andernfalls hätten KaySer und ich den Geisterkontakt nicht überlebt. Es war im Kölner Untergrund gewesen, ich war fünfzehn geworden und KaySer hatte mir eine Führung zum Geburtstag geschenkt. Der Geist, nur noch ein Abdruck der negativen Charaktereigenschaft eines in der Römerzeit verstorbenen Verbrechers, hatte uns mit einem Steinschlag vom Rest der Gruppe getrennt und war drauf und dran gewesen, uns unter einer weiteren Steinlawine zu begraben. Um uns zu retten, erlaubte ich ihm, mich als Channel zu benutzen, in der Hoffnung, dass er verschwinden würde. Ich sollte recht behalten: Der Geist fuhr in mich ein und erzählte von dem Mordanschlag, dem er zum Opfer gefallen war. Danach verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Meine verdrehten Augen, die spukige Stimme, mit der ich gesprochen hatte und all die Dinge, die ich gesagt hatte, verrieten KaySer deutlich, dass ich nicht nur einen Scherz gemacht hatte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu erzählen – über meine Gabe, über die verschiedenen Wesenheiten, die unter dem Oberbegriff »Geist« durch die Welt spukten, und über Nobbys Zweitjob als Geisterjäger, bei dem ich ihn unterstützte, wenn ich zu Besuch war. Seitdem weiß KaySer, dass Nobby und ich im Fall eines Geisterkontakts Migräne bekommen und dass Normalsterbliche wie sie von einer plötzlichen Übelkeit und Schwindel befallen werden, ein Zustand, den KaySer seitdem treffsicher erkennt.
Ich zuckte zusammen, als KaySer sich auf die Matratze setzte. Sie gab mir eine Flasche Wasser, ihre hatte sie schon halb geext.
»Warum sollte mein Vater Peter einweihen?«, setzte ich unser Gespräch fort. »Wenn er Hilfe brauchte, hat er doch sonst immer dich gefragt.«
KaySer schraubte ihre Flasche zu, stellte sie neben dem Bett ab und legte sich wieder neben mich.
»Vielleicht, weil er jemanden zum Reden braucht? Peter und Nobby sind beste Freunde, so wie wir zwei beiden. Da Geheimnisse voreinander zu haben, ist doch ätzend.«
Ich nickte widerwillig.
»Aber mir hat er immer gepredigt, wie gefährlich so ein Mitwisser ist. Was, wenn Peter sich verquatscht? Nicht auszudenken, wenn das hier in Tratschhausen die Runde macht.«
KaySer knuffte mir auf den Oberarm.
»Bei Peter musst du dir nun wirklich keine Sorgen machen. Schon vergessen, dass er ein Bergischer Jung ist? Der redet doch kaum zehn Worte am Tag. Außerdem ist er herrlich pragmatisch. Der glaubt nicht an Gott, nicht ans Schicksal und schon gar nicht an Geister.«
»Hä?« Ich versuchte zu verstehen, was das bedeuten sollte. »Soll das heißen, er glaubt Nobby nicht?«
»Er glaubt, dass Nobby dran glaubt.« KaySer gähnte. »Und er tut alles, um Nobby zu helfen. Das muss reichen.«
»Keine Ahnung, ob ich kapiere, was das heißt.« Ich dachte darüber nach, aber ich war plötzlich total müde. »Meinst du, dass Peter dabei war, als Nobby den Unfall hatte?«
KaySer streifte die Schuhe von den Füßen, ohne dabei ihre Hände zu benutzen.
»Peter war zu der Zeit in Kur. Ich weiß das noch ganz genau, weil es Nobbys Geburtstag war.«
Ich schwieg schuldbewusst. Normalerweise wäre ich an seinem Geburtstag in Troisdorf gewesen und hätte ihm helfen können. Dann wäre das alles nicht passiert. Aber in diesem Jahr war mein Chef spontan auf eine Messe gefahren, und ich hatte alle Aufträge allein übernehmen müssen. KaySer setzte sich auf und zog Hose und Arbeitshemd aus. In ihrer Männerunterwäsche sah sie phantastisch aus. Auf ihrem linken Oberarm prangte das Tattoo einer etwa bierdeckel-großen Doppelaxt.
»Dein Dad hat mir an dem Morgen auf den Anrufbeantworter gesprochen. Er hat nicht wirklich gesagt, was er wollte, nur, dass er meine Hilfe braucht.« KaySer schlüpfte unter die Bettdecke, die Socken behielt sie an. »Aber als ich am Mittag nach Hause kam und ihn zurückgerufen habe, hab ich nur noch Frauke erwischt. Er war längst losgefahren. Mit Arnulf.«
Auch ich zog meine Klamotten aus, einschließlich der Socken. Im Gegensatz zu KaySer trug ich allerdings kein Tanktop oder sonstiges Unterhemd. Kurz überlegte ich, mein Arbeits-T-Shirt anzubehalten, aber dann entschied ich mich dagegen. KaySer würde es nicht missverstehen, wenn ich »oben ohne« schlief, unsere Beziehung hatten wir schon vor Jahren geklärt.
»Dass Nobby dich angerufen hat, kann nur bedeuten, dass es um einen Geisterjob ging«, nahm ich den Faden wieder auf. »Dich fragt er doch immer, wenn er den BRAUN-1000 mitnehmen will.« Ich dachte an den Staubsauger, den Nobby umgebaut hatte, ein schweres, stylishes Monstrum aus den 70er Jahren, mit dem er übernatürliche Wesen in ihre atomaren Bestandteile zerfetzte. Seit einem Bandscheibenvorfall vor einigen Jahren konnte er das Gerät nicht mehr allein tragen und bat deshalb KaySer um Hilfe – und nun anscheinend auch Peter. Moment. Was hatte KaySer eben noch gesagt? »Warte mal. Er hat Arnulf mitgenommen?«
»Jepp.« KaySer gähnte ein zweites Mal. »Was bedeutet, dass es entweder doch ein ganz normaler Elektrikerjob war …«
»… oder Nobby hat mit einem gefährlichen Geisterkontakt gerechnet und wusste, dass er Unterstützung braucht. Notfalls sogar die vom Azubi«, beendete ich den Satz. Wenn mein Verdacht stimmte und ein Geist Nobbys Zustand verursacht hatte, wie lange würde es dauern, bis er wieder der Alte war und ich dieses gottverdammte Nest verlassen konnte? Ich musste unbedingt herausfinden, was genau an Nobbys Geburtstag passiert war.
***
Die Nacht unter dem Sternenhimmel war sensationell. Wir beobachteten jede Menge Sternschnuppen, KaySer zeigte mir zum x-ten Mal die diversen Sternenbilder und ich fragte sie nach ihrem Liebesleben aus. Leider schlief sie während meines Verhörs ein. Alles, was ich rausbekam, war, dass ihre neueste Flamme eine Handballerin war, die Maja hieß, in Köln Ehrenfeld wohnte und ihr Abitur am Abendgymnasium nachholte.
Rabengekrächze und Kaffeeduft weckten mich am nächsten Morgen. Es war kurz nach sieben, und hinter der Mauer, die den Schrottplatz umgab, war die Sonne längst aufgegangen. Auf den metallisch funkelnden Bergen aus Autoteilen hockten einige fette Raben und stritten miteinander. Für einen Augenblick hoffte ich, dass es Geister waren, die versuchten, meine Aufmerksamkeit zu wecken. Schon immer hatte ich mir gewünscht, dass sich mir eines Tages ein Geistertier anschloss. Am liebsten ein Hund, den nur ich sehen konnte und der mir zur Seite stand, wenn ich einer gefährlichen Wesenheit begegnete. Oder der mit seiner Anwesenheit Menschen, die ich nicht leiden konnte, zum Kotzen brachte. Abwegig war der Wunsch nicht, viele Geistersichtige wurden von den Seelen verstorbener Tiere begleitet. Bei Nobby waren es Raben, was nochmal einen Sonderfall darstellte, denn in diesem Fall schließt sich nicht nur ein einzelnes Tier an, sondern die Gesamtheit aller Geisterraben. Sie hörten auf seine Kommandos und hatten ihm schon bei so manchem Einsatz geholfen. Leider hatte ich nicht einen Hauch von Kopfschmerzen. Mit anderen Worten: die Raben, die mich aus dem Schlaf gerissen hatten, waren höchst lebendig.
Enttäuscht schälte ich mich aus dem Bett. Ich hatte noch eine Stunde, bevor ich im Betrieb sein musste, konnte es also ruhig angehen lassen. Ich ignorierte das dunkle Rabengekrächze, das in meinen unausgeschlafenen Ohren wie höhnisches Gelächter klang, und zog mich in aller Ruhe an. KaySer trug schon wieder ihre Arbeitsklamotten. Sie hatte ein anderes Tanktop an und ihre Haare waren nass, offensichtlich war sie schon im Haus gewesen und hatte geduscht. Auf dem Tisch zwischen den Campingstühlen stand eine Schale mit Obst. Da ich Kaffee nur gern roch, ihn geschmacklich aber zum Kotzen fand, hatte KaySer mir einen Tee gemacht. Ich schnappte mir einen Apfel, schaufelte löffelweise Zucker in meine Tasse und nahm mir die Zeit zum Wachwerden. KaySer, die wusste, dass ich so früh am Morgen noch nicht gesprächig war, verzog sich an ihren Schweißplatz. Kurz darauf schleppte ich die Matratze samt Bettzeug ins Wohnmobil und verabschiedete mich – alles weitestgehend wortlos.
Als ich mit dem Fahrrad vor dem Betrieb ankam, war es kurz vor acht und die Tür noch verschlossen. Ich öffnete den Eingang zum Treppenhaus, lief nach oben in mein kleines Reich unterm Dach, sprang unter die Dusche und wechselte meine Kleidung. Im Grunde hatte ich kein Problem damit, mehrere Tage in denselben Sachen rumzulaufen, aber das T-Shirt hatte ich eh wechseln wollen. Ich konnte gut darauf verzichten, dass Nobby oder Peter wieder auf falsche Gedanken kamen und mir und KaySer eine Affäre unterstellten. Außerdem war es gut möglich, dass Errol aufkreuzte. Für unsere erste Begegnung nach mehr als sechs Monaten wollte ich so gut wie möglich aussehen und riechen – auch wenn ich mir immer noch nicht darüber klar war, was ich eigentlich von ihm wollte. Ich entschied mich für ein knallrotes T-Shirt. Darauf war das Konterfei von Ice Cube abgebildet, einem Mitglied der Hip-Hop-Crew N.W.A., doch sein Gesicht verschwand hinter dem Latz meiner Arbeitshose. Ich kämmte meinen Afro und drückte ihn zusammen, so dass er meinen Kopf wie eine schwarze, ebenmäßige Sonnenkorona umkränzte. Kurz überlegte ich, roten Lipgloss aufzulegen. Ich schminkte mich nur selten – was zum großen Teil daran lag, dass es in diesem verdammten Land keine brauchbaren Produkte für nicht-weiße Menschen gab. Bei Make-up machte mir das nichts aus, das war eh nicht so mein Ding, aber auch die Lippenstifte waren angepasst an die bundesdeutsche Milchschnitten-Norm. In London fand ich schon eher Schminke, die mich wie einen Menschen und nicht wie einen schlecht geschminkten Clown aussehen ließ, doch deswegen kiloweise Übergepäck aus dem Urlaub anzuschleppen, sah ich nicht ein. Und in den Afro-Shops, in denen viele meiner Schwarzen Freundinnen mit Wurzeln in den afrikanischen Ländern einkauften, fühlte ich mich mit meinem karibischen Hintergrund irgendwie fehl am Platz. Ich starrte auf den knallroten Lipgloss in meiner Hand. Die Farbe schrie förmlich nach Aufmerksamkeit. Also schraubte ich die Kappe wieder drauf und schmierte mir stattdessen etwas Argan-Öl auf die Lippen. Das würde es auch tun.
Fünf nach acht betrat ich den Betrieb. Draußen, auf dem Parkplatz vor dem Büdchen, räumte Peter den Kofferraum von Nobbys Golf auf. Drinnen stand Frauke hinter der Theke und blätterte durch den Auftragsordner. Aus dem Radio auf dem Tresen dröhnte irgendein trashiger Hard-Rock-Scheiß gesungen von fiepsigen Männerstimmen. Ich konnte mir die garantiert weißen Jungs direkt vorstellen: spindeldürre Beine in Lederhosen, Muskelshirts, lange, blonde Zottelhaare und immer drei Gramm zu viel im Kopf, von welcher Droge auch immer.
»Dein Vater will mit dir sprechen.« Frauke deutete Richtung Lager. Ich unterdrückte ein Grinsen. Gerade mal kurz nach acht und Fraukes aufgeklebter Schönheitsfleck war schon auf ihren rechten Nasenflügel verrutscht. Das versprach, ein interessanter Wandertag zu werden.
»Wie geht’s ihm heute?«
»Er lässt das Radio dudeln und hat noch nicht den Sender gewechselt. Noch Fragen?«
Die hatte ich nicht. Im Gegensatz zu mir, die ich schlechte Nichttänzermusik über mich ergehen lassen konnte, ohne auszurasten, war Nobbys musikalische Toleranz kaum vorhanden. Er hörte klassische Musik, Jazz – und Hip-Hop. Letzteres vermutlich, weil es das war, was ich heiß und innig liebte – neben Reggae und schottischer Folkmusik, aber dafür konnte sich Nobby nur in Ausnahmefällen begeistern. Dass er den The-Final-Countdown-Verschnitt aus dem Radio noch nicht ausgemacht hatte, war ein deutliches Zeichen dafür, dass er auch heute nicht in seiner besten Form war.
Im Lager fand ich ihn vor dem Regal mit den Werkzeugen. Er hatte einen Lappen in der Hand und wienerte damit über einen Schlagbohrer.
»Hey, Papa.« Ich setzte mich auf die Werkbank, auf der das übliche Chaos herrschte. Da Nobby nicht antwortete, begann ich in einer Übersprunghandlung, für Ordnung zu sorgen und fischte die abgeschnittenen Kabelenden aus dem Haufen aus Werkzeugen, Schrauben, Lötzinn und Platinenteilen. Ich hatte eine Menge gesammelt, als Nobby sich vor mir aufbaute. Jetzt sah er völlig normal aus.
»Hey, Kassy. Hab dich gar nicht reinkommen sehen. Hast du gut geschlafen? Ich hab den Lattenrost repariert. Hast du gemerkt?«
»Na sicher. Ist perfekt«, log ich lächelnd. Ihm zu erzählen, dass ich die Nacht auf dem Schrottplatz verbracht hatte, ging nur von der Zeit ab, in der er ansprechbar sein würde. »Ich hab mit KaySer gesprochen«, kam ich deshalb gleich auf den Punkt. »Mal ehrlich, Papa: Was ist wirklich passiert bei deinem Arbeitsunfall?« Ich warf einen Blick zur Tür. Diesmal hatte ich sie zugezogen, alles, was wir besprachen, würde unter uns bleiben. »Das war ein GK. Oder?«
Nobbys Gesicht zog sich zusammen wie das von Kermit aus der Muppet Show, wenn Miss Piggy ihn mal wieder nervte.
»Warum willst du das wissen?« Seine Stimme war rau. »Du willst doch nichts mit Geistern zu tun haben.«
»Ich will vor allem, dass du wieder auf die Beine kommst. Und dass du deinen Laden nicht schließen musst.« Ich legte meine Hand auf seinen Arm. Den Kabelprüll, den ich noch in der anderen Hand hielt, warf ich zurück auf die Werkbank. Nobby zog an seinem Ohrläppchen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er etwas vor mir verheimlichen wollte. »Sag schon, Papa!« Ich sah ihn aufmunternd an. »Ich bin schon groß, weißt du?«
Nobby lächelte und legte den Kopf schief.
»Selbst, wenn es ein GK gewesen wäre …« Er brach ab und zog seinen Arm zurück.
»Ja? Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«
Nobby presste die Lippen zusammen und schwieg.
»Ich finde raus, was passiert ist«, drohte ich ihm. »Mit deiner Hilfe oder ohne dich.«
Jetzt war es an Nobby, meinen Arm zu packen. Seine Finger umklammerten mein Handgelenk wie ein Schraubstock.
»Kassy, ich hab mir immer gewünscht, dass du wieder einsteigst. Aber jetzt ist es zu spät!« Er lächelte freudlos. »Du bist schon seit Jahren raus aus dem Geschäft. Im Grunde warst du ja nie richtig drin. Die paar Male, die du mir hier geholfen hast, haben dich nicht auf das vorbereitet, was da draußen lauert.«
»Ich habe den Job eine ganze Weile gemacht«, verteidigte ich mich. Dabei hatte er recht. In Bielefeld war ich nur wenige Monate lang als Geisterjägerin umhergezogen. In der Zeit war ich nur harmlosen Geistern der untersten Stufe 1 begegnet. Mit bösartigen oder gefährlichen Wesenheiten hatte ich es nicht zu tun bekommen. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich Nobbys Worte verunsicherten. Normalerweise verharmloste er jeden Geisterkontakt. Selbst der Geist, der KaySer und mich damals fast unter einer Steinlawine begraben hatte, war für ihn ein armer Wicht, der im Grunde nichts Böses im Schilde geführt hatte. Dass Nobby mir so vehement davon abriet, das Wesen zu jagen, dem er begegnet war, wo er doch sonst alles versuchte, mich fürs Geisterjägerbusiness zu begeistern, war kein gutes Zeichen. Trotzdem. Mein Entschluss stand fest.
»Papa, du kannst mir das nicht ausreden. Ich habe zwar nicht deine Erfahrung, aber ich weiß, was ich tun muss.« Ich lächelte ihn an und versuchte dabei, zuversichtlich auszusehen. »Ich brauch nur deine Waffen. Und deine Hilfe wäre natürlich auch nicht schlecht«, setzte ich nach.
»Vergiss es!« Nobbys Augen löcherten mich mit der Intensität eines Militär-Lasers. »Ich will nicht, dass du dich da einmischst. Und meine Waffen kriegst du auch nicht.«
In diesem Moment klopfte es und Frauke kam durch die Tür. In der Hand wedelte sie mit einem Notizzettel.
»Anruf aus dem Neubaugebiet. Die brauchen asap Hilfe.«
Ich drehte mich zu Nobby um, vielleicht hatte er ja Lust, den Auftrag zu übernehmen. Doch seine Augen waren schon wieder auf unendlich gestellt.
***
Im Neubaugebiet wartete der Bauherr auf mich, ein selbstgefälliger Mittdreißiger mit solariumverbrannter Haut. Er trug einen zerknitterten, dunkelblauen Leinenanzug, ein weißes, zu weit aufgeknöpftes Leinenhemd und alberne Collegeschuhe, an denen noch albernere Zierschnürsenkel baumelten. Auf seiner Stirn, im Sonnenlicht, funkelte eine Porsche-Sonnenbrille. Zusammen mit den zurückgegelten, nahezu farblosen Haaren signalisierte er schon von Weitem, dass er Geld hatte, Klasse aber nicht. Ich parkte den Golf in der Hofeinfahrt seines gläsernen Bungalows, musste aber sofort umparken, weil er Angst hatte, dass mein Wagen Öl verlor und die aus Italien importierten Pflastersteine versaute. Geld macht unfrei, dachte ich wie so oft und verbarg meine jetzt schon grenzenlose Abneigung hinter einem aufgesetzten, professionellen Lächeln.
Der Bungalow selbst war phantastisch. Ein kantiges Gebilde, in Glas eingefasst. Und dabei so geschickt verwinkelt, dass sogar das Bad von Licht durchflutet und gleichzeitig vor neugierigen Blicken geschützt war. Der Architekt hatte ganze Arbeit geleistet. Was den selbstgefälligen Bauherrn allerdings nicht davon abhielt, in einer Tour über die angeblichen baulichen Mängel zu klagen. Mal war es die hässliche Marmormaserung in der Gästetoilette, mal der schlecht gegossene Estrich in der Küche oder der Kamin, der einige Zentimeter größer hätte sein müssen. Ich kommentierte seine Tirade nicht, sondern machte mich daran, eine protzige Designerlampe an der Wand im Schlafzimmer zu installieren.
»Versace«, erklärte er großherrschaftlich und deutete stolz auf den braunen Lampenschirm mit dem Abdruck eines goldenen Kopfes, der von einem Muster umkränzt war, das wohl antik aussehen sollte.
»Schick«, log ich versiert. Als Elektrikerin kam ich in so manche Wohnung, bei der es mich schüttelte. Je reicher die Leute waren, desto protziger und geschmackloser wurde es meist. Es sei denn, man bekam es mit dem Geldadel zu tun, also Leuten, die über Generationen oder viele Jahrhunderte zu den obersten Zehntausend gehörten. Denen merkte man meist nicht an, dass sie reich waren, vielleicht weil sie nicht das Bedürfnis verspürten, anderen zu zeigen, wie viel Kohle sie auf der Bank hatten. Mister Neureich allerdings schien ein ziemlich frischer Selfmade-Millionär zu sein, der sein Selbstbewusstsein aus dem Neid seiner Umwelt zog.
»Hat mich eine ganze Stange Geld gekostet, das Lämpchen. Direktimport. Aus Italien.«
»Wie die Pflastersteine?«, warf ich dazwischen, »Selber Container?«
Er sah mich an, als hätte ich sie nicht alle.
»Natürlich nicht. Die Lampe kam per Spezialtransport. Zwei Mitarbeiter von Versace haben sie geliefert. Heute Morgen.«
War klar, dass der Typ null Humor hatte. Vermutlich hatte er seine Kohle damit gemacht, dass er dem Teufel sein Lachen verkauft hatte.
»Sie sind nicht aus der Stadt?«, fragte er. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er ohne Socken in seinen Collegeslippern stand. Seine Füße waren ebenso künstlich braun, wie der Rest seiner Haut. Vielleicht machte er sein Geld ja mit Solarien?
»Ich bin neu hergezogen. Unterstütze meinen Vater«, antwortete ich und schraubte weiter an der Lampe herum. Die Kabel hatte ich verbunden, jetzt musste ich das hässliche Teil nur noch an der Wand festmachen.
In dem Moment kam die Migräne: Die Schmerzen setzten ein und meine Sicht färbte sich sepiafarben. Um das kurz zu erklären: Die Welt, wie wir sie kennen, ist nur ein Teil des großen Ganzen. Neben ihr, im Grunde eigentlich fest mit ihr verwoben, gibt es die Zwischenwelt. Wie ein feines Pilzgeflecht durchwebt sie unsere Realität, teilt mit ihr denselben Raum. Getrennt sind Welt und Zwischenwelt durch eine Membran. Die sorgt dafür, dass sämtliche Geistwesen, die in der Zwischenwelt existieren, nicht in unsere Welt switchen können. Manchmal allerdings reißt die Membran ein, das hat meist natürliche Gründe, und der Riss verschließt sich so schnell, wie er aufgetreten ist. Switcht in dieser Zeit allerdings ein Geistwesen in unsere Welt und begegnet einem Menschen, spricht man von einem Geisterkontakt. Schwache Geister oder auch sehr kleine Risse, bei denen kein Geist switchen kann, verursachen nur minimale Kopfschmerzen. Doch je größer der Riss ist oder je mächtiger und damit gefährlicher ein Geist ist, desto stärker ist die Migräne. Normalerweise nahm ich vorbeugend Tabletten mit dem Wirkstoff Mutterkorn, um meine Geistersichtigkeit und damit auch die Schmerzen komplett zu unterdrücken. Aber der Umzug und Nobbys Zustand hatten mich abgelenkt, die letzte Tablette hatte ich vor über einer Woche genommen. Verdammt. Ich beschloss, dem Grund meiner Migräne nachzugehen. Besser, ich wusste, mit was ich es zu tun hatte und ob es ratsam war, zu verschwinden. Ich sah mich im Schlafzimmer um. Kein Geist in Sicht, und die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Neben mir spielte der Bauherr immer noch Mister Wichtig.
»Ich wohne auch erst seit kurzem hier. Im Hotel. Allerdings nur vier Sterne«, er lachte, »aber was will man machen. Man nimmt, was man kriegt. Mal Lust, auszugehen? Ich kenne da einen schicken Italiener in Köln. Die beste Pasta nördlich von Italien.«
Was für ein nerviger, aufgeblasener Typ! Aber ich wollte mich nicht über ihn aufregen, sondern rausfinden, ob irgendwo im Haus ein Geist geswitcht war. Ich ließ den Schraubendreher fallen und verließ das Schlafzimmer. Hinter mir zog Mister Wichtig lautstark die Luft ein.
»Nicht auf den Boden! Das ist echtes Tropenholz! Das kriegt man hier eigentlich gar nicht! Und die Lampe! Frau Krause! Nicht, dass die mir so die Wand verkratzt!«
Draußen vor dem Schlafzimmer nahmen die Schmerzen zu, allerdings waren sie immer noch gut auszuhalten. Entweder, die Membran war nur gerissen, ohne dass ein Geist in der Nähe war, oder der Geist, der hier spukte, war harmlos.
In der Küche wurde ich fündig. Über dem Herd, ein gutes Stück vor der Wand auf Brusthöhe, loderte ein etwa ein Meter langer Riss. Er sah aus wie das Auge einer Katze, die Pupille pechschwarz und spitz nach oben und unten zulaufend, umgeben von einer Iris aus dunkelroten, züngelnden Flammen. Beeindruckend, besonders, weil ich dank der Migräne alles andere drumherum in gelbbraunen Farben wahrnahm. Einen Geist sah ich nicht. Hinter mir betrat der Bauherr den Raum.
»Hier ist alles in Ordnung«, tönte er. »Bitte kümmern Sie sich um die Lampe im Schlafzimmer! Der Boden ist glücklicherweise nicht beschädigt. Aber wenn ich die Wand neu streichen lassen muss, weil die Lampe sie zerkratzt hat, dann muss ich Ihnen das in Rechnung stellen.«
Der Riss zog sich langsam wieder zusammen. Die Pupille wurde zusehends schmaler und verschwand schließlich ganz, zum Schluss züngelten nur noch die roten Flammen, bis auch sie komplett verschwunden waren. Ich atmete auf. Die Migräne war weg. Und die sepia-gefärbte Welt wurde auch wieder normal bunt.
»Kommen Sie denn jetzt bitte?« Der Bauherr klang einigermaßen genervt. »Ich bezahle ja auch ihre Arbeitszeit.«
Ich zog einen Phasenprüfer aus meinem Blaumann und steckte ihn in die Steckdose neben dem Herd.
»Muss nur was checken«, log ich. »Nicht, dass die Lampe an der falschen Phase hängt und durchbrennt.« Ich warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Designer-Lampen … Sie wissen schon … Da kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Er sah mich erschrocken an.
»Ist denn alles in Ordnung?«
Ich ließ mir nicht anmerken, wie viel Spaß es mir machte, ihn dermaßen zu verschaukeln und brummte dramatisch.
»Alles Top. Versace halt«, beruhigte ich ihn und steckte den Phasenprüfer wieder ein.
Mit einem saftigen Trinkgeld von 20 DM verließ ich den Bungalow. Auf die Einladung zum Essen war Mister Wichtig glücklicherweise nicht mehr zurückgekommen.