Читать книгу Chefarzt Dr. Norden 1164 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Der April hatte erst begonnen und brachte bereits das sprichwörtlich wetterwendische Wechselspiel am Himmel über München. Eben noch hatten sich die charakteristischen Türme der Liebfrauenkirche hinter dicken, grauen Wolkenpaketen versteckt, aus denen ein feiner, durchdringender Regen geströmt war. Dann hatte eine frische Brise das Grau einfach beiseite geschoben, gleichsam den lichtblauen Frühlingshimmel sauber poliert, als liebliche Bühne für den nun wieder strahlenden Sonnenschein.

Dr. Daniel Norden warf einen langen Blick aus dem Fenster, entdeckte im frischen Grün der Beete hinter dem Haus Regentropfen, Diamanten gleich, die dafür sorgten, dass die zarten Blüten von Narzissen und Tulpen noch schöner schimmerten. Durch das halb geöffnete Fenster strömte frische, klare Luft herein, in der ein süßer, verheißungsvoller Duft lag. Der Frühling ließ sein blaues Band einmal mehr durch die Lüfte flattern…

»Kaffee ist fertig.« Dr. Felicitas Norden, genannt Fee, stellte die Kanne auf den schön gedeckten Frühstückstisch und lächelte ihrem Mann zu. »Kein Hunger?«

»Doch, sicher.« Er schloss den Fensterflügel und gesellte sich zu ihr. Obwohl die Nordens beruflich sehr eingespannt waren, er als Leiter der Behnisch-Klinik, sie als Chefin der Pädiatrie, nahmen sie sich doch stets Zeit für die gemeinsamen Mahlzeiten. Die knappe Freizeit sinnvoll zu nutzen, sodass auch ihr Privatleben nicht zu kurz kam, war wohl eines der Geheimnisse ihrer harmonischen Ehe. Und auch der Grund, dass sie nach vielen Jahren und mit fünf bereits erwachsenen Kindern noch immer nicht nur ein Ehepaar, sondern auch ein Liebespaar waren.

»Der Kollege Sommer macht sich. Es war eine gute Entscheidung, ihn einzustellen«, merkte der attraktive Mediziner in den besten Jahren nun an. »Er kann wirklich etwas auf seinem Gebiet.«

Fee musterte ihren Mann mit einem nachdenklichen Blick ihrer erstaunlich blauen Augen. »Er ist noch ziemlich jung für einen Chirurgen, nicht wahr?«

»Sicher.« Daniel schmunzelte. »Ich kenne deine Vorbehalte gegen Überflieger. Aber Matthias Sommer ist kein Streber. Er ist mit Leib und Seele Chirurg. Der große Eingriff gestern am offenen Herzen, das war eine erstaunliche Leistung. Ich habe mit echter Bewunderung zugesehen.«

»Hört, hört«, kam es da von der Tür her, durch die Désirée Norden das Esszimmer betrat. Das hübsche neunzehnjährige Mädchen gähnte herzhaft und ließ sich dann mit einem Seufzer auf einen Stuhl fallen. Désis Blässe und die Tatsache, dass ihre Augen nur mehr Schlitze zu sein schienen, sprachen für einen deutlichen Schlafmangel. »Auf welchem Kanal lief denn die große OP?«

»Vielleicht solltest du noch eine Runde an deiner Matraze lauschen, Liebchen«, riet Daniel Norden seiner Tochter nachsichtig. »Du siehst sehr mitgenommen aus. Party?«

»Ja, in meinem Zimmer, bis halb drei.« Sie gähnte noch einmal und stellte dann klar: »Aber nicht das, was du denkst, Papilein. Ich hatte sozusagen einen kreativen Schub. Habe zehn Entwürfe fertig gestellt. Unglaublich, aber wahr.«

Dési spielte mit dem Gedanken, Modedesign zu studieren.

»Muss das unbedingt nachts sein?«, wunderte er sich.

»Es muss sein, wenn es sein muss. So was nennt man Kreativität«, erwiderte sie seufzend und trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee. »Irgendwann bin ich mit dem Stift in der Hand eingeschlafen. Um halb sechs hat der Professor mich dann ziemlich unsanft geweckt.«

»Wie ist denn das zu verstehen?«, wunderte Fee sich. »Konnte Janni etwa nicht mehr schlafen?«

»Ich nehme es an. Er hat seine Zimmertür zugeknallt und ist dann los marschiert, ausstaffiert wie ein Forscher oder so was.« Dési fielen schon wieder die Augen zu.

»Wohin wollte er denn in aller Frühe?«, forschte Fee nach.

Doch ihre Tochter hob nur die Schultern, legte den Kopf auf die Arme und war bereits wieder auf dem direkten Weg in Morpheus’ Reich. Fee warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

»Soll ich sie in ihr Bett tragen?«, scherzte Daniel.

In diesem Moment wurde die Haustür aufgeschlossen und Désis Zwillingsbruder Janni erschien. Tatsächlich bot er an diesem Morgen einen eher ungewöhnlichen Anblick. Zu seiner überaus wetterfesten Kleidung hatte er sich ein Fernglas und eine Kamera um den Hals gehängt. Noch auffallender waren allerdings der entrückte Gesichtsausdruck und das milde Lächeln. Beides fiel Fees mütterlich geschultem Blick natürlich sofort auf.

Janni wollte gleich in seinem Zimmer verschwinden, doch Fee rief ihn und bot an, mit ihnen zusammen zu frühstücken.

»Danke, ich habe gar keinen Hunger, vielleicht später«, murmelte er aber nur zerstreut und war gleich darauf über die Treppe im oberen Stockwerk verschwunden.

»Siehst du, was ich sehe?«, fragte Fee ihren Mann.

»Kommt darauf an. Was meinst du, Liebes?«

»Unser Sohn ist verliebt, Dan. Man sieht es ihm an der Nasenspitze an. Es ist, als hätte er ein großes Schild umhängen, auf dem ein dickes, rotes Herz prangt.«

»Ziemlich plastisch. Und woraus schließt du das?«

Sie verdrehte die Augen. »Männer! Keinen Sinn für die Dinge des Lebens. Es war doch nicht zu übersehen.«

Dési hob den Kopf und gähnte. »Ich sollte mich noch mal aufs Ohr hauen, tut mir leid, dann bis später…«

»Warte mal einen Moment«, bat ihr Vater. »Wieso geht dein Bruder in aller Herrgottsfrühe mit Kamera und Fernglas aus dem Haus? Will er vielleicht neuerdings Wildbiologe werden?«

Das Mädchen lachte leise. »Der mit all seinen Allergien? Ein Wespenstich und das Studienjahr ist gelaufen.« Sie streckte sich. »Nein, er ist verliebt. So ein Mädchen, das morgens in aller Frühe Vögel im Englischen Garten beobachtet. Ich glaube, sie studiert wirklich Biologie.«

»Aber wie … ich meine, wo ist Janni ihr über den Weg gelaufen?«, wunderte Fee sich.

Dési erhob sich und zuckte die Schultern. »Er kam von einer Party bei einem Kumpel und ist ihr im Park begegnet.«

»Und hat dieses Mädchen auch einen Namen?«, fragte Daniel.

»Sie heißt Sissi Berger, ist hübsch und nett. Leider eine eingefleischte Frühaufsteherin, also nicht ganz passend für meinen Freundeskreis.«

»Und Janni steht nur für sie so früh auf?«, hakte Fee nach, die ihre Zwillinge als ausgesprochene Langschläfer kannte.

»Das tut er.« Dési grinste. »Er ist total verschossen in sie.«

Daniel musste schmunzeln, seine Frau hingegen schien das gar nicht lustig zu finden. Auf der Fahrt zur Behnisch-Klinik gab Fee sich auffallend wortkarg. Und als ihr Mann den Wagen auf dem reservierten Platz hinter dem Klinik-Gebäude abstellte, seufzte sie: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Irgendwann musste das ja passieren. Es ist der Lauf der Welt«, versuchte er, sie zu beruhigen.

»Was meinst du?«, wunderte Fee sich.

»Dass der Junge sich verliebt hat …«

»Ach, Dan, halte mich doch nicht für naiv. Mir geht es um etwas ganz anderes. Wenn Janni diesem Mädchen nachläuft, das wir nicht mal kennen, wenn er seine Gewohnheiten für sie ändert, dann sollten wir vielleicht …«

»Dann sollten wir uns ganz bestimmt heraushalten«, mahnte er sie mit verständnisvoller Nachsicht. »Janni ist erwachsen, er wird sich mit Recht jegliche Einmischung in sein Intimleben verbitten.«

»Ich möchte doch nur sicher gehen, dass er nicht enttäuscht wird, er ist sehr sensibel.«

»Fee, mein Herz, du bist eine wunderbare Mutter. Du hast Janni die ersten Schritte beigebracht, warst immer für ihn da, hast ihn getröstet, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte oder wenn die Gedichte von Rilke ihn zur Verzweiflung gebracht haben. Du hast ihn geführt und ihm die lange Leine gelassen. Du hast alles richtig gemacht als Mutter. Jetzt ist es an der Zeit, die Leine los zu lassen, damit dein »Kind« seine eigenen Erfahrungen machen kann. Und dazu gehört nun auch mal ein bisschen Liebeskummer.«

»Ich will nicht, dass er leidet.«

Daniel lächelte angedeutet und ließ seiner Frau den Vortritt in den Lift. »Momentan ist er verliebt. Wenn er Trost brauchen sollte, wird er dir das bestimmt sagen. Meinst du nicht?«

Der Lift hielt auf der Pädiatrie, Fee seufzte. »Du hast vermutlich recht«, gab sie widerwillig zu.

»Habe ich«, versicherte er ihr entspannt. »Bis heute Mittag, mein Schatz.« Er küsste sie zart und ­lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir sehen uns.«

*

»Wir sind spät dran.« Aische Celik erhob sich vom Frühstückstisch und warf ihrem Verlobten einen mahnenden Blick zu. Matthias hatte mal wieder seine Nase in einer medizinischen Fachzeitschrift vergraben. Die hübsche OP-Schwester räumte rasch das Geschirr zusammen, dann griff sie auch nach der Zeitschrift, denn sie wusste, dass dies die einzige Methode war, um Matthias’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der junge Chirurg stutzte kurz, lächelte und zog Aische auf seinen Schoß. Sie verdrehte die Augen, kam aber zu keinem Protest, denn Matthias küsste sie erst einmal ausgiebig.

»Wir müssen zur Arbeit«, mahnte sie ihn, wobei der weiche Glanz in ihren klaren, obsidianfarbenen Augen für sich sprach.

»Wollen wir nicht mal schwänzen?«, schlug ihr Verlobter mit einem viel sagenden Lächeln vor.

»Warum nicht?«, ging sie scheinbar auf seinen Vorschlag ein. Denn sie wusste, dass er viel zu pflichtbewusst war, um es wirklich ernst zu meinen.

»Hm, und was machen wir mit Herrn Balders Gallenblase? Ganz zu schweigen von dem Magenband für Frau …«

»Sie werden eben alle auf deine Kunst verzichten müssen. Ein Kollege wird dich vertreten. Oder hältst du dich etwa für unersetzlich, mein Schatz?«

In seinen tiefblauen Augen blitzte es schelmisch auf. Als er sich vor gut­ einem Jahr in die rassige OP-Schwester mit den seelenvollen Augen verliebt hatte, war es nicht nur Aisches Schönheit gewesen, die sein Herz erobert hatte. Es war vor allem ihr trockener Humor. Und ihre Art, ihn sehr gefühlvoll auf den Arm zu nehmen. Er lachte und küsste sie noch einmal, bevor er sie auf die Füße stellte und zugab: »Ich bilde mir zwar ein, bei dir unersetzlich zu sein, mein Herz, aber in der Klinik ist das tatsächlich niemand. Deshalb möchte ich den Chef gar nicht erst auf Ideen bringen. Also, nichts wie auf zur Arbeit!«

Wenig später hatte das junge Paar die Behnisch-Klinik erreicht. Als Aische aus dem Wagen ihres Verlobten stieg, meldete sich ihr Handy. Es war Leila, ihre jüngere Schwester.

»Geh schon mal vor, ich komme gleich«, bat sie Matthias.

Der nickte und verschwand im Klinikeingang. Er wusste, dass ein Telefonat zwischen den Schwestern durchaus länger dauern konnte. Und dabei ging es nicht um die üblichen Themen wie Liebeskummer oder die neuesten Modetrends.

Aische stammte aus einer Familie, die bereits in zweiter Generation in Deutschland lebte und integriert war. Ihr Vater war Abteilungsleiter auf der Sparkasse, er spielte einmal in der Woche Skat mit seinen Freunden und ging zum Kegeln. Abgesehen von reinen Äußerlichkeiten gingen die Celiks durchaus als waschechte Münchner durch und wurden auch so angesehen. Doch es gab einen Unterschied zwischen dem sozialen Leben und dem Leben innerhalb der eigenen vier Wände. Da zeigte sich dann oft, dass Mehmet Celik eben noch sehr verwurzelt im traditionellen Denken war. Als Aische sich seinerzeit entschlossen hatte, Krankenschwester zu werden und während ihrer Ausbildung im Schwesternheim zu wohnen, hatte sie dieser Schritt eine ganze Menge Diskussionen gekostet. Der Vater hatte sie nicht gehen lassen wollen, obwohl sie bereits volljährig gewesen war. Aische hatte sich durchgesetzt, unterstützt von ihrer Mutter, die einen stillen aber nachhaltigen Einfluss auf ihren Mann ausübte.

Und nun stand Leila vor einem ganz ähnlichen Problem. Aisches Schwester hatte das Abitur in der Tasche und wollte gern Jura studieren. Per se hatte ihr Vater nichts dagegen. Er war im Gegenteil stolz auf seine kluge Tochter.

Aber dass Leila daheim ausziehen, im Studentenwohnheim leben und ganz selbstständig werden wollte, das lehnte er rundweg ab.

Aische, ihre Mutter und auch Matthias Sommer hatten bereits auf Mehmet eingewirkt, jeder auf seine Art. Und da der Familienvater seinen Schwiegersohn in spe respektierte, lehnte er dessen liberale Haltung auch nicht grundsätzlich ab. Doch es kostete ihn eben sehr viel Überwindung, sich aus dem traditionellen Rollenbild zu lösen, das er bei Eltern und Großeltern erlebt und stets für richtig gehalten hatte.

»Leila, wie geht es? Alles in Ordnung?«, fragte Aische.

»Es geht. Ich wollte dich bitten, heute Abend noch mal mit Papa zu reden. Ihr kommt doch zum Abendessen, oder?«

»So ist es abgemacht. War wieder was?«

»Na ja, gestern war eine Freundin von mir da. Stefanie Seegers, ihr Vater ist Anwalt, hat eine eigene Kanzlei. Sie will auch Jura studieren. Wir haben überlegt, ob wir vielleicht zusammen ziehen. Keine Ahnung, wie ich das Papa verklickern soll. Da könnte ich ein bisschen Unterstützung brauchen.«

»Klar, du weißt doch, dass du auf uns zählen kannst«, versicherte ­Aische. »Außerdem ist das eine gute Idee, spart Miete. Damit sammelst du bei Papa bestimmt Pluspunkte.«

Leila lachte. »In dem Fall zählt für ihn eher, dass da zwei Mädels ohne Aufsicht zusammen wohnen. Und das wird ihm ganz bestimmt nicht behagen.«

»Ich nehme an, Stefanie ist ein vernünftiges Mädchen.«

»Und ob. Außerdem hat sie einen festen Freund und ist nicht unbedingt das, was man als Partymaus bezeichnen würde.«

»Na also, wenn das kein Argument ist.«

Die Schwester seufzte. »Du kennst Papa …«

»Wir schaffen das schon. Ich muss jetzt aber zum Dienst. Wir sehen uns heute Abend. Ich werde noch mit Matthias reden, damit er dich ebenfalls unterstützen kann, okay?«

»Ich finde es super, dass er so viel Verständnis hat. Du kriegst einen richtig guten Ehemann, weißt du das?«

»Und ob.« Aische lachte. »Ich gebe ihn auch nicht mehr her.«

»Kann ich verstehen, dann bis heute Abend.«

Die junge Krankenschwester steckte ihr Handy weg und lief zum Eingang der Behnisch-Klinik. Nun musste sie sich beeilen, denn sie war wirklich spät dran, und die Oberschwester konnte keine Unpünktlichkeit leiden. Während sie in ihren Schwesternkittel schlüpfte, dachte sie darüber nach, wie sie Leila am besten helfen konnte. Diplomatie war in diesem Fall gefragt. Obwohl Aische sonst immer offen und ehrlich zu ihrem Vater war, musste sie nun doch ein wenig taktieren, damit Leila ihre Pläne in die Tat umsetzen konnte. Ganz einfach würde das wohl nicht. Aber Aische hatte ja Erfahrung auf dem Gebiet. Es war nicht ihr erster Kampf um Freiheit und das Recht, selbst über ihr Leben und ihre Zukunft zu entscheiden. Sie wusste, wie wichtig das war, und wollte es deshalb auch Leila ermöglichen.

*

Dr. Matthias Sommer hatte an diesem Tag mehrere Operationen, bei denen seine Verlobte ihm als OP-Schwester zur Hand ging. Die beiden waren auch beruflich ein eingespieltes Team und verstanden sich meist ohne viele Worte.

Als der junge Chirurg kurz vor Feierabend noch nach einem Patienten sehen wollte, traf er an dessen Bett den Chefarzt an.

Dr. Norden hatte sich gerade mit dem Patienten unterhalten und dessen Werte kontrolliert, nun bat er den jungen Kollegen, ihm auf den Klinikflur zu folgen. Während Matthias schon überlegte, ob er vielleicht etwas falsch gemacht hatte, hörte er Dr. Norden sagen: »Ich bin sehr zufrieden mit Ihren Leistungen. Die große OP gestern hat mich wirklich beeindruckt. Man sieht selten einen Facharzt, der schon in so jungen Jahren dermaßen viel Können und Geschick an den Tag legt. Ich muss zugeben, dass ich Kollegen erlebt habe, die solche Fähigkeiten auch nach mehreren Jahrzehnten ­Berufserfahrung nicht entwickeln konnten.«

Matthias war einen Moment lang sprachlos, dann aber sagte er bescheiden: »Das war doch nicht der Rede wert.«

»O doch, das war es.« Der Chefarzt klopfte dem jungen Kollegen auf die Schulter und mahnte ihn: »Sie müssen lernen, ein berechtigtes Lob anzunehmen. Das gehört dazu. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel.«

Dr. Sommer lächelte schmal. »Ich danke Ihnen, das habe ich nicht erwartet. Und ich werde mich bemühen, Ihren Erwartungen auch weiterhin gerecht zu werden.«

»Ich habe keine Zweifel, dass Sie das werden.«

Wenig später verließen Matthias und Aische gemeinsam die Behnisch-Klinik. Ein wenig verschämt erzählte er ihr von dem großen Lob, das Dr. Norden ausgesprochen hatte, wiegelte aber zugleich ab: »Er will mich wohl motivieren, immerhin stehe ich ja noch in der Probezeit.«

»Er hat dich gelobt, weil du gut bist«, stellte Aische überzeugt richtig. »Freu dich, dass der Chef deine Arbeit zu schätzen weiß. Und sei nicht immer so bescheiden.«

»Das hat Dr. Norden mir auch geraten.«

»Na, siehst du, dann muss ja was dran sein.«

»Natürlich freue ich mich über sein Lob. Aber ich halte es einfach für selbstverständlich, dass man sein Bestes gibt. Schließlich geht es um Menschenleben.«

»Du bist eben Mediziner mit Leib und Seele. Ein bisschen Bewunderung wird da ja wohl noch erlaubt sein, oder?«

Er lachte. »Wenn du mich bewunderst, beschwere ich mich nicht, mein Schatz.«

»Das tue ich, unausgesetzt, und noch mehr, wenn du mich heute beim Abendessen wieder unterstützt, was Leilas Pläne angeht.«

»Hat sie denn mittlerweile einen Platz im Wohnheim ergattern können? Das ist ja nicht ganz einfach.«

»Sie denkt daran, zusammen mit einer Freundin, die ebenfalls Jura studieren will, eine Wohnung zu nehmen. Das müssen wir Papa heute Abend verklickern. Einfach wird es bestimmt nicht.«

Matthias lächelte schmal. »Macht nichts, ich liebe die Herausforderung …«

Die Celiks bewohnten eine geräumige Altbauwohnung im Münchner Stadtteil Haidhausen. Fatma war eine ausgezeichnete Köchin und freute sich immer sehr, ihre beiden Töchter wieder am Tisch zu haben. An Matthias Sommer hatte sie einen Narren gefressen. Sie behandelte ihren zukünftigen Schwiegersohn besonders liebevoll und verwöhnte ihn gern mit orientalischen Süßigkeiten, was der junge Mann sehr zu schätzen wusste. Zunächst aber unterhielt Matthias sich eine Weile mit Mehmet, wie es Sitte war, während Leila und Aische der Mutter in der Küche zur Hand gingen.

Dabei wurde munter geplaudert. Fatma interessierte sich sehr für die Geschichten aus dem Klinikalltag, die Aische stets mitbrachte, und hörte ihrer Älteren aufmerksam zu. An diesem Abend ging es bei den drei Frauen aber um ein anderes Thema.

»Dein Vater hat mich gestern gefragt, wann du und Matthias heiraten werdet. Ihr seid jetzt ein halbes Jahr verlobt …«

Aische warf ihrer Mutter einen knappen Blick zu und erklärte: »Wir haben noch kein Datum festgelegt. So sehr eilt es uns nicht. Ich finde es schön, verlobt zu sein, und ich glaube, Matthias geht es genauso.«

Fatma lächelte versonnen. »Ja, die Verlobungszeit ist etwas Besonderes, das stimmt. Aber du kennst deinen Vater. Er macht sich ständig Sorgen um euch Mädchen, hat Angst, dass etwas nicht stimmt, nicht so läuft, wie es sollte. Er fühlt sich eben noch immer für euch verantwortlich.«

»Das muss er sich endlich abgewöhnen, wir sind erwachsen«, sagte Leila ärgerlich. »Wenn wir seinen Rat brauchen, sagen wir das schon. Hat er denn gar kein Vertrauen zu uns?«

Fatma bedachte ihre Jüngere mit einem nachsichtigen Blick. »Das hat nichts mit Vertrauen zu tun, natürlich vertraut er euch. Aber er möchte eben, dass es euch gut geht, dass ihr glücklich seid. Und was er dazu tun kann, das tut er.«

»Ich wäre sehr viel glücklicher, wenn ich meine eigenen Entscheidungen treffen könnte.«

»Nun mach mal halblang«, bat Aische die Schwester. »Wir reden nachher mit Papa über deine Idee. Und ich bin sicher, dass wir ihn überzeugen können. Vielleicht nicht heute …«

»Und bestimmt nicht morgen.« Leila seufzte. »Schon verstanden. Geduld bringt Rosen, nicht wahr?«

»In deinem Fall wohl eher die Freiheit, die du anstrebst.«

Mehmet unterhielt sich bei Tisch angeregt mit Matthias und stellte fest: »Man hört nur Gutes über dich, Aische. Du scheinst in deinem Beruf ebenso aufzugehen wie dein Verlobter.«

»Ich arbeite gern in den Behnisch-Klinik«, bestätigte sie.

»Und wie soll das werden, wenn ihr verheiratet seid?«

»Ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird.«

»Du willst also eine berufstätige Mutter werden?« Man hörte deutlich, dass Mehmet das nicht gut fand. »Und wie stehst du dazu, Matthias? Findest du nicht, dass Kinder ihre Mutter brauchen, dass eine Mutter daheim genug zu tun hat?«

Fatma schüttelte leicht den Kopf und bedachte ihren Mann mit einem tadelnden Blick. Wie oft hatten sie schon über dieses Thema gesprochen. Mehmet war traditionell eingestellt, Fatma hatte sich ihm angepasst. Sie wusste aber, dass ihre Töchter moderne Mädchen waren, die anders dachten. Und sie hatte ihren Mann deshalb schon öfter gebeten, dieses Thema nicht zur Sprache zu bringen, wenn sie gemütlich zusammen aßen.

Der junge Mediziner hob die Schultern. »Diese Entscheidung werde ich Aische überlassen. Wir kriegen das zusammen schon hin«, sagte er optimistisch.

»Eine sehr liberale Einstellung. Ich frage mich, ob du damit auf Dauer glücklich werden wirst, Matthias.«

»Das wird sich zeigen«, sagte der diplomatisch. »Aber ich werde ganz sicher meines Lebens nicht mehr froh, wenn ich versuchen sollte, Aische etwas vorzuschreiben. Sie hat ihren eigenen Willen. Das gefällt mir an ihr.«

»Manche Leute haben eben mehr Glück als andere«, merkte Leila da spitz an. Ihr Vater bedachte sie mit einem fragenden Blick.

»Was meinst du denn damit, meine Kleine?«

»Na, zum Beispiel, dass ich nicht mehr klein, sondern längst erwachsen bin. Und gern auch so behandelt werden würde.«

»Tue ich das denn nicht?«, wunderte ihr Vater sich.

»Nein, das tust du nicht«, beharrte Leila fest. »Du siehst in mir immer noch das Kind, das man beaufsichtigen muss.«

Mehmet schmunzelte. »Ein bisschen Aufsicht hat noch niemandem geschadet. Sofern man keinen Unfug vorhat …«

»Also, das ist doch …«

Aische legte ihre Hand auf Leilas Arm und bat begütigend: »Lasst uns mal ganz sachlich darüber reden. Leila würde gern mit einer Freundin zusammen ziehen, die ebenfalls Jura studieren wird. Ihr Name ist Stefanie Seegers, und sie ist nicht nur klug und fleißig, sondern auch schon sehr verantwortungsbewusst. Habe ich das richtig widergegeben, Leila?«

Die Schwester nickte. »Stefanies Vater ist Anwalt. Vielleicht könnte ich in seiner Kanzlei ein Praktikum machen. Und die Miete würde sich auch halbieren, wenn wir uns eine Wohnung teilen.«

»Wozu Miete zahlen, wenn du hier daheim alles hast, was du brauchst?«, hielt der Vater ihr entgegen.

»Vielleicht lädtst du Stefanie mal zum Essen hierher ein, damit Papa sie kennenlernen kann«, schlug Aische vor.

»Eine gute Idee«, stimmte Fatma zu. »Wenn es ein nettes und ordentliches Mädchen ist, wäre nichts dagegen zu sagen, dass die beiden sich eine Wohnung teilen, nicht wahr, Mehmet?«

»Dagegen ließe sich sicher viel sagen. Aber bevor ich das tue, möchte ich diese Stefanie doch erst einmal kennenlernen«, gab der Familienvater nach. »Dann sehen wir weiter.«

Leila war angenehm überrascht. »Du wirst sie ganz bestimmt mögen, Papa, ganz bestimmt!«, versicherte sie eifrig.

»Wie gesagt, dann sehen wir weiter«, erwiderte er bedächtig.

Als Aische und Matthias sich wenig später verabschiedeten, dankte Leila der Schwester überschwänglich. »Ich glaube, langsam wird er weich! Nur noch ein bisschen Geduld, dann habe ich es geschafft. Und das verdanke ich nur eurer Unterstützung!«

»Noch hat er nicht ja gesagt«, erinnerte Aische das Mädchen. »Du solltest dir von diesem gemeinsamen Essen nicht zu viel versprechen. Aber ich glaube auch, dass es im Endeffekt klappen wird. Du weißt ja, Geduld …«

»… bringt die Freiheit!«, lachte Leila optimistisch.

*

Schon zwei Tage später brachte Leila ihre Schulfreundin mit nach Hause, damit der Vater sie in Augenschein nehmen konnte.

Das gemeinsame Essen verlief entspannt, und Mehmet schien seine ablehnende Haltung Leilas Plänen gegenüber allmählich aufzugeben. Das Mädchen war glücklich und schmiedete Pläne.

Fatma freute sich für ihre jüngere Tochter. Als ihr Mann aber am nächsten Morgen sehr früh einen Anruf erhielt, sollte sich mit einem Mal wieder alles ändern.

Mehmet telefonierte eine ganze Weile. Fatma war damit beschäftigt, das Frühstück zu richten, als ihr Mann die Küche betrat, die Tür hinter sich schloss und sie wissen ließ: »Das war Falils Vater. Erinnerst du dich an ihn?«

Fatma überlegte einen Moment. »Habib, dein alter Freund aus Kirkili?«, fragte sie nach.

Mehmet nickte. Als Junge war er in den Ferien jedes Jahr mit seinen Eltern in das kleine anatolische Dorf gereist, wo die Großeltern noch gelebt hatten. Dort hatte er sich mit dem Nachbarsjungen angefreundet. Dass dieser sich nach so langer Zeit wieder meldete, konnte nichts Gutes bedeuten. Fatma schwante, was los war, noch bevor ihr Mann erklärte: »Habib fordert den Verspruch zwischen seinem Sohn Falil und Leila ein.«

»Das kann nicht sein Ernst sein!«, entfuhr es Fatma.

»Es ist so Tradition. Du weißt, dass die Kinder bereits als Babys einander versprochen worden sind.«

»Ja, in Anatolien. Aber wir leben in München!«

»Das macht keinen Unterschied. Die Traditionen dürfen nicht missachtet werden. Habib hat ein Recht, den Verspruch einzufordern. Und wir können uns dem nicht widersetzen. Das ist eine Frage der Ehre.«

»Mehmet, ich bitte dich …«

»Darüber gibt es keine Diskussionen. Leila wird Falil heiraten. So ist es zwischen uns ausgemacht worden. Ich werde mich daran halten. Oder verlangst du vielleicht, dass ich ehrlos handele, Fatma?«

»Ich verlange, dass du deinen gesunden Menschenverstand benutzt, Mehmet. Dieses Versprechen ist fast zwanzig Jahre alt. Was sagt denn Falil dazu? Ist er der gleichen Meinung wie sein Vater? Und wo sollen die beiden leben? Verlangst du von Leila, dass sie auf ihr Studium verzichtet, München und das Leben, das sie kennt, verlässt, um in Anatolien in einem Bergdorf zu leben wie im Mittelalter? Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Falil studiert in Hamburg. Sie werden ganz bestimmt nicht wie im Mittelalter leben. Was denkst du von mir? Dass ich unsere Tochter wie einen Esel verkaufe? Die beiden können hier in Deutschland leben. Wenn Falil einverstanden ist, kann Leila studieren. Das müssen die beiden dann untereinander regeln. Mir geht es hier nur um die Hochzeit, die gefeiert werden muss. Daran führt kein Weg vorbei.«

Fatma musterte ihren Mann skeptisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein moderner junger Mann sich noch diesen angestaubten Traditionen beugen und sein Leben danach ausrichten wollte.

Vermutlich hielt er ebenso wenig von dieser Verbindung mit einer Fremden, wie Leila es tun würde. Sie musste diesen Unsinn verhindern. Aber wie?

»Wenn es dir so wichtig ist, soll Falil herkommen, damit die beiden sich wenigstens mal kennenlernen können«, schlug sie begütigend vor, aber davon wollte ihr Mann nichts wissen.

»Das wäre gegen die Tradition. Sie werden sich erst bei der Hochzeit in Kirkili kennen lernen.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Mehmet!«

»Keine Diskussionen, es wird so gemacht, wie ich sage: Du fährst noch heute mit Leila nach Istanbul. Dort trefft ihr einen Cousin von Habib, er lebt als Kaufmann in der Stadt und wird euch nach Kirkili bringen. Alles wird für die Hochzeit vorbereitet und so ablaufen, wie es Tradition ist.«

»Da mache ich nicht mit. Das ist doch verrückt!«, widersprach Fatma ihrem Mann vehement. »Du kannst deine Tochter nicht zwingen, einen Wildfremden zu heiraten!«

Mehmet schaute seine Frau streng an. »Tu, was ich dir sage, Fatma. Ich verlasse mich darauf, dass du deine Pflicht als Mutter nicht vergessen hast. Einen Verspruch zu brechen, ist ehrlos und befleckt den guten Namen einer Familie. So etwas muss man unter allen Umständen vermeiden!«

Leila, die eben die Küche hatte betreten wollen, fuhr entsetzt zurück. Was sie da gerade gehört hatte, erschien ihr ganz einfach unfassbar. Sie sollte einen Fremden heiraten, weil irgendeine Tradition das forderte? Das war doch nicht möglich!

Doch der Vater hatte sehr entschlossen geklungen. Das bedeutete, sie musste auf der Stelle etwas unternehmen, wenn sie verhindern wollte, dass man sie aus ihrem gewohnten Leben heraus riss und ihr das antat! Hastig huschte sie ins Bad, schloss die Tür ab und zückte ihr Handy. Nun konnte ihr nur eine Person helfen: Aische!

Die Schwester war noch zu Hause, als der Anruf sie erreichte. Auch Aische war einen Moment lang perplex und fragte dann ungläubig nach: »Bist du sicher, dass du dich nicht verhört hast? Ich kann mir gar nicht vorstellen …«

»Ich auch nicht, aber es stimmt«, unterbrach Leila sie panisch. »Du musst sofort herkommen und diesen Wahnsinn verhindern. Wenn ich erst im Zug sitze …«

»Schon gut, beruhige dich. Ich bin auf dem Weg«, versprach die ältere Schwester. Aische klappte den Geschirrspüler zu und ging hinüber ins Esszimmer, wo Matthias noch Zeitung las.

»Papa will Leila verheiraten, sie soll heute noch in die Türkei fahren. Ich muss mal mit ihm reden.«

»Was?« Der junge Chirurg meinte, sich verhört zu haben. »Bei unserem letzten Gespräch war er doch ganz vernünftig. Wie kommt er denn nun auf so eine Schnapsidee?«

»Es war nicht seine Idee, ein alter Freund hat ihn angerufen. Damals, als Leila noch ein Baby war, ist sie seinem jüngsten Sohn versprochen worden. Das ist bei uns so Tradition. Dieser so genannte Verspruch kann jederzeit eingefordert werden. Man muss sich daran halten, es ist eine Frage der Ehre.«

Matthias seufzte. »Klingt ein bisschen angestaubt.«

»Ist es auch. Aber leider nicht zu ändern.«

»Ich verstehe das nicht. Dein Vater ist doch ein modern denkender Mann, hier in München geboren. Ich habe schon viele interessante Gespräche mit ihm geführt und nie festgestellt, dass er gestrige Meinungen vertritt. Wie kann er nur daran denken, seine eigene Tochter gegen ihren Willen mit einem Fremden zu verheiraten? Das ist absurd.«

»Sag ihm das, vielleicht hilft es. Du kommst doch mit?«

Er nickte. »Das lasse ich mir nicht entgehen.«

Als das junge Paar die Wohnung der Celiks erreichte, herrschte dort bereits helle Aufregung. Leila hatte sich noch immer im Badezimmer eingeschlossen und weigerte sich, heraus zu kommen. Mehmet war wütend auf seine Tochter, er konnte es nicht leiden, wenn er nicht Herr der Lage war, und machte auch seiner Frau Vorwürfe. Der Haussegen hing mehr als schief. Aische wollte vernünftig mit ihrem Vater reden, doch der fuhr sie ungewohnt autoritär an: »Das ist alles deine Schuld! Du hast deiner Schwester diese Idee von Selbstbestimmung und Freiheit eingeimpft. Ich werde es aber nicht dulden, dass Leila die Ehre und den guten Namen unserer Familie beschmutzt!«

»Das tut sie nicht. Sie ist eine gute Tochter. Denk doch daran, wie stolz du auf sie gewesen bist, als du ihr Abizeugnis gesehen hast«, mahnte Aische ihn. »Du darfst das Ganze nicht übers Knie brechen, Papa! Bitte!«

Mehmet grollte: »Ich muss mich an den Verspruch halten, alles andere ist im Moment unwichtig.«

»Aber Mehmet, so geht das doch nicht«, widersprach Matthias ihm ruhig. »Würdest du denn deine Stellung in der Sparkasse aufgeben, um in Anatolien Ziegen zu hüten, wenn irgendeine angestaubte Tradition dies fordern würde? Und wie kämst du dir vor, wenn du ganz plötzlich in einer solche Situation stecken würdest? Hättest du da nicht auch Panik?«

»Darum geht es nicht.«

»Doch, genau darum geht es«, bekräftigte Aische. »Komm, setzen wir uns zusammen und reden über alles. Das ist im Moment das einzig Vernünftige, Papa.«

Er seufzte. Man sah ihm an, dass er die Angelegenheit noch immer lieber auf seine Weise regeln wollte. Doch er gab nach, denn er wollte vor Matthias nicht wie ein alter Patriarch da stehen. »Gut, reden wir. Aber es wird nichts ändern«, knurrte er widerwillig. Fatma lächelte ihrem Mann erleichtert zu.

Aische klopfte gegen die Badezimmertür und rief: »Wir reden im Wohnzimmer darüber. Da es dich betrifft, solltest du bald nachkommen, Leila!« Eine Antwort erhielt sie nicht, denn die jüngere Schwester hatte nicht vor, an dem Gespräch teilzunehmen. Sie hatte den Vater am fühen Morgen gehört und gerade eben. Er würde nicht nachgeben, davon war Leila überzeugt. Er würde darauf bestehen, sie zusammen mit der Mutter in einen Zug nach Istanbul zu setzen, um einem antiquierten Ehrbegriff Genüge zu tun. Aber da spielte sie nicht mit, auf keinen Fall!

Als die Familie sich im Wohnzimmer aufhielt, schlich Leila sich leise aus dem Bad und in ihr Zimmer. Hastig packte sie ein paar Sachen ein und wollte die Wohnung dann so schnell wie möglich verlassen. Sie hatte bereits die Türklinke in der Hand, als ihr Vater in die Diele kam. Leila erschrak furchtbar.

Mehmet hatte nachsehen wollen, wo seine Tochter blieb. Als er sah, dass sie weglaufen wollte, verfinsterte sich seine Miene, und er herrschte sie an: »Du bleibst hier!«

Doch sie dachte nicht daran. Hektisch riss sie die Wohnungstür auf, rannte die Treppe herunter und stürzte aus dem Haus.

Leila schaute weder nach rechts noch nach links, sie wollte nur fort, verhindern, dass ihr Vater sie noch erwischte. Ihre Unaufmerksamkeit wurde ihr zum Verhängnis, denn sie bemerkte das Auto, das auf sie zukam, zu spät.

Im nächsten Moment quietschten Bremsen, das Mädchen sah den Wagen übergroß vor sich aufwachsen, und dann spürte Leila einen harten Schlag, der sie von den Beinen holte.

*

»Es wird nichts nützen, er lässt sich bestimmt nicht davon abbringen«, sagte Fatma gerade zu Aische und Matthias, als unten auf der Straße ein Auto stark abbremste. Gleich darauf stürzte Mehmet ins Wohnzimmer, kreidebleich und mit vor Schreck geweiteten Augen, und keuchte: »Matthias, schnell! Leila ist angefahren worden!«

»Wie ist das passiert?«, fragte der junge Arzt knapp.

Gemeinsam mit seinem Schwiegervater in spe eilte er aus der Wohnung. Mehmet murmelte: »Sie wollte weglaufen, ich habe sie gerade noch erwischt. Aber bevor ich sie festhalten konnte, ist sie wie verrückt davon gerannt, direkt in ein Auto!«

Matthias kümmerte sich um Leila, die bewusstlos auf der Straße lag. Der Autofahrer hatte bereits den Notarzt alarmiert, einige Menschen standen herum, jemand hatte dem Mädchen eine Jacke unter den Kopf geschoben.

Aische folgte ihrem Verlobten, um ihm zu helfen.

»Sieht nach einer commotio aus«, vermutete er.

Leila schlug kurz die Augen auf, ihre Schwester sprach beruhigend auf sie ein. Doch es dauerte nur einen Moment, bis sie wieder bewusstlos wurde.

Nach wenigen Minuten traf der Krankenwagen der nahen Behnisch-Klinik ein. Dr. Fred Steinbach trat neben Matthias und fragte: »Was ist passiert, Herr Kollege?«

Der junge Chirurg gab Auskunft, dann ging er beiseite, um den Rettungsarzt seine Arbeit erledigen zu lassen. Als Leila von Sani Jens Wiener auf einer Rolltrage in den Krankenwagen geschoben wurde, redete Dr. Sommer noch kurz mit dem Kollegen und ließ die Celiks dann wissen, dass Leilas Zustand stabil sei.

»Wie es aussieht, hat sie nur ein paar Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Aische und ich fahren jetzt zum Dienst, sie ruft euch an, wenn wir Genaueres wissen.«

»Es ist meine Schuld gewesen, nicht wahr?« Mehmet war noch immer blass und wirkte sehr bekümmert. »Dass Leila ins Krankenhaus muss, ist nur meine Schuld.«

»Wir reden später darüber, Pa­pa«, sagte Aische und drückte kurz seine Hand, bevor sie zu Matthias ins Auto stieg.

»Dumm gelaufen, muss man da wohl sagen«, murmelte er.

Chefarzt Dr. Norden 1164 – Arztroman

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