Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden 4 – Arztserie - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»So fit möchte ich auch noch sein, wenn ich in seinem Alter bin«, raunte Sophia Lydia zu, nachdem sie Ludger Mauser, den ersten Patienten des Tages, aufgerufen hatte. »Er ist 84 und will an einem Marathon teilnehmen.«

»Dann ist er wegen eines Check-ups hier?«, fragte Lydia und sah Ludger nach, der mit federnden Schritten durch den Gang lief, an dessen Ende Danny Nordens Sprechzimmer lag.

»Ja, ist er. Sieh mal, ich habe eine Nachricht von Alexander.« Sophia, eine zarte junge Frau mit hellblondem Haar, zeigte auf ihr Telefon, das sie aus ihrer Hosentasche gezogen hatte. Sie schaltete das Video an, das sie vom Sohn ihrer Cousine Charlotte bekommen hatte, und legte das Telefon auf den Empfangstresen der Praxis, damit auch Lydia das Video sehen konnte.

»Hallo, Sophia, wann kommst du uns besuchen? Ich warte auf dich«, sagte der kleine Junge mit den blonden Locken, der vor einem prächtigen Landhaus inmitten von Weinbergen stand.

»Er vermisst dich«, stellte Lydia lächelnd fest.

»Ich vermisse ihn auch, und ich vermisse Markus«, flüsterte sie.

»Vielleicht vermisst er dich auch.«

»Er ist inzwischen sicher längst verlobt, schon vergessen?«, seufzte Sophia. Sie konnte es selbst nicht verstehen, dass sie noch immer an Markus dachte. Während Charlottes letzten Besuchs hatten sie ihren alten Jugendfreund wieder getroffen, und Sophias Liebe zu ihm war erneut aufgeflammt, obwohl sie wusste, dass er nicht mehr frei war. »Außerdem habe ich im Moment andere Sorgen, als mich mit einer unglücklichen Liebe zu beschäftigen«, schloss sie das Thema Markus erst einmal ab.

»Ich weiß, Sophia. Meine Mutter wird euch hoffentlich bald einen guten Anwalt empfehlen können.«

»Ich bin ihr wirklich dankbar für ihre Hilfe.«

»Meine Mutter ist Polizistin geworden, weil sie die Guten vor den Bösen beschützen will. Und was deine Familie mit dir und deiner Mutter macht, ist wirklich böse. Ich meine, erst verweigern die von Arnsberg euch das Erbe deines Vaters und jetzt sollt ihr noch für irgendwelche utopischen Schulden haften. Das ist das Allerletzte«, schimpfte Lydia.

»Meine Mutter meinte gestern Abend, dass es möglicherweise nur eine leere Drohung ist. Charlottes Vater will uns einfach nur von der Familie fernhalten, damit wir erst gar nicht mehr auf die Idee kommen, unsere Ansprüche durchzusetzen.«

»Was sagt Charlotte zu dieser Drohung?«

»Ich habe ihr noch nichts davon erzählt. Ich will ihr nicht ständig sagen, wie niederträchtig ihr Vater sich meiner Mutter und mir gegenüber benimmt.«

»Charlotte kennt ihre Eltern, du kannst sie mit dieser neusten Attacke gegen dich und deine Mutter nicht schocken.«

»Vielleicht nicht, aber sie hat in letzter Zeit selbst genug mitgemacht. Ich werde erst einmal abwarten, wie die Sache sich entwickelt.« Seitdem Charlotte einen italienischen Adligen geheiratet hatte und bei seiner Familie lebte, hatten sie kaum noch Kontakt gehabt. Nach Charlottes letzten Besuch bei ihren Eltern hatte sich das geändert. Charlotte hatte der Diagnose ihrer Ärzte, dass Alexander an ADHS leiden sollte, nicht vertraut und hatte ihn auf Sophias Rat hin Danny vorgestellt. Danny teilte ihre Bedenken und konnte bestätigen, dass Alexanders Diagnose falsch war. Durch dieses Ereignis waren sich die Cousinen wieder nähergekommen, was beide als glückliche Fügung empfanden.

»Du könntest Markus um Hilfe bitten. Er kennt deine Familie. Er wäre der perfekte Anwalt für euch.«

»Auf keinen Fall. Ich werde ihn nicht in diese Geschichte hineinziehen. Er hat sein Leben, und ich habe meins. Diese Leben sind nicht dazu bestimmt, sich erneut zu kreuzen.«

»Wer weiß schon, was uns wirklich bestimmt ist«, sagte Lydia leise und betrachtete den kleinen Jungen, der auf Sophias Handydisplay zu sehen war.

»Guten Morgen, die Damen, gibt’s auch ein bissel Aufmerksamkeit für uns Patienten oder schaut ihr euch noch weitere Videos an?«

»Wir sind ganz für Sie da, Frau Meier«, wandte sich Lydia der Mittsechzigerin in dem dunklen Trachtenkostüm zu, die sich, die Hände in die Hüften gestemmt vor dem Tresen aufgebaut hatte.

»Um mich geht’s heut nicht. Mit meinem Mann stimmt etwas nicht. Jetzt komm schon her, Toni, erzähl den Madln, was mit dir los ist«, forderte sie den korpulenten Mann in der blauen Steppjacke auf, der einen Schritt hinter ihr stand.

Toni Meier war einen halben Kopf größer als seine Frau, die Jacke spannte über seinem Bauch, und er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ganz offensichtlich war er nicht freiwillig in die Praxis gekommen, was auch sein ständiger Blick in Richtung Ausgang signalisierte.

»Was können wir für Sie tun, Herr Meier?«, fragte Lydia freundlich, als Toni direkt vor ihr stand, aber kein Wort herausbrachte.

»Toni, bitte, nun rede schon«, mischte sich Gusti gleich wieder ein.

»Du wolltest doch, dass ich herkomme, dann sag halt, was du willst«, entgegnete Toni genervt.

»Mei, Mannsbilder, ist das denn so schwer, zuzugeben, dass euch etwas fehlt«, seufzte Gusti. »Also dann, seitdem mein Toni ein bissel Sport treibt, hat er’s mit dem Kreislauf. Das heißt, wir brauchen ein EKG und einmal Labor mit großem Blutbild.«

»Ich denke, Sie sollten zuerst mit Doktor Norden sprechen. Es könnte doch sein, dass er noch andere Parameter hinzuziehen muss, um eine Diagnose zu stellen«, sagte Lydia.

»Andere Parameter, ah so. Welche sollen das denn sein?«, fragte Gusti ungehalten.

»Gut jetzt, Gusti, Frau Seeger hat recht, wir sprechen zuerst mit dem Herrn Doktor.« Toni nickte Lydia zu, hakte sich bei seiner Frau unter und ging mit ihr ins Wartezimmer, in dem gerade noch zwei Plätze frei waren.

Mit seinem dunklen Holzboden, den gelben Sesseln und den Grünpflanzen strahlte der Raum eine Atmosphäre aus, die an eine Hotellounge erinnerte.

Patienten, die einem Arztbesuch lieber aus dem Weg gehen würden, nahm dieses Ambiente einen Teil ihrer Angst.

»Bitte, dann können Sie nebeneinander sitzen«, bot eine junge Frau den Meiers gleich ihren Platz an, der die beiden freien Sessel voneinander trennte.

»Schönen Dank, Frau Wunsgraben«, bedankte sich Gusti Meier bei Eva Wunsgraben, die vor einiger Zeit in das Haus gegenüber der Meiers eingezogen war. »Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte sie leise, nachdem sie sich auf den Sessel neben Eva gesetzt hatte.

»Ich schlafe nicht gut«, vertraute Eva ihr an.

»Geh, eine junge Frau wie Sie mit drei Kindern? Sie müssen doch abends todmüde sein«, wunderte sich Gusti und musterte die zierliche Frau in dem langen Strickkleid, die ihr dunkelblondes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug.

»Ja, ich weiß, das denkt jeder«, seufzte Eva.

»Mei, es wird doch nichts Ernstes sein? Wie sollt denn Ihr Mann mit den beiden Buben und dem Madl allein zurechtkommen? Die Buben sind doch gerade erst in die Schule gekommen, und das Madl ist erst drei Jahre alt.«

»Eigentlich gehe ich nicht davon aus, dass mir Doktor Norden gleich mein Todesurteil verkünden wird«, entgegnete Eva und sah Gusti verblüfft an.

»Freilich nicht, aber wer weiß schon …«

»Gusti, bittschön, sei einfach mal still. Sie hat zu viel Fantasie, wissen Sie«, mischte sich Toni ein und nickte Eva freundlich zu.

»Ich sag ja schon nichts mehr«, brummte Gusti. Sie beugte sich nach vorn, nahm eine Zeitschrift von dem Tisch, der in ihrer Reichweite im Raum stand, und schlug sie auf. »Skandal im Königshaus, interessant«, murmelte sie, und gleich darauf war ihr Kopf hinter der Zeitschrift verschwunden.

»Der arme Herr Meier, er hat es sicher nicht leicht zu Hause. Offensichtlich hat er sich in allem nach seiner Frau zu richten«, raunte Sophia Lydia zu, als sie noch einmal ins Wartezimmer schaute, bevor sie in den Raum mit dem EKG-Gerät ging.

Danny hatte ihr über das Haustelefon mitgeteilt, dass Herr Mauser gleich zu einem EKG zu ihr kommen würde.

»Ich denke, er lässt sie nur glauben, dass sie ihn steuert«, entgegnete Lydia und folgte Sophias Blick. »Na also, ein wirklich unterdrückter Mann sieht anders aus«, wandte sich Lydia Sophia kichernd zu, nachdem Toni Meier ihren Blick aufgefangen und ihr zugezwinkert hatte.

»Unsere liebe Gusti kann wohl nicht alles kontrollieren«, stellte Sophia amüsiert fest. »Dann werde ich mal die Liege für Herrn Mauser vorbereiten«, sagte sie und huschte in den Untersuchungsraum.

*

Danny Nordens Sprechzimmer war ebenso hell und ansprechend eingerichtet wie die gesamte Praxis. An den Wänden hingen in Holz gerahmte Landschaftsbilder, an seinem Schreibtisch war eine Lampe mit einem großen weißen Schirm und einem biegsamen Stahlarm befestigt, und in der Ecke neben der Untersuchungsliege stand die Standuhr aus Ahornholz. Sie hatte Fanny Moosleitner gehört, einer treuen Patientin und mütterlichen Freundin, die ihm dieses Haus vererbt hatte, in dem er inzwischen seit einigen Monaten wohnte.

Danny hatte Ludger Mauser gründlich untersucht. Der rüstige Mann mit dem silbergrauen Haar und dem gestählten Körper, den er seinem täglichen Training verdankte, war bei bester Gesundheit. Auch die Laborwerte der Blutprobe, die sie vor ein paar Tagen eingeschickt hatten, waren ausgezeichnet.

»Alle Werte sind im Normbereich. Es gibt Dreißigjährige, die Sie um Ihre Werte beneiden würden«, versicherte Danny seinem Patienten.

»Das heißt, meiner Teilnahme an diesem Lauf in zwei Wochen steht nichts im Weg?«, vergewisserte sich Ludger.

»Soweit ich das bis jetzt beurteilen kann, sind Sie topfit, Herr Mauser. Ich sehe mir dann gleich noch das Ergebnis des Belastungs-EKG an, damit Sie auf der sicheren Seite sind.«

»Wunderbar. Ich kann mir in diesem Jahr auch keine Schwäche erlauben. Ich habe vor, meinen persönlichen Rekord einzustellen.«

»Der liegt wo?«, fragte Danny.

»Vier Stunden und zwei Minuten.«

»Was ist Ihr Ziel?«

»Auf jeden Fall unter vier Stunden.«

»Trotz allen Ehrgeizes sollten Sie aber auch auf Ihren Körper hören. Er ist kein Uhrwerk, der an jedem Tag Höchstleistungen vollbringen kann.«

»Ich weiß, aber hin und wieder muss man auch über seine Grenzen gehen, was nicht bedeutet, das System zu überreizen. Meine Gesundheit ist mir immer noch lieber als der sportliche Erfolg.«

»Mehr wollte ich gar nicht hören«, entgegnete Danny lächelnd. »Sophia wird das EKG überwachen. Ich komme dann in einer Viertelstunde zu Ihnen«, sagte er, als er Ludger gleich darauf die Tür des Sprechzimmers aufhielt.

»Dann bis gleich, Herr Doktor«, sagte Ludger, und als er lächelte, zeigten sich seine perfekten weißen Zähne.

Wenn jeder so auf seinen Körper achten würde wie dieser Mann, hätten wir Ärzte vermutlich weitaus weniger zu tun, dachte Danny, als er zurück zu seinem Schreibtisch ging. Er hatte auch schon daran gedacht, mit dem Laufen anzufangen, hatte es aber dann wieder verworfen. Im Moment genügten ihm seine Tennis- und Squasheinheiten als Ausgleich. Bevor er die Sprechstunde fortsetzte, warf er noch einen Blick in den Garten.

In der Nacht hatte es geschneit. Die Büsche waren schneebedeckt, und die Äste der Birken sahen aus wie zarte weiße Arme, die sich im leisen Morgenwind bewegten. Sein Blick wanderte hinüber zum Garten seiner Nachbarinnen, aber dort war niemand zu sehen. Olivia Mai und ihre Mutter Ottilie, zwei Psychologinnen, hatten sicher auch bereits mit der Sprechstunde begonnen, und Ophelia, Olivias Tochter, war in der Schule.

Nur Ortrud, die Katze der Mais, war zu sehen. Sie hockte auf dem Dachfirst des einstöckigen Hauses und schien sich an der weiß schillernden Umgebung zu erfreuen. Lächelnd wandte sich Danny wieder seinem Schreibtisch zu und rief Eva Wunsgraben auf, deren Patientenakte als nächste auf seinem Monitor zu sehen war.

»Bitte, nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Danny, nachdem er Eva die Tür geöffnet und sie sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatten.

»Ich kann seit Wochen nicht richtig schlafen, Herr Doktor«, sagte Eva und sah Danny voller Erwartung an, so als sei sie fest davon überzeugt, dass er gleich eine Lösung für sie hatte.

»Können Sie nicht einschlafen oder nicht durchschlafen?«, wollte Danny wissen.

»Ich kann nicht durchschlafen. Das mit dem Einschlafen geht recht schnell, aber spätestens nach zwei Stunden bin ich wieder wach, und es dauert ewig, bis ich wieder einschlafe. Tagsüber bin ich deshalb oft müde, das ist auf Dauer kein Zustand, mit dem ich mich arrangieren könnte«, seufzte Eva.

»Macht Ihnen etwas Schwerwiegendes zu schaffen? Kommen Ihre Gedanken nachts nicht zur Ruhe?«, fragte Danny, während er Eva ansah. Das Zucken um ihre Mundwinkel, die nervösen Bewegungen ihrer Hände, alles deutete darauf hin, dass sie unter einer erheblichen Anspannung stand.

»Nein, ich bin zufrieden mit meinem Leben, so wie es ist. Ich fühle mich weder überlastet noch bin ich frustriert, weil ich mich für ein Leben als Mutter und Hausfrau entschieden habe. Mein Mann und ich haben auch keine Eheprobleme«, versicherte sie Danny.

»Das freut mich zu hören«, sagte Danny. Auch Evas Mann, Geschäftsführer eines Möbelhauses, war sein Patient. Er hatte ihn als ruhigen ausgeglichenen Mann kennengelernt, der seine Familie über alles liebte.

»Könnte eine schlimme Krankheit hinter meinen Schlafproblemen stecken?«, fragte Eva leise.

»Schlafstörungen können viele Ursachen haben. Gehen wir doch erst einmal von einer harmlosen Ursache aus. Vielleicht leiden Sie an einer Mangelerkrankung. Manchmal reicht es schon, die B-Vitamine aufzufüllen oder den Vitamin-C-Haushalt auszugleichen, um wieder erholsamen Schlaf zu finden«, erklärte ihr Danny.

»Vitamin C? Ich dachte, davon wird man wach«, wunderte sich Eva.

»Vitamin C wird aber auch benötigt, um eine Vorstufe des Serotonins zu bilden. Serotonin beruhigt und wirkt entspannend, ohne Entspannung findet der Körper keinen erholsamen Schlaf.«

»Das wäre ja wundervoll, wenn die Lösung so einfach wäre.«

»Morgen werden wir es wissen. Ich werde Sie noch kurz abhören und den Blutdruck messen, danach nimmt Ihnen Sophia Blut ab. Fangen wir mit dem Blutdruck an«, sagte Danny und legte Eva die Manschette des Gerätes um den linken Oberarm.

*

»Um halb vier, wie ausgemacht«, sagte Lydia leise, die am Tresen stand und ein Telefongespräch angenommen hatte, das sie sofort beendete, als Sophia aus dem Raum kam, in dem sie Ludger Mausers Belastungs-EKG überwacht hatte.

»Ist was?«, fragte Sophia, als Lydia sie lächelnd anschaute und mit einer Spitze ihres halblangen dunkelblonden Haares spielte.

»Nein, alles ist gut«, antwortete Lydia. Sie hatte versprochen, Sophia nicht zu verraten, wer am Nachmittag zu ihnen in die Sprechstunde kommen wollte und sich gerade noch einmal vergewissert hatte, dass Sophia auch da sein würde.

»Sophia, ein großes Blutbild mit Vitaminspiegel für Frau Wunsgraben, bitte«, wandte sich Danny an Sophia, der mit Eva aus seinem Sprechzimmer kam.

»Wird erledigt, Herr Doktor. Herr Mauser wartet auf Sie«, sagte Sophia und sah auf die Tür des EKG-Raums.

»Danke, ich melde mich morgen bei Ihnen, Frau Wunsgraben«, verabschiedete sich Danny von seiner Patientin, bevor er zu Ludger Mauser ging.

»Ein wirklich attraktiver Mann«, raunte Eva Sophia zu, als sie dem groß gewachsenen jungen Arzt nachschaute, der eine weiße Jeans und ein weißes Poloshirt trug.

»Ich weiß«, antwortete Sophia lächelnd.

Glücklicherweise ist er nicht der einzige attraktive Mann, den wir kennen, dachte Lydia und nahm das nächste Telefongespräch entgegen.

»Alles im grünen Bereich«, stellte Danny fest, nachdem er sich Ludgers EKG angesehen hatte.

»Vielen Dank, Herr Doktor, ich lasse Sie wissen, ob ich meinen Rekord brechen konnte«, sagte Ludger.

»Ich bitte darum«, antwortete Danny lächelnd und wünschte Ludger viel Erfolg bei seinem Vorhaben, bevor er sich von ihm verabschiedete.

»Als Kind habe ich mir Menschen um die achtzig irgendwie anders vorgestellt«, sagte Sophia. Sie kam aus dem Laborzimmer, nachdem sie Eva Blut abgenommen hatte, und schaute Ludger nach, der die Tür zum Hof schwungvoll öffnete.

»Und wie?«, fragte Danny, der zu ihnen an den Tresen kam.

»Weißhaarig, auf einen Stock gebeugt, mit trüben Augen, schwerhörig und immer auf der Suche nach der nächsten Sitzgelegenheit.«

»Du hast nicht komplett falsch gelegen. Die Haarfarbe stimmt«, sagte Lydia und klopfte Sophia anerkennend auf die Schulter.

»Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass die Wirklichkeit nicht meiner Vorstellung entspricht.«

»Weil es bedeutet, dass auch wir in dem Alter noch einigermaßen fit sein könnten, nehme ich an«, entgegnete Lydia.

»Bis dahin ist es noch gut ein halbes Jahrhundert. Vielleicht ist achtzig dann das neue fünfzig oder vierzig«, sagte Danny.

»Träumen kann man ja«, antwortete Lydia lachend.

»Jeder Fortschritt beginnt mit einem Traum, dem Traum, etwas verändern zu wollen, also ja, wir sollten das Träumen niemals aufgeben. Was?«, fragte er, als Sophia und Lydia sich ihm beide gleichzeitig zuwandten.

»Sie sind nicht nur ein hervorragender Arzt, Sie haben auch interessante philosophische Ansichten«, sagte Lydia.

»Das sehe ich auch so«, stimmte Sophia ihr zu.

»Danke«, entgegnete Danny schmunzelnd.

»Hier geht’s ja recht lustig zu«, stellte Gusti Meier fest, die aus dem Wartezimmer gekommen war, um sich einen Becher Wasser aus dem Wasserspender zu holen.

»Ein angenehmes Arbeitsklima kommt auch unseren Patienten zugute, Frau Meier, das sollten Sie doch inzwischen wissen«, sagte Lydia.

»Wer zu viel Spaß bei der Arbeit hat, macht Fehler«, entgegnete Gusti Meier stirnrunzelnd.

»Wer seine Arbeit zu verkniffen angeht, neigt dazu, das Wesentliche zu übersehen«, konterte Danny.

»In unserer Familie sind alle Buchhalter. Bei uns führt Ablenkung stets zu Fehlern. Das ist die Wahrheit«, sagte Gusti und ging zurück ins Wartezimmer.

»Jeder hat halt seine eigene Wahrheit«, flüsterte Lydia.

»So sehe ich das auch«, stimmte Danny ihr zu. »Machen wir weiter«, sagte er und ging zurück in sein Sprechzimmer.

Die nächsten drei Patienten, zwei junge Männer und eine ältere Frau, kamen wegen Erkältungssymptomen zu ihm, und er schickte sie mit dem Rat, sich auszuruhen und viel zu trinken, wieder nach Hause. Außer Nasentropfen, die für eine kurzzeitige Anwendung durchaus sinnvoll waren, hielt er nichts davon, Tabletten gegen einen grippalen Effekt ohne Fieber und Halsschmerzen zu verschreiben. Sie versprachen einfach keine Besserung. Dann war Toni Meier an der Reihe. Gusti begleitete ihn ins Sprechzimmer und nahm auf dem zweiten Stuhl vor Dannys Schreibtisch Platz.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Danny und sah dabei Toni an.

»Mein Toni und ich wollen ein bisserl abspecken. Seitdem wir in Rente gegangen sind, haben wir beide ordentlich an Gewicht zugelegt. Deshalb machen wir jetzt Sport. Aber der Toni hat plötzlich Probleme mit dem Kreislauf. Ihm wird schwindlig, und erst vorgestern hat er geglaubt, er müsste ohnmächtig werden«, übernahm Gusti die Antwort, bevor Toni etwas sagen konnte.

»Von welchem Sport sprechen wir?«, fragte Danny.

»Toni und ich machen Gymnastik. Unser Enkel, der Marius, hat uns gezeigt, wie wir die Sportvideos für Senioren in diesem Youtube finden. Toni und ich helfen uns dann gegenseitig bei den Übungen«, erzählte Gusti.

»Bei welchen Übungen?«

»Geh, Herr Doktor, wir halten uns halt ein bissel, wenn es um die Bauchübungen geht.«

»Geht es denn nur um Übungen im Liegen oder auch im Stehen?«

»Für das Muskeltraining liegen wir auf der Gymnastikmatte. Um unseren Kreislauf zu trainieren, machen wir dreimal in der Woche einen langen Spaziergang.«

»Das klingt nach einem gut durchdachten Programm«, lobte Danny Gustis Einsatz für ein gesünderes Leben.

»Dankeschön, Herr Doktor, und wissen Sie, richtig anstrengend ist es ja nicht. Ich mein, nicht so anstrengend, dass dem Toni sein Kreislauf abbauen müsst.«

»Laut ihrer letzten Untersuchung vor zwei Monaten war auch alles in Ordnung, Herr Meier«, wandte sich Danny wieder an Toni.

»Deshalb dacht ich ja auch, dass ihm mein Programm nicht schaden könnt«, mischte sich Gusti gleich wieder ein.

»Wie fühlen Sie sich jetzt gerade, Herr Meier?«, versuchte Danny, Toni die Gelegenheit zu geben, selbst etwas zu sagen. Schließlich konnte Gusti diese Frage nun wirklich nicht beantworten.

Aber Gusti bekam auch das hin. Nach einem kurzen Blick auf ihren Mann sah sie Danny an: »Im Moment geht’s ihm gut. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe, und sein Atem ist gleichmäßig«, sagte sie.

»Ich bin beeindruckt, Frau Meier. So schnell kann ich keine Diagnose stellen. Wenn Sie erlauben, würde ich gern ein paar Worte allein mit Ihrem Mann sprechen.«

»Geh, wieso jetzt das?«, wunderte sich Gusti.

»Frag net so, wart einfach draußen«, meldete sich Toni endlich selbst zu Wort.

»Aber, Schatzl«, entgegnete Gusti überrascht, so als wäre sie fest davon ausgegangen, dass Toni ihr auch weiterhin das Wort überließ.

»Gusti, bittschön«, sagte Toni mit energischer Stimme.

»Ist schon recht«, murrte Gusti und verließ das Sprechzimmer.

»Sie meint es nur gut. Sie denkt, ich hätte es nicht so mit den Ärzten«, verteidigte Toni seine Frau, nachdem sie gegangen war.

»Wir kommen doch gut miteinander klar oder etwa nicht?«, fragte Danny.

»Doch, freilich, Herr Doktor, ich hab keine Probleme, mit Ihnen zu reden. Aber sie ist halt mit den Antworten immer ein bissel schneller als ich«, sagte Toni lächelnd und zuckte die Achseln.

»Dann ergreifen Sie jetzt die Gelegenheit und erzählen mir, wie es Ihnen wirklich geht«, forderte Danny Toni freundlich auf.

»Ehrlich gesagt, net so gut. Ich hab immer ein bissel Angst, dass mir draußen auf der Straße mal schwindlig wird und ich ohnmächtig werd«, gab Toni zu.

»Wann genau tritt denn dieser Schwindel gewöhnlich auf?«

»Wie meine Gusti schon gesagt hat, nur während der Gymnastik, dann wird es mir plötzlich ganz merkwürdig, so als würd ich gleich wegsacken.«

»Haben Sie noch weitere Beschwerden? Übelkeit, Schweißausbrüche oder Ohrensausen?«

»Nein, bisher net.«

»Gut, dann machen wir erst einmal einen Check-up. Blutdruck, EKG und Labor. Vielleicht treiben Sie zu viel Sport und ihr Blutdruck sackt einfach nur in den Keller. Im Moment ist er allerdings mit 130 zu 85 für Ihr Alter vollkommen normal«, versicherte Danny Toni Meier, nachdem er seinen Blutdruck ­gemessen hatte. Auch Herz und Lunge schienen gesund, soweit er das mit seinem Stethoskop überprüfen konnte.

»Aber irgendetwas muss den Schwindel doch auslösen. Die Gusti hat nämlich neulich schon gemeint, ich würd ihn nur vortäuschen, weil ich mich vor der Gymnastik drücken will«, sagte Toni.

»Wollen Sie sich denn drücken?«, fragte Danny und sah Toni direkt an.

»Nein, überhaupt nicht, Herr Doktor. Im Gegenteil, ich find es schön, dass die Gusti und ich die Übungen gemeinsam machen. Sie tun mir ansonsten ja auch gut. Ich kann mich besser bewegen als vorher. Neulich waren wir in dem neuen Einkaufszentrum in der Stadt, und zum ersten Mal seit Langem bin ich, ohne mich festzuhalten, die Rolltreppen hoch- und runtergefahren«, erzählte Toni voller Stolz auf seine verbesserte Körperbeherrschung.

»Das hört sich gut an, Herr Meier. Trotzdem bitte ich Sie, mit der Gymnastik ein paar Tage auszusetzen, bis wir die Ursache für dieses Schwindelgefühl herausgefunden haben.«

»Spazierengehen kann ich aber schon?«

»Kein Problem, solange Sie nicht allein unterwegs sind.«

»Das wird nicht passieren. Die Gusti lässt mich zurzeit ohnehin nicht allein vor die Tür. Machen wir das mit dem EKG noch heute?«, wollte Toni wissen.

»Ja, auf jeden Fall«, sagte Danny. Er rief auch gleich Lydia über das Haustelefon an und bat sie, sich um die Blutentnahme und das EKG für Toni Meier zu kümmern.

»Wann kann ich denn wegen des Ergebnisses anrufen?«, fragte Toni, als Danny ihn zur Tür des Sprechzimmers begleitete.

»Am besten morgen Nachmittag, bis dahin haben wir die Ergebnisse der Laboruntersuchungen in die Patientenakten eingetragen.«

»Dann melde ich mich morgen. Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte Toni und verabschiedete sich von Danny.

So nervig sie auch sein kann, im Grunde ihres Herzens will sie nur das Beste für ihre Familie, dachte Danny, als Gusti, die vor der Tür gewartet hatte, sich behutsam bei ihrem Mann unterhakte und ihn zum Laborzimmer begleitete. Beneidenswert, diese Paare, deren Verbindung jahrzehntelang hält und vielleicht sogar bis ans Ende ihres Lebens. Mit einem tiefen Atemzug schloss er die Tür und ging zurück an seinen Schreibtisch, um den nächsten Patienten aufzurufen.

*

»Sie sehen müde aus, Herr Doktor«, stellte Valentina fest. Die freundliche ältere Frau aus der Nachbarschaft, die sich an Werktagen um Dannys Haushalt kümmerte, stand schon im Mantel in der Diele, als er nach der Vormittagssprechstunde in seine Wohnung kam.

»Ich habe letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen«, gab Danny zu.

»Das kommt in letzter Zeit häufiger vor. Vielleicht sollten Sie sich selbst einmal um Rat fragen, wie Sie das ändern könnten«, schlug Valentina mit besorgtem Blick vor.

»Das mache ich«, antwortete er lächelnd.

»Dann muss ich mir keine Sorgen um Sie machen?«

»Nein, müssen Sie nicht.«

»Gut, dann gehe ich jetzt. Das Essen steht auf dem Herd. Es ist noch warm.«

»Vielen Dank, Valentina. Grüßen Sie Ihren Mann von mir.«

»Danke, das werde ich ausrichten. Bis morgen.«

»Bis morgen, Valentina«, sagte Danny und sah der agilen Mittsechzigerin in dem dunkelbraunen Mantel nach, bis sie das Gartentor hinter sich geschlossen hatte und hinter der Hecke, die sein Grundstück umgab, verschwunden war.

Ein paar Minuten später saß er an dem großen Esstisch in der lichtdurchfluteten Wohnküche. Der restaurierte blaue Kachelofen war der Blickfang in diesem Raum mit den weißen Holzmöbeln und den hellen Lederstühlen.

Die Bratkartoffeln und die Buletten, die Valentina für ihn zubereitet hatte, dufteten nach Paprika und Ingwer.

Valentina experimentierte gern mit Gewürzen, und bisher hatte ihm alles geschmeckt. So war es auch an diesem Tag.

Ich bekomme Besuch, dachte er, als er in den Garten hinausschaute und Ortrud durch den Schnee stapfen sah. Sobald sie ein bisschen tiefer einsank, zog sie ihre rechte Vorderpfote zurück, schnupperte an dem Schnee und leckte ihn danach vorsichtig ab. So als wollte sie überprüfen, ob sie gefahrlos weitergehen konnte. Als sie schließlich zielstrebig auf seine Terrasse zusteuerte, öffnete er ihr die Tür.

»Hallo, Ortrud, bitte, komm herein«, bat er die rotgetigerte Katze, die mit hochgestelltem Schwanz auch gleich an ihm vorbeihuschte, auf die Fensterbank sprang und sich dort genüsslich ausstreckte.

Es war ihr Lieblingsplatz in Dannys Haus. Oft wartete sie schon am Morgen im Garten, bis Valentina kam und ging mit ihr ins Haus, um sich dort einzurichten. Ortrud und er waren schon lange beste Freunde, und wie immer bekam sie auch jetzt ihre Streicheleinheiten. Mit Ortrud fühlte er sich nicht so allein.

So sehr er sich auch einredete, dass es ganz angenehm sein konnte, allein zu leben, es funktionierte nicht. Er war einfach nicht für das Alleinsein gemacht. Andererseits war er aber auch nicht bereit, sich schon wieder auf eine enge Bindung einzulassen. Er hatte das Vertrauen verloren, sich ganz auf einen anderen Menschen einzulassen. Ohne dieses Vertrauen war jede Beziehung von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Nach dem Mittagessen legte er sich noch ein paar Minuten auf das Sofa im Wohnzimmer und stellte den Wecker seines Handys, falls er einschlafen sollte, was auch kurz darauf geschah. Als er eine halbe Stunde später durch das Piepen des Telefons geweckt wurde, lag Ortrud auf der grünkarierten Wolldecke, mit der er sich zugedeckt hatte. Sie sah ihn mit ihren hellen blauen Augen an und schnurrte.

»Wir beide haben wohl bereits eine enge Beziehung«, stellte er lächelnd fest und kraulte Ortruds Kopf. »Komme!«, rief er, als es in diesem Moment an der Terrassentür klopfte. Als er sich aufrichtete, sprang Ortrud von der Decke herunter und marschierte vor ihm zur Terrassentür.

»Dachte ich es mir doch, dass sie schon wieder bei Ihnen ist«, sagte das Mädchen mit den langen roten Haaren, das in einem weißen Steppmantel mit Kapuze vor ihm stand, als er die Tür öffnete. Das Mädchen bückte sich, nahm Ortrud auf seine Arme und drückte sie liebevoll an sich. »Sie stört Sie doch nicht, Doc, oder?«, fragte Ophelia Mai.

»Nein, sie stört mich nicht, du weißt doch, dass ich mich über ihre Besuche freue«, versicherte ihr Danny.

»Aber sie kommt in letzter Zeit ziemlich oft zu Ihnen.«

»Das ist in Ordnung.«

»Sind Sie einsam, Doc?«, fragte das Mädchen und sah ihn mit seinen hellen blauen Augen direkt an.

»Wie kommst du darauf?«

»Eine Gegenfrage ist keine Antwort, Doc«, entgegnete Ophelia lächelnd. »Schon gut, ich gehe dann mal wieder. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen«, entschuldigte sie sich.

»Das weiß ich, und ja, du hast recht, manchmal fühle ich mich einsam«, gab er zu. Es fiel ihm schwer, Ophelia etwas vorzumachen. Er schätzte ihre offene Art, auch unangenehme Dinge einfach auszusprechen, ohne dabei verletzend zu sein.

Er hoffte, dass sie sich diese Ehrlichkeit noch lange bewahren konnte.

»Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen«, sagte Ophelia, als sie schon losgehen wollte. »Mama wollte wissen, wann Sie wieder zum Tennis gehen. Sie würde gern mal mitkommen.«

»Ich hatte vor, heute Abend nach der Sprechstunde in den Tennisclub zu fahren. Falls sie Zeit hat, nehme ich sie gern mit.«

»Wann genau?«

»Ich denke, so gegen halb sieben.«

»Okay, ich sage ihr Bescheid. Schicken Sie einfach eine Nachricht, wenn Sie losfahren wollen.«

»Das mache ich.«

»Alles klar. Ich wünsche Ihnen eine stressfreie Sprechstunde«, sagte Ophelia. Sie lief mit Ortrud auf dem Arm durch den Garten und nutzte die Lücke in Dannys Hecke, um auf das Grundstück der Mais zu gelangen.

*

Die Patienten, die am Nachmittag kamen, hatten fast alle einen Termin zur Vorsorgeuntersuchung. Für jeden hatte Danny ungefähr eine Viertelstunde eingeplant. Bevor er mit der Sprechstunde begann, sah er sich die Patientendaten an, die Lydia an seinen Computer weitergeleitet hatte. Er wunderte sich, dass für den Termin um halb vier nur ein leeres Blatt ohne Namen vorhanden war. »Was ist mit dem Termin um halb vier? Wurde er abgesagt?«, wollte er von Lydia wissen, die in diesem Moment zu ihm hereinkam und ihm eine Tasse Kaffee brachte.

»Nein, der Patient kommt.«

»Und warum steht kein Name auf dem Krankenblatt?«

»Weil Sophia nicht wissen soll, wer der Patient ist.«

»Aha, und warum nicht?«, wunderte sich Danny.

»Pst«, sagte Lydia und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, als Sophia nach einem kurzen Anklopfen ins Sprechzimmer kam.

»Am Tresen steht ein Pharmavertreter. Was soll ich ihm sagen?«, fragte Sophia.

»Schicken Sie ihn zu mir«, bat Danny sie.

»Ich sage ihm Bescheid.«

»Sie lassen sich doch sonst nie während der Sprechstunde von einem Vertreter stören«, wunderte sich Lydia.

»Er wird nicht lange bleiben. Verraten Sie mir noch, wer der geheimnisvolle Patient ist, den wir um halb vier erwarten?«

»Es ist Markus.«

»Sophias Jugendliebe?«

»Richtig. Er will Sophia mit seinem Besuch bei uns überraschen. Vielleicht läuft es mit seiner Verlobten nicht mehr so gut«, flüsterte Lydia.

»Ja, vielleicht, das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass er schon wieder auf der Suche ist.«

»Es könnte doch auch sein, dass er bereits gefunden hat, was er sucht«, erklärte Lydia mit verschwörerischer Miene. »Außerdem könnte er Sophia sicher besser als jeder Fremde in dieser neuen Auseinandersetzung mit ihrer Familie helfen.«

»Sie meinen diese unverschämte Forderung, dass sie angebliche Schulden ihres Vaters begleichen soll?«

»Das meine ich. Ich bin zwar recht zuversichtlich, dass meine Mutter einen passenden Anwalt findet, der den beiden nicht unnötig Geld aus der Tasche zieht, aber ein Anwalt, der die Familie kennt, hat einfach einen besseren Überblick.«

»Mag sein, aber wenn Sophia weitere Begegnungen mit Markus vermeiden will, dann müssen wir das akzeptieren.«

»Ich weiß, Herr Doktor«, entgegnete Lydia mit einem tiefen Seufzer. »Aber mal ehrlich, würden Sie an Markus` Stelle in unsere Praxis kommen, wenn Sie wüssten, dass Sie einen Menschen, der Ihnen etwas bedeutet, damit verletzen?«

»Vermutlich würde ich das nicht tun, andererseits verletzen wir alle immer wieder die Gefühle anderer Menschen, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein.«

»Sie sind zu viel allein, Herr Doktor«, sagte Lydia und sah Danny mitfühlend an.

»Das habe ich heute schon mal gehört.«

»Es gibt eben Menschen, die sich um Sie sorgen.«

»Ich weiß. Ja, bitte!«, rief Danny, als es an der Tür des Sprechzimmers klopfte.

»Ich bin dann vorn am Tresen«, sagte Lydia und verließ das Sprechzimmer, als ein sportlicher Mann im grauen Anzug mit einer Aktentasche hereinkam. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Sie war sicher, dass er erfahren genug war, um schnell herauszufinden, dass er Danny Norden nicht mit hohlen Werbebotschaften von der Wirksamkeit eines Medikamentes überzeugen konnte.

Fünf Minuten später verließ der Pharmavertreter auch sichtlich enttäuscht die Praxis, und Lydia konnte den ersten Patienten des Nachmittages, einen älteren Bankangestellten aus der Nachbarschaft, aufrufen.

*

Kurz vor halb vier betrat Markus die Praxis.

»Lydia, was will er denn hier?«, flüsterte Sophia und stieß ihre Kollegin an, die neben ihr hinter dem Empfangstresen stand.

»Ach ja, das habe ich dir gar nicht gesagt. Er hat um halb vier einen Termin zur Vorsorge bei uns«, gestand ihr Lydia.

»Wieso hast du das für dich behalten?« Sophia umfasste mit beiden Händen den Rand des Tresens und schaute auf den jungen Mann in der hellen Winterjacke, der sich dem Tresen näherte.

»Er wollte es so«, raunte Lydia ihr zu.

»Ich dachte, du bist meine Freundin.«

»Ich bin deine Freundin.«

»Freundinnen lassen solche Überraschungen nicht zu.«

»Hallo, Sophia«, sagte Markus, der in diesem Moment vor ihr stand.

»Hallo, Markus«, entgegnete Sophia leise und versank in seinen hellbraunen Augen. »Ich habe gerade erst erfahren, dass du einen Termin bei uns hast.«

»Deshalb ist sie jetzt sauer auf mich«, ließ Lydia ihn wissen.

»Das tut mir leid, das wollte ich nicht«, entschuldigte sich Markus. »Können wir kurz reden?«, wandte er sich an Sophia.

»Ich habe zu tun«, antwortete sie und gab sich abweisend.

»Gib ihm die Chance, dir sein Verhalten zu erklären«, mischte sich Lydia ein. »Ihr könntet in die Küche gehen, da seid ihr ungestört«, schlug sie vor.

»Das machen wir. Komm, Sophia, bitte«, sagte er und hielt Sophias Blick fest.

»Gut, zwei Minuten«, gab sie schließlich nach. Sie fragte sich, warum Lydia diese Begegnung zuließ. Sie wusste doch, dass sie Markus aus dem Weg gehen wollte, bis sie über ihre Gefühle für ihn hinweg war.

»Gemütlich«, sagte Markus, nachdem Sophia die Tür der Küche geschlossen hatte. Er ließ seinen Blick durch den Raum mit dem weißen Linoleumboden, dem großen silberfarbenen Kühlschrank, dem runden Tisch mit den vier Stühlen und dem bequemen blauen Sofa gleiten.

»Was soll das, Markus? Du bist nicht hier, um unsere Küche zu bewundern. Es gibt andere Ärzte, zu denen du gehen kannst. Warum kommst du zu uns?«, fuhr Sophia ihn an.

»Danny Norden ist ein hervorragender Arzt.«

»Ja, ist er, aber du bist nicht krank. Oder?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Dann hättest du auch zu einem anderen Arzt gehen können. Oder gefällt es dir, mich leiden zu sehen?« Sophia zweifelte nicht daran, dass Markus wusste, was sie für ihn empfand.

»Sophia, ich habe mich von Maren getrennt. Es wird keine Verlobung geben.«

Die neue Praxis Dr. Norden 4 – Arztserie

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