Читать книгу Dr. Norden Bestseller Classic 38 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3
Оглавление»So, Püppi, das hätten wir«, sagte Dr. Norden zu dem kleinen Mädchen, das vor ihm auf dem Stuhl saß und nun mit großen Augen den Splitter betrachtete, den er aus der kleinen Hand entfernt hatte.
Mit der Pinzette allein war das nicht zu machen gewesen, dazu hatte er zu tief gesessen. Es hatte eines kleinen Schnittes bedurft. Er hatte dem Kind eine Belohnung versprochen, und das hatte die Prozedur versüßt.
Vorerst aber sah die kleine Melanie Dondl interessiert zu, wie Dr. Norden ihre Hand verband.
»Blöder Zaun«, sagte sie. »Herr Richter muss endlich einen neuen machen lassen, das sagt Mutti auch.«
Ihre Mutter stand blass und noch immer zitternd hinter ihr. »Hast recht, Püppi, aber Dr. Norden interessiert das doch nicht.«
»Es interessiert mich schon, Frau Dondl. Der Zaun muss erneuert werden. Herr Richter hat genug Geld, und der Zaun ist ein Schandfleck.«
»Aber wenn wir was sagen, meint er, dass wir ja ausziehen könnten, und außerdem braucht Püppi nicht herumzuklettern, das ist alles, was er erwidert.«
»Ich klettere nicht mehr«, versprach die Kleine. »Hat sehr wehgetan, Onkel Doktor.«
»Jetzt bekommst du aber deine Belohnung, weil du so tapfer warst.«
Er nahm aus seinem Schreibtisch eine ganze Anzahl von Hartgummitierchen. Das war die Idee seiner Frau Fee gewesen, für die kleinen Patienten, die so gern zu ihm kamen, immer etwas bereit zu haben.
Und auch Püppi strahlte. »Darf ich das Pferdi haben? Es schaut so lieb aus«, sagte sie.
»Du darfst es haben, und von Loni bekommst du noch Kekse«, erwiderte er.
»Danke«, sagte Püppi, »ich zeig Loni jetzt meine Hand.«
»Tu das«, sagte Dr. Norden, weil er spürte, dass auch Frau Dondl etwas auf dem Herzen hatte.
»Setzen Sie sich«, sagte er zu ihr. »Der Schrecken ist ja vorbei.«
»Kann der Püppi nichts mehr passieren?«, fragte sie.
»Nein, ich habe ihr eine Tetanusspritze gegeben. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Dondl.«
»Man kann mit Herrn Richter ja nicht vernünftig reden«, sagte sie. »In sein Haus steckt er alles rein, aber für die Mieter tut er gar nichts. Immer heißt es nur, dass wir ja ausziehen könnten, wenn uns was nichts passt. Und nun will er auch noch einen Stacheldraht ziehen.«
»Das darf er nicht, es ist verboten. Ich werde das bei der nächsten Bürgerversammlung zur Sprache bringen.«
»Aber unsretwegen sollen Sie sich nicht in Schwierigkeiten bringen«, sagte Frau Dondl erschrocken. »Das will ich nicht, Herr Doktor. Es ist ja auch nur so, weil wir so viel Geld in die Wohnung gesteckt haben, sonst würden wir eine andere suchen. Nur mein Mann wird narrisch und meint, dass wir dem Richter nicht auch noch sein Haus aufwerten müssten.«
»Womit er recht hat«, erwiderte Dr. Norden. »Aber Sie haben gerade deshalb das Recht, dass er zumindest für eine anständige Umzäunung sorgt. In unserm Viertel ist diese wirklich ein Schandfleck.«
Er konnte es aus eigener Sicht beurteilen, denn das Grundstück lag gleich bei ihnen um die Ecke. In dem alten Haus wohnten zwei Mietparteien, die Dondls und die Kellers. Beide Familien gehörten zu seinen Patienten. Anständige, arbeitsame Leute waren sie und steckten alles in ihre Wohnungen hinein, was sie erübrigen konnten, nur um ein Stück Garten für ihre Kinder zu haben.
Herbert Richter, ein Großkaufmann, hatte sich ein prächtiges Haus nebenan gebaut, nachdem er das Grundstück hatte teilen lassen. Er hatte das Glück gehabt, dieses von seinen Eltern vererbt zu bekommen. Und wie man tuschelte, hatte er jetzt den Plan, die Dondls und die Kellers aus dem alten Haus herauszugraulen, um dort ein neues zu bauen, das er für viel Geld verkaufen oder vermieten könnte. Oft genug passierte das in letzter Zeit in dieser Villengegend.
»Mit Fräulein Monika ließe sich ja reden«, sagte Frau Dondl. »Sie ist ganz anders als ihr Vater. Aber er ist stur. Ich fürchte nur, dass meinem Mann eines Tages der Kragen platzt, denn wenig zahlen wir ja auch nicht gerade.«
Es war schon recht interessant für Dr. Norden, zu erfahren, dass die Familien Dondl und Keller sechshundertfünfzig Euro Miete für die Wohnungen zahlen mussten. Wenn das auch nicht gerade zu seinem Beruf als Arzt gehörte, so nahm er sich doch die Zeit, sich noch mehr von Frau Dondl berichten zu lassen. Die kleine Melanie, die alle Püppi nannten, weil sie ein richtiges Püppchen war, ließ sich währenddessen von Loni im Vorzimmer mit Keksen füttern.
*
Fee Norden sah ihren Mann selten so aufgebracht wie an diesem Tag. Natürlich hatte sie es ihm gleich angesehen, dass er sich geärgert hatte.
»Warum bist du denn so grimmig?«, fragte sie im Neckton, um ihn aufzumuntern.
»Grimmig ist gar kein Ausdruck, mein Schatz. Was meinst du wohl, was dieser Richter für das alte Haus an Miete einnimmt?«
»Mehr als achthundert Euro doch bestimmt nicht«, erwiderte Fee nach einigem Nachdenken. »Und das wäre ja schon viel.«
»Denkt man, Fee. Tausenddreihundert. Jede Familie zahlt sechshundertundfünfzig.«
»Das ist doch wohl ein Gerücht«, meinte Fee.
»Ich weiß es von Frau Dondl. Sie hat bestimmt nicht übertrieben. Püppi hat sich einen gefährlichen Splitter an dem Zaun eingerissen. Einfach war es nicht, den herauszubekommen, aber die Kleine war sehr tapfer. Sie hat übrigens das Pferdchen bekommen. Wir werden bald nachbestellen müssen.«
»Mache ich. Aber jetzt erzähle erst mal. Der Zaun ist eine Katastrophe, doch anscheinend bekommt er keine Auflagen. Wenn bei uns mal die Hecke überhängt, kriegen wir gleich einen Schrieb.«
»Er muss gute Verbindungen haben. Ist ja auch im Stadtrat«, sagte Daniel.
»Und in der für ihn richtigen Partei«, warf Fee ein. »Warum mucken die Leute eigentlich nicht auf?«
»Warum mucken auch wir nicht auf? Wir nehmen doch auch Anstoß an diesem Zaun, aus dem die Latten heraushängen.«
»Du hast also vor, etwas zu unternehmen«, sagte Fee.
»Ich denke auch an unsere Kinder. Danny könnte auf die Idee kommen, auch mal über den Zaun zu klettern. Ja, ich weiß schon, was du sagen willst, Feelein. Wir sollten nicht erst zu denken beginnen, wenn es um unsere eigenen Kinder geht. Aber man muss halt immer erst einen Schubs bekommen. Ich habe schon gemeint, dass ich Püppi in die Klinik schicken muss. Aber dann ging es auch in der Praxis. Ich habe mit Frau Dondl gesprochen. Die Wohnungen kenne ich ja, ihre und auch die von den Kellers. Die Leute tun wirklich alles, obgleich sie rechnen müssen. Und Richter lebt in Saus und Braus und wartet nur auf die Stunde, wo er sie raussetzen kann.«
»Nicht nur er. Es gibt noch viele von dieser Sorte«, sagte Fee. »Zu viele, wie ich meine. Aber es wollen ja auch zu viele hier wohnen, und die fragen nicht danach, dass andere dafür Haare lassen müssen, die eben nicht so ein Grundstück kaufen können. Für den Quadratmeter werden hier schließlich schon dreihundert Euro verlangt.«
»Du hast dich schon genau informiert«, sagte Daniel.
»Ja, und wenn ich nachdenke, sind wir noch recht günstig zu unserm Haus gekommen.«
»Und wir haben einen anständigen Zaun übernommen«, sagte Daniel. »Wann ist die nächste Bürgerversammlung?«
»Da muss ich mich erst erkundigen. Willst du etwa hingehen?«, fragte Fee staunend.
»Aber sicher.«
»Wenn du Zeit hast, sonst muss ich wohl einspringen«, meinte sie verschmitzt.
»Dir würden sie natürlich noch mehr Beachtung schenken«, erwiderte Daniel. »Zumindest die Männer! Du könntest vielleicht sogar mehr erreichen.«
»Vielleicht auch bei Herrn Richter. Er hat was für Frauen übrig«, erwiderte Fee anzüglich.
»Soso, aber dann gehe ich doch lieber selbst«, sagte Daniel.
Fee lachte leise auf. »Es ist ja nun ein Typ, der mir bestimmt nicht sympathisch ist.«
Nein, ein sonderlich sympathischer Mann war Herbert Richter gewiss nicht, aber man konnte nicht wegreden, dass er auf Frauen wirkte.
Auf eine bestimmte Art Frauen besonders, nämlich bei denen, für die er etwas springen ließ.
Seiner Tochter Monika gefiel das nicht, aber sie hatte sich noch nicht freigeschwommen, wie man so sagte. Sie stand noch unter dem Eindruck des frühen Todes ihrer Mutter, an der sie sehr gehangen hatte.
Vier Jahre war Magdalena Richter krank gewesen, und die sonnigen Jugendjahre gab es für Monika nicht, weil sie die ganze Last dieses Kummers allein tragen musste. Zweiundzwanzig Jahre alt war sie gerade gewesen, als ihre Mutter dann von ihrem unheilbaren Leiden erlöst wurde.
Um nichts anderes hatte sie sich während dieser vier Jahre gekümmert. Ihr Vater war oft fern gewesen, immer »in Geschäften«, wie er sagte, und Monika hatte es ihm geglaubt, weil sie nichts anderes annehmen wollte.
Dann, nach dem Tod der Mutter, hatte er ihr auch bald einen Mann zum heiraten präsentiert, und Monika, nach dieser Zeit der seelischen Verzweiflung, hatte diesen Wilfried Schaeffers sehr nett gefunden.
Sie ahnte nicht, dass ihr Vater sie möglichst schnell verheiraten wollte, damit er nun sein ungebundenes Leben führen konnte. Herbert Richter war bereit, sich das etwas kosten zu lassen. Wilfried Schaeffers war ein Angestellter in seinem Betrieb, nicht arm, aber doch bereit, sich in ein gemachtes Nest zu setzen. Adäquat musste ein Schwiegersohn von Herbert Richter schon sein.
Herbert Richter, ein Mann von sechsundvierzig Jahren, hatte viel für sehr junge Frauen übrig, doch seine Tochter fand er langweilig. Sie war ihm auch zu prüde, denn wegen seines ausschweifenden Lebens war es schon mehrmals zu Differenzen zwischen ihnen gekommen.
So war er sehr erleichtert, dass sie sich mit Wilfried Schaeffers ziemlich schnell anfreundete.
Wilfried war ein ehrgeiziger junger Mann und stammte aus gutem Hause.
Da es in der Schule nicht so geklappt hatte, wie sein Vater es sich vorstellte, war er sehr froh, dass Herbert Richter ihm eine Chance gab, doch noch das zu erreichen, was er sich vorstellte. Monika empfand er als eine angenehme Beigabe. Sie stellte keine Ansprüche und verabscheute das Nachtleben wie er auch. Von Leidenschaft oder gar Liebe konnte nicht die Rede sein, aber sie stimmten auch diesbezüglich überein, da sie beide ziemlich gehemmt waren Ihrem Vater gegenüber streifte Monika diese Hemmungen allerdings manchmal ab. Zwischen ihnen hatten sich die Gegensätze mehr und mehr vertieft, vor allem auch wegen des Nachbargrundstücks und der Bewohner dieses Hauses, für deren Interessen sich Monika stark machte.
An diesem Morgen sprach Monika ihren Vater darauf an, dass sich die kleine Melanie am Zaun verletzt hatte. Bei einer Vorrede hatte sie sich nicht aufgehalten, weil sie genau wusste, dass er darauf wieder knurrend davonstürzen wurde.
»Wann lässt du diesen Zaun endlich richten, Papa?«, fragte sie.
»Ich denke nicht daran. Das Gör braucht ja nicht herumzuturnen«, erwiderte er gereizt. »Misch dich nicht in meine Angelegenheiten. Wenn denen da drüben was nicht passt, sollen sie sich doch nach einer anderen Bleibe umsehen. Die Mietverträge laufen ohnehin aus, und dann setze ich sie raus.«
»Das kannst du nicht. Das Grundstück gehört mir. Ich bin jetzt mündig und kann darüber verfügen.«
Er starrte sie wütend an. »Du wirst ganz schön frech«, sagte er barsch. »Du hast doch keine Ahnung von Geschäften. Sei froh, dass ich dein Vermögen vermehre, anstatt mir Vorhaltungen zu machen.«
»Du kannst aber ohne meine Einwilligung keine Entscheidungen treffen. Ich habe mich bei Dr. Reimer erkundigt.« Sie hatte schon allen Mut zusammennehmen müssen, um das auszusprechen.
Nun sah es aus, als wolle er auf sie zustürzen. Blaurot war sein breites Gesicht angelaufen.
»Willst du uns ins Gerede bringen?«, schrie er sie an.
»Das verstehst du wohl besser als ich«, erwiderte sie. »Du …«
»Halt deinen Mund«, zischte er. Und schon im nächsten Augenblick schlug er krachend die Tür zu, bevor sie noch ein weiteres Wort über die Lippen gebracht hatte.
So war er immer, wenn ihm etwas nicht passte. Deprimiert blieb Monika zurück. Sie war ihm nicht gewachsen. Auch ihre Mutter war ihm nicht gewachsen gewesen. Er war rücksichtslos und konnte brutal sein. Es war schlimm für Monika, einen solchen Vater zu haben. Sie schämte sich für ihn, nicht nur vor den Dondls und den Kellers, diesen netten Leuten, denen sie so gern helfen wollte.
Mit Wilfried konnte sie darüber nicht sprechen. Er wollte sich nicht zwischen zwei Stühle setzen, das hatte sie schon durchschaut. Und wenn sie darüber nachdachte, kam ihr immer wieder der Gedanke, dass sie eine seltsame Verlobung eingegangen war.
Sollte sie denn alles hinnehmen? Musste sie nicht endlich den Mut aufbringen, die Fesseln abzuwerfen? Was verband sie denn noch mit ihrem Vater? Was verband sie eigentlich mit Wilfried? Und was hatte zeitweises Aufbegehren ihr eigentlich genützt?
Sie hatte Kunstgeschichte studieren wollen, doch ihr Vater hatte bestimmt, dass sie Betriebswirtschaft studieren solle, weil man die Zeit nicht vertrödeln müsse mit Dingen, die doch nichts einbrächten.
Auch dagegen hatte sie sich nicht aufgelehnt. Widersprochen hatte sie das erste Mal, als er ihr einen teuren Sportwagen vor die Tür stellen ließ, den sie gar nicht hatte haben wollen.
Nach außen hin sollte es wohl so aussehen, als sei sie die verwöhnte Tochter, die alles bekam, was ihr Herz begehrte.
Was sie am nötigsten brauchte, nämlich Liebe und Verständnis, blieben ihr nach dem Tode ihrer Mutter versagt.
Alles, was sie bekam, war für Herbert Richter eine Rechtfertigung für sein kostspieliges Eigenleben, in das er keine Einmischung duldete, denn da gab es seit einiger Zeit eine gewisse Kitty, die ihn um den Finger wickeln konnte.
Von dieser wusste Monika noch nichts, doch mittlerweile verschloss sie die Augen und Ohren nicht mehr davor, dass ihr Vater nicht gerade wählerisch im Umgang mit Frauen war.
Als sie nun ihre Sachen zusammenpackte, um zur Universität zu fahren, klingelte das Telefon.
»Monika Richter«, meldete sie sich.
»Carola Buchner«, tönte eine gedämpfte, heiser klingende Stimme durch den Draht.
Carola Buchner war die Sekretärin ihres Vaters, und so sagte Monika rasch: »Mein Vater ist schon auf dem Weg ins Büro.«
»Ja, ich weiß. Ich möchte Sie dringend sprechen, Fräulein Richter. Wann wäre das möglich?«
»Warum?«, fragte Monika konsterniert.
»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen. Bitte, geben Sie mir Gelegenheit, es Ihnen zu erklären.« Eine kleine Pause, und weil Monika nichts sagte, fuhr Carola hastig fort: »Vielleicht heute Mittag?«
»Wenn es so dringend ist«, erwiderte Monika verwirrt. »Ich muss zur Vorlesung.«
»Vielleicht ein Uhr im ›Goldenen Lamm‹? Das ist in der Nähe von der Uni.«
»Ja, ich kenne das Lokal«, erwiderte Monika.
»Danke«, und dann war es still in der Leitung. Monika legte bedächtig den Hörer auf. Was sollte das bedeuten? Warum wollte Carola Buchner sie sprechen? Sie war mehr verwirrt als neugierig und konnte sich dann auch kaum auf die Vorlesung konzentrieren. Sie saß zwischen einem dunkelhaarigen Mädchen, das eigentlich mehr wie ein Junge wirkte mit dem schmalen, herben, sommersprossigen Gesicht und der dunklen strengen Hornbrille vor den Augen, und einem jungen Mann, der mit seinem langen lockigen Haar eher wie ein Mädchen aussah.
Das Mädchen hieß Florentine, der Junge, der noch nicht sehr männlich war, Carlo. Es waren die beiden einzigen Kommilitonen, mit denen Monika einen wenn auch losen persönlichen Kontakt hatte.
»Du warst heute aber gar nicht bei der Sache, Moni«, sagte Carlo, als die Vorlesung beendet war.
»Kommst du heute zu meiner Party?«, fragte Florentine. »Natürlich kommst du mal, du versauerst ja, wenn du immer daheim herumhockst.«
»Vergiss nicht, dass Moni verlobt ist«, sagte Carlo.
»Ach, dieser fade Bursche«, meinte Florentine wegwerfend. »Sie muss erst mal Vergleiche ziehen, bevor sie urteilen kann. Wir können doch nicht zulassen, dass Moni blindlings ins Unglück stolpert.«
»Wieso ins Unglück?«, fragte Monika aggressiv.
»Stille Wasser sind tief«, sagte Florentine anzüglich. »Damit meine ich nicht dich, Moni, sondern deinen Willi. Einmal muss es ja gesagt werden.« Und als Monika sie bestürzt ansah, fügte sie versöhnlich hinzu: »Ich mag dich eben.«
»Du kennst Wilfried doch gar nicht«, sagte Monika.
»Denkste«, erwiderte Florentine.
»Misch dich da doch nicht ein, Flo«, sagte Carlo.
Monika legte den Kopf in den Nacken. »Soll das ein Komplott sein?«, fragte sie. »Ich habe jetzt keine Zeit. Ich bin verabredet.«
Etwas anderes wusste sie nicht zu sagen.
»Komm heute Abend, dann können wir uns mal aussprechen«, rief ihr Florentine nach. »Ich meine es wirklich nur gut, wenn es auch nicht so klingt.«
Monika eilte davon. Florentine wollte ihr nachlaufen, aber Carlo hielt sie fest.
»Das war etwas zu hart, meinst du nicht?«, fragte er.
»Jemand muss ihr doch mal die Augen öffnen«, sagte Florentine. »Ich mag sie wirklich, Carlo.«
»Ich mag sie auch, aber man kann ihr doch nicht wehtun.«
»Es ist besser, wenn ihr jetzt die Augen geöffnet werden, nachher ist es zu spät. Es langt schon, dass ihr Vater so ein Saukerl ist.«
Mit harten, unverblümten Worten sparte sie nicht. Nichts in ihrem Benehmen, ihrer Kleidung, ihrem ganzen Auftreten ließ darauf schließen, dass ihr Vater zu den ganz Prominenten zählte, vor denen alle dienerten. Nur seine Tochter nicht.
Bei Florentine war der Abnabelungsprozess vom Elternhaus so weit gegangen, dass sie sich schwerhörig stellte, wenn man sie fragte, ob sie mit dem Baulöwen Häussler verwandt sei. Dann brachte sie es fertig, ihren Vater zu verleugnen, obgleich sie sich familiär mit ihm weit besser verstand, als Monika sich je mit ihrem Vater verstanden hatte. Florentine wollte nur nicht als die Tochter ihres einflussreichen Vaters bewertet werden.
Sie hatte ihre eigene Wohnung und auch ihren eigenen Freundeskreis. Sie lebte ihr Leben, und das war ein sehr bewusstes Leben. Sie hatte sich in jungen Jahren bereits zu einer Persönlichkeit entwickelt, und das wohl auch deshalb, weil ihr Vater ihr keine Schranken setzte.
Über Herbert Richter und auch über Monikas Verlobten wusste sie mehr, als sie bisher verlauten ließ, aber nun hatte sie sich doch nicht mehr beherrschen können. Sie hatte Monika einfach zu gern.
»Vielleicht kommt sie nun doch heute Abend«, sagte Florentine zu Carlo. »Wenn nicht, sehe ich ganz schwarz für sie. Über kurz oder lang wird sie doch erfahren, mit wem ihr Vater sich eingelassen hat, und dann kommt das dicke Ende nach. Man muss ihr doch wenigstens das Gefühl geben, dass sie Freunde hat, Carlo.«
*
Sie ahnten nicht, wie bald Monika wirklich gute Freunde brauchen könnte. Carola Buchner jedenfalls brachte Monika keine freundschaftlichen Gefühle entgegen.
Sie war schon im »Goldenen Lamm« und wartete ungeduldig auf Monikas Erscheinen. Sie war hübsch genug, um Männerblicke auf sich zu ziehen. Sie hatte ein gewisses Etwas, das aufreizend auf Männer wirkte, obgleich sie das zumindest jetzt nicht beabsichtigte.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Fräulein Richter«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich muss mich kurz fassen, da meine Mittagspause bald zu Ende ist.«
»Ich konnte leider nicht früher hier sein«, erwiderte Monika. »Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
»Über Wilfried.«
Monikas Augen weiteten sich staunend. Begreiflicherweise war sie befremdet, dass Carola ihren Verlobten beim Vornamen nannte. Ein Kribbeln rann über ihren Rücken.
»Über Wilfried?«, wiederholte sie fragend.
»Sie sind erstaunt«, sagte Carola ironisch, »er hat natürlich nicht erwähnt, dass wir früher befreundet waren, nicht einmal das.«
»Es ist mir neu«, erwiderte Monika steif, »aber Sie haben sicher einen Grund, mich davon in Kenntnis zu setzen.«
»Ja, gewiss, einen sehr triftigen Grund. Die Verlobung mit Ihnen kam durch Vermittlung Ihres Vaters zustande, weil er sich Chancen bei Ihnen ausrechnete. Es war für Wilfried natürlich ein verlockendes Angebot. Zu eigenen Entschlüssen ist er ja nicht fähig. Immerhin kam er von mir nicht los. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich erwarte ein Kind.«
Monika war wie erstarrt. Augenblicklich empfand sie gar nichts. Es war wie ein betäubender Schlag gewesen, der aber keinen Schmerz verursachte.
»Es musste wohl gesagt werden«, tönte Carolas Stimme an ihr Ohr.
»Ja, das musste wohl gesagt werden«, erwiderte Monika tonlos. »Es wäre wohl besser gewesen, ich hätte es von Wilfried erfahren.«
»Er weiß es noch nicht. Unter gewissen Voraussetzungen wäre ich auch bereit, es ihm zu verschweigen.«
»Unter welchen Voraussetzungen?«, fragte Monika.
»Dass ich und das Kind finanziell abgesichert werden.«
»Das erwarten Sie von mir? Nicht von Wilfried?«
»Ihnen würde jedenfalls eine Blamage erspart bleiben«, erklärte Carola kühl.
»Sie meinen, dass ich ihn unter diesen Umständen noch heiraten würde? Sie können ihn gernhaben«, erwiderte Monika eisig.
Fassungslos blickte Carola Monika an. »Es macht Ihnen gar nichts aus?«
»Nein, es macht mir überhaupt nichts aus.«
»Es scheint Sie auch nicht zu interessieren, dass Ihr Vater dieses Arrangement traf, um mich von Wilfried zu trennen.«
»Nein, auch das interessiert mich nicht«, sagte Monika gleichmütig, obgleich heißer Zorn in ihr emporstieg. »Wir können diese Unterhaltung beenden. Es wäre angebracht, wenn Sie Herrn Schaeffers baldmöglichst von diesem Gespräch informieren.«
Sie stand auf und ging, und nun war es Carola, die wie erstarrt sitzen blieb.
So springen sie also mit mir um, dachte Monika. So, als wäre ich eine Marionette, die man nur zu dirigieren braucht.
Zorn auf sich selbst erfasste sie nun. Was hatte sie denn für Wilfried empfunden? Eigentlich nichts, wenn sie es nun nüchtern überlegte. Es war ja nicht ihre Entscheidung gewesen, sich mit ihm zu verloben. Sie hatte sich so schrecklich einsam gefühlt nach dem Tod ihrer Mutter.
Wilfried war ein netter, höflicher, zurückhaltender junger Mann, der ihr in keiner Weise zu nahe getreten war.
Verliebt war sie noch nie gewesen. War sie überhaupt tiefer Gefühle fähig?
Auch das fragte sie sich jetzt, während sie durch die Straßen lief. Was für ein Mensch war ihr Vater eigentlich? Ein so tiefer Widerwillen erfüllte sie plötzlich, dass ihr ganz schlecht wurde.
Dann stand sie vor ihrem Wagen und wusste gar nicht, wie sie dorthin gelangt war. Dem Wirrwarr ihrer Gefühle folgte eine entsetzliche Gleichgültigkeit. Sie setzte sich ans Steuer und fuhr los. Sie konzentrierte sich ganz auf den Verkehr, um nicht weiter nachdenken zu müssen.
Sie fuhr hinaus aus der Stadt, hin zum Friedhof, auf dem ihre Mutter ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Sie musste einen Entschluss fassen, wie sie ihr Leben nun künftig gestalten wollte. Vielleicht war hier, in dieser Stille, diesem Frieden, der richtige Platz.
»Du hast es gut, Mutti«, sagte sie leise, »du weißt nichts mehr von diesem Elend. Doch wer weiß, was du gelitten hast, ohne dass du es mir sagtest, ohne dass ich eine Ahnung hatte.«
Ja, wie mochte ihr Vater gewesen sein, als die geliebte Mutti ihn kennen lernte, als sie so jung war wie sie, Monika, jetzt auch gerade war.
War er auch ein höflicher, zurückhaltender Mann gewesen? Hatte er auch eine reiche Mitgift im Auge gehabt? Hatte er sich erst später so verändert?
Tränen strömten über Monikas Wangen. Es war zu schrecklich zu denken, dass Ehen aus solchen Motiven geschlossen wurden, und dass sie selbst auch solche Ehe eingegangen wäre, wenn ihr Carola Buchner nicht reinen Wein eingeschenkt hätte. Eigentlich musste sie ihr doch dankbar sein, dass sie ihr die Augen geöffnet hatte.
Es war nicht so, dass sie über Wilfried enttäuscht war. Nein, zu ihrer Verwunderung war das nicht der Fall. Es war nur so schrecklich demütigend gewesen. Aber hätte sich nicht schon damals ihr Stolz regen müssen, als ihr Vater diese Verlobung forcierte? Hätte sie sich nicht da schon auflehnen müssen?
Warum nur hatte sie es nicht getan?
Lange blieb sie auf der Bank sitzen. Vögel zwitscherten, Eichhörnchen sprangen munter zwischen den Bäumen herum. Sonst hatte Monika immer ihren Spaß an ihnen, wenn sie ganz nahe kamen, und sie hatte auch stets einige Haselnüsse dabei.
Heute war alles anders. Die Welt hatte sich für Monika verändert. Sie sah die Menschen mit anderen Augen, denn sie war sich ihrer eigenen Persönlichkeit bewusst geworden.
Und nun dachte sie an Florentines Einladung. Noch ein kurzer Kampf mit sich selbst, dann war sie entschlossen, zu dieser Party zu gehen.
Sie fuhr nach Hause. Sie sah den morschen, verwahrlosten Zaun am Nebengrundstück, und in einer jähen, zornigen Aufwallung riss sie eine lose Latte ganz heraus.
Sie verspürte einen stechenden Schmerz, dann Blut, das an ihren Fingern herunterfloss. Es war nicht nur ein Schiefer in ihre Hand gedrungen wie bei Melanie, sondern ein rostiger Nagel hatte ihr einen tiefen Riß zugefügt.
Einmal hatte sie gelesen, dass ein Mann gestorben war, weil er sich mit einem rostigen Nagel verletzt hatte, und ihr kam der Gedanke, was wohl ihr Vater sagen würde, wenn es ihr ebenso ergehen würde.
Aber nein, so einfach wollte sie es ihm und auch sich selbst nicht machen. Sie wollte schon noch beweisen, dass sie nicht einfach ein törichtes Mädchen war, das sich herumschubsen ließ.
Sie ging gar nicht erst ins Haus, sondern nahm aus ihrem Verbandskasten eine Mullbinde, die sie um die Hand schlang. Dann fuhr sie zu Dr. Norden.
*
Dr. Daniel Norden hatte eben seine Sprechstunde beendet und wollte nun noch Hausbesuche machen, als Monika kam.
Er kannte sie, aber schon längere Zeit hatte sie keine ärztliche Hilfe nötig gehabt. Er konnte vorerst nur feststellen, dass sie sich äußerlich nicht viel verändert hatte. Noch genauso jung sah sie aus.
Sie hielt ihm die Hand entgegen. »Nanu, was haben wir denn da gemacht?«, fragte er.
»An diesem verfluchten Zaun habe ich mich verletzt«, stieß sie erbittert hervor. »Ihnen muss er doch auch ein Dorn im Auge sein, wie allen andern auch.«
Dr. Norden war ein guter Menschenkenner. Er spürte, dass sie mit diesen Worten auch noch andere Aggressionen abreagieren wollte.
»Die kleine Dondl hat sich auch einen Splitter eingezogen, aber bei Ihnen sieht es schon noch ein bisschen schlimmer aus, Fräulein Richter«, sagte er. »Sie wussten doch, wie leicht man sich daran verletzen kann.«
»Mich hat die Wut gepackt«, gab sie zu. »Aber jetzt werde ich selbst etwas unternehmen. Ich bin nicht mehr still. Ich lasse mich nicht mehr ducken.« Sie schluchzte trocken auf, und er spürte, dass es mehr der seelische Schmerz war als der körperliche, der diesen Ausbruch herbeiführte.
Regungslos ließ sie über sich ergehen, was er tun musste, um sie vor nachhaltigen Folgen zu bewahren. Die Tetanusspritze schien sie gar nicht zu spüren. Als er die Hand sorgfältig verbunden hatte, fragte er: »Was kann ich noch für Sie tun?«
»Jetzt nichts«, erwiderte sie leise. »Ich habe mich aufgeregt. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich ausfallend wurde.«
»Na, so schlimm war das doch nicht. Man kann nicht alles hineinschlucken, man soll es auch nicht. Aber seien Sie nicht so zornig, dass Sie den ganzen Zaun einreißen.«
Das Blut stieg wieder in ihre blassen Wangen. »Ich lasse mich sonst nicht so schnell gehen«, sagte sie leise. »Ich schäme mich.«
»Sie brauchen sich nicht zu schämen«, sagte Daniel.
»Ich schäme mich für meinen Vater. Es ist erbärmlich, wie er diese Menschen behandelt. Aber ich werde nicht mehr zusehen.«
Sie musste einen Schock bekommen haben, einen gewaltigen Schock sogar. Ein Mädchen wie sie riss nicht einfach eine Zaunlatte heraus, sagte nicht zornige Worte, und unter normalen Voraussetzungen schon gar nicht, dass sie sich ihres Vaters schäme.
Monika war ein hochintelligentes Mädchen, wenn auch nicht sehr selbstbewusst und zudem sehr schüchtern. So hatte Dr. Norden sie gekannt, doch jetzt hatte sie ganz anders auf ihn gewirkt, erwachsener, reifer, sogar hübscher in ihrem Zorn.
»Sie kommen morgen wieder, damit ich nachschauen kann«, sagte er.
»Ja, gewiss. Ich danke Ihnen, Herr Dr. Norden. Die Rechnung für Melanie Dondl schicken Sie bitte an mich.«
»Aber die Eltern sind versichert«, sagte er.
»Ich möchte wenigstens dafür aufkommen«, sagte Monika trotzig. »Außerdem kann sie Schmerzensgeld beanspruchen. Das stimmt doch.«
»Ihnen würden die Dondls bestimmt keine Schuld geben«, meinte Dr. Norden begütigend.
»Es ist mein Grundstück. Ich habe bisher nur noch nicht von meinen Rechten Gebrauch gemacht. Das wird anders werden. Ja, es wird bestimmt anders.«
»Sie sind sehr erregt, Fräulein Richter«, sagte Daniel. »Soll ich Ihnen nicht lieber ein Beruhigungsmittel geben?«
»Nein, das bestimmt nicht. Es wird Zeit, dass ich den Mund aufmache. Es muss einmal heraus. Sie haben doch selbst gesagt, dass man nicht alles schlucken soll. Sie dürfen ruhig wissen, dass ich mich nicht mehr ducke, ich bin mündig, ja, ich bin mündig!«
Aber sie muss es sich erst noch einreden, dachte Daniel Norden. Doch er wusste nicht, wie er ihr dabei helfen könnte, sich tatsächlich zu behaupten. Er kannte auch Herbert Richter. Es musste ein Wunder geschehen, wenn sie sich gegen ihren Vater behaupten konnte. Doch er wünschte es ihr.
*
Als Monika heimkam, war ihr Vater schon da. Er war gerade dabei, sich in den Abendanzug zu stürzen.
»Binde mir die Krawatte«, sagte er.
»Die musst du dir schon selbst binden«, erwiderte Monika. »Ich habe eine schlimme Hand.«
»Was hast du gemacht?«, fragte er mehr beleidigt als teilnahmsvoll.
»Ich habe eine lose Latte aus dem Zaun gerissen und mich dabei verletzt.«
»So blöd kannst auch nur du sein«, sagte er wütend.
»Ich war noch blöder, aber damit ist es jetzt vorbei«, entgegnete Monika kalt.
Er war konsterniert. »Was ist das für ein Ton?«
»Der Ton, den du hoffentlich verstehst. Ich bin nicht mehr deine gehorsame Tochter, oder besser gesagt: deine dressierte Tochter, die sich in eine Verlobung hetzen lässt, die Betriebswirtschaft studiert, anstatt Kunstgeschichte, die dir deine Krawatten bindet und sich alles Gerede, was über dich im Gange ist, widerstandslos anhört.«
Herbert Richter wurde fahl. »Was redest du für einen Unsinn«, stieß er hervor. »Hast du dich schlimm verletzt?«
»Nun tu bloß nicht teilnahmsvoll«, sagte Monika mit klirrender Stimme. »Mir ist einfach nur ein Licht aufgegangen. Jemand hat es mir gesteckt. Wilfried hat wohl noch nicht mit dir gesprochen?«
»Wilfried? Er ist doch heute auswärts. Was ist denn los? Gibt es Differenzen?«
»Ach, er ist auswärts«, sagte Monika tonlos. »Deshalb hat die Buchner sich mit mir verabredet.«
»Was ist mit der Buchner?«, fragte ihr Vater aufgebracht.
»Sie bekommt ein Kind. Ein Kind, dessen Vater Wilfried ist, oder vielleicht auch du? Hast du es nicht auch auf sie abgesehen gehabt?«
Herbert Richter schnappte nach Luft. Dann sank er auf den nächsten Sessel. Fast hätte er ihn verfehlt.
Monika lachte blechern auf, als er torkelte und sich dann an den Hals griff.
»Dieses Miststück«, schrie er, »was hat sie dir erzählt?«
»Dass sie mit Wilfried sehr eng befreundet war und du sie auseinandergebracht hast. Wenigstens wolltest du das, aber sie ist reizvoller als ich. Wilfried hat die Beziehung nicht aufgegeben. Du wolltest sie für dich haben, das stimmt doch?«
»So ein Schmarr’n. Das nimmst du ihr ab? Sie ist doch so ein käufliches Luder, das …«
»Nein, das ist sie nicht«, fiel ihm Monika ins Wort. »Ich hätte gewiss keinen Grund, sie in Schutz zu nehmen, aber wir wollen bei den Tatsachen bleiben. Ich glaube ihr. Ja, schau mich nur an. Dass du ein Schürzenjäger bist, weiß ich schon lange, und es ist eine Schande, dass ich immer meinen Mund gehalten habe. Jetzt ist das Maß voll. Es tut mir nicht weh, dass Wilfried mich hintergangen hat, aber du, du, der mein Vater ist, dass du so gemein bist, gibt mir den Rest. Ich halte meinen Mund nicht mehr.«
Und als er die Hand hob, lachte sie wieder. »Schlag mich doch, schlag mich meinetwegen tot. Du hast für Mutti nichts übrig gehabt. Du hast dir nur ihr Geld unter den Nagel gerissen. Und für mich hast du auch nichts übrig. Du wolltest mich auf billige Art loswerden, mich einfach nur verheiraten. Ja, ich war blöd, aber das ist aus. Ich werde nicht heiraten, aber ich werde mein Erbteil beanspruchen. Morgen gehe ich zu Dr. Reimer, und dann wird alles geregelt. Mit Wilfried ist es aus, hörst du? Ich werde nie heiraten. Ich will nicht auch das durchmachen, was Mutti durchgemacht hat. Ich werde jetzt meine Sachen packen und gehen.«
»Du bist übergeschnappt, Monika«, sagte Herbert Richter.
»Das würde dir passen, aber ich war nie so bei Verstand wie jetzt. Und nun kannst du gehen, zu wem immer du willst, denn eines Tages wird dich auch ein billiges Mädchen teuer zu stehen kommen.«
»Du kleines Biest, halt endlich deinen Mund«, schrie er sie an.
»Noch nicht. Wie viel Geld wendest du denn für dein Vergnügen auf? Für Muttis Grab hast du nicht mal eine Blume gebracht. Ich krieche nicht weiter vor dir. Ich beanspruche mein Recht.
Und jetzt gehe ich zu einer Party«, schloss sie tonlos.
»Und morgen wirst du wohl dann wieder normal sein«, sagte Herbert Richter. »Du hast nur noch nicht begriffen, dass man die Männer in Atem halten muss. Glaub doch nicht den Unsinn, den die blöde Buchner dir erzählt hat. Sie probiert es doch bei jedem Mann, und nun sucht sie einen Dummen, falls sie wirklich ein Kind kriegt. Du hast dich überrumpeln lassen von einer Schlaueren. Du musst Erfahrungen sammeln, Monika.« Er hatte wieder Oberwasser, weil Monika schwieg. »Wilfried liebt dich doch, er kann es nur nicht so zeigen, weil du ein scheues Reh bist«, fuhr er fort. »Wilfried ist ein anständiger Junge, sonst hätte ich doch nie gestattet, dass er um dich wirbt.«
»Du Heuchler!«, sagte Monika, und dann rannte sie hinaus und schlug die Tür so laut hinter sich zu, wie er es am Morgen getan hatte. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein. Er klopfte ein paarmal an ihre Tür, rüttelte an der Klinke, aber sie gab keine Antwort. Dann hörte sie, wie er mit aufheulendem Motor davonfuhr.
Sie warf Kleider und Wäsche in einen Koffer und kleidete sich um. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ein fremdes Gesicht blickte ihr entgegen. »Schluss mit der Sentimentalität«, sagte sie laut. Dann ging sie in den Keller und nahm sechs Flaschen des besten Weines aus dem Regal. Florentine sollte wenigstens eine Freude haben.
Das Telefon läutete, als sie das Haus verließ. Monika warf den Kopf in den Nacken. Sie ahnte, dass es Wilfried war, denn er rief immer um diese Zeit an, wenn er nicht selbst kommen konnte.
Oder wollte, dachte sie jetzt. Er hatte anscheinend sehr oft etwas Besseres vorgehabt.
Gestört hatte es sie nie, wenn er nicht kommen konnte. Gedanken hatte sie sich auch nicht gemacht. Jetzt dachte sie nur, dass Carole Buchner schauen sollte, wie sie mit ihm zurechtkam, und bei dem Gedanken musste sie sogar lächeln.
Sie schüttelte sich, fühlte sich plötzlich frei und so jung, wie sie noch nie gewesen war.
*
Florentine war leicht aus der Fassung gebracht, als Monika vor ihr stand. Ganz verlor sie die Fassung, als sie die sechs Flaschen betrachtete.
»Die sind doch ein Vermögen wert«, sagte sie. »Hast du davon überhaupt eine Ahnung, Moni?«
»Und wenn schon«, erwiderte Moni lächelnd. »Für mich ist es ein großer und wertvoller Tag.«
»Inwiefern?«, fragte Florentine irritiert.
»Ich bin frei.«
»Wieso frei?«, fragte Florentine atemlos.
»Ganz frei. Nicht mehr verlobt und auch von meinem Vater geschieden. Sagt man das so?«
»Man könnte es so sagen, wenn es stimmt«, erwiderte Florentine.
»Es stimmt. Ab heute beginne ich ein neues Leben.«
Florentine betrachtete Monika mit einem forschenden, nachdenklichen Blick.
»Hast du etwa schon einen gekippt?«, fragte sie.
»Gott bewahre. Ich bin vollkommen nüchtern.«
»Und was ist mit deiner Hand?«
Die wahrheitsgemäße Erklärung, wie das passiert war, gab Florentine zu denken. Der folgende Ausbruch noch mehr.
Die sonst so sanfte Monika war nicht wiederzuerkennen.
»Für miese Weiber wirft er das Geld zum Fenster hinaus, aber den Zaun lässt er nicht richten, und überhaupt benimmt er sich schäbig den Mietern gegenüber. Ich ertrage es nicht mehr. Ich bin fertig mit ihm.«
Jäh hielt sie inne und schaute Florentine verwirrt an. »Bin ich die Erste?«, fragte sie verlegen.
»Ja, und das wird gut sein. Ich mixe uns einen Drink. Mach es dir bequem, Moni.«
»Hübsch hast du es hier, Flo. Bist du eigentlich mit deinem Vater auch nicht zurechtgekommen?«
»So will ich es nicht sagen. Wir haben uns arrangiert. Er hat eingesehen, dass man zu einem gewissen Zeitpunkt selbstständig werden muss.«
»Bist du finanziell unabhängig? Darf ich das fragen?«
»Du darfst alles fragen. Ich habe mein eigenes Konto. Vater ist nicht gerade kleinlich, aber auch nicht sonderlich großzügig. Einen teuren Sportwagen würde er mir jedenfalls nicht schenken.«
»Den wollte ich auch nicht haben, aber man kann so nach außen hin auch ein schlechtes Gewissen beruhigen«, sagte Monika bitter.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Florentine.
»Mir eine Wohnung suchen.«
»Hier ist noch eine frei. Das Haus gehört meinem Vater. Du würdest Sonderkonditionen bekommen, wenn es dir ernst ist.«
»Es ist mir ernst. Ihr traut es mir wohl nicht zu, dass ich mich auf eigene Füße stelle?«
»Wenn ich ehrlich sein darf, es überrascht mich«, gab Florentine zu. »Was du über deinen Vater sagtest, konnte mich allerdings nicht mehr überraschen. Das pfeifen die Spatzen ja von den Dächern. Es beruhigt mich, dass es dich nicht zu Boden wirft, Moni.«
»Ich war so naiv zu glauben, dass er zu vorsichtig ist, sich nicht ins Gerede zu bringen. Aber jetzt Schluss damit, es hat geläutet.«
Florentine bedauerte es, dass sie ein Dutzend Leute eingeladen hatte. Gern hätte sie den Abend mit Moni allein verbracht, der sie sich innerlich verwandt fühlte. So burschikos, wie sie sich immer gab, war sie nicht, sondern bedeutend gefühlvoller, als man ihr zutraute. Und ein bisschen abergläubisch war sie auch. Als Carlo, der sich sehr freute, dass Monika gekommen war, feststellte, dass sie dreizehn waren, fragte sich Florentine betroffen, ob es ein schlechtes Omen war.
Vorerst aber ging es recht heiter zu, und Monika gab sich große Mühe, mit den andern Schritt zu halten. Da sie sonst nie Alkohol trank, hatte sie bald einen kleinen Schwips und sah alles in rosarotem Licht, was bisher trübe und grau erschienen war.
*
Dr. Daniel Norden musste seiner Frau eine betrübliche Eröffnung machen. Er musste an diesem Abend als Notarzt einspringen, weil der Kollege, der dafür eingeteilt war, plötzlich selbst erkrankt in eine Klinik eingeliefert werden musste.
»Es muss nun ja nicht so sein, dass ich die ganze Nacht unterwegs bin«, meinte er tröstend.
»Wenn du Dienst hast, ist bestimmt wieder allerhand los«, orakelte Fee, und so war es auch, obgleich sich der Abend zuerst ruhig anließ.
Kurz nach neun Uhr wurde Daniel zu einem Patienten beordert, der einen schweren Herzanfall hatte. Er blieb eine Stunde aus, war dann aber guter Stimmung, weil seine Bemühungen um den Kranken von Erfolg gekrönt waren.
Weniger guter Stimmung war zu diesem Zeitpunkt Herbert Richter. Er konnte zwar alles abschütteln, was ihm nicht behagte, und das Gespräch mit Monika beschäftigte ihn nicht nachhaltig. Seine Freundin Kitty verstand es außerdem, ihn in Atem zu halten. Sie war eine rassige, temperamentvolle Person, manchmal ziemlich vulgär, aber das störte ihn nicht, weil er im Grunde genauso war.
War er sonst der jeweiligen Verhältnisse überdrüssig geworden, bei Kitty war das anders. Sie hatte ihn raffiniert umgarnt, aber wenn sich ihr die Gelegenheit bot, flirtete sie auch mit anderen Männern, und an diesem Abend hatte es ihr einer besonders angetan.
Für Herbert Richter war das ein Bürschchen, doch Kitty fand den jungen Mann sehr attraktiv, schick, und außerdem war er auch noch der Juniorchef eines bekannten Unternehmens mit klangvollem Namen.
Sie war ganz in ihrem Element, doch verderben wollte sie es mit Herbert Richter nicht. Ihn betrachtete sie sozusagen als ihre Lebensversicherung.
Als er ihr unmissverständlich erklärte, dass sie sich zum Teufel scheren könne, wenn sie das Spiel zu weit treibe, lenkte sie ein.
»Mach doch aus einer Mücke nicht einen Elefanten, Berti«, säuselte sie. »Man kann sich doch ein bisschen amüsieren, wenn du schon schlecht gelaunt bist.«
»Ich war nicht schlecht gelaunt«, widersprach er.
»Mir kannst du doch nichts vormachen. Ich kenne dich zu gut.«
Seine Stirn glättete sich. Er fühlte sich verstanden. Und als Kitty dann sogar vorschlug, dass sie noch ausgehen könnten, war er ganz versöhnt.
Kitty tat es zwar leid, aber auf die Spitze treiben wollte sie nichts. So jung war sie nun auch wieder nicht, dass sie alles aufs Spiel setzen konnte, denn schließlich wollte Herbert Richter sie heiraten, und sie hatte sich zuvor genau erkundigt, was er ihr zu bieten hatte.
In einem eleganten Nachtlokal saßen sie dann bei Champagner, und geschickt verstand sie es, das Gespräch auf die Heirat zu lenken.
»Wenn du mir schon Vorschriften machst, muss ich auch endlich wissen, woran ich bin«, sagte sie schmollend. »Das musst du verstehen, Berti.«
»Ich muss mich noch mit Monika auseinanderraufen«, sagte er.
»Wieso auseinanderraufen?«
»Sie wird aufmüpfig. Sie besteht auf ihrem Erbteil, und wie sie sich heute aufgeführt hat, wird sie morgen tatsächlich zu Dr. Reimer gehen.«
Kittys Augenbrauen schoben sich zusammen. »Deshalb hast du also schlechte Laune«, sagte sie. »Gib ihr doch ihr Erbteil, dann sind wir sie los. Du wolltest sie doch schon lange loswerden. Sie kann doch endlich heiraten.«
»Das ist der zweite Haken. Sie ist dahintergekommen, dass Wilfried ein Verhältnis mit der Buchner hat, und nun löst sie die Verlobung.«
»So ein Esel«, entfuhr es Kitty. »Aber was soll’s. Dich kann es doch nicht tangieren. Oder doch?«, fragte sie lauernd.
»Es könnte schon einige Schwierigkeiten geben«, murmelte er, »aber zerbrechen wir uns jetzt nicht den Kopf. Ich werde diesen dämlichen Zaun richten lassen, und dann wird Monika sich alles noch mal überlegen.«
»Willst du mir nicht lieber sagen, was dir Sorgen bereitet, Berti?«, fragte Kitty, die sich nun doch schon überlegte, ob Herbert Richter wirklich die große Chance für sie sei. »Wenn wir heiraten, will ich doch auch die Sorgen mit dir teilen«, fügte sie schlau hinzu.
Er starrte in sein Glas und trank es dann mit einem Schluck leer.
»Meine Frau hat Monika als Alleinerbin eingesetzt«, sagte er mürrisch. »Ich bin verpflichtet, es ihr auszuzahlen, wenn sie darauf besteht. Natürlich habe ich es im Geschäft investiert.«
»Und wie es scheint, würde es dich in Schwierigkeiten bringen, wenn du es herausziehen musst. Stimmt es?«
»Nun, du weißt ja wohl, wie das ist. Es handelt sich immerhin um eine beträchtliche Summe.«
»Um wie viel?«, fragte sie.
»So um die achthunderttausend Euro.«
Kitty kniff die Augen zusammen. Sie war bisher in ihrem Leben zwar immer auf ihre Kosten gekommen, wie, das wollte sie zwar nicht erörtert wissen, aber eine sechsstellige Summe nahe der Millionengrenze war schon etwas, worauf sie ungern verzichten würde, und darin stimmte sie mit Herbert Richter überein.
»Es bringt mich nicht um«, sagte er rasch, »aber ich müsste doch Kredite aufnehmen, um die Lücke zu füllen. Diese Buchner hat mir da eine schöne Suppe eingebrockt.«
»Wieso die Buchner?«, fragte Kitty.
»Sie hat es Monika doch gesagt, dass sie ein Kind von Wilfried kriegt.«
»Das ist ein starkes Stück. Diese dumme Kuh«, sagte Kitty. »Wirf sie raus.«
Davor schreckte Herbert Richter aus bestimmten Gründen zurück. Doch diese Gründe konnte er Kitty nicht sagen. Momentan meinte er, sowieso schon zu viel gesagt zu haben.
»Fahren wir zu dir«, sagte er. »Da können wir weiterreden. Ich habe schon ein bisschen viel intus.«
»Fahren wir doch zu dir, und wenn Monika kommt, kannst du ihr sagen, dass wir heiraten.«
»Sie ist zu einer Party gegangen. Stell dir das vor. Nie ist sie abends ausgegangen, außer mal mit Wilfried, und heute geht sie auf eine Party.«