Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 37 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Dr. Daniel Norden war so in den Krankenbericht von Esther Tomaso vertieft, daß er überhörte, als Wendy ihm einen Patienten ankündigte. Die Vormittagsstunde war fast beendet. Er erwartete nur noch die Patientin, mit deren Laborbefunden er sich gerade beschäftigte und die ihm mehrfaches Kopfschütteln abnötigten.

Er hörte auch nicht, daß die Tür geöffnet wurde und blickte erst leicht erschrocken auf, als eine dunkle Männerstimme sagte: »Pardon, wenn ich störe, aber Ihre Assistentin sagte mir, daß Sie mich jetzt erwarten.«

Dr. Norden sah den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann irritiert an, denn erwartet hatte er eine junge Dame.

»Mein Name ist Lennart van Eicken. Ich komme auf Empfehlung von Professor Röttgen.«

Dieser Name war allerdings Empfehlung genug. Dr. Norden war jetzt ganz bei der Sache.

»Direkt aus Kapstadt?« fragte er. »Sie entschuldigen bitte meine Unaufmerksamkeit, ich hatte mit einer Patientin gerechnet, mit deren Befund ich mich gerade befaßt hatte.«

»Wenn Sie mir einen anderen Termin geben wollen, ich bleibe einige Zeit in München.«

Es klopfte, und Wendy schaute herein. »Bitte um Entschuldigung, aber ich wollte nur Bescheid sagen, daß Frau Tomaso erst morgen kommen kann, und da Herr von Eicken auf Empfehlung von Professor Röttgen kommt, dachte…«

»Ist schon in Ordnung, Wendy«, wurde sie unterbrochen. »Sie können jetzt Mittagspause machen.«

Er hatte eine halbe Stunde für Esther Tomaso eingeplant, und die konnte van Eicken zugutekommen, der auf ihn einen sehr sympathischen Eindruck machte. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, diesen Mann zu kennen, aber das mußte wohl Einbildung sein und an diesen Augen liegen, die ihn so intensiv und forschend ansahen.

»Sie haben mit Professor Röttgen zusammengearbeitet?« fragte Daniel.

»Nein, das nicht, ich war ziemlich lange sein Patient und darf mich glücklich schätzen, sein Freund geworden zu sein. Er hat so voller Wärme von Ihnen gesprochen, von Ihrer Frau und Ihrer Familie, daß ich mit der Hoffnung komme…«, unterbrach sich und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

Daniel sah, daß seine Hand zitterte.

»Nehmen Sie doch erst mal Platz«, sagte er und schenkte ihm ein Glas Wasser ein. Van Eicken nahm ein Döschen aus seiner Jackentasche und schluckte dann schnell zwei kleine Tabletten.

»Ich hatte einen schweren Unfall, der mir immer noch zu schaffen macht. Ein Schreiben von Thilo Röttgen wird Ihnen das Wichtigste erklären, sofern Sie dazu bereit sind, sich mit meinem Fall zu befassen.«

»Eine Diagnose von diesem hochgeschätzten Kollegen wird kaum irgendwie zu widerlegen sein«, sagte Daniel nachdenklich.

»Das nicht, aber Thilo meint, daß Sie völlig objektiv noch zu anderen Ergebnissen kommen könnten. Er ist Chirurg und Neurologe. Sie sind seiner Meinung nach der beste Allgemeinarzt, den er kennt. Er hat mir auch von der Insel der Hoffnung erzählt. Ich kann Ihnen nur den Hinweis geben, daß ich meine Identität suche.«

Daniel hielt den Atem an. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht genau wissen, wer Sie sind?« fragte er stockend.

»Ich weiß überhaupt nichts, auch nicht, wie ich einmal hieß. Eigentlich war ich tot, als ich am Strand gefunden wurde, nur mein Herz hörte nicht auf zu schlagen, wie Thilo mir später erzählte. Da er nichts von mir wußte, betrachtete er mich als Versuchsobjekt für seine Forschungen. Ich hätte ja die Behandlung und den Klinikaufenthalt nicht bezahlen können. Werden Sie sich mit mir befassen? Ihr Honorar wäre gesichert.«

Daniel lächelte flüchtig. »Ich bin Thilo Röttgen einiges schuldig, aber abgesehen davon interessiert mich Ihr Fall sehr, Herr van Eicken.«

»Sagen Sie einfach Lennart, Dr. Norden, das ist zwar auch ein geschenkter Name, aber mir doch schon irgendwie vertrauter. Bei mir sitzt die Angst tief, daß es wirklich einen Lennart van Eicken gibt, der mich als Betrüger bezeichnen könnte.«

»Das sollte Ihre geringste Sorge sein. Es gibt oft Namensgleichheiten. Aber ich werde Zeit brauchen, um mich mit einer Persönlichkeit vertraut zu machen, von der ich auch nichts weiß. Könnten Sie morgen nachmittag kommen, da hätte ich diese Zeit, weil keine Sprechstunde ist.«

»Ich kann mich ganz nach Ihnen richten, wann wäre es Ihnen recht?«

»Fünfzehn Uhr?«

Der andere nickte zustimmend. »Ich danke Ihnen, Dr. Norden.«

»Wo wohnen Sie in München, wenn ich fragen darf?«

»Bei Thilos Schwester, Frau Horten, aber sie weiß nichts von meinem Vorleben. Allerdings weiß ich ja davon auch nichts. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist? Es verursacht Angstträume.«

»Wir werden in aller Ruhe darüber sprechen.«

»Die Laborbefunde habe ich dabei. Soll ich sie gleich hierlassen?«

»Das wäre mir recht. Dann kann ich mich schon damit befassen.«

»Manchmal denke ich, daß es vielleicht besser wäre, Thilo hätte mich nicht ins Leben zurückgebracht«, sagte Lennart leise.

»Wie ich ihn kenne, wird er überzeugt sein, daß es sich gelohnt hat. Sie können sprechen, Sie können denken und fühlen, Sie haben ein Gesicht.«

»Mein zweites Gesicht, wie könnte mein erstes ausgesehen haben? Auch diese Frage beschäftigt mich.«

Daniel Norden blickte in ein Gesicht, das fast vollkommen schien, aber er konnte nicht verhindern, daß ein Frösteln durch seinen Körper kroch. Was mochte diesem Mann widerfahren sein, als er gefunden wurde an einem Strand in Südafrika. Wie war er dorthin gekommen?

Er reichte ihm die Hand, Lennarts Hand war warm und kräftig. Daniel fühlte sich versucht, sie genau zu betrachten, aber das wollte er lieber morgen tun, sonst kam er nie nach Hause und er hatte vormittags wieder Sprechstunde.

*

»Hallo, mein Schatz, wo bist du mit deinen Gedanken?« fragte Fee Norden, als sich ihr Mann abends so schweigsam zeigte wie selten.

»Du wirst staunen, was ich erzählen kann. Da wirst du wieder deine Phantasie walten lassen, aber es wird auch dir schwerfallen, eine Erklärung für dieses Schicksal zu finden. Es ist überhaupt eigenartig, daß ich fast gleichzeitig mit zwei mysteriösen Fällen zu tun habe.«

»Da scheinst du mir ja allerhand verschwiegen zu haben«, meinte Fee hintergründig.

»Esther Tomaso war noch nicht spruchreif, und dieser Lennart van Eicken erschien erst heute bei mir. Professor Röttgen hat ihn geschickt.«

»Wie nett, daß man von ihm auch mal wieder etwas hört. Ist er immer noch in Kapstadt?«

»Ja, und dort wird er wohl auch bleiben.«

»Und warum bleibt der Patient nicht bei ihm?«

»Das ist eine komplizierte Geschichte. Eicken muß einen ungeheuer schweren Unfall gehabt haben. Er wurde, wie er mir erzählte, fast tot an einem Strand in der Nähe von Kapstadt gefunden und lag lange im Koma. Er hat überhaupt keine Erinnerung mehr, auch nicht an seinen Namen und sein früheres Gesicht, denn Röttgen und ein paar andere Ärzte scheinen ihm ein neues gegeben zu haben.«

Fee sah ihn skeptisch an. »Ist er glaubwürdig?«

»Durchaus, aber ich kann ja Röttgen jederzeit anrufen und mich mit ihm absprechen. Es muß eine sehr dramatische Geschichte sein, und Röttgen scheint zu denken, daß ich dem Mann helfen kann, mehr über sich in Erfahrung zu bringen.«

»Er hat immer schon große Stücke auf dich gehalten und das mit Recht, mein Schatz. Schließlich haben wir auch schon mit einigen sehr schwierigen Fällen zu tun gehabt, wo wir auch helfen konnten. Was hast du also mit ihm vor?«

Das war typisch Fee, die sich nicht lange mit Vermutungen aufhielt, sondern den Dingen gleich auf den Grund ging.

»Er kommt morgen nachmittag zu mir, da nehme ich mir Zeit. Vorerst befasse ich mich mit seinen Laborbefunden.«

»Kann ich da auch hineinschauen?«

»Ich habe mir schon gedacht, daß du neugierig sein wirst, aber viel kann ich dir noch nicht sagen, Feelein. Du mußt ihn dir als einen Mann ohne Vergangenheit vorstellen mit einem Gesicht, das ihm fremd ist, auf der Suche nach seinem früheren Leben. Dabei ist er voller Zweifel, vielleicht auch Angst, wie er in diesem früheren Leben gewesen sein könnte.«

»Von wem wurde er so zugerichtet?« überlegte Fee.

»Wenn er das wüßte, wäre er schon einen großen Schritt weiter.«

»Also eine ganz geheimnisvolle Geschichte.«

»Das kann man sagen, und ich fürchte, daß ich auch nicht viel helfen kann. Wo soll man überhaupt ansetzen?«

»Wie gut spricht er deutsch?«

»Sehr gut, ich nehme an, daß er Deutscher ist.«

»Einen Dialekt? Spricht er bayerisch?«

»Nein, hochdeutsch.«

»Wie gut kennt er München oder andere deutsche Städte. Da mußt du ansetzen.«

»Ich glaube, du könntest das besser machen als ich.«

»Nein, das geht nicht, vielleicht ist eine Frau an seinem Unglück schuld, dann würde er sofort auf Abwehr schalten.«

»An was du schon alles denkst. Du kannst mir sehr helfen.«

»Du machst das schon. Betrachte es als Frage- und Antwortspiel. Du siehst dann, wie er reagiert, ob er die Antwort sucht, oder ob er solche Fragen vermeiden will. Röttgen wird schon gewußt haben, warum er ihn zu dir schickte. Er ist doch mehr ein Pragmatiker. Ihm fehlt sicher die Intuition.«

»Er ist Chirurg und Neurologe und sieht doch einen Fall rein wissenschaftlich, aber er scheint ein Meisterstück vollbracht zu haben mit der Wiederherstellung dieses Mannes.«

»Du mußt unbedingt mit Röttgen sprechen und ihn auch fragen, in welchem Zustand der Patient war, als man ihn fand.«

»Eicken hat einen ausführlichen Bericht mitgebracht, aber Röttgen möchte, daß ich mir selbst ein Bild mache, ohne durch seine Diagnose beeinflußt zu werden. Er hat recht. Man neigt dazu, manches zu übersehen und zu überhören, wenn man sich aus einem Bericht von einem kompetenten Arzt eine Vorstellung gemacht hat. So erging es mir jedenfalls bei Esther Tomaso. In ihrem Fall komme ich zu ganz neuen Erkenntnissen.«

»Wieso, worum geht es da?« fragte Fee interessiert.

»Sie ist siebenundzwanzig Jahre, körperlich fit und organisch gesund, aber der Labortest sagt aus, daß eine Arthritis urica vorliegt. Äußerlich hat sie nicht die geringsten Anzeichen von Gicht, aber die nächtlichen, oft unerträglichen Schmerzen könnten dafür sprechen, weil sie in Schüben auftreten.«

»Rheumaanfälle? Sie ist doch Profi-Tennisspielerin, wie kommt sie mit solchen Schmerzen zurecht?«

»Tagsüber spürt sie angeblich nichts, aber da ist sie auch ständig beschäftigt. Nachts mag sie von Ängsten geplagt werden, daß ihre Karriere frühzeitig zu Ende ist. Wir wissen, welche Rolle die Psyche bei Gelenkerkrankungen spielt. Sie ist ein Energiebündel, hatte viele Verletzungen, besonders im rechten Arm. Sie braucht einen guten Orthopäden.«

Wenn du die richtige Diagnose stellst, kann ein Physiotherapeut und eine fachmännische Massage mehr ausrichten.«

Daniel schwieg nachdenklich. »Sie hat zuletzt in Kapstadt gespielt«, sagte er nachdenklich. »Das ist eigenartig.«

»Du meinst, daß es eine Beziehung zu Eicken geben könnte?«

»Es gibt schon seltsame Zufälle, aber Eickens Schicksal spukt mir im Kopf herum. Esther Tomaso ist viel in der Welt herumgekommen, vielleicht gibt es da eine Verbindung zu Eicken.«

»Du sagst doch, daß er ein neues Gesicht bekommen hat.«

»Aber wenn man einen Menschen sehr gut kannte, spielt oft das Gefühl eine Rolle. Was kann man an einem Menschen nicht verändern, Fee?«

Sie dachte angestrengt nach. »Die Augen«, erwiderte sie, »sonst kann man wohl alles verändern, aber die Augenfarbe bleibt.«

»Sofern nicht andersfarbene Linsen verwendet werden. Wie ist es mit dem Mund?«

»Da käme es darauf an, wie sich die Gesichtsverletzungen ausgewirkt haben.«

»Nach meinem ersten Eindruck ist die Mundpartie natürlich, das Gesicht selbst ist streng, wirkt aber nicht kalt. Es ist Röttgen gelungen, ihm ein sehr sympathisches Gesicht zu geben, aber ob er das früher auch schon war, steht in den Sternen.«

Es herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann sagte Fee plötzlich: »Die Zähne, was weißt du über die Zähne?«

»Bisher nur, daß sie mir einwandfrei erschienen, aber Zähne lassen sich ja sehr gut korrigieren.«

»Der Kiefer in dem Alter aber nicht mehr. Wie alt ist er denn?«

»Ich würde ihn auf Mitte Dreißig schätzen, sein richtiges Alter weiß er auch nicht.«

»Und du meinst nicht, daß es ein Täuschungsmanöver sein könnte?«

»Dann wäre er der perfekteste Schauspieler, den man sich vorstellen kann, aber der Mensch, der Röttgen täuschen kann, muß erst geboren werden, und er hat ihn ja als todkrankes Bündel unter die Finger bekommen. Wenn ich ihn heute sehe, muß ich sagen, daß er eine Konstitution gehabt haben muß, die einmalig ist, bevor der Unfall geschah. Ich werde ihn mir morgen ganz genau anschauen.«

»Jetzt gib mir mal den Laborbericht.«

»Den kannst du dir doch morgen vormittag anschauen. Ich möchte es jetzt noch ein bißchen gemütlich haben und nicht über unlösbar scheinende Rätsel reden.«

Sie tranken einen guten Punsch, aber so ganz konnten sie sich nicht von den Gedanken an Lennert van Eicken befreien.

Fee fragte dann auch ganz plötzlich, wie sie denn ausgerechnet auf diesen Namen gekommen wären.

»Darüber werden wir auch noch reden«, erklärte Daniel. »Morgen vormittag kommt Esther Tomaso, nachmittags dann Eicken, das wird ein interessanter Tag.«

»Vergiß die Mahlzeiten nicht, mein Schatz, ich möchte einen gesunden Mann haben.«

»Ich bin gesund, aber diesen beiden muß dringend geholfen werden.«

Daniel nahm jeden Patienten ernst, aber problematische Fälle reizten den Mediziner schon deshalb besonders, weil er dadurch wieder dazulernen konnte. Er gehörte nicht zu denen, die sich für allwissend hielten.

Hoffentlich wird er Erfolg haben, dachte Fee, denn sie wußte, daß es ihm keine Ruhe ließ, wenn er einem Patienten nicht helfen konnte.

Sie beschäftigte sich am nächsten Tag mit den Laborberichten. Einer war gemacht worden, als sein Zustand sich stabilisierte. Da schlug es sich in den Werten nieder, wie geschwächt er war.

Was ein Mensch doch alles ertragen kann, dachte Fee, und mit welcher Akribie mußte Röttgen ihn zusammengeflickt haben, daß seine Werte sich dann so bessern konnten. Dem letzten Befund zufolge war Eicken völlig gesund, bis auf Vernarbungen, die ihm wohl zu schaffen machen konnten. Das Erstaunlichste für Fee war aber, daß er geistig völlig genesen sein sollte und so ein völlig neuer Mensch entstehen konnte.

Sie wollte ihn unbedingt kennenlernen, mit ihm sprechen, ihn beobachten, denn ein solcher Fall war auch ihr noch nicht begegnet.

Esther Tomaso interessierte sie nur insoweit, als Tennis ihr Lieblingssport war und sie gerade Esther als perfekte Spielerin bewunderte.

Vielleicht sollte sie auch mal wieder ein längeres Gespräch mit Liane Horten suchen, überlegte Fee. Sie hatten öfter bei Wohltätigkeitesveranstaltungen zusammengearbeitet. Fee war sehr gespannt, wie diese sehr reservierte Lady wohl mit dem Fremden zurechtkommen würde.

*

Für Liana Horten war es nur anfangs ein Problem gewesen, der Bitte ihres Bruders zu entsprechen und Lennart in ihrer Wohnung aufzunehmen, die ihr ureigenstes Reich war.

Es war eine wunderschöne Wohnung mit großen, hohen Räumen, mit kostbaren Antiquitäten ausgestattet, die den richtigen Rahmen für die aparte Liane Horten gaben. Sie war

fünfundvierzig, sah aber bedeutend jünger aus, obgleich sie es nicht darauf anlegte. Immer mit dezenter Eleganz gekleidet, wirkte sie allein durch ihre Ausstrahlung. Sie war seit fünf Jahren Witwe, aber sie haderte nicht mit ihrem Schicksal. Zweiundzwanzig war sie gewesen, als sie den zwanzig Jahre älteren Edmund Horten geheiratet hatte und hatte damit rechnen müssen, ihn zu überleben. Es war aber doch schmerzlich für sie gewesen, daß er schon mit sechzig Jahren starb. Sie widmete ihr Leben der Kunst und der Wohltätigkeit für andere, denen es nicht so gutging wie ihr.

Sie bereute es nicht, der Bitte ihres Bruders gefolgt zu sein, denn Lennart war ein Mensch, dessen Charakter ihrem eigenen Wesen entsprach. Sie hatte mütterliche Gefühle für ihn, obgleich sie wahrscheinlich nur fünfzehn Jahre älter war als er. Sie studierte ihn, ohne ihn als Studienobjekt zu betrachten, wie es ihr Bruder anfangs getan hatte. Sie spürte gleich, wie sehr er darunter litt, seine Identität nicht wiederfinden zu können. Sie wollte ihm so gerne helfen, aber auch ihr war es ein Rätsel, wie sie es anfangen könnte.

Er war sehr zurückhaltend und immer bemüht, ihr tägliches Leben in keiner Weise zu stören. Sie respektierten sich gegenseitig, aber es war immer etwas Besonderes für ihn, wenn sie ihn in ein Gespräch zog, so wie an diesem Vormittag, als sie ihn nach seinem Besuch bei Dr. Norden fragte.

»Wie sind Sie mit ihm verblieben, Lennart?« fragte sie.

»Er hat heute nachmittag mehr Zeit für mich. Ich denke, daß es ein gutes Gespräch wird.«

»Er ist ein ausgezeichneter Arzt und hat eine ganz besonders reizende Frau und Kinderschar. Es ist in der heutigen Zeit sehr selten geworden, eine so intakte Familie zu kennen.«

»Der Professor hat mir auch von der Insel der Hoffnung erzählt. Waren Sie schon einmal dort?«

»Ja, vor einigen Jahren mit meinem Mann. Leider war er schon zu krank, als daß ihm geholfen werden konnte, aber er hat dort seinen inneren Frieden gefunden.«

»Wußte er, daß er nicht mehr gesund werden wird?« fragte Lennart stockend.

»Er hat es wohl geahnt, aber er wollte gern leben. Da befindet man sich wohl in einem Zwiespalt.«

Lennart blickte zu Boden. »Ich war anscheinend schon tot, als sich der Professor mit mir befaßte. Ich habe nichts empfunden, nicht den geringsten Schmerz. Es ist eigenartig, darüber nachzudenken, sich immer wieder zu fragen, wer war ich eigentlich? Und dann Angst zu haben, daß man etwas Schlimmes getan haben könnte.«

»Sie haben nichts Schlimmes getan«, sagte Liana mit fester Stimme.

»Es wäre schön, wenn es sich beweisen ließe.«

»Es muß doch wenigstens einen Menschen geben, der Sie vermißt«, sagte Liane nach ein paar Sekunden gedankenverloren.

»Jedenfalls nicht in Südafrika, denn da hat der Professor alles versucht, jemanden zu finden, und wo sollte man sonst suchen, wenn man nicht den kleinsten Hinweis hat.«

»Waren Sie gar nicht bekleidet?«

»Nur mit einem früher mal weißen zerfetzten Short.«

»Und Thilo hat vermutet, daß Sie ins Wasser geworfen wurden von einer Yacht oder einem Segelboot.«

»Aber dafür gibt es auch keinen Beweis. Irgendwie war es wohl ein Wunder, daß ich an diesem einsamen Strand gefunden wurde. Ich frage mich oft, warum ich überlebt habe.«

»Weil Ihnen anscheinend noch eine Aufgabe zugedacht ist. Ihre Lebensuhr war nicht abgelaufen, was ein Beweis ist, daß unser aller Leben von einer höheren Macht bestimmt wird.«

*

Esther Tomaso hatte Dr. Norden sehr aufmerksam zugehört, was er ihr anhand der Röntgenaufnahmen erklärte. Manchmal hatte sie genickt, aber nichts gesagt.

»Können Sie bestätigen, was ich Ihnen erklärt habe, Frau Tomaso?« fragte er.

»Gewiß hatte ich mehrmals solche Verletzungen, aber so ernst habe ich das nicht genommen. Sagen Sie jetzt aber ja nicht, daß ich nicht mehr spielen darf.«

»Verbieten kann ich es Ihnen nicht, aber Sie können niemand einen Vorwurf machen, wenn Ihre Beschwerden immer schlimmer werden. Und je mehr Schmerztabletten Sie schlucken, desto mehr wird es Ihr Magen und schließlich auch die Leber spüren. Ich muß Ihnen das zur Warnung sagen.«

»Aber organisch bin ich doch gesund, das haben Sie auch gesagt.«

»Bisher noch, aber in ein paar Jahren sieht es anders aus, wenn Sie so weitermachen. Dann wird auch das Herz protestieren.«

»Tennis ist mein Leben, ich habe nichts anderes«, sagte sie heiser.

»Vielleicht haben Sie nichts anderes, weil Sie Tennis zu Ihrem Leben gemacht haben. Hatten Sie nicht voriges Jahr einen Partner, mit dem Sie öfter gesehen wurden?«

»Er war Ingenieur, und seine Stellung war ihm wichtig. Er konnte mich nicht begleiten, und andererseits gefiel es ihm nicht, daß ich ständig unterwegs war. Er hat inzwischen eine andere.« Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

»Wollen Sie riskieren, daß es Ihnen öfter so geht?«

Sie lachte auf. »Ich brauche keinen Mann, ich kann für mich selber sorgen.«

»Und wenn Sie dann tatsächlich nicht mehr spielen können, was würden Sie dann machen?«

Ihre Lider senkten sich. »Daran denke ich noch lange nicht.« Das klang trotzig. Er ersparte sich eine weitere Warnung.

»Dann sollten Sie wenigstens zu einem guten Physiologen gehen, der Ihre Schwachpunkte richtig behandelt. Wenigstens das sollten Sie ernst nehmen.«

»Nennen Sie mir einen, ich werde folgsam sein.«

»Karlheinz Hess, Hochwaldstraße. Die Telefonnummer sucht Ihnen Wendy heraus.«

»Ist das Ihr letztes Wort, Dr. Norden?« fragte sie.

»Mein allerletztes. Wenn Sie sich nicht helfen lassen wollen, gebe ich es auf. Ich weiß nicht, wie Sie mit Niederlagen zurechtkommen.«

»Nun malen Sie mal nicht gleich ganz schwarz.« Aber ganz sicher klang ihre Stimme nicht mehr, und er sah, wie sie plötzlich schmerzhaft zusammenzuckte und jäh nach ihrem Arm faßte. Er sagte nicht, daß er es bemerkt hatte.

»Dann werde ich mal sehen, was der Herr Hess ausrichten kann. Schreiben Sie ihm auf, worum es geht.«

*

»Sie gehört wohl zu den Unbelehrbaren«, meinte Wendy, als Esther gegangen war.

»Sie muß noch lernen, mit Niederlagen fertig zu werden, es wird nicht mehr lange dauern«, meinte Daniel Norden. »Heute nachmittag können Sie bummeln gehen, Wendy. Ich habe einen Termin mit Eicken verabredet.«

»Dem würden wir wohl gar zu gern helfen«, sagte sie, »aber was können wir da tun?«

»Haben Sie keine Idee, Wendy?«

»Wie wäre es mit einem Hellseher oder Chiromanten?«

»Glauben Sie, daß man aus den Handlinien wirklich etwas sehen kann?«

»Aber gewiß. Es gibt schon Leute, die etwas davon verstehen. Sprechen Sie mal mit Anouk, die kommt von einem anderen Stern.«

»Machen Sie nicht solche Scherze. Sie ist eine sehr gute Psychotherapeutin.«

»Das bestreite ich gar nicht, aber mir kommt sie vor wie ein höheres Wesen, allein wie sie einen anschaut, als könne sie das Innerste ergründen.«

Darin mußte er Wendy allerdings recht geben. Als er Anouk Maurus kennengelernt hatte, hatte er auch gedacht, daß sie etwas ganz Besonderes sei, als könne sie in die Menschen hineinschauen und ihre Gedanken erraten. Als das Telefon läutete und Anouk sich meldete, wunderte es ihn gar nicht. Sie fragte, ob er heute noch Zeit für sie hätte.

»Wenn Sie vierzehn Uhr dreißig hier sein können? Anschließend habe ich einen wichtigen Patienten.«

»Ich werde pünktlich sein«, erwiderte sie, »vielen Dank, Daniel.«

»Sie hat es mal wieder im Gespür, daß Sie sie brauchen«, murmelte Wendy. »Ich würde aber gern wissen, was sich daraus ergibt.«

*

Fee erfuhr nichts von Anouks Besuch. Davon wollte er ihr erst später erzählen. Man konnte nicht sagen, daß Fee eifersüchtig auf Anouk war, aber Fee hatte eine ganz besondere Einstellung zu dieser ungewöhnlichen jungen Frau, die mit unüblichen Methoden große Erfolge erzielte, die auch ihre Bewunderung erregte.

Da sie an diesem Tag wegen der Zwillinge in den Kindergarten gehen mußte, fiel es ihr nicht so auf, daß Daniel noch früher als geplant das Haus verließ. Sie hatte ihm nicht sagen wollen, daß die Zwillinge mal wieder mit ihrem Eigensinn einigen Ärger verursacht hatten. Sie waren jetzt in einem Alter, in dem es ans Kräftemessen ging, und das ging bei anderen Kindern nicht ohne Tränen ab.«

Während Fee das nicht so eng sah, nahmen andere Mütter es sehr persönlich.

Jan und Des hatten ihr in gewohnter Übereinstimmung gesagt, daß ein paar Kinder einfach nur dumm wären und gleich heulen würden, wenn sie hinfielen oder sich sonst mal weh täten und sie würden es immer auf andere schieben.

Die Zwillinge sagten die Wahrheit, davon war Fee überzeugt, aber sie wollte es genau wissen, da die Kindergärtnerin sie um ihr Kommen gebeten hatte.

Zwei andere Mütter waren schon dort. Fee kannte sie nicht, aber sie konnte sich auch nicht erinnern, jemals von anderen Müttern mit so giftigen Blicken bedacht worden zu sein. Von Frau Pröll, der Leiterin, wurde sie höflich begrüßt und dann als Frau Dr. Norden vorgestellt.

Die beiden anderen noch jungen Frauen schienen befreundet zu sein. Sie tuschelten, während Frau Pröll bereits erklärte, daß sie sich darüber beschwert hätten, daß ihre Kinder von Jan und Dési geschlagen würden.

»So stimmt das aber nicht«, sagte Frau Pröll. »Jana hatte Dési ein Bärchen weggenommen, und Dési wollte es zurückhaben. Dann hat sich Jan eingemischt, um seiner Schwester beizustehen und Marco hat ihn geboxt. Zu Boden hat ihn Jan nicht gestoßen, sondern nur weggeschubst.«

Frau Kaufmann, die Mutter von Jana, sagte zornig, daß beide Kinder blaue Flecken hätten.

»Meine haben auch welche, aber das sollte man bei Kindern gewöhnt sein«, warf Fee gelassen ein. »Man braucht doch wegen eines Streites unter Kindern nicht gleich einen wirklichen Streit zu entfachen. Ich habe noch drei größere Kinder und schon einiges mitgemacht, auch als Ärztin. Sie haben wahrscheinlich nur ein Kind und sind noch gewöhnungsbedürftig.«

»Wir zahlen doch nicht soviel Geld, damit unsere Kinder in schlechte Gesellschaft geraten«, ereiferte sich Frau Kaufmann.

»Wir wollen mal die Kirche im Dorf lassen«, sagte Frau Pröll. »Wer hat denn angefangen? Das war Jana, als sie Dési ihr Bärchen wegnahm, der ihr persönliches Eigentum ist, und Kinder neigen dazu, ihr Eigentum zu verteidigen.«

»Dési liebt ihr Bärchen, weil sie das von ihrer größeren Schwester bekommen hat. Sie hat es seit ihrer Geburt und nimmt es überallhin mit«, sagte Fee, um einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. Aber damit erreichte sie nichts, denn Frau Kaufmann regte sich noch mehr auf.

»Meine Tochter hat es nicht nötig, auf einen alten Bären scharf zu sein, sie hat genügend Spielsachen, mehr als genug.«

»Aber anscheinend kein Spielzeug, das sie besonders liebt«, sagte Fee nachsichtig, »sonst würde sie es auch mit in den Kindergarten nehmen. Aber was ist denn eigentlich schon passiert, daß Sie sich so aufregen?«

»Ihre Kinder haben zu unseren gesagt, daß sie blöd sind, das brauchen wir uns nicht bieten zu lassen.«

»Dann entschuldige ich mich für diese Bemerkung«, meinte Fee lächelnd.

»Wir denken aber, daß Sie Ihre Kinder lieber zu Hause behalten sollten.«

»Dazu habe ich aber auch noch etwas zu sagen«, erklärte Frau Pröll. »Es ist vor allem Jana, die immer Streit beginnt und nicht nur mit Dési und Jan. Sie schreit wie am Spieß, wenn sie nur ein bißchen angestoßen wird, wenn es auch unabsichtlich ist. Mit Frau Dr. Norden kann man reden, aber mit Ihnen anscheinend nicht, Frau Kaufmann, und deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen, Jana zu Hause zu behalten. Sie ist die Unruhestifterin, seit sie hier ist. Dabei ist sie die Älteste und sollte auch entsprechend vernünftig sein. Können Sie erklären, warum sie Dési das Bärchen weggenommen hat?«

»Wie kann man deshalb nur so ein Theater machen, das ist doch albern!«

»Aber Sie haben doch darauf bestanden, daß das mit allen Beteiligten geklärt wird. Sie haben aus der Mücke einen Elefanten gemacht.«

»Wahrscheinlich haben Sie zuviel Zeit, ich habe sie nicht«, sagte nun auch Fee. »Ich rede mit meinen Kindern darüber und wenn sie im Unrecht sind, sage ich Ihnen das. Kinder müssen viel lernen, und es ist gut, wenn man beizeiten damit anfängt, ihnen auch zu sagen, was sie nicht tun sollten. Eine weitere Diskussion scheint mir nicht angebracht zu sein. Guten Tag.«

Fee reichte Frau Pröll die Hand, sie tauschten einen vielsagenden Blick und Fee ging. Später dachte sie, daß es doch etwas Gutes mit sich brachte, daß sie um diese Zeit unterwegs war, denn sie traf im Feinkostgeschäft Liane Horten, die sich genauso wie sie über diesen Zufall freute. Natürlich nutzte Fee nun die günstige Gelegenheit, gleich ein Gespräch zu beginnen und es auf Lennart van Eicken zu lenken.

*

Inzwischen war Anouk Maurus schon in ein sehr ernstes Gespräch mit Dr. Norden vertieft.

»Sie sind der einzige Mensch, mit dem ich offen über das sprechen kann, was mich so sehr beschäftigt«, sagte sie gedankenverloren. Daniel gewann den Eindruck, daß sie sich wieder in einer visionären Welt befand und so war es auch.

»Sie wissen von meinen Träumen und meinen Visionen, Daniel, und meistens werde ich selbst ganz gut damit fertig, aber seit ein paar Tagen spielen Sie darin eine so beträchtliche Rolle, daß ich die anderen Bilder nicht zuordnen kann. Ich dachte, daß Sie mir vielleicht die Lösung des Rätsels verraten können.«

»Mit einem Rätsel kann ich aufwarten, mit der Lösung jedoch nicht. Erzählen Sie mir von den Visionen.«

»Es sind so unklare Bilder, die mir sagen, daß ich den Menschen noch nicht begegnet bin, nur Sie sind deutlich erkennbar. Sie scheinen mit diesen Menschen zu tun zu haben, und das könnte Gefahr für Sie bedeuten. Deshalb wollte ich Sie sprechen. Sie mögen es für übertrieben halten, aber ich möchte Sie warnen. Es geht um Sie und einen Mann, der in größter Gefahr ist.«

»Oder war?« fragte Daniel.

Anouk sah ihn verwirrt an. »Sie denken an einen bestimmten Mann, Daniel?«

»Ja, an einen ganz bestimmten Mann und ich wollte mit Ihnen über diesen Mann sprechen. Ich wollte Sie bitten, sich mit ihm zu befassen als Therapeutin. Deshalb möchte ich auch nichts weiter über ihn sagen. Sie sollen ganz unbefangen auf ihn eingehen. Ich weiß, wie wichtig das für Sie ist. Vielleicht können Sie seine Persönlichkeit ergründen, durch Hypnose, Handliniendeutung oder durch Ihren sechsten Sinn.«

»Wenn Sie bereits daran dachten, erklärt es mir, warum ich diese intensiven Visionen hatte, in denen sich alles um Sie drehte.«

»Sie haben mir früher schon ein paar Mal sehr geholfen, Anouk. Ich bin froh, daß Sie wieder nach München zurückgekehrt sind.«

»Dieses München muß doch eine ganz besondere Anziehungskraft für mich haben«, sagte sie mit einem rätselhaften aber auch bezaubernden Lächeln. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich denke, ein Mann wird gleich hier erscheinen, also werde ich jetzt lieber gehen.«

»Sie verstehen es immer wieder, mich in grenzenloses Erstaunen zu versetzen, Anouk.«

»Ich überrasche mich selbst, wenn eintrifft, was ich gerade dachte.« Und schon schlug der Türgong an.

Daniel ging zur Tür, Anouk folgte ihm, und eine Sekunde später stand sie Lennart gegenüber. Daniel beobachtete sie. Es war schade, daß er nicht beide gleichzeitig so genau beobachten konnte, denn Lennarts Gesicht war auch ein einziges Fragezeichen.

»Lennart van Eicken – Anouk Maurus«, stellte Daniel die beiden vor. Während es Lennart anscheinend restlos die Sprache verschlagen hatte, sagte Anouk mit einem seltsamen Ausdruck: »Wir werden uns sicher bald sehen. Danke für das Gespräch, Daniel.«

Sie nickte Lennart leicht zu, schenkte Daniel noch ein Lächeln, das bedeutungsvoll war und verschwand.

»Sie ist Psychotherapeutin«, erklärte Daniel beiläufig.

»Aber noch sehr jung«, meinte Lennart.

»Dennoch überaus befähigt, selbst problematische Fälle zu behandeln, vielleicht auch Sie?«

»Wer sollte da Licht hineinbringen«, erwiderte Lennart tonlos.

»Wir werden sehen. Nehmen Sie Platz, und entspannen Sie sich. Versuchen Sie, ein paar Minuten gar nichts zu denken, einfach nur abzuschalten.«

Lennart lehnte sich mit geschlossenen Augen in den bequemen Ledersessel zurück.

Daniel betrachtete ihn.

Die Kopfform kann man auch nicht völlig verändern, dachte er, also wird er auch früher eine hohe Stirn gehabt haben. Die Nase, ja, die konnte man operieren, das taten viele, die eine schmalere, kleinere oder größere haben wollten, Falten konnte man beseitigen, Lippen voller machen, Ohren anliegender. Lennart hatte schmale Lippen und eine gerade Nase und enganliegende Ohren. Die Augen waren groß und standen ziemlich weit auseinander.

»Glauben Sie an Gott, Lennart?« fragte Daniel. Da schlug der andere fast erschrocken die Augen auf.

Er nickte zustimmend, und Daniel fragte, welcher Religion er sich am meisten verbunden fühle.

»Ich habe mich während des langen Krankenlagers mit dem Buddhismus befaßt, mit dem ich wohl am ehesten vereinbar bin, da ich mich als wiedergeboren betrachten kann und mein früheres Karma ein anderes gewesen sein könnte als mein jetziges. Ich muß mich doch damit auseinandersetzen, daß ich zwei Gesichter habe und zwei Leben.«

»Wie möchten Sie sein, Lennart? Ein Idealist, Materialist, ein künstlerischer oder technischer Mensch?«

»Von jedem etwas vielleicht. Ich bin nicht sicher, sondern auf der Suche nach meinem Ich.«

»Ich werde Ihnen jetzt Städte nennen, und Sie sagen mir, welches markante Bauwerk dorthin gehört oder welche Besonderheiten Sie diesen Städten zuordnen. Fangen wir mit Paris an.«

»Notre-Dame, Louvre, die Seine, der Eiffelturm, Sacre Coeur, Champs Elysées.«

»Sehr gut, Sie scheinen Paris zu kennen.«

»Tatsächlich, ich weiß sehr viel von der Stadt und ihrer Umgebung.«

»Parlez vous français?«

»Oui, Monsieur Docteur.« Er griff sich an die Stirn. »Ich weiß nicht, wieviel ich behalten habe. Englisch spreche ich ziemlich perfekt, das hat Thilo schon festgestellt.«

»Und Deutsch sprechen Sie auch sehr gut, aber ohne jeden Dialekt. Wenn Sie hier geboren sind, weiß ich nicht, welchem Landesteil man Sie zuordnen könnte.«

»Ich glaube nicht, daß ich hier geboren bin. Ich kann es nicht erklären, aber irgendwie habe ich es im Gefühl.«

»Italien, Rom?«

»Petersdom, Vatikan. Mailand, Verona, Florenz. Ich habe keine Erinnerung, dort gewesen zu sein.«

»Hamburg?«

»Der Hafen, die Alster, der Michel, Reeperbahn, Blankenese, Schulau – stimmt das?«

»Sehr gut, und wie ist es mit Berlin?«

»In den Zeitungen steht jetzt sehr viel von der Mauer. Ich war bestimmt niemals dort. Aber wenn ich über andere Städte auch viel weiß, sind das doch

keine Beweise, daß ich dort war. Ich habe sehr viel gelesen in den Monaten nach dem Unfall. Manches könnte ich mir einbilden. Es ist doch kaum zu glauben, daß ich mich nicht an einen Menschen, einen Namen erinnern kann, aber ich lerne sehr schnell, also arbeiten meine Gehirnzellen.«

Familie Dr. Norden Classic 37 – Arztroman

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