Читать книгу Dr. Norden Bestseller 334 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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In Dr. Nordens Praxis hatte man alle Hände voll zu tun.

Über zu wenig Arbeit konnten sie sich eigentlich nie beschweren, die aufeinander eingespielt waren, Dr. Norden, Dorthe Harling und Franzi Spar, aber an manchen Tagen wurden sie so in Trab gehalten, daß man meinen konnte, es gäbe keinen anderen Arzt im Umkreis. Ausgerechnet an diesem Vormittag kamen auch noch drei neue Patienten, deren Personalien Dorthe aufnehmen mußte, was auch zusätzliche Zeit in Anspruch nahm.

Wegschicken konnte man sie nicht, wenn es eine offizielle Sprechstunde war, und es war eine junge Frau dabei, die wegen eines Zeckenbisses behandelt werden wollte und auch mußte.

Diese verflixten Zecken, dachte Dorthe, denn es war bereits der vierte Fall in dieser Woche. Es waren gefährliche kleine Biester. Parasiten, die sich in der Haut fest­saugten und die schwersten Erkrankungen und gar den Tod zur Folge haben konnten, wenn nicht schnell etwas unternommen wurde.

Es wurde gewarnt vor Zeckenbissen, aber wer ließ sich schon gern impfen dagegen, da die meisten Wanderer ja doch meinten, daß solche Gefahren nicht überall lauerten.

Die junge Patientin, Marlies Höller hieß sie, hatte jedenfalls erst am Morgen Angst bekommen, als sie im Autoradio hörte, wie ein Arzt vor Zeckenbissen warnte und die Folgen fast dramatisch schilderte.

Sie war ein reizendes junges Mädchen, aber nun schrecklich aufgeregt, so daß Dieter Sommer, auch ein neuer Patient, beruhigend auf sie einredete.

Dann war da noch eine Sally Kirk gekommen, Mitte zwanzig, sehr blaß und fast männlich wirkend in dem Jeansanzug und den kurzen blonden Haaren.

Von Dorthe nach ihren Beschwerden gefragt, erwiderte sie in gebrochenem Deutsch, daß sie unter schweren Kreislaufstörungen leide.

Dorthe, medizinisch sehr erfahren, denn sie hatte früher mal Medizin studiert, tippte eher auf drogensüchtig, als sie der Neuen forschend in die Augen blickte. Sie konnte es auch nicht verhindern, daß sich in ihr eine warnende Stimme meldete. Freilich hatte sie dafür keine Erklärung, und diese Sally Kirk sagte dann auch noch, daß es ihr nichts ausmachen würde zu warten.

Im Wartezimmer saßen acht Patienten, als Dr. Norden Marlies Höller untersuchte, die jetzt nicht mehr so aufgeregt war. Dieter Sommer hatte zu ihr gesagt, daß er auf sie warten würde. Anscheinend, mit einem Schmunzeln hatte Dorthe das festgestellt, hatten sie sich sehr schnell angefreundet, während Dr. Norden zwei Patienten, die zur Arbeit mußten, ihre Spritzen verabreicht hatte.

Dr. Daniel Norden ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Langjährige Erfahrung hatte es ihn gelehrt, daß an solchen Tagen alles drunter und drüber gehen konnte, und da mußte man die Nerven behalten. Er ahnte jedoch nicht, wie sehr gerade an diesem Tag seine Nerven auf eine ganz harte Probe gestellt werden würden.

*

Fee Norden wartete auf ihre Schulkinder, die nur die Zeugnisse in Empfang zu nehmen brauchten an diesem heißen Julitag. Die großen Ferien standen vor der Tür, und sie waren wegen der anhaltenden Hitze noch einen Tag vorverlegt worden. Die Zwillinge Jan und Désiree, die Dési oder Jolly gerufen wurden, weil ihre drei größeren Geschwister früher gesagt hatten, daß Jan und Jolly lustiger klingen würde, plantschten im Garten in ihrem Kinderbecken, allerdings auch dort bewacht von Lenni, die sich sehr aufgeregt hatte, als kürzlich in der Nachbarschaft ein kleiner Junge im Swimmingpool ertrunken war.

Fee Norden beschäftigte sich wieder mit ihren Urlaubsplänen. Bisher hatte sie Daniel dafür noch nicht erwärmen können, denn er meinte, daß sie doch gerade erst Urlaub in Frankreich gemacht hätten. Das war in den Pfingstferien gewesen, und da hatten sie auch ein aufregendes Erlebnis gehabt. So meinte Daniel Norden, daß es ihnen wahrscheinlich doch nie vergönnt sein würde, mal so richtig Faulenzerferien zu machen, in denen sie wirklich durch nichts gestört würden.

Mit ihrem Vater und seiner Frau war Fee aber schon übereingekommen, daß Danny, Felix und Anneka zwei Wochen zu ihnen auf die Insel der Hoffnung kommen würden. Fee würde mit den Zwillingen zu Hause bleiben, und wenn dann auch für Daniel der Urlaub begann, wollten sie auch zur Insel fahren und von dort aus Ausflüge in die Schweiz und nach Österreich machen, und Fee hoffte, daß dann auch ein paar Tage herausspringen würden, die sie mit Daniel allein verbringen konnte. Sie trennte sich zwar ungern von den Kindern, aber sie wußte auch, wie nötig Daniel zwischendurch mal richtige Entspannung brauchte.

Die Kinder kamen heim. Ein großes Hallo gab es nicht. Die Zeugnisse waren zwar gut, gut durchwachsen, wie Fee meinte, aber zufrieden war nur Felix, der ein gesundes Phlegma besaß, was die einzelnen Fächer anging, die ihm nicht sonderlich lagen. Anneka beschwerte sich, daß sie in Deutsch eine Zwei bekommen hatte, Danny war wütend über die Zwei im Turnen und in Musik. In Musik hatte Felix eine Eins, die hätte er lieber in Mathematik gehabt. So wurde eine Weile debattiert, aber dann läutete es Sturm an der Haustür. Es war die Nachbarin Käthe Meixner, eine nette ältere Dame. Sie war ganz außer sich vor Aufregung, und Fee fürchtete schon, daß sie eine schlechte Nachricht von ihren Kindern, die in den Urlaub nach Afrika geflogen waren, bekommen hätte, aber dann stöhnte sie die Schreckensbotschaft heraus.

»Die Bank ist überfallen worden, die neben dem Haus, wo die Praxis von Ihrem Mann ist, und sie haben gesagt, daß die Räuber in dieses Haus geflüchtet sind.«

Fee wurde blaß. Die Kinder standen hinter ihr, und Anneka drückte sich gleich an ihre Seite.

»Ruf gleich den Papi an, damit er Bescheid weiß«, flüsterte sie ängstlich.

Fee nickte mechanisch, aber sie dachte, daß Daniel es wohl schon wissen würde, wenn das stimmte, was Frau Meixner gesagt hatte.

Sie wählte die Nummer, sie ließ es läuten, aber es meldete sich niemand, und dann herrschte auch in der Leitung plötzlich Totenstille. Ihr Herzschlag setzte momentan aus, doch dann riß sie sich zusammen. Sie durfte den Kindern ihre Angst nicht zeigen.

»Papi wird jetzt zu tun haben«, sagte sie. Doch die Angst griff um sich, ging auf die Kinder über. Die Zwillinge wurden ins Haus geholt, Lenni wurde kurz informiert, und dann lauschten sie alle auf Meldungen aus dem Radio, aber es kam noch keine.

Und so hatte es in der Bank begonnen. Frau Meixner hatte Geld abgehoben, und noch drei Kunden waren in der Bank gewesen, die eine kleinere Zweigstelle war mit drei Schaltern, der Kasse und dem Büro, in der der Zweigstellenleiter mit zwei Angestellten eine Besprechung hatte.

Frau Meixner hatte dann gesehen, wie ein junger schlanker Mann die Bank betrat und in der Vorhalle vor dem Kontoauszugsdrucker stehen blieb. Sie hatte noch in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel gesucht und gefürchtet, sie hätte ihn wieder mal gedankenlos liegenlassen, aber dann hatte sie ihn doch herausgekramt, und dann ging sie zu ihrem Wagen, der vor einer Boutique stand. Da betrachtete sie erst noch die Schaufenster, und dann plötzlich hörte sie einen Schrei.

Eine junge Frau schrie: »Die Bank, da läuft der Räuber!«

Und alles überstürzte sich, aber Frau Meixner sah, wie der junge Mann, der etwas Dunkles über den Kopf gezogen hatte, in der Tiefgarage verschwand, die zu dem Haus gehörte, in dem sich auch Dr. Nordens Praxis befand, ein Haus, in dem es keine Privatwohnungen mehr gab.

Frau Meixner kannte Dr. Norden, die ganze Familie, weil sie ja nur ein paar Häuser von ihnen entfernt wohnte, und außerdem war sie Patientin von Dr. Norden.

Frau Meixner stand wie erstarrt, aber sie beobachtete mehr als andere. Sie sah, wie ein Auto vor der Tiefgarage hielt, aber nicht hineinfuhr, aber dann vernahm sie schon das Martinshorn der Funkstreife, und zwei Wagen kamen angebraust, aber der Wagen, der vor der Tiefgarage gehalten hatte, fuhr dann schnell davon.

Da kam plötzlich Angst auf in Frau Meixner, und sie fuhr mit ihrem Wagen heim. Unterwegs überstürzten sich ihre Gedanken, und daher kam dann auch die spontane Reaktion, zuerst Frau Norden zu sagen, was sie erlebt und gesehen hatte.

Später konnte sie, wieder ruhig geworden, den Polizeibeamten alles genau schildern, was sie zu diesem Überfall sagen konnte.

In der Bank war es so weitergegangen, daß der schlanke junge Mann eine Strumpfmaske über den Kopf gezogen hatte, mit einem Revolver die noch anwesenden Kunden bedrohte und Geld forderte. Der Kassierer, vierzig Jahre alt, verheiratet und Vater von drei Kindern, hatte Anweisung, Geld herauszugeben, wenn Gefahr für andere bestand.

Er raffte das Geld zusammen, und als er Zeit gewinnen wollte, gab der Räuber einen Schuß ab, der die Schalterbeamtin an der Schulter traf. Die Kunden hatten sich auf den Boden legen müssen, und es war verständlich, daß ihre Angst jetzt noch größer wurde. Geistesgegenwärtig und so, als wäre sie schwerverletzt worden, hatte Rita Drexler, die Getroffene, sich zu Boden fallen lassen. Dadurch mochte sie den Räuber zusätzlich irritiert haben, aber ihr gelang es, den Alarmknopf zu drücken, während er nun das Geld zusammenraffte und flüchtete, während er noch zwei Schüsse, die ungezielt waren, abgab.

Kurze Zeit später vernahm man auch in Dr. Nordens Praxis das Martinshorn. Die neue Patientin Sally Kirk stand am Fenster des Sprechzimmers und starrte auf die Straße.

Marlies Höller lag im Labor und bekam Blut abgenommen. Sie sollte auf jeden Fall gründlichst untersucht werden, da Dr. Norden eine schon beträchtliche Entzündung um den Zeckenbiß herum festgestellt hatte, obwohl Marlies gesagt hatte, daß sie das blöde Tier abgestreift hatte. Dr. Norden hatte sie aufgeklärt, daß dies nichts nutze, wenn sich der Kopf der Zecke bereits festgesaugt hätte.

Dieter Sommer hatte durch Franzi bestellen lassen, daß er im Café Fenstergucker auf Marlies warten würde, und so was richtete man gern aus. In der Praxis von Dr. Norden waren schon manchmal herzliche Freundschaften entstanden, und dreimal hatten Bekanntschaften auch zur Heirat geführt.

Daß sich aber ein Bankräuber in die Praxis flüchtete, geschah zum ersten Mal, und Dorthe hatte völlig arglos und unbefangen auf den Türöffner gedrückt, als der Türgong ertönte.

Im gleichen Augenblick stand auch Sally Kirk in der Tür des Sprechzimmers, und sie hatte auch so einen Revolver in der Hand wie der junge Mann, der durch die Tür eingetreten war.

»Ruhe bewahren, sonst schießen wir«, sagte Sally Kirk. »Hier ist doch auch noch was zu holen.«

Dorthe mahnte sich zur Ruhe. »Ein paar hundert Euro«, sagte sie. »Bei uns läuft alles über Konto.« Ihre Stimme klirrte. Sie sprach laut. Sie hatte die Sprechanlage zu Dr. Nordens Sprechzimmer eingeschaltet, ohne daß es bemerkt worden war. Dr. Norden konnte also hören, was sie sagte. Und auch sein Patient, Gustav Conrad, hörte es.

»Da scheint sich etwas zu tun, womit nicht zu rechnen war«, sagte er. Zufällig war er Privatdetektiv und konnte sofort kombinieren. »Jetzt heißt es nur Ruhe bewahren, Dr. Norden.«

»Meine Patienten, Dorthe und Franzi dazu, ich kann doch nicht einfach abwarten«, sagte Daniel Norden heiser.

»Sie könnten aber alles nur schlimmer machen. Eine Waffe haben Sie wohl nicht?«

»Nein, wozu auch?«

»Das Telefon, Notruf, lassen Sie mich das machen.«

Aber Gustav Conrad konnte nichts erreichen. Die Leitung war bereits tot.

Dann stand Sally Kirk schon im Rahmen, mit der Waffe in der Hand.

»Ganz ruhig verhalten«, sagte sie, »sonst kracht es.«

Wo habe ich diese Stimme schon mal gehört? ging es Daniel Norden blitzschnell durch den Sinn.

Wo habe ich diese Frau schon mal gesehen, aber bestimmt nicht so, wie sie jetzt aussieht. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft, aber er blickte auch auf die Waffe.

»Sie werden jetzt Ihrer Frau sagen, daß sie eine Million beschaffen soll, Dr. Norden«, sagte Sally, »oder Sie sprechen gleich mit Ihrem Bankdirektor. Eine Million in Hundertern.«

Daniel sah, wie ihm Gustav Conrad zuzwinkerte. Und der drehte sich jetzt um.

»Ich könnte die Million schon beschaffen, wenn Sie etwas Geduld haben«, sagte er.

»Wir haben Zeit«, sagte sie zynisch.

Profis sind das wenigstens nicht, dachte Daniel Norden, doch da vernahm er einen Schuß und schrak zusammen.

Aber auch diese Fremde, die sich Sally Kirk nannte, schien erschrocken.

»Was ist los, Mike?« rief sie, mit der Pistole herumfuchtelnd. Vielleicht hätten die beiden Männer sie überwältigen können, aber sie waren zu überlegt. Sie wollten keine anderen in Gefahr bringen, aber wie es schien, dachte der andere nicht so.

Dorthe wurde durch die Tür geschoben. Sie blutete stark oberhalb der rechten Brust. Sie taumelte, hielt sich aber bewundernswert tapfer.

»Wildwest in der Arztpraxis«, murmelte sie, »der Bursche ist high.«

Sally Kirk hatte das wohl nicht gehört, oder sie war durch das Blut irritiert.

»Du paßt auf die drei auf, ich halte die Leute im Wartezimmer in Schach«, sagte der Mann. »Telefonieren können sie nicht. Und Norden wird nicht riskieren, daß ich seine Patienten umlege.«

»Das werde ich bestimmt nicht«, sagte Daniel, »aber vielleicht sagen Sie mir, warum Sie ausgerechnet mich ausgesucht haben. Ich bin nicht reich.«

Er hatte noch keine Ahnung, was vorher geschehen war, denn die Funkstreifen fuhren hier oft genug mit Martinshorn vorbei. Dorthe hatte schon eher eine Ahnung, daß da vorher schon was gewesen sein mußte, aber sie hatte schon so viel Blut verloren, daß sich alles um sie drehte.

Dr. Norden leistete Erste Hilfe und wurde daran auch nicht gehindert. Sally schien Blut tatsächlich nicht sehen zu können. »Wenn Sie auf uns hören, passiert nichts«, murmelte sie.

»Das hier langt mir schon«, sagte Daniel zornig. »Denken Sie daran, daß auf Mord lebenslänglich steht.«

Sie duckte sich. »Die wird doch nicht gleich sterben.«

»Es kann möglich sein«, übertrieb er, »wenn ich sie nicht richtig versorgen kann, aber sie müßte in die Klinik.«

Er merkte schon, daß sie nervös wurde. »Mach bloß nicht mehr solchen Blödsinn, Mike«, schrie sie, »damit erreichst du nichts!«

Aber immerhin erreichten sie, daß sich niemand nach draußen verständigen konnte. Noch nicht. An Franzi aber dachte nur Dr. Norden.

Sie hatte sich geistesgegenwärtig verhalten. Sie war mit Marlies Höller im Labor, das am Ende des langen Ganges lag, und als der Schuß fiel, hatte sie die Tür verschlossen.

Sie hatte schon gemerkt, daß da etwas vor sich ging, aber sie hatte sich nicht auf die Stimmen konzentriert gehabt.

»Verhalten Sie sich ruhig«, sagte sie zu der Patientin. »Ich werde jetzt telefonieren.«

Marlies dachte mehr an ihren Zeckenbiß als an andere Gefahren, und auch an den netten Dieter Sommer dachte sie. Durch die Spritzen war es ihr auch ein bißchen schwummerig, an einen Überfall dachte sie überhaupt nicht. Dr. Nordens Praxis war auch sehr weitläufig, und darauf baute Franzi. Aber als sie dann auch merken mußte, daß die Telefonleitung tot war, wurde es ihr doch anders. Sie trat ans Fenster. Es ging zur Hofseite hinaus, und da parkten auch meist nur Autos, und Menschen hielten sich nur kurz auf. Aber zu ihrer Freude sah sie einen Polizeibeamten.

Sie öffnete das Fenster und warf ein leeres Fläschchen hinunter, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und tatsächlich hatte sie ziemlich genau gezielt.

Er blickte hinauf, und sie winkte. Dann schrieb sie rasch etwas auf einen Zettel, knüllte ihn zusammen und warf ihn auch aus dem Fenster, doch der Wind trug ihn weiter. Aber der Beamte lief dem Papierknäuel nach und konnte es auch auffangen.

Er las: Hilfe – Überfall! blickte hinauf zu Franzi und nickte.

Sie sah, wie er sich entfernte und schloß das Fenster.

»Ganz ruhig sein«, sagte sie zu Marlies. »Haben Sie Angst?«

»Momentan nur wegen der Zecken«, murmelte Marlies, obwohl es ihr auch nicht mehr geheuer war, denn man hörte auch hier ein lautes Schreien. »Ich will raus hier, ich will zu meinen Kindern.« Und dann fiel wieder ein Schuß.

Für Daniel Norden waren das schreckliche Minuten, die zur Ewigkeit wurden, aber er nahm alle Energie zusammen und sagte zu Sally: »Ihr Kumpan scheint durchzudrehen. Sie sollten ihn warnen. Sie kommen hier auch nicht davon, wenn er ein paar Menschen umlegt.«

Er sah, daß ihre Hand zitterte, und liebend gern hätte er ihr die Waffe entrissen. Sie zu überwältigen traute er sich schon zu, aber was sollte aus seinen Patienten werden, wenn der Bursche ganz durchdrehte? Mit einem Tippen an den Kopf hatte Dorthe ihm schon angedeutet, daß er nicht ganz zurechnungsfähig sein mußte.

Er wußte, wer da draußen schrie. Es war Frau Martens, die ohnehin leicht erregbar war, und für ihn war es schrecklich, daß er nicht helfen konnte.

»Vielleicht sagen Sie uns, wie wir Ihre Geldwünsche erfüllen sollen, wenn wir uns nicht mit der Außenwelt verständigen können«, sagte er sarkastisch. »Sie hätten das besser überlegen sollen.«

Er spürte, daß er einen wunden Punkt getroffen hatte. Er fragte sich auch, warum sie ausgerechnet seine Praxis ausgesucht hatten. Sally schielte nach dem Arzneischrank, und da kam ihm die Idee.

»Sie scheinen einen Schuß zu brauchen, sonst werden Sie schlapp machen. Sie bekommen die Spritze, wenn Sie abhauen. Sie bekommen auch mehr, wenn Sie Ihren Kumpan mitnehmen.«

Sie kniff ihre Augen zusammen. »Sie halten sich wohl für verdammt schlau«, zischte sie. »Aber mich legen Sie nicht aufs Kreuz. Den Schlüssel her. Ich weiß, was ich brauche.«

Sie drückte den Revolver an Gustav Conrads Stirn. »Er ist ein toter Mann, wenn Sie Zicken machen, Doktor«, zischte sie.

Es gab viele Frauen, die von Daniel Norden sehr beeindruckt waren, die für ihn sogar schwärmten, aber diese Sally Kirk beeindruckte er anscheinend überhaupt nicht.

Bedauerlicherweise hatte er auch nicht die leiseste Ahnung, daß sie sich als Patientin eingeschlichen hatte, denn Dorthe hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihm das zu sagen, aber sie konnte es ihm jetzt zuraunen, als Sally ein kurzes Gespräch mit jenem Mike führte. Sie schien tatsächlich nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte.

»Verflucht noch mal, sie sollen zahlen, oder ich sprenge sie in die Luft«, schrie er, worauf Eva Marten wieder einen hysterischen Ausbruch bekam. Und ihr Geschrei mußte man auch draußen hören.

Es wurde an die Tür geschlagen. »Aufmachen, Polizei, Sie sind umstellt. Kommen Sie heraus«, dröhnte es durch das Haus.

»Ich knalle einen nach dem anderen ab, wenn Sie hereinkommen. Eine mußte schon dran glauben«, sagte der Mann.

»Sag doch was von dem Lösegeld«, schrie Sally, »telefonieren können wir doch nicht.«

»Eine Million«, sagte der Mann, »bis mittags, sonst fliegt Norden als toter Mann durchs Fenster.«

*

Im Café Fenstergucker wartete Dieter Sommer auf Marlies Höller, und er hatte keine Ahnung, was sich in der Praxis von Dr. Norden zutrug, denn das Café befand sich in einer Seitenstraße. Man hatte da zwar auch das Martinshorn gehört, dem aber keine große Bedeutung beigemessen, weil sich in der Umgebung täglich mehrere Unfälle zutrugen, die auch Polizeieinsatz erforderten. An einen Überfall dachte niemand, bis ein Mann hereinkam, der zu der Bedienung sagte, daß die Bank überfallen worden sei.

»Und jetzt soll sich der Räuber in einer Praxis verschanzt haben«, erzählte der Mann.

Dieter Sommer sprang auf. Alles Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. »Bei Dr. Norden etwa?« rief er.

»Kann schon sein. Ich habe es nur im Vorübergehen gehört«, erwiderte der Mann.

Dieter Sommer warf der Bedienung einen Zehneuroschein auf den Tisch und rannte hinaus. Er ließ sein Auto stehen und lief zu Fuß zu dem Haus, das er vorhin so beschwingt verlassen hatte, weil er dieses nette Mädchen kennenlernte. Er war kein Draufgänger. Er hatte sich immer ein bißchen hart getan mit Mädchenbekanntschaften, aber mit Marlies hatte er gleich sprechen können.

Er war Gartenarchitekt, befaßte sich mit allen möglichen Schädlingen und war sich bei der Bekämpfung auch bewußt, daß die Mittel sehr viel mehr Schaden anrichten konnten, als die Schädlinge selbst, aber er wußte auch, wie gefährlich ein Zeckenbiß sein konnte, wenn man nicht geimpft war oder der Biß nicht gleich richtig behandelt wurde.

Dieter Sommer wurde es richtig übel, als er die Polizisten vor dem Haus sah. Es kostete ihn große Überwindung, einen anzusprechen. Aber er wollte wissen, was mit Marlies Höller war.

»Nun mal langsam«, sagte der Beamte, »in die Praxis kommen Sie jetzt nicht hinein.«

»Ich will wissen, was mit Fräulein Höller los ist. Ich habe auf sie im Café gewartet.«

»Sie waren also in der Praxis?« fragte der Beamte.

»Ja, und Fräulein Höller mußte noch bleiben, wegen eines Zeckenbisses.«

»Sie können sich genau erinnern, wann Sie gekommen sind und wann Sie die Praxis verlassen haben?«

»Natürlich kann ich das.«

»Und Sie wissen auch, wieviel Leute sich dort befinden?«

»Ich weiß, wieviel sich dort befanden, als ich an der Reihe war. Zwei waren vor mir dran. Ich war zum ersten Mal bei Dr. Norden. Ich habe mich mit Marlies Höller unterhalten. Es war noch eine neue Patientin gekommen, die aber erst nach mir an die Reihe kam. Da war ich schon weg. Ich wollte mich nicht wieder ins Wartezimmer setzen, das schon ziemlich voll war.«

»Wieviel Patienten waren da?«

»Drei Herren und fünf Damen, mit dieser Kirk, die auch zum ersten Mal da war. Deshalb hörte ich auch ihren Namen. Eine Dame war das aber nicht. Dann waren da auch noch die Sekretärin und eine junge Arzthelferin. Und natürlich Dr. Norden. Nach mir kam ein Herr an die Reihe. Conrad heißt er, das hörte ich. Es war genau halb zehn Uhr, als ich ging, und im Café erzählte ein Herr, daß die Bank überfallen worden sei und der Räuber sich in einer Arztpraxis verschanzt hätte. Deshalb bin ich hier. Ich will wissen, ob Fräulein Höller noch drinnen ist.«

»Das können wir leider nicht sagen, die Telefonverbindung ist unterbrochen.«

»Aber man wird doch was unternehmen können, wenn die Polizei schon an Ort und Stelle ist.«

»Sie drohen, die Patienten umzubringen, das können wir nicht riskieren.«

»Mein Gott, oh, mein Gott«, stöhnte Dieter Sommer, »was kann man denn nur tun?«

»Sie verlangen Lösegeld, eine Million«, sagte der Beamte sarkastisch. »Ich möchte wissen, wer in ein paar Stunden eine Million flüssig machen kann, die müssen verrückt sein.«

»Es sind mehrere?« fragte Dieter Sommer.

»Ein Mann und eine Frau. Die Frau müßte schon vorher in der Praxis gewesen sein.«

»Dann kann es doch nur diese Kirk gewesen sein, die andern waren doch solide und schon ältere Damen.«

»Und das Fräulein Höller?« fragte der Beamte.

»Wagen Sie nicht, Fräulein Höller zu verdächtigen«, brauste Dieter Sommer auf.

Daß eine Marlies Höller polizeilich gemeldet war, wurde rasch festgestellt. In mancher Beziehung waren die Computer doch sehr hilfreich. Marlies, noch nicht ganz einundzwanzig Jahre, wohnte bei ihrer Mutter. Der Vater war vor zwei Jahren an Krebs gestorben, hatte aber Frau und Kinder in geordneten Verhältnissen hinterlassen. Der ältere Bruder Heinz war Studienrat in einer Kleinstadt, noch unverheiratet. Es wurde bei der Mutter angerufen, die nicht weit von Dr. Nordens Praxis entfernt wohnte. Ihre Tochter sei nicht zu Hause. Sie wäre beim Arzt, sagte Frau Höller. Und weil man sie nicht in Panik versetzen wollte, wurde ihr noch nicht gesagt, was in der Praxis los war.

Anders sah es bei den Personalien von der angeblichen Sally Kirk aus. Da kam gar nichts aus dem Computer, und ganz gewiß würde es länger dauern, bis man etwas über sie in Erfahrung bringen konnte. Und von dem Bankräuber lag nicht mal eine Beschreibung vor, bis dann Frau Meixner ins Gespräch kam.

*

Frau Meixner war eine intelligente Frau mit klarem Verstand. Sie erklärte alles noch einmal ganz präzise, und sie konnte sogar sagen, daß der Wagen, der vor der Einfahrt gehalten hatte und dann so schnell fortgefahren war, als die Streifenwagen kamen, ein blauer BMW gewesen war, weil ihr Sohn auch so einen hatte. Das Kennzeichen hatte sie allerdings nicht gesehen, aber es mußte ein M für München vorweg gestanden haben. Doch, da sei sie ganz sicher, betonte sie. Es wäre nämlich auch ein Hobby von ihr, sich die Städte oder Landkreise zu merken, in denen sie zugelassen wurden. Aber viel wichtiger war ja, daß Frau Meixner den jungen Mann beschreiben konnte, der nach ihr die Bank betreten hatte, und sie konnte ihn sogar sehr gut beschreiben, weil er sie an einen Jungen erinnert hatte, der früher mit ihrer Tochter in einer Schulklasse gewesen war.

»Ich hatte den Klaus Thomee zwar schon Jahre nicht mehr gesehen, denn damals wohnten wir ja auch noch in Sendling in einem Miethaus, aber das war genauso ein Typ. Sehr schlank, schmales Gesicht, tiefliegende Augen und so eine kleine feine Nase, wie sie bei Männern selten ist. Und dann vor allem das Haar. Es hat so einen rotbraunen Stich. Aber die Thomees sind sehr seriöse Leute, und der Junge wollte Medizin studieren. Ein Bankräuber ist er bestimmt nicht. Sein Vater ist ja auch ein ganz hoher Finanzbeamter.«

Uwe Hofmann hatte schon gelernt, daß man die Leute reden lassen mußte, denn auch kleine Einzelteilchen konnten ein Ganzes ergeben, und hier ging es ja um die Ähnlichkeit. Und Frau Meixner suchte dann sogar noch ein Foto heraus, auf dem der achtzehnjährige Klaus Thomee mit ihrer Tochter Karin auf einem Schulfest abgebildet worden war.

»Das ist schon sechs Jahre her, und meine Karin ist schon zwei Jahre verheiratet und wohnt in Hannover«, erzählte Frau Meixner. »Aber jetzt rege ich mich doch auf, wenn die Verbrecher immer noch in der Praxis von Dr. Norden sind. So ein guter Arzt und eine so reizende Familie. Man findet so was heutzutage ja kaum noch. Wenn ich nur dazu beitragen könnte, daß alles gut ausgeht.«

Uwe Hofmann war clever, und er hatte den Ehrgeiz, es bei der Kriminalpolizei mal weit zu bringen. Er dachte, daß es vielleicht gut wäre, festzustellen, ob jener Klaus Thomee heute auch noch diesem Jungen ähnlich wäre, der auf dem Foto abgebildet war und den Frau Meixner so gut in der Erinnerung behalten hatte.

Er rief also bei den Thomees an, die immer noch dort wohnten, wo Frau Meixner früher gewohnt hatte. Es war auch eine sehr gute Wohngegend.

Es meldete sich eine Frau Thomee, deren Stimme aber gleich sehr reserviert klang, als nach ihrem Sohn gefragt wurde.

»Er wohnt nicht mehr hier und ist wahrscheinlich gerade verreist.« In München würde er überhaupt nicht mehr wohnen, und sie wüßte auch seine genaue Adresse nicht. Dann legte sie auf, bevor Uwe Hofmann noch sagen konnte, was er eigentlich wissen wollte, aber nun war er mißtrauisch geworden, und schnellstens wollte er nun mit Kommissar Keller sprechen.

»Klaus Thomee«, rief der aus, »doch nicht der Klaus Thomee… guter Gott, das bitte nicht!«

Uwe Hofmann sah seinen Chef verblüfft an.

»Es ist ja nichts erwiesen«, murmelte er, »es ist doch kein so seltener Name, und auch Ähnlichkeiten gibt es. Es ist ja noch gar nicht raus, ob der Bankräuber so heißt. Frau Meixner hat nur diese Ähnlichkeit festgestellt.«

»Und das möge hoffentlich die einzige Ähnlichkeit bleiben, alles andere wäre eine Katastrophe.

Die Hochzeit von Dorothee Thomee mit dem jungen Baron Lichtenfeld steht vor der Tür. Ich wage gar nicht an die Folgen zu denken.«

»Frau Thomees Stimme klang nicht so, als wäre sie besorgt um ihren Sohn, eher abweisend und ungehalten.«

Kommissar Keller fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das an den Schläfen schon ergraute.

»Klaus hat seinen Eltern manchen Kummer bereitet«, sagte er sinnend. »Ich kenne seinen Vater gut, der ein hochachtbarer Mann ist. Hoher Beamter mit bestem Leumund. Die dummen Streiche von Klaus konnten vertuscht werden. Er wurde in ein strenges englisches Internat geschickt und sollte auch in England studieren.«

»Fragen wir doch mal den Computer, ob hier etwas gegen ihn vorliegt«, schlug Uwe Hofmann vor.

Die Nachricht kam dann bald. Es lag nichts gegen ihn vor. Er war auch schon seit drei Jahren nicht mehr polizeilich in München gemeldet. Kommissar Keller atmete auf, aber Uwe Hofmann machte sich eigene Gedanken. Momentan trugen sie aber auch nicht zur Lösung der gespannten Verhältnisse in der Praxis Dr. Norden bei.

Fee Norden ließ sich überreden, zu ihren Kindern zurückzukehren, aber auf der Straße traf sie Franzis Mutter Lotte Spar. Sie war auch sehr aufgeregt.

»Kommen Sie mit zu uns«, schlug Fee vor, »wir werden am schnellsten benachrichtigt.«

Lotte nickte ganz mechanisch. »Wenn Franzi nur nicht wieder eine Lippe riskiert«, murmelte sie. »Sie kann so aggressiv werden, und Angst kennt sie überhaupt nicht.«

Das allerdings sollte sich als sehr hilfreich erweisen, denn Marlies Höller bekam es jetzt mit der Angst.

»Dr. Norden wird schon etwas unternehmen«, sagte Franzi. »Sie müssen jetzt ganz ruhig bleiben.«

»Aber meine Eltern erwarten mich doch zum Mittagessen, und dieser nette Dieter Sommer wollte doch im Café Fenstergucker auf mich warten.«

»Draußen wissen sie doch schon, was hier los ist«, sagte Franzi. »Die Polizei ist da, aber Dr. Norden kann doch die andern Patienten nicht gefährden, und bestimmt sind es nicht mehr als zwei Gangster, sonst hätten sie uns hier schon aufgespürt. Ich glaube, daß wir hier sicher sind. Sie dürfen jetzt nur nicht schreien.«

»Ich schreie nicht«, flüsterte Marlies bebend, »aber ich habe Angst.«

Franzi hatte jetzt auch Angst, aber sie zeigte ein tapferes Lächeln. »Ich möchte wissen, was sie bei uns wollen. Dr. Norden gehört nicht zu den Reichen. Er steckt doch sein Geld in das Sanatorium, in die Insel der Hoffnung.«

»Insel der Hoffnung, davon hat meine Mutti öfter geredet. Da mochte sie auch mal hin. Sie hat es nämlich mit dem Herzen. Und wenn sie erfährt, daß ich immer noch hier bin, und was hier los ist, dann…« Marlies schluchzte auf, »sie regt sich doch so schrecklich auf, und das ist schlecht für ihr Herz.«

Dagegen konnte Franzi allerdings nichts sagen. Sie streichelte nur beruhigend die Hände von Marlies.

Inzwischen hatte sich Kommissar Keller nach gründlichem Überlegen zu einem weiteren Vorstoß entschlossen. Diesmal begab er sich selbst an die Tür der Praxis und sagte laut, daß man doch wieder die Stecker in die Fernsprechanlage einstecken möge, damit man sich über das Lösegeld und die Übergabebedingungen unterhalten könne. Hunderttausend Euro würden sofort übergeben, wenn die Patienten freigelassen würden.

»Erkläre dich einverstanden, Mike, dann brauchen wir nicht auf so viele aufzupassen«, stieß Sally hervor.

»Gut, wir sind einverstanden«, sagte Mike schrill, »aber wenn ihr den Versuch macht, hier einzudringen, knalle ich Norden nieder.«

»Wir erfüllen unsere Zusagen, wenn Sie sich daran halten.«

»Wann kommt das Geld?«

»In zehn Minuten.«

Hunderttausend waren keine Million, aber Fee Norden hatte gesagt, daß sie diese Hunderttausend schnell zusammenbringen könnte. Und die würden auch von der Bank nebenan geliefert werden, die sehr interessiert daran waren, daß der Bankräuber gefaßt wurde, und darauf setzten sie, denn sie waren überzeugt, daß es sich nicht um einen Profi handelte.

Im Wartezimmer ging es jetzt ganz ruhig zu, nachdem Eva Marten draußen im Vorraum von Sally in Schach gehalten wurde. Man war sich einig, daß man diese Situation nur mit Ruhe bewältigen konnte, und man vertraute auf Dr. Nordens kluge Überlegenheit. Und die meisten vertrauten auch auf die Hilfe ihrer Angehörigen, wenn es dann nur noch um Geld ging.

Kommissar Keller hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Für jeden Patienten sollten zehntausend Euro übergeben werden, und erst, wenn der Letzte die Praxis verlassen hatte, der Rest. Und bis dahin hoffte Keller, ein paar Beamte über das Dach in die Praxis bringen zu können, da sie inzwischen den Plan von den Räumlichkeiten vorliegen hatten und auch wußten, daß Franzi mit einer Patientin im Labor war und von den Gangstern noch nicht entdeckt worden war. Sie hatte einen zweiten Zettel mit entsprechenden Notizen heruntergeworfen, diesmal in einer Flasche, die am Boden zerschellt war, aber man wartete jetzt bereits darauf.

Bei aller Angst war das für Franzi auch abenteuerlich, und sie war auch stolz, daß sie Hinweise geben konnte.

Sie unterhielt sich dann wieder leise mit Marlies. Sie sprachen über ihre Mütter, sie kamen sich näher, sie versprachen sich, nie mehr den Kontakt zu verlieren, wenn sie hier heil herauskommen würden, aber Franzi war felsenfest davon überzeugt, daß sie bald wieder frei sein würden.

*

Inzwischen waren die ersten hunderttausend Euro schon bereitgestellt, und vom Nebenhaus her hatten sich zwei Beamte schon zu dem Laborfenster abgeseilt, das Franzi dann schnell geöffnet hatte. Sie erntete sogleich lobende Worte für ihren Mut und ihre Geistesgegenwart, und alles blieb ruhig. Damit rechneten die beiden nicht, die langsam ins Schwitzen gerieten.

Bisher hatte Sally den »Giftschrank« nur avisiert und im Auge behalten, aber Dr. Norden merkte, wie sie immer nervöser wurde. Er überlegte angestrengt, welche Drogen sie bisher wohl bevorzugt haben mochte, aber es war anscheinend doch schon Heroin, und sie schien zu überlegen, womit sie sich aufputschen könnte.

Daniel Norden und Gustav Conrad verständigten sich nur mit Blicken und kurzen Handbewegungen, die Sally aber nicht beachtete. Dagegen beobachteten die beiden Männer jede Bewegung, jede Mimik von Sally, die Dr. Norden so bekannt vorkam und die er doch nirgendwo einordnen konnte, bis ihm plötzlich die Erkenntnis kam, daß es da eine gewaltige Ähnlichkeit mit einem Jungen gab, den er einmal wegen einer Verletzung behandelt hatte.

Zum Nachdenken kam er nicht, weil jetzt Sally nervös hin und her lief und ständig durch die Tür fragte, ob es endlich weitergehen würde.

Daniel war froh, daß Gustav Conrad bei ihm im Sprechzimmer war und nicht Eva Marten oder eine andere Patientin, die in Panik geraten wäre. Er wunderte sich auch, daß es so ruhig blieb und außer Eva Marten niemand schrie. Aber auch sie war still geworden. Dr. Norden wußte nicht, daß sie in Ohnmacht gefallen war.

Dorthe lag auf der Liege, geschwächt durch den Blutverlust, und da sie weiterhin die Schwerverletzte markieren wollte, stöhnte sie nur ab und zu und sagte sonst nichts.

Dann kam aber plötzlich Bewegung auf, die auch zu ihnen drang, denn Kommissar Keller war wieder an der Tür und sagte, daß die ersten hunderttausend Euro da wären.

Sally sah Dr. Norden mit einem triumphierenden Blick an. »Jetzt will ich eine Spritze, die mich fit macht«, sagte sie, »aber wehe, wenn Sie mir was Falsches geben.«

Er überlegte blitzschnell. Ein Risiko ging er in jedem Fall ein, aber er wollte es doch wagen, ihr ein Mittel zu spritzen, das schon nach kurzer Zeit betäubend wirkte.

Ihm war es längst bewußt geworden, warum sie sich nicht selber spritzte, denn dazu hätte sie die Waffe aus der Hand legen müssen.

»Es geht los, Sally«, rief Mike durch die Tür. »Ist drin alles okay?«

»Alles unter Kontrolle«, erwiderte sie und lachte frivol auf. »Na, los schon, Doktor«, fuhr sie dann Daniel an. Sie entblößte ihren Arm und er sah die vielen Einstiche, aber seine Injektion mußte er in die Vene spritzen.

»Muß das sein?« fragte sie, als er den Arm abband, und sie drückte den Revolver an seine Stirn.

Es war auch für Gustav Conrad der bisher dramatischste Augenblick.

Daniel sagte ruhig: »Es muß sein, denn ich bin Arzt, ich weiß genau, was ich tue, im Gegensatz zu Ihnen. Sie machen sich kaputt.«

»Moralist«, höhnte sie. »Ich kenne diese Sprüche. Und so lange man kuscht, ist alles gut. Wenn man aufmuckt, bekommt man einen Tritt.«

Dr. Norden sagte darauf nichts. Die feine Nadel war in die Vene geglitten, und Sally lächelte schief. »Dafür dürfen Sie ein bißchen länger leben«, sagte sie zynisch.

Momentan setzte Daniels Herzschlag aus. Wenn sie uns nun doch umbringen, ging es ihm durch den Sinn, und natürlich mußte er an Fee und die Kinder denken.

Jetzt weiß es Fee schon, dachte er weiter. Was mag sie empfinden? Wird sie Ruhe bewahren? Und woher soll sie das Geld nehmen, das sie verlangen?

Dr. Norden Bestseller 334 – Arztroman

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