Читать книгу Chefarzt Dr. Norden 1162 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Es war später Nachmittag, als Dr. Daniel Norden die wöchentliche Dienstberatung mit seinen Oberärzten ausklingen ließ. Entspannt sah er in die Runde. Alle leisteten hervorragende Arbeit, und es gab in den Abteilungen keine größeren Probleme. Der Krankenstand war niedrig, die Zufriedenheit der Patienten hoch. Dass sich sogar die Verwaltungsleitung positiv zu den Auslastungszahlen und der wirtschaftlichen Entwicklung der Klinik geäußert hatte, war ebenfalls gut, spielte aber für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Daniel Norden war kein engstirniger Ökonom, dem der finanzielle Erfolg mehr bedeutete als ein Menschenleben. Nein, er war das, was die Allgemeinheit unter einem Arzt mit Herz verstand. Das Wohl der Patienten stand für ihn immer an erster Stelle. Dabei vergaß er allerdings nie, dass er auch seinen Mitarbeitern gegenüber Verantwortung trug. Ihre tägliche Leistung verdiente seine Hochachtung, und er achtete darauf, dass sie trotz der harten Arbeit nicht zu kurz kamen. Das war auch der Grund dafür, dass er Dr. Erik Berger, den Leiter der Notfallambulanz, am Ende der Sitzung zurückhielt.

»Herr Berger, würden Sie bitte noch hierbleiben? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«

Der Angesprochene, ein gutaussehender, charismatischer Mann, verzog widerwillig sein Gesicht, nahm aber widerspruchslos Platz. Er ignorierte die bedeutungsschweren Blicke, die sich seine Kollegen zuwarfen, während sie den Raum verließen. Genau wie er meinten auch sie zu wissen, warum der Chefarzt der Behnisch-Klinik noch ein persönliches Gespräch mit ihm wünschte.

Ruhig lehnte sich Erik auf seinem Stuhl zurück. Er kannte dieses Theater bereits. Gleich würde der Chef ihm sagen, wessen Beschwerde diesmal auf seinem Tisch gelandet war. Berger machte sich nicht die Mühe, im Vorfeld zu überlegen, wem er in den letzten Tagen auf den Schlips getreten war. Irgendjemanden gab es immer, der sich über seine schlechten Manieren und seine scharfe Zunge beschwerte. Ihm war das egal. Er würde sich anhören, was der Chef zu sagen hatte, dann seine Meinung dazu kundtun und nach einer Weile etwas Reue zeigen, um anschließend zu seiner Arbeit zurückzukehren.

»Also, wer war es?«, fragte er, als er mit Daniel Norden allein war. »Wer hat sich bei Ihnen beklagt, dass ich nicht nett war?«

Daniel verkniff sich ein Lächeln. Das war so typisch für Berger. Er rüstete sich für den Gegenangriff, auch wenn es diesmal keinen Grund dafür gab. Jedenfalls nicht den, den der Notarzt vermutete. »Niemand hat sich beschwert, Herr Berger. Ich bin selbst überrascht. Die letzte Supervision, zu der ich Sie geschickt habe, scheint tatsächlich Wirkung zu zeigen.«

»Unsinn!«, entfuhr es Berger. Als Daniel Norden die Augenbrauen hochzog, ruderte er schnell zurück. Lammfromm sagte er: »Klar, das mit der Supervision war wirklich eine gute Idee von Ihnen gewesen, Chef. Danach war ich ein völlig anderer Mensch. Also von mir aus können wir das gern wiederholen. Ich habe …«

»Hören Sie auf, Herr Berger. Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht abnehme. Sie hassen es, wenn ich Sie dort hinschicke.«

»Und trotzdem tun Sie es immer wieder«, beschwerte sich Erik Berger maulend.

»Natürlich, solange Sie mir immer wieder einen triftigen Grund dafür liefern. Sehen Sie zu, dass Sie mit Ihren Kollegen besser auskommen, dann kann ich mir das sparen. Kommen wir zum eigentlichen Grund Ihres Hierseins.«

Daniel öffnete eine Datei auf dem Computer und drehte den Monitor dann so, dass Berger ihn sehen konnte.

»Das ist der Urlaubsplan Ihrer Abteilung für dieses Jahr. Fällt Ihnen da irgendetwas Besonderes auf?«

»Nein«, sagte Erik lauernd.

»Wirklich nicht?«, fragte Daniel strenger werdend. »Also ich habe gleich gesehen, dass dort Ihr Name mal wieder nicht auftaucht. Alle haben ihren Urlaub eingetragen, nur der leitende Notfallmediziner fehlt. Hat das einen Grund?«

Erik verschränkte seine Arme vor der Brust. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die ewige Diskussion darüber, ob und wann er seinen Jahresurlaub zu nehmen habe. Eine Aussprache wegen seines schlechten Benehmens wäre ihm da wirklich lieber gewesen.

»Sie wissen ja, wie das so ist, Chef«, begann er umständlich. »Kaum hat man seinen Urlaub fest geplant, passiert etwas Unvorhergesehenes und man muss ihn verschieben. Da kann ich mir die Planung auch schenken und nehme meinen Urlaub einfach dann, wenn es am besten passt. Zum Beispiel, wenn gerade niemand im Urlaub oder krank ist.«

»Das heißt, Sie wollen das so handhaben wie im letzten Jahr und in dem Jahr zuvor?«

»Äh … ja, das halte ich wirklich für sinnvoll. Spricht ja wohl nichts dagegen. Wäre prima, wenn alle Ärzte und Schwestern das so machen würden. Dann gäbe es sicher keinen Personalnotstand.«

»Dafür ausgebrannte Mitarbeiter, die am Ende ihrer Kräfte sind und kein Familienleben haben. Nein, Herr Berger, ich halte Ihre Lösung für denkbar schlecht. Ihr persönliches Engagement in allen Ehren, aber so geht das einfach nicht. Niemandem ist geholfen, wenn Sie hier irgendwann völlig entkräftet zusammenbrechen.«

»Das wird schon nicht passieren«, grummelte Erik genervt. »In den letzten Jahren habe ich höchstens fünf Tage Urlaub am Stück genommen. Das übrigens nur, weil Sie darauf bestanden hatten. Und? Bin ich hier zusammengebrochen? Nein, das bin ich nicht, und das werde ich auch nicht. Diese Diskussion können wir uns schenken!«

»Ich denke, diese Entscheidung sollten Sie mir überlassen! Und nur damit Sie sich schon mal darauf einstellen können: In diesem Jahr wird das anders laufen. Sie werden mir bis Freitag einen überarbeiteten Urlaubsplan einreichen, in dem Sie mit mindestens zwanzig Tagen auftauchen …«

»Zwanzig?«, unterbrach ihn Erik Berger entrüstet. »Das soll wohl ein Witz sein!«

»Sehen Sie mich lachen? Nein, das ist mein vollster Ernst, Herr Berger. Diese zwanzig Tage will ich am Freitag auf dem Plan sehen. Außerdem beurlaube ich Sie hiermit ab nächsten Montag für zwei Wochen, damit Sie wenigstens noch einen kleinen Teil des Vorjahresurlaubs nehmen können.«

Erik Berger verlor jetzt völlig die Fassung. Er sprang auf und tigerte im Raum umher. »Ich kann unmöglich zwei Wochen in den Urlaub gehen! Und das bereits ab nächstem Montag! Wie soll das funktionieren? Es wird alles drunter und drüber gehen, wenn ich nicht da bin! Sie können unmöglich die Notaufnahme sich selbst überlassen! Denken Sie denn gar nicht an die Patienten?«

»Selbstverständlich denke ich an sie«, warf Daniel ungerührt in eine Atempause Bergers ein. »Sie verdienen es nämlich, von einem ausgeruhten und erholten Mediziner behandelt zu werden. Wenn Sie nicht auf Ihre Gesundheit achtgeben, wird das für Sie irgendwann schwerwiegende Konsequenzen haben; ob Sie das nun einsehen wollen oder nicht. Da Sie zu unvernünftig sind, die Reißleine zu ziehen, werde ich das für Sie machen müssen. Ich trage hier nämlich nicht nur die Verantwortung für die Patienten, sondern auch für die Mitarbeiter.« Daniel stand auch auf. »Ab Montag sind Sie im Urlaub, Herr Berger. Mit Frau Rohde habe ich bereits gesprochen, Sie wird solange Ihre Aufgaben übernehmen. Freitagnachmittag übergeben Sie ihr alles.«

Sekundenlang standen sich die beiden Männer gegenüber und starrten sich schweigend an. Daniel konnte sehen, wie es in Bergers Gesicht arbeitete. Seine Züge verhärteten sich, die Kiefernmuskeln spannten sich an. Unterdrückte Wut blitzte in den Augen auf und noch etwas anderes: Schmerz, Trauer und … Verzweiflung? Was war nur los mit ihm? Warum war die Vorstellung, ein paar Tage auszuspannen, so furchteinflößend?

Daniel wünschte sich, mehr über diesen Mann in seinem Büro zu wissen. Doch Berger war verschlossen wie eine Auster, wenn es um persönliche Dinge oder um seine Gefühlslage ging. Er würde nie etwas von sich preisgeben. Daniel bedauerte das. Obwohl Erik Berger alles andere als ein freundlicher Mensch war, mochte er ihn. Er schätzte ihn für die gute Arbeit, die er leistete, und für seine schonungslose Ehrlichkeit –, auch wenn er es damit oft übertrieb und sich häufig im Ton vergriff.

»Eine Woche«, machte der Leiter der Notaufnahme ein Angebot. »Ich gehe für eine Woche in den Urlaub.«

Daniel überlegte. Sollte er auf Berger sauer sein, weil er sich nicht widerspruchslos in seine Anweisung fügte? Ober einfach nur froh darüber, dass er überhaupt bereit war, frei zu machen? Durch jahrelange Erfahrungen in seiner Position als Chefarzt wusste er, dass das Eingehen von Kompromissen keine Niederlage bedeuten musste. Manchmal führten nur Zugeständnisse zum Erfolg.

»Einverstanden«, entschied er deshalb. »Eine Woche. Und Sie haben die Wochenenden davor und danach keinen Dienst, also insgesamt neun Tage frei. Darüber werde ich nicht mit Ihnen verhandeln. Entweder das oder volle zwei Wochen. Ihre Wahl!«

Berger presste die Lippen so fest zusammen, dass sein Mund nur noch ein schmaler Strich war. Vielleicht gelang es ihm nur so, nicht zu widersprechen. Wie schwer ihm das fiel, konnte Daniel nur erahnen. Berger brummte schließlich leise ein Zeichen seiner Zustimmung und schickte sich dann an, das Büro zu verlassen.

»Ach, übrigens«, hielt Daniel ihn auf. »Denken Sie bitte daran, den Urlaubsplan zu überarbeiten. Bis Sie am Freitag Ihren Urlaub antreten, muss er fertig sein.«

Berger schnaufte auf und stürmte dann aus dem Büro.

Im Vorzimmer des Chefarztes saß Katja Baumann, Daniels Assistentin, an ihrem Schreibtisch. Sie sah sofort, wie es um die Stimmung des Notfallmediziners bestellt war. Es gab nur wenige Menschen, die wussten, dass Erik Berger einen weichen, verletzlichen Kern besaß und sein sprödes Wesen davon ablenken sollte. Katja gehörte dazu. Sie wusste von seiner inneren Zerrissenheit und seinem großen Kummer, der ihn so heftig quälte, dass kein Raum für Glück und Frohsinn blieb.

Als Berger wütend an ihr vorbeistampfte, schenkte sie ihm deshalb trotz seines grimmigen Gesichtsausdrucks ein aufmunterndes, sanftes Lächeln. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Dr. Berger.«

Diesmal hatte sie damit keinen Erfolg bei ihm. Seine ohnehin schon düstere Miene verfinsterte sich noch mehr. »Halten Sie bloß den Mund!«, blaffte er sie aufgebracht an. Er stürzte hinaus und schmiss die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Fensterscheiben leise vibrierten.

Katja sah ihm mit offenem Mund nach, dann sprang sie auf und flitzte in das Büro ihres Chefs. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie atemlos.

Daniel seufzte. »Ich habe ihn in den Urlaub geschickt.«

»Ach nein!«, rief Katja entsetzt aus. »Wie konnten Sie ihm das nur antun?«

*

Am Freitagnachmittag verließ Dr. Christina Rohde unter den mitleidigen Blicken der Schwestern und Pfleger die chirurgische Station, um in die Aufnahme zu gehen. Dr. Erik Berger erwartete sie. In der nächsten Stunde würde er ihr seinen Bereich übergeben und seinen Urlaub antreten. Alle wussten, dass er dies nicht freiwillig tat. Und alle waren sich sicher, dass es einer Bestrafung gleichkam, ihn vertreten zu müssen.

Niemand ahnte, dass Christina Rohde das nicht so sah. Sie freute sich sogar darauf. Als sie vor einigen Jahren die Facharztausbildung an ihrer alten Klinik in Dresden gemacht hatte, musste sie auch für ein längeres Praktikum in die Notaufnahme. Die anspruchsvolle und abwechslungsreiche Arbeit dort hatte ihr gefallen. Sie war etwas Besonderes gewesen und hatte mit den üblichen Abläufen einer Station nichts gemein. Hier traf sich alles: vom Säugling bis zum Greis; leichte und schwere Krankheitsfälle oder echte Ausnahmesituationen. Nicht selten ging es dabei um Leben und Tod. Da blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken und langem Abwägen.

Blitzschnell mussten Entscheidungen getroffen werden, die über ein Menschenschicksal bestimmen konnten.

Früher hatte sich Christina vorstellen können, ihr berufliches Leben ausschließlich der Notfallmedizin zu widmen. Sie hatte sogar eine zusätzliche Weiterbildung zum Notfallmediziner absolviert. Davon wussten nur wenige, nahestehende Menschen. Dr. Norden, ihrem Chef, war das natürlich auch bekannt. Das war auch der Grund, warum er sie als Vertretung für Dr. Berger ausgewählt hatte. Christina seufzte leise auf. Der unausstehliche Leiter der Notaufnahme war der einzige Wermutstropfen bei der Sache. Mit einem unguten Gefühl dachte sie an die bevorstehende Übergabe. Doch dann straffte sie die Schultern, strich ihr dunkles Haar zurück und betrat mit einer Mischung aus Vorfreude und erwartungsvoller Anspannung die Aufnahme der Behnisch-Klinik. Sie würde diese Stunde mit Berger schon überstehen. Und danach würde sie die Arbeit hier so richtig genießen.

Nur ein Blick in das missmutige Gesicht von Erik Berger, der sie bereits an seinem Schreibtisch erwartete, versetzte ihrer guten Laune einen spürbaren Dämpfer.

»Na endlich!«, schnauzte er die junge Ärztin an. Demonstrativ sah er auf die Uhr. »Wir hatten drei Uhr abgemacht und nicht zehn nach drei!«

Christina zog den Kopf ein. Eine dumme Angewohnheit, die sie manchmal überkam, wenn der Ton etwas rauer wurde. Doch sie hatte sich schnell wieder im Griff. Niemals würde sie diesem arroganten und ungehobeltem Kollegen zeigen, wie sehr sie sein rüdes Benehmen erschrecken konnte. Sie stellte sich aufrechter hin und sah ihn unerschrocken an.

»Irrtum, Herr Berger. Es war abgemacht gewesen, dass ich gegen drei vorbeikomme. Gegen drei, nicht um drei! Sie wissen, dass ich bis zum Schluss im OP zu tun hatte.«

»Na und? Was stört’s mich? Mich fragt ja auch keiner, was ich von diesem Schwachsinn halte. Und nun kommen Sie schon her! Sie können es bestimmt nicht abwarten, mich loszuwerden, um hier das Zepter schwingen zu dürfen!«

Nun war Christina richtig sauer. Warum griff Berger sie so an? Was hatte sie denn Schlimmes getan? Es wurde Zeit, ihm mal ordentlich die Meinung zu sagen.

»Und schon wieder irren Sie sich, Herr Berger«, erwiderte sie frostig. »Ich bin nicht freiwillig hier gelandet, sondern wurde dazu verdonnert. Nur zu Ihrer Information: Niemand ist scharf darauf, die Vertretung für Sie zu übernehmen. Und das liegt nur an Ihren unmöglichen Umgangsformen und Ihrer schlechten Laune.«

Berger kniff die Augen zusammen und fixierte sie mit einem Blick, der schon so manchem Assistenzarzt das Fürchten gelehrt hatte. »Wollen Sie etwa sagen, dass ich launisch wäre und unter Stimmungsschwankungen leide?«, knurrte er gefährlich leise. Sein Versuch, die adrette Brünette damit einzuschüchtern, schlug allerdings fehl.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Christina nur genervt. »Ihre Stimmung schwankt nicht. Die ist immer gleichbleibend mies. Und nun wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit dem Gezanke aufhören würden. Übergeben Sie mir die Aufnahme, und dann verabschieden Sie sich in den Urlaub.«

Erik schnappte kurz nach Luft, mit einer heftigen Erwiderung auf den Lippen. Christina rechnete schon damit, dass sich dieser unliebsame Disput endlos fortsetzen würde. Aber zu ihrer großen Überraschung begann Berger plötzlich mit der Übergabe. Dabei war nicht zu übersehen, wie schwer es ihm fiel, das Ruder aus der Hand zu geben. Trotzdem tat er sein Bestes, wie Christina zugeben musste. Er achtete darauf, dass seine Erklärungen verständlich waren, und beantwortete ihre Nachfragen mit einer Geduld, die sie ihm nie zugetraut hätte. Sie wusste, dass er nicht unvermittelt zu einem Menschenfreund geworden war.

Vielmehr lag ihm das Schicksal der Aufnahme, ihrer Mitarbeiter und vor allem der Patienten am Herzen. Wenn er schon gehen musste, sollten sie nicht darunter zu leiden haben.

Sie waren soeben am Ende angelangt, als Schwester Anna hereinschaute. »Darf ich kurz stören? Ein Zugang in der Drei, Dr. …«

»Was liegt an?«, fragte Berger und sprang auf.

»Äh … ich … also, eigentlich meinte ich Frau Dr. Rohde«, wand sich Anna verlegen. Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Ärzten hin und her. »Sind Sie denn nicht bereits im Urlaub, Dr. Berger?«

»Sehe ich aus, als wäre ich das?«, ätzte Erik.

»Kein Grund, sich so aufzuregen, Herr Berger«, mischte sich Christina schnell ein. Die freundliche Schwester hatte diesen hässlichen Umgangston nicht verdient. Aufmunternd lächelte sie ihr zu: »Also, Schwester Anna, um was geht es denn?«

»Wir haben einen Neuzugang. Ein alter Bekannter, Herr Lehmkuhl, den wohl wieder ein Nierenstein zu schaffen macht.«

»Den übernehme ich«, entschied Berger.

»Nein!«, rief Christina verärgert aus. »Herr Lehmkuhl ist mein Patient! Es war abgemacht, dass Sie nach der Übergabe in den Urlaub verschwinden und ich hier weitermache.«

»Was für ein Nonsens! Niemand kennt den Patienten so gut wie ich. Ich werde nicht zulassen, dass Sie an ihm rumdoktern, ohne zu wissen, was Sie da tun. Ich behandle ihn, und danach gehe ich in den Urlaub! Wenn Ihnen das nicht passt, rennen Sie doch zu Norden und klagen sich aus!«

Fassungslos sah Christina zu, wie Erik Berger an ihr vorbeirauschte und schnurstracks zu ihrem Patienten lief. Fast wäre sie ihm hinterhergelaufen. Glücklicherweise siegte ihre Vernunft, und sie verzichtete auf eine erneute Konfrontation mit ihrem unliebsamen Kollegen.

»Tut mir leid, Frau Doktor«, meinte Anna betreten. »Vielleicht hätte ich warten sollen, bis er weg ist.«

Christina schluckte den kläglichen Rest ihres Ärgers runter. »Sie haben nichts falsch gemacht, Schwester Anna. Der Patient hat sicher furchtbare Schmerzen und braucht schnellstmögliche Hilfe. Und um ehrlich zu sein ist er bei einem Arzt, der ihn gut kennt, wirklich am besten aufgehoben. Gönnen wir Dr. Berger diesen kleinen Triumph und dem Patienten die gute Behandlung. In der Zwischenzeit kann ich mich um die anderen Patienten kümmern. Es gibt sicherlich nicht nur Herrn Lehmkuhl, der behandelt werden muss.«

Anna nickte. »Ja, in der Zwei wartet ein Hobbyfußballer mit Kniebeschwerden. Und Dr. Ganschow versorgt bereits die leichteren Fälle. Er ist gerad’ bei einem Achtjährigem, der vom Rad gefallen ist und Schmerzen in der rechten Hand hat.« Dr. Ganschow war einer der beiden Assistenzärzte, die derzeit der Aufnahme zugeteilt waren. »Er hat schon mal angefangen, weil er nicht bei der Übergabe stören wollte«, erklärte Anna.

»So wie es aussieht, ist die Übergabe vorbei, und ich bin bereit, Gutes zu tun«, erwiderte Christina lächelnd.

Anna lachte leise. »Den Fußballer in der Zwei wird’s freuen. Genauso wie die anderen Patienten im Warteraum.«

Christina sprang voller Eifer auf und strich beim Hinausgehen ihren weißen Kittel glatt. Den kleinen Streit mit ihrem ewig grummelnden Kollegen hatte sie längst vergessen. Sie liebte ihre Arbeit und ging in ihr auf. Da blieb kein Platz für unliebsame Gedanken. Erst Stunden später, als in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik Ruhe einzog und sie sich auf die Suche nach einem starken Kaffee machte, dachte sie wieder an Erik Berger.

»Ist er weg?«, fragte sie Schwester Anna, die im Pausenraum an der Kaffeemaschine hantierte.

Anna nickte. Auch wenn die Chirurgin keinen Namen genannt hatte, wusste sie, von wem die Rede war. »Ja, nachdem er Herrn Lehmkuhl persönlich in der Urologie abgeliefert hatte, ist er gegangen.« Sie verzog das Gesicht. »Ich musste ihm allerdings erst versprechen, gut auf ›seinen Laden‹ aufzupassen.«

Christina lachte. »Es muss wirklich schrecklich für ihn sein, die Aufnahme allein zu lassen.«

»Ja, das ist es. Ich bin schon sehr gespannt, wie lange er es ohne seine Arbeit aushalten wird.«

Christina bedankte sich für den Kaffee, den ihr Anna reichte, und fragte dann irritiert nach: »Was meinen Sie damit? Er hat in der gesamten nächsten Woche Urlaub.«

Als Anna nur ihren Mund zu einem gequälten Lächeln verzog, ahnte sie Böses. »Wollen Sie etwa andeuten, dass er hier ständig aufkreuzen wird?«

»Ja, tut mir leid. Ich hatte angenommen, Sie wüssten das. Im vergangenen Jahr war das auch schon so gewesen.«

»Ich habe erst im letzten Sommer an der Behnisch-Klinik angefangen.«

»Ach ja … richtig.« Anna druckste ein wenig herum, bevor sie berichtete: »Der Chef hatte ihn mal wieder gezwungen, Urlaub zu machen. Dr. Körner hat dann die Vertretung übernommen.«

»Dr. Körner?«, fragte Christina verwundert nach. »Wer ist Dr. Körner?«

»Er hat hier als Chirurg gearbeitet, genau wie Sie. Leider hat er gekündigt, nachdem …« Anna biss sich auf die Zunge, um nicht weiterzusprechen.

»Bitte sagen Sie nicht, dass er gekündigt hat, nachdem er die Vertretung für Berger machen musste.«

»Offiziell nicht. Da hieß es, er brauche eine Luftveränderung und würde an eine Rehaklinik an die Ostsee wechseln. Aber inoffiziell … Es war schon merkwürdig, dass er seine Kündigung direkt nach der Vertretungszeit abgegeben hatte. Da gab es natürlich wilde Spekulationen und eine große Aufregung. Dr. Norden hatte noch versucht, Herrn Körner diese Kündigung auszureden, aber sein Entschluss stand fest. Kurz darauf packte Körner seine Sachen und kehrte München den Rücken.«

Christina war skeptisch. »Das ist schon ein großer Schritt, nicht nur die Klinik zu verlassen, sondern gleich das Bundesland. Es fällt mir irgendwie schwer zu glauben, dass das allein an Dr. Berger gelegen haben könnte.«

»Wenn Sie diese Woche mitgemacht hätten, würden Sie nicht zweifeln«, bekräftigte Anna ihre Worte. »Es war die reinste Hölle! Obwohl Herr Berger im Urlaub war, kreuzte er hier ständig auf. Oft blieb er den ganzen Tag und hat ­einfach mitgearbeitet. Und das Schlimmste: Alle Fälle, die Dr. Körner behandelt hatte, wurden von ihm überprüft. Natürlich hatte er immer etwas auszusetzen gehabt. Die beiden haben sich hier endlos lange und lautstarke Wortgefechte geliefert.«

»Und Dr. Norden ist nicht eingeschritten?«, fragte Christina erstaunt.

»Dr. Norden hatte keine Ahnung gehabt. Die erste Hälfte der Woche war er in Stuttgart auf einem Kongress. Von dem Ärger hier hat er gar nichts mitbekommen. Und danach …« Anna zuckte hilflos die Schultern. »Niemand hat ihm davon berichtet. Alle haben dazu geschwiegen. Glauben Sie mir, darauf bin ich nicht besonders stolz. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wenn ich zu Dr. Norden gegangen wäre. Aber bis zum Schluss hatte ich angenommen, dass die beiden das allein hinbekommen würden. Immerhin sind sie erwachsene Männer und keine ungezogenen Buben …«

»Erwachsene Männer? Sind Sie sich da völlig sicher?« Christina verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe, Anna. Es war nicht Ihre Aufgabe, zwischen den Streithähnen zu vermitteln. Dr. Körner hätte den Chef um Hilfe bitten ­müssen. Ich würde es jedenfalls so machen. Solche Machtspiele liegen mir nämlich nicht. Sollte Herr Berger in der nächsten Woche die gleiche Masche auch bei mir abziehen, wird er sehr überrascht sein, wie schnell er sich im Büro des Chefarztes wiederfindet.«

*

In den nächsten Stunden blieb Christina kaum Zeit, an Dr. Berger zurückzudenken. Sie hatte so viel zu tun, dass sie kaum zum Luftholen kam. Als sie sich am Morgen in das Wochenende verabschieden konnte, freute sie sich auf zwei ruhige, erholsame Tage, die sie zum größten Teil mit einem guten Buch auf der Couch verbringen wollte.

Ausgeruht und in bester Stimmung kehrte sie am frühen Montagmorgen an ihren neuen Arbeitsplatz zurück. Ihre gute Laune verflog jedoch, als sie sah, wer sie dort bereits erwartete. Dr. Erik Berger saß an seinem Computer und studierte sorgsam die Aufzeichnungen der letzten Tage.

»Haben Sie nicht Urlaub?«, fragte sie eisig, statt einer Begrüßung.

»Ja, und?«, gab Berger genauso frostig zurück. »Was ich in meinem Urlaub mache, sollte Ihnen egal sein.«

»Solange Sie mir nicht in die Quere kommen und dabei meine Arbeit behindern, tut es das auch.«

Christina blieb unschlüssig im Raum stehen. So wie es aussah, war ihr Arbeitsplatz besetzt. Was sollte sie machen? Ihn wegscheuchen? So mutig war sie leider nicht. In einer Ecke neben der Tür gab es einen kleinen Tisch, der als Ablagefläche für alte Akten genutzt wurde. Dort stellte sie ihre Tasche ab und verließ dann das Büro. Draußen atmete sie tief durch und entschied, kein Drama aus Bergers Anwesenheit zu machen. Es kam gar nicht selten vor, dass sich Kollegen auch während ihrer freien Tage in der Klinik blicken ließen, um Sachen aufzuarbeiten. Wahrscheinlich war er bald wieder verschwunden. Kurz dachte sie daran, was ihr Anna von Dr. Körner erzählt hatte. Eine kleine, mahnende Stimme meldete sich in ihr zu Wort, die sie jedoch schnell fortjagte. Auf sie wartete eine volle Notaufnahme. Ihre Aufmerksamkeit musste den Patienten gelten und nicht Dr. Erik Berger.

Bald war Christina so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn vergaß. Während sie sich um verrenkte Gliedmaßen, entzündete Wunden, einen Jungen mit Bauchschmerzen, vereiterte Mandeln und einen Schlaganfallpatienten kümmerte, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an Erik Berger. Jeder einzelne Patient war wichtiger als er. So, wie die Frau vor ihr auf der Untersuchungsliege, die akute Kreislaufprobleme hergeführt hatten. Christina sah auf das aufgezeichnete EKG. Es war völlig unauffällig und passte zu den anderen Befunden, die ihr inzwischen vorlagen. Als sie das mit Irene Kreft besprach, öffnete sich hinter ihr die Tür des Behandlungszimmers. In der Annahme, dass eine der Schwestern hereingekommen war, redete sie ruhig weiter:

»Ich kann Entwarnung geben, Frau Kreft. Es war kein Infarkt. Ihr EKG sieht gut aus, und die Blutwerte liegen im Normbereich. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Ihnen Ihr Herz ernsthafte Probleme bereitet. Um ganz sicher zu sein, werden wir in einigen Stunden noch einmal Blut abnehmen und kontrollieren, ob es Veränderungen bei den Herzenzymen gibt.«

»Herzenzyme?«, wagte Irene Kreft, schüchtern nachzufragen. Die junge, nette Ärztin war nicht so wie andere, denen sie in ihrem Leben begegnet war. Meistens verstand Irene nur einen Bruchteil von dem, was die Ärzte von sich gaben. Schweigend nahm sie das dann hin, wusste sie doch, dass der Ärzteschaft die Zeit und die Geduld fehlten, um Laien wie ihr alles bis ins kleinste Detail zu erklären. Bei der freundlichen Frau Dr. Rohde war das ganz anders.

»Enzyme sind bestimmte organische Verbindungen im Blut«, erklärte Christina. »Einige von ihnen können Schäden am Herzmuskel, wie sie nach einem Infarkt auftreten, sicher anzeigen. Allerdings kann es bis zu acht Stunden dauern, bis die Werte ansteigen. Deshalb werden wir später noch einmal Blut abnehmen. Bis dahin bleiben Sie hier unter Beobachtung. Sollten die Enzyme bei der zweiten Messung auch im Normbereich liegen, können Sie wieder nach Hause gehen. Die Weiterbehandlung kann dann von Ihrem Hausarzt oder einem Kardiologen übernommen werden.«

Christina sah, wie glücklich ihre Patientin bei diesen Worten war. Sicher hatte sie sich schon das Schlimmste ausgemalt und war froh über die Aussicht, bald wieder daheim zu sein.

»Oder wir nehmen Sie hier erst mal stationär zu einer umfassenden Diagnostik auf«, ertönte es hinter Christina. Sie drehte sich um und sah Dr. Berger mit verschränktem Armen im Türrahmen stehen.

Berger tat, als wäre Christina gar nicht da. »Bis Sie einen Termin beim Kardiologen haben, können Wochen vergehen. Wenn Sie hierbleiben, hätten wir schon in wenigen Tagen alle Befunde zusammen.«

»Meinen Sie?«, fragte die Patientin verunsichert nach. »Ich wäre ja lieber zu Hause als hier …«

»Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass sie heimgehen, sofern auch die zweite Blutentnahme ohne Befund ist«, schaltete sich Christina schnell ein. »Wenn ich der Meinung wäre, dass Ihre stationäre Aufnahme unerlässlich sei, würde ich Sie nicht so einfach gehen lassen. Es kann auch ambulant nach der Ursache Ihrer kleinen Unpässlichkeit gesucht werden.«

»Ja, aber Ihr Kollege meinte eben­ …«

»Mein Kollege kennt sicher noch nicht Ihre aktuellen Befunde, Frau Kreft«, versuchte sie, Bergers Einmischung diplomatisch zu erklären. Dabei warf sie ihm einen bitterbösen Blick zu und verhinderte so, dass er ihr widersprach. »Ich werde mich natürlich mit ihm besprechen und ihn über alle wichtigen Punkte aufklären.« Christina schaffte es, ihrer Patientin ein strahlendes Lächeln zu schenken, bevor sie sich auf den verdutzten Berger stürzte und ihn am Arm mit sich fortzog.

»Was fällt Ihnen ein, sich in mein Patientengespräch zu mischen?«, zischte sie ihm auf dem Flur aufgebracht zu.

Berger schüttelte Christinas Hand ab, mit der sie ihn immer noch festhielt. »Wenn Ihnen offensichtliche Fehler unterlaufen, ist es meine Pflicht einzuschreiten«, knurrte er sie an.

»Fehler? Mir ist kein Fehler unterlaufen! Das ist die übliche Vorgehensweise in diesem Fall!«

»Ach ja? Wären Sie davon immer noch überzeugt, wenn Ihre Patientin an einen Infarkt stirbt, während sie endlos lange auf einen Termin beim Kardiologen warten muss?«

»Es gibt überhaupt keinen Hinweis darauf, dass das passieren könnte! Alle Befunde waren in Ordnung! Bei dieser Ausgangslage kann ich sie unmöglich stationär aufnehmen. Unsere wenigen freien Betten sollten die Menschen bekommen, die sie wirklich brauchen.« Christina funkelte ihn wütend an. »Und dass Sie meine Entscheidung vor der Patientin angezweifelt haben, war taktlos und äußerst unkollegial!«

Berger lachte höhnisch auf. »In Ihren Augen zählt Kollegialität und gutes Benehmen also mehr als die Gesundheit und das Überleben Ihrer Patientin?«

»Hören Sie gefälligst auf, mir jedes Wort im Munde umzudrehen! Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen! Wenn Sie sich weiterhin in meine Arbeit einmischen, werde ich mich bei Dr. Norden über Sie beschweren!«

»So eine sind Sie also? Sobald Probleme auftauchen, rennen Sie zum Chef?«

Christina nickte tapfer. »Ja, wenn mich dieses Problem bei meiner Arbeit behindert, werde ich das machen. Ich bin mir nicht zu fein, den Chef um Hilfe zu bitten. Außerdem ist es ja wohl seine Aufgabe, Sie an der kurzen Leine zu halten, wenn Sie hier mal wieder durchdrehen.«

Bevor Berger ihr darauf antworten konnte, hatte sich Christina umgedreht und war im nächsten Behandlungsraum verschwunden, in dem ein neuer Patient auf sie wartete. Schwester Inga, die die Auseinandersetzung auf dem Flur mitbekommen hatte, folgte ihr.

»Gut gemacht, Frau Doktor!«, meinte sie grinsend zu ihr.

»Danke«, gab Christina leise zurück. Dann griff sie nach der Patientenakte, die Inga in ihren Händen hielt. Sie wollte diesen dummen Streit mit Berger vergessen und sich dem widmen, was ihr am meisten Spaß machte: kranken Menschen helfen.

Der Rest des Tages verlief ruhig. Erik Berger bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Er hielt sich nur in seinem Büro auf, um weiter Patien­tenakten zu studieren, und verschwand schließlich nach Hause. Christina hoffte nur, dass er dort bleiben würde, bis sein Urlaub vorbei war. Doch so recht dran glauben konnte sie nicht.

*

Dr. Fred Steinbach rutschte auf dem Beifahrersitz nach vorn und sah angestrengt die Häuserreihe entlang. Hier musste irgendwo ihr Ziel sein. Normalerweise fuhr er nicht im Rettungswagen mit. Es war üblich, dass die Rettungssanitäter allein zum Einsatzort fuhren und den Notarzt nur bei Bedarf anforderten. Falls er nicht ohnehin schon auf dem Weg war, weil die Lage von vornherein als lebensbedrohlich eingeschätzt worden war. Doch manchmal gab es auch Ausnahmen. Dann war Dr. Steinbach als ständiger Begleiter eines Sanitäters mit von der Partie.

»Dort ist es!«, rief er jetzt und zeigte auf den klobigen Häuserblock zu seiner rechten Seite. »Nummer 32!«

Er wartete, bis der Rettungsassistent Jens Wiener den Krankenwagen am Bürgersteig zum Stehen gebracht hatte, sprang dann hinaus und schnappte sich die große Umhängetasche. Jens griff an ihm vorbei nach dem Rucksack, schnallte ihn auf seinen Rücken und nahm noch zwei weitere Taschen heraus.

»Meinst du wirklich, dass wir das alles brauchen werden?«, fragte Fred Steinbach verwundert. »Es ist nur ein Badezimmersturz, und der Patient ist bei Bewusstsein.«

»Ja, aber laut Leitstelle müssen wir rauf in die vierte Etage. Ich habe keine Lust, die Treppen mehrfach hoch- und runterzulaufen, nur weil etwas Wichtiges im Auto geblieben ist. Ich wette, dass es hier keinen Fahrstuhl gibt.«

Fred Steinbach musste seinem jungen Kollegen recht geben. Nichts war schlimmer, als dringend benötigte Ausrüstung, die im Wagen lag. Wertvolle Minuten konnten so verloren gehen.

Schwer bepackt liefen sie die Treppen hinauf. Während es am Anfang noch recht flott voranging, ließ das Tempo bei dem sechzigjährigen Steinbach schnell nach. In der dritten Etage machte er eine kurze Pause und schnaufte: »Ich glaube, langsam werde ich zu alt für diesen Job. Diese Treppen bringen mich noch mal um.«

Jens Wiener, der nur halb so alt war und regelmäßig ins Fitnessstudio ging, klopfte ihm grinsend auf die Schulter und nahm ihm dann die große Tasche ab. Er hängte sie sich um und setzte den Aufstieg fort, als würde ihm die schwere Last nichts ausmachen.

»Mach langsam, Fred. Ich geh schon mal vor und …« Er brach ab und sah erstaunt an dem Arzt vorbei auf die beiden Männer von der Berufsfeuerwehr, die im Laufschritt die Treppe hinaufgestürmt kamen. »Was macht ihr denn hier? Habt ihr auch einen Einsatz?«

»Klar, Jens, denselben wie ihr«, erwiderte Markus Never, den die beiden Männer vom Rettungswagen gut kannten. »Hat die Leitstelle nichts gesagt? Euer Patient liegt im Bad und kann seine Wohnungstür nicht aufmachen.« Er deutete auf das Werkzeug in seinen Händen. »Wir sollen die Türöffnung übernehmen.« Und schon sprinteten sie weiter, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend.

»O Mann«, stöhnte Fred Steinbach. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, hätte ich die beiden sicher nicht an mir vorüberziehen lassen.«

Chefarzt Dr. Norden 1162 – Arztroman

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