Читать книгу Dr. Norden Classic 40 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Wo bin ich?« Felicitas Norden lag im Bett der Intensivstation und blinzelte in das helle Licht des noch jungen Morgens. Es dauerte einen Moment, bis sich der Nebelschleier lichtete und sie klar sehen konnte. »Was ist passiert?« Ihr fragender Blick ruhte auf dem Infusionsschlauch, der in der Kanüle endete, die in der Vene an ihrem Handrücken steckte.

In Gedanken versunken hatte Dr. Daniel Norden am Bett seiner Frau gesessen. Als er ihre heisere Stimme hörte, zuckte er zusammen. Fast sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Es waren Tränen unermesslicher Erleichterung, unaussprechlichen Glücks. Er sprang vom Stuhl auf und beugte sich über seine Frau.

»Feelein, mein Engel, endlich!«, raunte er ihr zu und küsste sanft ihre Wange.

»Wie … wie meinst du das?« Ihr verwirrter Blick streifte sein Gesicht. Dabei bemerkte sie die Ernährungssonde, die in ihre Nase führte. »Warum das?«

Mühsam versuchte Daniel, sich zu beherrschen. Von Fees Einlieferung in die Klinik vor ein paar Tagen bis zur Diagnosestellung waren viele kostbare Stunden vergangen. Nur durch Zufall hatte sich herausgestellt, dass die Ärztin an einer seltenen lebensbedrohlichen Krankheit mit Namen Steven-Jacobs-Syndrom litt, für die nur zwei Behandlungsformen in Betracht kamen. Daniel hatte sich entscheiden müssen und seitdem bange Stunden am Bett seiner todkranken Frau verbracht. Ihr Erwachen war der Beweis, dass er die richtige Therapie gewählt hatte. Trotzdem rann eine einzelne Träne über seine Wange und tropfte von seinem Kinn auf die Bettdecke.

»Du warst drei Tage lang bewusstlos.« Um sie nicht zu beunruhigen, fuhr er sich schnell mit dem Ärmel über die Augen. »Zwischendurch war es so schlimm, dass du beatmet werden musstest. Der Tubus konnte erst gestern Abend wieder entfernt werden. Deshalb ist deine Stimme so rau.«

Verwunderung machte sich auf Fees Gesicht breit.

»Warum?«, wiederholte sie ihre Frage mit Blick auf die Nahrungssonde.

Die vielen Blasen auf ihrer Mundschleimhaut schmerzten und machten ihr das Sprechen zusätzlich schwer. Doch noch war ihr Geist nicht so klar, dass sie einen Zusammenhang feststellen konnte.

»Du leidest an einer sehr seltenen Krankheit. Sie ist für die Blasen auf deiner Mundschleimhaut verantwortlich. Dabei hast du noch Glück im Unglück gehabt. Bei anderen Kranken breiten sich diese Blasen auf dem ganzen Körper aus.« In Gedanken schickte Daniel einen Dank gen Himmel. Die Bilder, die er im Internet gesehen hatte, hatten ihn frösteln lassen, und schnell konzentrierte er sich wieder auf seine Frau. »Bis diese Blessuren halbwegs verheilt sind, kannst du weder essen noch trinken.« Daniel griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. »Aber jetzt wird alles gut«, versprach er feierlich. Seine Stimme war warm und voller Überzeugung, sodass Felicitas mit dieser Erklärung zufrieden war. Sie war ohnehin so erschöpft, dass ihre Augenlider schon wieder flatterten. Ein unsichtbares Gewicht zerrte an ihrem Bewusstsein und wollte sie wieder mit sich in die Tiefe nehmen.

»Ich bin so müde«, murmelte sie, und Daniel lächelte.

»Dann schlaf dich gesund, mein Liebling. Ich fahre inzwischen in die Praxis, um zu sehen, ob Danny Arbeit für mich hat. In der Mittagspause bin ich wieder bei dir.«

Fee hatte die Augen schon wieder geschlossen. Einen Moment lang dachte Daniel, dass sie seine Worte schon nicht mehr gehört hatte. Das Lächeln, das über ihre gesprungenen Lippen huschte, und ihr vages Nicken belehrten ihn aber eines Besseren, und beschwingt verließ er schließlich die Klinik, um seine Worte in die Tat umzusetzen.

*

»Hier, probier mal das hier!« Die Bäckerin Hilde Bärwald stand in der Backstube, die im hinteren Teil des Gebäudes lag, und hielt ihrem Lehrling Tatjana Bohde ein Rosinenbrötchen hin.

Danny Nordens sehbehinderte Freundin tat, wie ihr geheißen, und nahm ihrer Chefin das Gebäck aus der Hand. Schon beim ersten Bissen seufzte sie zufrieden. Sie schloss genießerisch die Augen und lächelte glücklich. Außen goldbraun und knusprig, war das Brötchen innen saftig und nicht zu süß, mit genügend Rosinen im saftigen Hefeteig, die das Gebäck erst perfekt machten.

»Ist das nicht verrückt? Schon diese kleine Vollkommenheit lässt mich glauben, dass alles wieder gut wird«, schwärmte Tatjana versonnen, während sie das Brötchen unter die Nase hielt und den süß-säuerlichen Duft tief einatmete.

Hilde Bärwald lächelte zufrieden.

»Mal abgesehen davon, dass man niemals die Hoffnung verlieren darf, freut es mich, dass du mit meiner Arbeit zufrieden bist«, bemerkte sie schelmisch und zwinkerte Tatjana zu. Sie wusste, wie sehr die junge Frau mit Dannys Mutter Fee litt und wie sehr sie sich um ihre selbstgewählte Ersatzmama sorgte.

»Mehr als das!«, sagte Tatjana in ihre Gedanken hinein. Obwohl sie nach einer Operation wieder einen Teil ihres Sehvermögens zurück erhalten hatte, reichte ihr Augenlicht nicht aus, um Feinheiten im Gesicht eines anderen Menschen zu erkennen. Doch die jahrlange Blindheit hatten ihre anderen Sinne auf erstaunliche, fast magische Art und Weise geschärft, sodass sie das Zwinkern am Tonfall ihrer Chefin erkannt hatte. »Ihr Gebäck ist einzigartig. Ich hab ja auch schon allerhand ausprobiert. Aber so wie Sie krieg ich das nicht hin. Manchmal habe ich Zweifel, ob ich das jemals lernen werde.«

»Keine Angst. Das ist keine Hexerei!«, versprach Hilde Bärwald. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich mein Geheimnis bisher niemandem verraten habe.«

»Sie können mir vertrauen«, versprach Tatjana feierlich, sich der Ehre wohlbewusst, die ihr zuteil wurde.

»Das weiß ich.« Der zufriedene Blick der Bäckerin ruhte auf ihrer Auszubildenden.

Als Studentin hatte Tatjana schon bei ihr gearbeitet, um sich neben dem Studium etwas dazuzuverdienen. Dabei hatte Tatjana ihre Leidenschaft für diesen Beruf entdeckt. Nach erfolgreichem Abschluss hatte sie deshalb Frau Bärwalds Angebot angenommen und eine Ausbildung begonnen. Danach sollte sie das Geschäft mit dem angeschlossenen kleinen Café übernehmen.

»Eigentlich ist es ganz einfach«, beantwortete Hilde Tatjanas Frage ehrlich und wandte sich dem Ofen zu, in dem ein weiteres Blech perfekter Rosinenbrötchen darauf wartete, herausgeholt zu werden. Ein köstlicher Duft durchflutete die Backstube, als sie die Ofentür öffnete und mit den behandschuhten Händen beherzt hineingriff. »In diesen Zeiten haben die Menschen lediglich vergessen, dass es manche Dinge gibt, die sich nicht automatisieren lassen. Die Zubereitung eines guten Teigs gehört zweifelsfrei dazu.«

»Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?«, fragte Tatjana, froh, wenigstens für eine Weile von ihren drängenden Sorgen abgelenkt zu sein.

Während Hilde Bärwald die Rosinenbrötchen zum Auskühlen auf einem Gitter verteilte, lächelte sie verschmitzt.

»Es geht darum, den Hefeteig mit der Hand kneten. Nur so fühlt man den Augenblick, in dem er zum Leben erwacht, wann er bereit ist, aufzugehen und zu wachsen.« Lässig zuckte sie mit den Schultern. »Das ist eigentlich schon das ganze Geheimnis. Fast langweilig einfach, findest du nicht?«

Mit wachsendem Erstaunen hatte Tatjana dieser Erklärung gelauscht.

»Das ist wirklich alles?«, fragte sie ungläubig. »Und ich dachte, Sie benutzen so selten moderne elektrische Geräte, weil Sie Angst davor haben.«

Einen Moment lang stand Hildes Mund offen vor Staunen. Dann brach sie in herzhaftes Lachen aus.

»Ich mag zwar alt sein, aber ängstlich bin ich deshalb noch lange nicht. Sonst hätte ich es damals nicht gewagt, das Geschäft nach dem Tod meines Mannes zu übernehmen und …«, setzte sie zu einer wortreichen Erklärung an, als das Telefon in der Backstube klingelte.

Es handelte sich um einen dieser altmodischen Apparate, die an der Wand hingen. Frau Bärwald blickte zuerst ratlos auf ihre teigverkrusteten Hände und dann hinüber zum Telefon Apparat.

»Ich geh schon.« Wie so oft erahnte Tatjana das Problem mehr, als dass sie es sehen konnte, und versetzte ihre Umwelt mit dieser Sensibilität ein weiteres Mal in grenzenloses Erstaunen.

»Woher weißt du …?«, wollte die Bäckerin fragen, als sich Tatjana auch schon meldete.

»Bäckerei Bärwald, Sie sprechen mit Tatjana, was kann ich für Sie tun?«, hallte ihre stets freundliche Stimme durch die Backstube.

»Jana, gut, dass du dran bist. Ich bin’s!« Es war ihr Freund Danny. Und er war unverkennbar aufgeregt.

Vor Schreck setzte Tatjanas Herzschlag einen Moment lang aus. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass schon etwas Besonderes passieren musste, damit sich ihr Freund derart aus der Ruhe bringen ließ. Natürlich galt ihr erster Gedanke Felicitas.

»Stimmt was nicht mit Fee?«, fragte sie atemlos. »Ist ihr was passiert?«

Zu ihrer großen Erleichterung lachte Danny.

»Na, das nenne ich mal eine freundliche Begrüßung. Aber gut, ich will mal nicht so sein und großzügig über dieses Manko hinwegsehen. Mum ist vorhin aufgewacht«, teilte er die umwerfenden Neuigkeiten bereitwillig mit seiner Freundin.

Von ihrem Arbeitsplatz aus konnte Hilde Bärwald sehen, wie Tatjanas Miene wie ein Geburtstagskuchen erstrahlte.

»O Mann, Danny, warum hast du das nicht gleich gesagt?«, tadelte sie ihren Freund.

»Aber das hab ich doch!«, verteidigte sich der junge Arzt gut gelaunt.

Fees plötzlicher Zusammenbruch und ihre mysteriöse Erkrankung hatten die ganze Familie in tiefe Agonie gestürzt. Schlagartig war alles Lachen, jede Fröhlichkeit aus dem Hause Norden gewichen. Wie ein dunkles Tuch hatte sich die Angst auf die Gemüter aller Familienmitglieder gelegt. Die Nachricht, dass sich Felicitas‘ Zustand endlich besserte, erhellte den düsteren Himmel wie ein Leuchtfeuer. »Bevor Dad in die Praxis gekommen ist, war er in der Klinik«, fuhr Danny schnell fort. »Mum ist kurz aufgewacht und hat ein paar Worte mit ihm gesprochen. Ganz offensichtlich ist sie auf dem Weg der Besserung.«

»O Danny, das ist die schönste Nachricht, die ich seit langem bekommen habe.« Plötzlich wurden Tatjanas Knie weich. Sie lehnte sich gegen die Wand und drückte die heiße Wange gegen die kühle Kachel. »Ich fahre in die Klinik, sobald mir Frau Bärwald erklärt hat, wie ich einen Hefeteig zum Leben erwecke.«

»Klingt eher nach einer Lehrstunde in Hexerei denn nach einer Bäckerlehre«, machte Danny keinen Hehl aus seiner Belustigung. »Früher wärst du für so eine Bemerkung ohne viel Federlesen, auf dem Scheiterhaufen gelandet.«

»Tja, glücklicherweise passiert das heute nur den Rosinenbrötchen«, fand Tatjana zu ihrer alten Schlagfertigkeit zurück und legte nach kurzem Abschied auf.

Als sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war sie wie ausgewechselt.

»Endlich erkenne ich dich wieder!«, nickte Hilde Bärwald zufrieden und warf eine Handvoll Teig so schwungvoll vor Tatjana auf die Arbeitsplatte, dass es klatschte. Eine Mehlwolke wirbelte auf und bedeckte nicht nur Tatjana mit einer feinen Staubschicht.

»Macht es einen Unterschied für meine Arbeit, ob ich fröhlich und gut gelaunt bin oder mich wie ein ausgewrungener Waschlappen fühle?«, fragte sie frech. Sie schüttelte sich wie ein Hund und griff nach dem Teigstück, um es kräftig zu kneten.

Frau Bärwald lachte.

»Das will ich wohl meinen«, gab sie zurück. »Dann fang mal an zu kneten.«

»Eine meiner leichtesten Übungen.« Beherzt griff Tatjana zu und walkte die Teigkugel mit aller Kraft.

Frau Bärwald stand neben ihr und beobachtete sie schweigend. Als die junge Frau innehielt, spürte sie instinktiv, dass sich ihre Lehrerin nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnte.

»Du musst noch lange, lange üben. Setz dich nicht so unter Druck. Das wird schon«, versprach sie, ehe sie sich in ihre Arbeit vertiefte und Tatjana in die hohe Kunst des richtigen Teigknetens einwies.

*

Wie jeden Vormittag saß Janine Merck auch an diesem Tag an ihrem Schreibtisch in der Praxis Dr. Norden und sortierte die Post.

»Sturmschäden höher als erwartet!«, las sie die Schlagzeile vor, die das Titelblatt der Tageszeitung zierte. Das Foto einer zerstörten Häuserzeile untermalte die Worte wirkungsvoll. »Das wundert mich nicht, so schlimm, wie es überall ausgesehen hat.« Zu gut erinnerte sie sich an die Bilder von umgestürzten Bäumen und abgedeckten Hausdächern. Auch die Praxis war nicht ungeschoren davon gekommen, und ein Dachdecker hatte helfen müssen, um die geborstenen Dachpfannen auszutauschen und das Dach wieder abzudichten.

Janines Kollegin Wendy, die das Glas mit den zuckerfreien Bonbons aufgefüllt hatte, zerknüllte die leere Plastikpackung und warf sie in den Müll.

»Es kommen immer noch Leute in die Praxis, die bei dem Sturm verletzt wurden, ihre Häuser oder Wohnungen aber nicht verlassen konnten, um sich behandeln zu lassen«, erinnerte sie sich an die Anrufe des vergangenen Tages. »Eine davon ist übrigens unsere liebe Frau Unterholzner …« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Praxistür.

Schnell faltete Janine die Zeitung zusammen und legte sie auf den Stapel zu den anderen Zeitschriften.

»Wenn man vom Teufel spricht«, raunte sie Wendy noch zu. Dann setzte sie ein freundliches Lächeln auf, um die berüchtigte Patientin zu begrüßen. »Da sind Sie ja schon, Frau Unterholzner!«

»Wo sollte ich denn sonst sein?«, knurrte Else übellaunig und humpelte zum Tresen. Dabei verzog sie demonstrativ das sorgfältig geschminkte Gesicht. »Mit diesem Klumpfuß kann ich ja schlecht über einen Laufsteg flanieren.«

Janine schickte ihrer Kollegin einen schnellen Blick, der Bände sprach. Gleichzeitig stand sie auf.

»Keine Angst. Einer unserer Ärzte wird sich Ihren Fuß so schnell wie möglich ansehen. Mit Sicherheit sind Sie bald wieder einsatzfähig.« Aus einer von Elses stolzen Erzählungen wusste die ehemalige Krankenschwester von der späten Modelkarriere der Seniorin.

Sie posierte für Kataloge und Modemagazine und lief hin und wieder bei speziellen Modeschauen für ältere, modebewusste Herrschaften. Leider schien ihr der Erfolg zu Kopf gestiegen zu sein, und sie hatte den beiden Assistentinnen mit ihren speziellen Wünschen und ihrer unfreundlichen, überheblichen Art das Leben schon das eine oder andere Mal schwer gemacht.

Im Augenblick war Elses Miene allerdings so verkniffen, dass sie weit entfernt von der gut aussehenden Mittsechzigerin war, die ihre Bewunderer aus den Heften und Katalogen anlächelte.

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Nächsten Monat hab ich einen großen Auftrag. Den kann ich unmöglich absagen«, schimpfte sie schlecht gelaunt weiter, während Janine ihr den Arm reichte und sie auf dem Weg ins Wartezimmer stützte. »Die Silver Ager sind eine nicht zu unterschätzende Wirtschaftsmacht. Anders als die Generationen vor ihnen stehen sie noch mitten im Leben und interessieren sich …« Mitten im Satz hielt sie inne und schnappte hörbar nach Luft.

Seite an Seite mit Janine stand Else Unterholzner an der Tür zum Wartezimmer und starrte ungläubig auf die Patientin, die es sich dort bereits neben anderen bequem gemacht hatte und darauf wartete, aufgerufen zu werden. Dietlinde May war in ein Magazin vertieft gewesen, das sie aber schlagartig sinken ließ, als sie die wohlbekannte Stimme vernahm. Und auch die anderen Wartenden hoben neugierig die Köpfe.

Janine ahnte nicht, warum Else stehen geblieben war. Sie sah sie auffordernd an.

»Bitte nehmen Sie Platz. Es dauert auch nicht lange.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« Schrill klang Frau Unterholzners Stimme über den Flur. Sie sah aus, als wollte sie Dietlinde May mit Blicken erdolchen. »Solange die da sitzt, setze ich keinen Fuß in dieses Zimmer.«

»Aber Frau Unterholzner …« Weiter kam Janine nicht.

»Na, momentan hab ich ja wirklich eine Glückssträhne!«, schnaufte Dietlinde May in diesem Augenblick. »Zuerst diese unerträglichen Schmerzen, dazu die Sturmschäden und dann das hier.« Ihre Augen schossen wütende Pfeile in Elses Richtung.

Verwundert blickte Janine von einer zur anderen.

»Sie kennen sich?« Diese Tatsache überraschte sie dann doch.

»Soll das ein Witz sein?« Else sah aus wie ein trotziges Kind, als sie sich zu der Assistentin umdrehte. »Schmeißen Sie diese Schnepfe sofort raus! Ich bin Privatpatientin. Ich habe einen Anspruch auf ein separates Wartezimmer!«, verlangte sie so energisch, dass es selbst der erfahrenen Janine kurz die Sprache verschlug.

Sie atmete tief durch.

»Tut mir leid, aber in dieser Praxis machen wir keine Unterschiede«, erklärte sie dann so beherrscht wie möglich. »Jeder Patient bekommt bei uns die gleiche, erstklassige Behandlung. Woher kennen Sie sich überhaupt?«, fragte sie, um von diesem heiklen Thema abzulenken.

Doch das schien genau die falsche Frage gewesen zu sein.

»Wir sind Nachbarinnen«, erwiderte Else Unterholzner mit düsterem Blick auf ihre Kontrahentin. »Dieses Walross da drüben ist eine Schande für die ganze Straße. Asozial! Ein anderes Adjektiv fällt mir dazu nicht ein.« Um ihre harten Worte noch zu unterstreichen, verschränkte sie demonstrativ die Arme vor dem Oberkörper und warf den braun gefärbten Pagenkopf in den Nacken.

Aber auch Dietlinde war nicht auf den Mund gefallen.

»Und das da drüben ist die größte Intrigantin und Unruhestifterin der ganzen Stadt. Und geizig ist sie auch noch. Können Sie sich vorstellen, dass ich diese eitle Gans seit über dreißig Jahren ertragen muss?«, wandte sie sich an den Nachbarn zu ihrer Linken.

Der setzte eine mitleidige Miene auf und suchte nach einem passenden Kommentar, als Danny Norden in der Tür zum Wartezimmer auftauchte. Das Gezeter war in der ganzen Praxis zu hören, und er versuchte, den Grund dafür herauszufinden.

»Ich muss doch sehr bitten, meine Damen!« Als er die beiden Streithennen musterte, konnte er sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen.

Doch weder Else noch Dietlinde wollten sich dreinreden lassen.

»Es tut mir ja leid, wenn ich das sagen muss, aber was wissen Sie schon vom Leben?«, ließ sich Else Unterholzner zu einem abfälligen Kommentar herab. »Wenn Sie wenigstens inzwischen promoviert hätten, wären Sie ja durchaus glaubwürdig. Aber so …« Das Ende des Satzes schwebte in der Luft, und Danny biss sich auf die Lippe.

Obwohl die meisten Patienten mehr Wert auf eine gute Behandlung denn auf einen Titel legten, war seine noch ausstehende Doktorarbeit ein immer wiederkehrendes Thema. Mehrfach hatte er sich fest vorgenommen, die Promotion demnächst in Angriff zu nehmen, sie dann aber doch immer wieder verschoben.

»Tut mir leid«, gestand er zähneknirschend.

Die Versuchung war groß, sich zu rechtfertigen, doch es gelang ihm gerade noch, ihr nicht nachzugeben. Das lag nicht zuletzt an Else Unterholzner selbst.

»Wie dem auch sei!«, winkte sie scheinbar großmütig ab und konzentrierte sich wieder auf ihre Erzfeindin Dietlinde. »Wenn Sie mich nicht sofort in ein anderes Zimmer bringen, dann zeige ich dieses Satansweib an. Nötigung, Körperverletzung, Verstoß gegen die Menschenrechte … irgendwas fällt mir schon ein.«

Unwillig verdrehte Ditte, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, die Augen.

»Bitte tun Sie ihr den Gefallen. Eine Minute zu viel mit der Madame in einem Zimmer kann lebensgefährlich sein.«

»Meine Damen«, versuchte Danny noch einmal sein Glück. »Es geht doch nur um eine kurze Wartezeit.« Doch auch seine samtweiche Stimme blieb wirkungslos.

»Nur über meine Leiche!«, fauchte Else, und schließlich gab sich Danny seufzend geschlagen.

»Bitte bringen Sie Frau Unterholzner in Behandlungszimmer 2. Wenn ich mit Frau May fertig bin, komme ich zu ihr«, teilte er Janine seinen Entschluss mit.

»Na bitte, es geht doch!«, triumphierte Else.

Sie warf den sorgfältig frisierten Pagenkopf in den Nacken und verzog die in zartem Pastell geschminkten Lippen zu einem süßlichen Lächeln.

Diesen offensichtlichen Sieg ihrer Kontrahentin konnte Dietlinde natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

»Vielen Dank für Ihre Entscheidung, Herr Doktor. Damit retten Sie mein Leben.«

Doch Else Unterholzner war es gewohnt, das letzte Wort zu haben.

»Er ist kein Doktor. Hast du das schon wieder vergessen, du dumme Gans?«, zischte sie und rauschte mit großer Geste aus dem Wartezimmer.

Vergnügte Blicke folgten ihr. Zumindest die anderen Patienten waren an diesem Vormittag voll auf ihre Kosten gekommen und konnten ihren Lieben zu Hause Außergewöhnliches berichten.

*

Tatjana Bohde hatte ihr Versprechen wahr gemacht und sich in der Pause auf den Weg in die Klinik gemacht. Fee war wach und freute sich sichtlich über den Besuch. Doch sie hatte noch nicht genug Kraft für ein langes Gespräch, sodass Tatjana munter vor sich hin plauderte und schließlich bei ihrer Leidenschaft landete.

»Das Geheimnis eines perfekt aufgegangenen Teiges liegt darin, Butter und Zucker so lange wie möglich zu schlagen, sodass eine Menge Luft eingearbeitet wird.« Zu ihrem großen Bedauern konnte Tatjana der Mutter ihres Freundes keines ihrer ersten, perfekt gelungenen süßen Teilchen mitbringen.

Die Blasen in Fees Mund schmerzten allein beim Gedanken daran, etwas zu essen. Als Ersatz hatte Tatjana daher einen riesigen Strauß bunter Sommerblumen besorgt, den sie liebevoll in einer Vase arrangierte, während sie von ihren Abenteuern in der Backstube berichtete. »Hilde – ich meine Frau Bärwald – lässt die Küchenmaschine bei dieser Sorte von Teig meistens allein arbeiten und kümmert sich um andere Sachen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für gute Tipps sie auf Lager hat. Zum Beispiel wickelt sie nasse Tücher um die Kuchenformen, damit der Teig darin besser aufgeht.« Sie hielt in ihrer Arbeit inne, und ihr versonnener Blick wanderte durchs Fenster hinaus in den schönen Garten. Doch sie sah die dicht belaubten, prächtigen Bäume des Parks nicht. All ihre Gedanken waren in der Bäckerei. »Oder wusstest du zum Beispiel, dass man Haselnüsse mit Wasser bespritzen muss, bevor man sie in der Pfanne röstet. Dann platzt die Schale auf und man kann sie ganz leicht schälen.«

Schweigend hatte Felicitas den begeisterten Erzählungen ihrer Schwiegertochter in spe gelauscht. Tatjanas Euphorie war ansteckend, und ein feines Lächeln spielte um Fees Lippen.

»Das klingt toll«, krächzte sie, als die junge Bäckerin eine Sprechpause machte.

Noch immer fiel ihr das Sprechen schwer. Doch sie wäre nicht Arztfrau, Mutter von fünf Kindern und selbst Ärztin und demnächst Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen, wenn sie sich auch nur den leisesten Anflug von Selbstmitleid erlaubt hätte.

»Ich glaube, mit der Bäckerei hast du die richtige Entscheidung getroffen.« Sie streckte die Hand aus und streichelte über Tatjanas Hand, die auf der Bettdecke lag.

Die junge Frau erwiderte die Zärtlichkeit, ein inniges Lächeln auf den Lippen und in den Augen.

»Das glaube ich auch, Fee. Weißt du, es fängt ja schon beim Geruch an. Ich kann nicht genug bekommen von dem Duft in der Bäckerei. Das Gebäck, die Brote, der Kaffee … der Gedanke daran, dass das alles einmal mir gehören wird, ist fantastisch. Ich muss mir nur noch Gedanken über die Finanzierung machen. Mein Vater hat immer noch nicht geantwortet.«

Fee bemerkte, dass das Strahlen auf Tatjanas Gesicht allmählich erlosch. Doch das lag nicht etwa daran, dass sie sich Sorgen um ihren Vater machte, der in Marokko als Ingenieur arbeitete, während seine Tochter schon vor Jahren nach Deutschland zurückgekehrt war. Der Kontakt war seither spärlich. Manchmal hörten sie wochenlang nichts voneinander. Anfangs hatte Tatjana darunter gelitten. Doch seit sie mit Danny Norden zusammen war und seine Familie gleich mit adoptiert hatte, fehlte ihr nichts mehr zu ihrem Glück.

»Aber glaub mir: all das hätte mir keinen Spaß mehr gemacht, wenn dir was passiert wäre«, gestand sie, und ihre Stimme klang plötzlich wie die eines kleinen Mädchens, das sich verirrt hatte. »Ich meine, ich habe es ja schon immer irgendwie geahnt … aber in den letzten Tagen habe ich es besonders gespürt.« Tatjana drückte Fees Hand in einer spontanen Geste an ihre Wange. »Du bist mir wie eine Mutter geworden. Ohne euch und eure Unterstützung, aber auch eure Kritik hätte ich das alles nicht geschafft. Das Studium, die Lehre, das Geschäft, das ich übernehmen soll … Allein diesen Entschluss zu treffen, hätte ich niemals gewagt. Das wäre viel zu groß für mich gewesen.«

Felicitas wusste, wie außergewöhnlich solche Worte für die tapfere junge Frau waren, die so hart gegen sich selbst war. Doch sie hatte schon immer tiefer geblickt, hatte gewusst, dass Tatjanas burschikose Art reiner Selbstschutz war, um das Mitleid ihrer Umwelt abzuwehren. Sie brauchte kein Mitleid. Das, was sie brauchte, war die Zuversicht und das Vertrauen der Menschen, die sie liebte.

»Du hättest das alles auch ohne uns geschafft«, versicherte Fee zutiefst gerührt. »Aber mit Unterstützung ist es natürlich ein bisschen leichter. Das erfahre ich gerade am eigenen Leib.« Versonnen streichelte Fee die raue Hand der jungen Bäckerin. »Deshalb habe ich dir auch zu danken. Deine Liebe und Zuversicht machen mir Mut, diese tückische Krankheit zu besiegen.«

»Das musst du auch!« Tatjanas Stimme war vehement, fast streng. »Und wenn du wieder gesund bist, backe ich dir eine Willkommens-Torte. Du wirst Augen machen!«

»Das glaube ich dir auf’s Wort«, versicherte Fee und meinte es auch so.

Trotzdem gelang es ihr nicht, ein Gähnen zu unterdrücken. Die Erschöpfung steckte ihr in den Gliedern. Eine Ruhepause war ihr trotzdem nicht vergönnt. In dem Moment, als ihr die Augen zufallen wollten, kam Lernschwester Carina mit einem Auftrag ins Zimmer.

»Sie sind ja noch wach, Frau Dr. Norden!«, stellte sie zufrieden fest. »Das trifft sich gut. Ich soll Sie darauf vorbereiten, dass die Physiotherapeutin gleich zu Ihnen kommt. Es wird Zeit, Ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.«

Mit einem gequälten Seufzen drückte sich Fee fest in die Kissen.

»Ich bin so müde!« Doch wenn sie gehofft hatte, ihrem Schicksal damit zu entgehen, so hatte sie sich getäuscht.

»Sie werden sehen: Nach der Therapie schläft es sich gleich doppelt so gut«, versprach Schwester Carina fast feierlich. »In fünf Minuten ist es so weit.« Sie winkte und wirbelte so schnell aus dem Zimmer, wie sie gekommen war.

»Du Arme!« Tatjana beugte sich über Fee und hauchte ihr einen mitfühlenden Kuss auf die Wange. »Aber wie heißt es so schön? Wer rastet, der rostet. Je eher du anfängst zu üben, desto schneller kommst du wieder auf die Beine. Und dann besuche ich zu dich zu Hause und wir beide schmieden bei einem schönen Stück Torte Pläne, wie wir das Café einrichten wollen, wenn es erst mir gehört. Ich hab da so ein paar Ideen und brauche unbedingt deine Meinung dazu.«

Einen kurzen Moment wartete Tatjana auf eine Antwort. Doch das einzige, was sie hörte, waren die regelmäßigen Atemzüge der Ärztin. Allen Ankündigungen zum Trotz war Fee Norden eingeschlafen und würde sich erst wieder wecken lassen, wenn es unbedingt nötig war.

*

Nachdem Danny Norden seine Untersuchung bei Else Unterholzner beendet hatte, schüttelte er bedauernd den Kopf.

»Tut mir leid, Frau Unterholzner. Ich muss Sie zur weiteren Untersuchung in die Klinik schicken.«

»In die Klinik?«, entfuhr es Else. Sie lag auf der Untersuchungsliege und starrte den jungen Arzt an.

Ihrer Miene war anzusehen, wie entsetzt sie über dieses Vorhaben war. »Muss das sein?«

Die Latexhandschuhe schnalzten leise, als Danny sie von den Händen zog. Mit einem gezielten Wurf landeten sie im Abfall.

»Es hat den Anschein, als hätten wir es mit einem komplexen Meniskusriss zu tun. Durch ein MRT kann dieser Verdacht bestätigt, vielleicht aber auch ausgeräumt werden.« Wie sein Vater setzte auch der junge Arzt auf umfassende Aufklärung seiner Patienten. »Aber selbst wenn eine Operation nötig werden sollte, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Dieser Eingriff ist heutzutage ein Klacks. Kein Grund zur Aufregung.« Er half Else Unterholzner von der Behandlungsliege und begleitete sie hinüber an seinen Schreibtisch. »Am besten, wir vereinbaren gleich einen Termin in der Orthopädie. Heute ist Freitag. Sie könnten Montag früh in die Klinik gehen.« Er war schon im Begriff, den Telefonhörer zu heben, als Else einen leisen Schrei ausstieß. Verdutzt blickte er auf. »Stimmt was nicht?«

»Ich …ich kann nicht in die Klinik«, stammelte sie und rang ganz offensichtlich um Fassung. »Der Auftrag nächsten Monat … den kann ich unmöglich absagen.« Händeringend suchte sie nach einem Ausweg. »Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben. Meniskus wird doch heutzutage gar nicht mehr operiert«, stellte sie Dannys Kompetenz ohne Umschweife ein weiteres Mal in Frage.

Der junge Arzt lehnte sich zurück und betrachtete seine Patientin aufmerksam. Die nackte Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben und stimmte ihn versöhnlich.

»Bei einer Meniskusverletzung der inneren Zone – und die ist bei einem komplexen Meniskusriss auch betroffen – gibt es keine guten Chancen auf eine Heilung des Schadens«, erklärte er vollkommen ruhig. »Und Sie wollen doch zurück auf den Laufsteg.« Nicht ohne Grund appellierte er an ihre Eitelkeit, und für einen kurzen Moment schien es, als wollte Dannys List aufgehen.

»Sie meinen, dass ich ohne Operation nicht mehr richtig laufen kann? Das wäre eine Katastrophe. Wenn ich nur an die Modenschauen denke …«

»Ich will auf keinen Fall den Teufel an die Wand malen«, erklärte Danny. Ihre Bemerkung wegen seiner ausstehenden Doktorarbeit hatte sich wie ein Feuermahl in sein Gedächtnis eingebrannt, und er wusste, dass er behutsam vorgehen musste. »Falls sich meine Befürchtung jedoch bestätigt, kann ich für nichts garantieren.«

Trotz ihrer Schmerzen saß Else mit elegant übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und dachte nach. Plötzlich glättete sich ihre Miene, und ein fast zufriedener Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit.

»Also gut, ich gehe in die Klinik«, beschloss sie und drückte sich vorsichtig vom Stuhl hoch. »Die Ärzte dort sind ja wohl hoffentlich alle promoviert und werden Ihre Diagnose mit Sicherheit widerlegen.« In diesem Moment waren alle Angst und Unsicherheit aus ihren Augen verschwunden, und die elegante Dame wirkte kämpferisch wie eh und je.

Nur mit Mühe konnte Danny Norden ein Seufzen unterdrücken. Es gab Menschen, denen konnte nicht geholfen werden. Auch er stand auf und begleitete sie zur Tür.

»Wie Sie meinen.« Er wusste, dass jedes Argumentieren vergeblich sein würde.

Diese Patientin würde erst an seine Kompetenz glauben, wenn die Kollegen seine Diagnose bestätigten. Als er ihr nachsah, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen den Flur hinunter ging, um im Wartezimmer auf das Taxi zu warten, das sie zuerst nach Hause und dann in die Klinik bringen würde, wünschte er sich einen heißen kurzen Augenblick lang, dass sie wirklich krank war. Gleichzeitig schämte er sich dieses Gedankens und nahm sich vor, die Promotion endlich anzupacken. Else Unterholzners Misstrauen war der Tropfen gewesen, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hatte.

*

»Ich liebe meine Arbeit ja wirklich. Aber bei den beiden bin ich froh, dass wir sie erst mal los sind«, stöhnte Janine auf, nachdem sich die Praxistür zuerst hinter Dietlinde May – Dr. Norden senior hatte sich um die rüstige Rentnerin gekümmert – und schließlich auch hinter Else Unterholzner geschlossen hatte. »Was haben wir eigentlich verbrochen, dass wir mit solchen Patienten gestraft werden?«, fragte sie und griff nach der Tasse Kaffee, die auf ihrem Schreibtisch stand.

»Ach, komm schon. Sei nicht so hart. Wer weiß, was die beiden erlebt haben, dass sie so verbittert sind«, gab Wendy in so auffallend mildem Tonfall zurück, dass Janine hellhörig wurde. »Außerdem sind ja glücklicherweise nicht alle Patienten so.«

»Wie meinst du das?« Mit der Kaffeetasse in der Hand versetzte Janine ihrem Stuhl einen Schubs, sodass er sich mit Schwung zu Wendy herumdrehte.

Die saß an ihrem Schreibtisch und lächelte fast verträumt auf eine Pralinenschachtel hinab. Eine einzelne gelbe Rose war darauf befestigt. Der forschende Blick ihrer Kollegin ließ sie wieder Haltung annehmen. Entschieden hob sie die Schachtel hoch und hielt sie Janine hin.

»Genau so, wie ich es gesagt habe. Das ist übrigens von Herrn Holtz. Mit den besten Grüßen.«

»Die sind doch bestimmt für dich«, mutmaßte Janine und registrierte amüsiert die brennende Röte, die Wendy in die Wangen stieg.

»Warum sollte er mir allein Pralinen schenken?« Gleichzeitig beugte sich Wendy tief über die Akten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen.

»Vielleicht weil du ihm gefällst.«

»Unsinn. Der gute Mann ist acht Jahre jünger als ich.«

»Aha, das hast du also schon rausgefunden?« Mit jeder Minute wuchs Janines Belustigung. »Aber ist er nicht verheiratet? Er trägt doch einen Ehering …« Zu ihrem Leidwesen konnte sie die Unterhaltung nicht fortsetzen, da sich in diesem Augenblick die beiden Chefs wie auf ein unsichtbares Zeichen hin zu ihnen gesellten. Der letzte Patient vor der Mittagspause hatte die Praxis verlassen, und es blieb Zeit für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel.

»Ah, gut, du hast Frau Unterholzners Besuch also überlebt«, bemerkte Daniel schmunzelnd in Richtung seines Sohnes.

»Mit knapper Not«, grinste Danny. »Wie war es mit Frau May?«

»Ich kann mich nicht beklagen. Zu mir ist sie eigentlich immer sehr nett. Ich wusste gar nicht, dass sie die Krallen derart ausfahren kann.«

»Vielleicht ist sie nur in Kombination mit der schönen Else so eine Giftspritze«, mutmaßte Danny und griff in das Glas mit den zuckerfreien Fruchtbonbons. Nachdenklich wickelte er eines aus und steckte es in den Mund. »Was fehlt Frau May eigentlich?«

»Sie leidet an einem Hallux val …«

»…gus … einem Überbein«, fiel Danny seinem Vater ins Wort.

Daniel lächelte zufrieden. »Bei dieser Verformung wandert der erste Mittelfußknochen nach außen und verbreitert den Fuß. Dies geschieht meist wegen zu enger, zu hoher Schuhe und ist daher vor allen Dingen ein Frauenproblem«, zitierte er wie aus dem Lehrbuch.

»Sieh mal einer an. Mein Sohn ist ein wandelndes Medizin-Lexikon. Besser hätte ich es auch nicht beschreiben können«, schmunzelte Dr. Norden zufrieden. »Frau May leidet schon seit einer ganzen Weile unter dieser Deformation. Bevor die Schmerzen unerträglich werden, habe ich ihr zu einer Operation geraten. Sie macht sich gleich am Montagmorgen auf den Weg in die Klinik.«

Vor Schreck schnappte Danny nach Luft. Dabei verschluckte er das Bonbon und begann furchtbar zu husten. Daniel klopfte ihm den Rücken, und Janine sprang auf und stürzte in die Küche, um ihm ein Glas Wasser zu holen. Er dankte ihr krächzend, während ihm Tränen übers Gesicht liefen.

»Ach, du liebe Zeit!«, stöhnte er, nachdem er sich endlich erholt hatte. »Dann können wir nur für Jenny und Konsorten hoffen, dass die beiden sich dort nicht über den Weg laufen.«

»Frau Unterholzner muss auch operiert werden?« Angesichts dieser Neuigkeit runzelte auch Daniel Norden die Stirn. »Bleibt zu hoffen, dass sie auf verschiedenen Stationen behandelt werden.«

Bedauernd schüttelte Danny den Kopf.

»Wenn meine Diagnose stimmt, dann leidet die schöne Else unter einem komplexen Meniskusriss, also einem Fall für die Orthopädie. Und ich kann nur hoffen, dass die Kollegen derselben Meinung sind.« Er sah sein Glas nachdenklich an, ehe er es in einem einzigen, großen Zug leerte.

Dr. Norden Classic 40 – Arztroman

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