Читать книгу Dr. Norden Bestseller Classic 39 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Post für Sie, Herr Doktor«, sagte Loni, Dr. Nordens Sprechstundenhilfe. »Mal keine Reklame.«

Dr. Daniel Norden drehte das Kuvert um. »Jesses, der Mooslechner«, sagte er, »da schlägt mir gleich das Gewissen. Dem hätten wir längst einmal schreiben müssen.«

Aber wann kam er schon zum Schreiben. Die Freizeit war knapp, und seit die beiden Kinder geboren waren, hatte auch seine Frau Fee kaum eine ruhige Stunde. Immer wollten die kleinen Trabanten beschäftigt werden.

Dr. Ferdinand Mooslechner war ein guter Freund seines verstorbenen Vaters gewesen, ein Landarzt vom alten Schrot und Korn. An die siebzig musste er mittlerweile sein. Vielleicht hatte er sich nun doch zur Ruhe gesetzt!

Doch dem war nicht so, wie Daniel Norden dem Brief entnehmen konnte.

Viel Zeit bleibt mir ja nicht zum Schreiben, Daniel, und Dir wird es nicht anders ergehen, aber jetzt muss es mal sein. Ich brauche Deine Hilfe. Du hast mehr Verbindung zu den Spezialisten als ich. Es ist mir nicht oft passiert in meiner langen Praxis, dass ich völlig ratlos war, aber grad beim Matthias Mühlbauer, dessen Pate ich bin, stehe ich vor einem Rätsel.

Dann folgte eine kurze, präzise Schilderung des Falles, die verriet, dass auch der alt gewordene Dr. Mooslechner seine fünf Sinne gut beisammen hatte.

Manchmal kann sich der Bub kaum noch rühren, dann wieder wird es besser, aber es muss etwas unternommen werden, damit ich mich nicht später mal mit einem Schuldbewusstsein herumplagen muss. Meine Praxis ist nicht so modern ausgestattet, dass ich den Matthias gründlichst untersuchen könnte, und alt bin ich halt auch geworden. Ihr jungen Ärzte kennt viel bessere Heilmethoden. Ihr seid mehr auf dem Laufenden, und Du weißt sicher einen Kollegen, der sich mit Matthias gründlich befassen könnte. Er ist störrisch. Man muss es geschickt anfangen bei ihm. Vielleicht könnte ich ihn erst einmal zu Dir schicken. Lass es mich bald wissen. Ich wollte es Dir lieber schreiben, denn beim Telefonieren werde ich dauernd gestört. Es findet sich halt keiner mehr von den Kollegen, die aufs Land gehen wollen, da muss man im Geschirr bleiben, bis man selbst mal in die Grube fällt. Lass bald von Dir hören, mein Junge. Es würde mich freuen, und ich hoffe, dass es Euch gut geht. Deine Frau hätt’ ich auch gern mal kennengelernt. Dein alter Moos­lechner.

Ganz warm wurde es Daniel ums Herz. Er sah ihn vor sich mit den buschigen Augenbrauen über den blitzenden Augen, in denen der Schalk saß, dem breiten, wettergegerbten Gesicht, der knorrigen Gestalt.

Er war der richtige Arzt für die Leute auf dem Land. Er redete ihre Sprache, er hatte ein Ohr für alle Leiden und Sorgen, die ein karges Leben mit sich brachten. Und es wurmte ihn, wenn er nicht helfen konnte.

Ja, anschauen musste man sich den Matthias Mühlbauer schon mal, um sich ein Bild von ihm machen zu können. Und am besten würde es in diesem Fall natürlich sein, wenn er sich einer klinischen Untersuchung unterziehen würde, aber wenn er störrisch war, würde es auch nicht einfach sein, ihn dazu zu überreden. Für manche Leute, und gerade die, die auf dem Lande aufgewachsen waren, bedeutete schon das Wort Krankenhaus den Anfang vom Ende.

Daniel nahm sich vor, seinerseits den Dr. Mooslechner anzurufen. Jetzt musste er seine Sprechstunde abhalten.

*

Dr. Mooslechner machte zu dieser Zeit schon Krankenbesuche. Mit seinem alten Auto fuhr er über Land. Einen großen Bezirk hatte er zu betreuen, und er war für alles da, auch wenn eine Bäuerin ein Kind bekam. Die waren meist noch nicht zu bewegen, in die Klinik zu gehen. Sie wollten lieber daheim bleiben und auch vom Wochenbett aus den Haushalt steuern. Und zum Dr. Mooslechner hatten sie mehr Vertrauen, als zu jedem anderen Arzt.

Man sah ihm seine fast siebzig Jahre nicht an. Noch immer schritt er elastisch einher. Viel Bewegung und die gute Landluft hielten ihn frisch.

Und weil er dauernd auf den Beinen war, schlug bei ihm auch das gute Essen nicht an, das er unterwegs vorgesetzt bekam. Hier eine kräftige Brotzeit, da ein deftiges Mittagsmahl, dann auch mal ein Glas Milch und ein Butterbrot. An Appetit mangelte es ihm nicht.

Auf dem Mühlbauerhof wurde er stets als guter Freund willkommen geheißen. Da machte er auch mal länger Rast, und wenn man ihn in seiner Praxis nicht erreichte, rief man dort an.

Der Mühlbauerhof war der größte und schönste weit und breit. Gutsbesitzer wurden sie auch genannt, aber der Erbe, der Matthias, legte keinen Wert darauf. Er wollte Bauer sein. Er liebte sein Land, die Natur, seine Tiere. Es gab prächtige Pferde und wertvolle Kühe, einen Stier, wie man ihn lange suchen musste, zwei bildschöne Jagdhunde, und Hühner, die noch in einem Freigehege herumlaufen konnten und nicht in Brutmaschinen gesteckt wurden.

Mit seinen Tieren konnte er reden, aber ein Mädchen hatte dafür kaum Verständnis. Tina, Matthias Jugendfreundin hatte es auch in die Großstadt gezogen, und so war er immer noch »einspännig«, wie man hier sagte, und er schien das auch nicht ändern zu wollen, obgleich man es doch gern gesehen hätte, wenn auf dem Mühlbauerhof die Nachfolge gesichert wurde.

Eine unbändige Kraft hatte Matthias immer gehabt, nichts war ihm zu viel geworden, doch seit ein paar Monaten hatte sich das geändert.

Dr. Mooslechner machte sich ernste Sorgen, und er glaubte es Matthias schon lange nicht mehr, wenn er sagte, dass es nur halb so schlimm sei.

Auch seine Mutter war in großer Sorge und gerade heute war sie besonders froh, dass ihr Freund Ferdinand bei ihnen hereinschaute. Er hatte sich immer gekümmert um sie, und nach dem Tode ihres Mannes ganz besonders. Das war auch wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen, ohne Vorankündigung. Der Herzschlag hatte den Mühlbauer-Anton getroffen, mitten unter der Arbeit. So, wie er es sich immer gewünscht hatte, nur viel zu früh war es geschehen.

Das Hannerl, seine Frau, konnte es lange nicht verwinden, und nun machte ihr der Matthias auch noch solchen Kummer.

An diesem Tag hatte er schon arge Schmerzen. Kaum aufstehen konnte er und so ließ er es sich gefallen, dass Dr. Mooslechner ihm eine Spritze gab.

Das half, und gleich wollte Matthias wieder hinaus aufs Feld.

»So geht das nicht, Matthias«, sagte Dr. Mooslechner energisch. »Mit Spritzen allein ist da nichts getan. Du musst dich röntgen lassen.«

»Geh zu, Ferdl«, redete Matthias dagegen, »meinst, dass die Doktoren in der Stadt mehr wissen als du? Wird wohl noch von dem Tritt herkommen, den mir der Stier versetzt hat. Dieser narrische Kerl.«

Ja, das hatte Dr. Mooslechner anfangs auch gedacht, denn so ein Bursche wie Matthias hielt schon etwas aus und er hatte sich da auch bald wieder erholt. Genau wie vorher hatte er gearbeitet, war auf seinem Rex über die Felder geritten und hatte sich um alles gekümmert wie eh und je.

Und jetzt machte er sich auch wieder stark. Gerade zur rechten Zeit, denn nun kam noch Besuch. Einer, mit dem man gewiss nicht gerechnet hatte.

Die Tina Wagner war es, schlank und hübsch anzuschauen in dem grünen Lodenkostüm.

Hannerl Mühlbauer begrüßte sie freundlich, aber doch sehr zurückhaltend. Sie wusste, wie gern ihr Matthias das Mädchen gehabt hatte und wohl auch noch hatte.

»Muss doch mal hereinschauen, wie es euch so geht«, sagte Tina verlegen. »Der Dr. Mooslechner ist auch da. Es wird doch hoffentlich niemand krank sein?«, fragte sie erschrocken.

»Ach geh«, sagte Matthias, »einreden wollen Sie mir was, weil mir das Kreuz a bissel wehtut. Nett, dass man dich mal wieder sieht, Tina. Wie geht es so?«

»So là, là«, erwiderte sie ausweichend, und nun bemerkte Dr. Mooslechners scharfes Auge, dass sie schmaler und blasser war als früher, dass ihre Augen umschattet waren.

»Dem Vater geht es gut?«, fragte er.

»Bestens, den bringen auch die Rangen nicht aus dem Gleichgewicht«, erwiderte Tina.

Ihr Vater war Lehrer, und einer von den ganz guten, die es wussten, mit Kindern und jungen Leuten umzugehen. Sie lernten viel bei ihm, weil er den Unterricht lebendig gestalten konnte. Sie hatten ihn alle gern und allzu viel Kummer bereiteten ihm auch die wildesten Buben nicht.

Sein Kummer war, dass es Tina so bald in die Stadt gezogen hatte. Er hätte sie gern als Bäuerin auf dem Mühlbauerhof gesehen, Hannerl wusste das so gut, wie der Dr. Mooslechner auch.

Ein großer Redner war Matthias nie gewesen und auch jetzt fragte er nur wortkarg, ob sie länger bleiben würde.

»Nein, nur den Tag. Ich habe die Stellung gewechselt.«

Matthias warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, aber er sagte nichts.

»Von euch kommt wohl keiner mal in die Stadt?«, fragte Tina. »Jetzt, wo es Herbst ist, könntest du doch auch mal kommen, Matthias. Schöne Konzerte kannst du hören.«

Sie wusste, dass er klassische Musik liebte und erzählte ihm, dass es nächste Woche ein Orgelkonzert geben würde, für das sie Karten hätte.

»Dann könntest du doch mal rüberfahren, Matthias«, sagte Dr. Mooslechner. »Und du könntest mir auch einen Gefallen tun und bei Daniel Norden vorbeischauen. Ich bräuchte ein paar Sorten Tee, den sie auf der ›Insel der Hoffnung‹ selbst zusammenstellen.«

»Das kannst doch auch selbst, Ferdl«, brummte Matthias.

»Nein, den nicht. Den macht der Cornelius wie kein anderer.«

Das war natürlich eine Ausrede, aber eine gute, wie Dr. Mooslechner meinte.

Die Insel der Hoffnung war auch den Mühlbauers ein Begriff, und dagegen hatten sie nichts einzuwenden. Mit Naturheilmitteln konnte man Krankheiten doch besser kurieren als mit all dem Gift, meinten sie. Nur hätte man Matthias nicht vorschlagen dürfen, es doch einmal mit einer Kur zu versuchen. Da hätte er aber heftig widersprochen, weil das seiner Ansicht nach nur etwas für alte Leute wäre

»Ja, das machst, Matthias«, sagte Tina. »Du tust Dr. Mooslechner den Gefallen, und wir gehen mal ins Konzert.«

Nanu, was ist denn mit der Tina, dachte Hannerl. So hat sie doch schon lange nicht geredet.

Dr. Mooslechner lag jetzt noch etwas anderes am Herzen. Er wollte mit Tina sprechen. Und es gelang ihm auch, es so einzurichten, dass sie gemeinsam den Mühlbauerhof verließen.

Wenn es irgend ginge, würde er zum Konzert in die Stadt kommen, hatte Matthias dann doch tatsächlich versprochen.

»Hättest a bissel Zeit für mich?«, fragte Dr. Moosbauer, als er mit Tina zum Wagen ging. »Ich könnte dich heimbringen. Hätt’ etwas mit dir zu reden, Dirndl.«

»Wegen Matthias?«, fragte sie. »Er sieht nicht so frisch aus wie sonst. Was fehlt ihm denn?«

»Das weiß ich nicht. Es könnte etwas mit der Wirbelsäule sein. Ich will es nicht verheimlichen, dass ich mir Sorgen um ihn mache. Er hat manchmal arge Schmerzen. Er muss geröntgt werden, aber man bringt den Dickschädel ja nicht dazu. Vielleicht kannst du ihm gut zureden. Dr. Norden ist der Sohn meines Freundes. Ein guter Arzt. Er weiß bestimmt Rat, und die jungen Ärzte sind doch ein Stückerl weiter als wir hier auf dem Lande.«

»Sagen Sie das nicht, Dr. Mooslechner. So arg viel taugen die Städtischen auch nicht. Manch einer mag ja drunter sein, aber selten genug kommt man an den Richtigen.«

»Hast deine Erfahrung gemacht, Dirndl?«, fragte der alte Arzt.

»Ich habe eine gemacht, ja. Und sie langt mir. Nicht mit einem Arzt.«

»Aber mit einem Mann«, klopfte er auf den Busch.

»Sie haben Röntgenaugen, Dr. Mooslechner«, sagte Tina leise.

»Nur, wenn’s um die Seel’ geht, Dirndl. Kopf in den Nacken und sich tüchtig schütteln, das hilft, wenn es nicht zu tief sitzt.«

»Es ist vorbei. Wenn der Matthias auf mich hört, helfe ich Ihnen gern.«

»Ihr kennt euch doch von Kindesbeinen an, und solche Freundschaft bricht nie ganz auseinander, Tina«, sagte Dr. Mooslechner sinnend. »Das hält länger als eine Liebelei und du gehörst nicht zu denen, die sich niederwerfen lässt.«

»Geschlaucht hat es mich schon«, gab sie zu. »Aber es ist gut, dass ich beizeiten einen Denkzettel bekommen habe. Ich könnte ja vorher mal mit Dr. Norden sprechen. Er ist sehr bekannt und hat einen guten Namen. Vielleicht fällt mir was ein, wie ich Matthias mit ihm zusammenbringen kann, ohne ihn erst aufsässig zu machen. Das kann er nämlich schon sein.«

»Das weiß ich. Nett, dass du mir helfen willst. Hannerl hat ja nur noch den Buben. Bin sehr froh, dass du grad gekommen bist. Und wenn du mal Hilfe brauchst, weißt du ja, zu wem du kommen kannst.«

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ein Kind bekomme ich nicht, Dr. Mooslechner. Nein. Das tu ich mir nicht an. Aber die Männer lachen ja nur, wenn man noch seine Grundsätze hat. Da sind sie alle gleich.«

»Nicht alle, Tina«, erwiderte Dr. Mooslechner ernst. »Nein, alle darf man nicht in einen Topf werfen. Einer, der nicht in solchen Topf gehört, ist Matthias.«

»Das weiß ich, er hat es mir nicht vergessen, dass ich damals sagte, ich will auf dem Lande nicht versauern.«

Das war fünf Jahre her. Das Gymnasium hatten sie beide besucht. Jeden Tag waren sie gemeinsam in die Kreisstadt gefahren. Matthias war zwei Klassen höher gewesen als sie, und gewiss nicht einer von den Dümmsten. Aber er war dann lieber auf die Landwirtschaftsschule gegangen, als das Abitur zu machen, und das war gut gewesen, da er dann so nötig auf dem Hof gebraucht wurde.

Tina hatte das Abitur gemacht und eine Sekretärinnenschule besucht. Sie hatte dann auch bald einen guten Posten in einer Fabrik bekommen, sehr gut verdient und Gefallen an dem Leben in München gefunden.

Sie besuchte gern die Oper, Konzerte und sie war auch gern in Gesellschaft junger Leute.

Und dann hatte sie einen neuen Abteilungsleiter bekommen, Robert Carstens, in den sie sich verliebt hatte.

Und ein gutes halbes Jahr schien es auch so, als meine er es ernst mit ihr, wenn er sie auch manchmal prüde oder gar verklemmt nannte.

Fast war sie dann auch bereit gewesen, ihre Grundsätze für ihn aufzugeben, weil sie fest überzeugt war, dass er sie heiraten würde, denn davon redete er auch.

Doch dann kam die Tochter des Fabrikbesitzers aus dem Internat, kein besonders attraktives Mädchen, aber doch mit einem beträchtlichen ­Vermögen im Rücken, und einem Vater, der seine Tochter gern rasch unter die Haube bringen wollte, weil er selbst eine viel jüngere Frau geheiratet hatte.

Und sehr schnell hatte sich Robert Carstens von Tina getrennt, nüchtern, als wäre nie etwas gewesen. Er hatte Ilona geheiratet und war nun der Juniorchef. Er hatte aber dann auch die Frechheit besessen, Tina zu sagen, dass sie sich doch auch in Zukunft noch treffen könnten.

Da hatte es ihr endgültig gelangt, und sie hatte gekündigt. Eine andere Stellung war rasch gefunden. Sie war überdurchschnittlich intelligent, sprach Französisch und Englisch perfekt, und hatte auch schon eine fundierte Berufserfahrung.

Eigentlich wäre sie gern wieder heimgegangen, aber das verbot ihr der Stolz. Und Matthias sollte ja nicht denken, dass er Lückenbüßer sein solle. Aber sprechen wollte sie schon gern mal mit ihm über alles, wie sie es früher als Kinder getan hatten.

Etwas schwerfällig war er immer gewesen. Alles überlegte er sich genau, und er hatte es sich auch immer wieder überlegt, sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Ein bisschen zu lange hatte er gewartet. Tina hatte gemeint, dass sie für ihn nur die Jugendgespielin sei, und auch jetzt wusste sie noch nicht, dass es bei ihm sehr viel tiefer saß.

Dr. Mooslechner überlegte, ob Matthias’ Leiden wenigstens zum Teil auch seelisch bedingt sein könnte. Man sagte ja, dass solche Schmerzen aus Verspannungen und innerer Abwehr entstehen könnten. Aber er wollte es nun genau wissen, das war er dem Hannerl schuldig.

Als er Tina vor dem Lehrerhaus absetzte, hatten sie viel miteinander geredet und nun hatte er eine Verbündete gefunden.

»Ich mag den Matthias sehr gern«, sagte Tina. »Ich werde mich kümmern, Dr. Mooslechner. Danke, dass Sie mich eingeweiht haben. Wenn er nur nicht gar so ein Dickschädel wäre.«

Aber das war er nun mal. Und hineinschauen in sich, ließ er niemanden, auch nicht seine Mutter.

»Magst die Tina immer noch, Bub?«, fragte Hannerl.

»Freilich mag ich sie. Wir kennen uns lange. Aber sie hat sicher in der Stadt einen gefunden, der ihr besser gefällt und ihr mehr bieten kann.«

»Du tätst sie heiraten?«, fragte Hannerl.

»Ach was, denk nicht gleich das, Mutter.« Nein, um nichts in der Welt hätte er preisgegeben, wie gern er Tina hatte, sie nicht vergessen konnte.

Er ging nun zu seinem Rex, der freudig wieherte. »Mit dem Reiten ist es noch nichts, Rex«, sagte er. »Diese starken Schmerzen, aber wenn’s sein muss, geh ich auch zu einem städtischen Doktor und lasse mich durchleuchten, damit es endlich besser wird. Ich hab’ ja gemeint, es würde an dem verflixten Wetter liegen, aber dem ist wohl doch nicht so. Du musst bewegt werden, mein Guter, sonst setzt du Fett an, und das tut nicht gut. Wenn die Tina geblieben wär’, hätte sie dich reiten können. Sie ist doch immer so gern geritten. Vermisst sie das denn gar nicht?«

Doch darauf konnte ihm Rex auch keine Antwort geben. Er schmuste. Das tat er gern. Er rieb seinen Kopf an Matthias’ Schulter und schmatzte dann den Apfel herunter, den er bekam.

Es gab auch noch neun andere Pferde auf dem Mühlbauerhof, aber Rex nahm einen besonderen Platz ein. Er war nicht nur schön, er hatte auch Gemüt. Das sagte Matthias. Und das sagte er auch von seinen beiden Hunden, Troll und Dolly, die ihm auf Schritt und Tritt folgten, und sich zu wundern schienen, wie schwer ihm jeder Schritt wurde.

Matthias machte sich Gedanken, weil es gar nicht besser wurde und weil auch die Spritze nicht lange wirkte. Er dachte an seine Mutter, an den Hof, seine Viecherl, und auch daran, wie schwer man Leute fand, auf die man sich verlassen konnte.

Es musste wieder aufwärtsgehen mit ihm.

*

Tina dachte unentwegt über Matthias nach. Was war er doch für ein Bursche gewesen, kraftstrotzend, allen anderen überlegen und wenn einer ihr dumm kam, brauchte er nur in Erscheinung zu treten, dann stoben die andern davon.

Sie hatte plötzlich Angst um ihn, eine irrsinnige Angst sogar. Und als sie nach München zurückkam, suchte sie gleich Dr. Nordens Telefonnummer heraus, denn die hatte Dr. Mooslechner ihr vergessen zu geben in der Eile.

Daniel Norden hatte indessen Dr. Mooslechner nach mehreren Fehlversuchen erreicht. Ein langes Gespräch hatte er mit ihm geführt und auch einiges über Tina Wagner erfahren.

Und dann meinte er, dass es Gedankenübertragung sein müsse, als Tina ihn anrief.

»Am besten wäre es, wenn Sie persönlich zu mir kommen würden, Fräulein Wagner«, sagte er. »Ich habe gerade mit Dr. Mooslechner telefoniert. Es wäre schon gut, wenn wir uns besprechen würden, da es sich ja anscheinend um einen schwierigen Patienten handelt.«

»Um einen Dickkopf«, sagte sie. »Ja, es wäre nett, wenn wir uns absprechen würden, vorausgesetzt, dass Matthias überhaupt kommt.«

Doch da redete ihm seine Mutter zu. Sie war zwar reserviert, wenn es um Tina ging, aber das Wohl ihres Sohnes lag ihr so am Herzen, dass sie zu jedem Zugeständnis bereit war.

»Es würde dir guttun, mal wieder ein schönes Konzert zu hören, Bub«, sagte sie. »Tina hat recht. Ab und zu braucht man Abwechslung, dann gefällt es einem umso besser daheim.«

Sie fand schon die richtigen Worte. Sie liebte ihren Sohn über alles. Und wenn er nur zuversichtlich dreinschaute, lebte sie auch wieder auf.

Sie hätte ihn gern glücklich gesehen mit einer lieben Frau, noch lieber hätte sie schon ein paar Enkelkinder gehabt.

Schade wäre es doch um den schönen Hof, wenn es keinen Erben mehr gäbe. Auch darüber machte sie sich Gedanken, aber wichtiger als alles andere war ihr doch der Bub, ihr Matthias.

»Möchtest nicht auch mal nach München fahren?«, fragte Matthias.

»Wenn du meinst, tät ich schon mitkommen, aber ins Konzert gehst dann allein mit der Tina. Ich kann nicht so lange sitzen. Ich könnte dann ja mal das Sopherl besuchen.«

»Das ist eine gute Idee, Mutter«, sagte Matthias. »Magst du die Tina eigentlich noch?«

»Freilich mag ich sie. War immer ein gescheites Mädel, und wie es scheint, hat sie langsam auch genug vom Stadtleben.«

»Meinst du?«

»Ich denk es.«

Mehr wollte sie nicht sagen. Ein bisschen anders dachte sie schon noch, aber sie wollte das nicht laut werden lassen.

Sie hatte Angst, dass sich etwas herausstellen könnte, was schlimm war. Entsetzliche Angst hatte sie, aber Hannerl Mühlbauer zeigte niemals ihre Angst. Sie hatte damals auch tapfer am Totenbett ihres Mannes gestanden, mit gefalteten Händen und hatte gesagt: »Solch einen Tod wünsch ich mir auch, Tonerl. Mit dir hat es der Herrgott gut gemeint.«

Geweint hatte sie nur für sich, in ihrer Stube, um den geliebten Mann, der ihr so viel bedeutet hatte. Aber jetzt bedeutete ihr Matthias noch mehr, weil er jung war, weil sie ihn zur Welt gebracht hatte, weil er ein Stück von ihr war und von ihrem Tonerl. Zu jedem Opfer war Hannerl Mühlbauer bereit. Auch dazu, Tina alles zu verzeihen, wenn sie nur gut zu ihrem Buben war.

Aufs Altenteil wollte sie sich gern zurückziehen und den jungen Leuten nichts dreinreden, und Tina hätte das Haus so ummodeln können, wie sie wollte. Aber da dachte sie schon zu weit in die Zukunft. So sollte es denn auch nicht sein. Zuerst musste Matthias geholfen werden.

*

Am nächsten Vormittag, gegen zwölf Uhr, kam Tina zu Dr. Norden in die Praxis. Er hatte seiner Frau Fee schon gesagt, dass er vielleicht einen Gast zum Mittagessen mitbringen würde, aber anschauen wollte er sich die Tina vorher doch.

Er mochte sie auf den ersten Blick, aber er unterhielt sich auch noch eine Viertelstunde mit ihr.

Und Tina fühlte, dass sie mit diesem Dr. Daniel Norden genauso reden konnte wie mit Dr. Mooslechner, obgleich sie vor sich einen umwerfenden Mann sah, der jedes Mädchenherz höherschlagen ließ.

»Ich bin mit Matthias aufgewachsen«, begann sie. »Sein Vater war mein erster Lehrer. Was man so an Streichen tat in der Kindheit, haben wir gemeinsam verbrochen. Der Matthias war immer besonnen und hat manches verhindert, was schlimm hätte ausgehen können. Es war schrecklich, als sein Vater so plötzlich starb. Vielleicht hat es ihm doch einen Schock versetzt. Ich kann einfach keine andere Erklärung finden dafür, dass er so schlecht beieinand ist ... Seine Mutter ist eine großartige Frau. Alles stimmt doch. Und Geldsorgen haben sie nie gehabt.«

»Sie suchen also einen seelischen Ursprung?«, fragte Daniel Norden.

»Ich verstehe zu wenig von der Medizin«, erwiderte Tina. »Dr. Mooslechner ist für uns der Arzt überhaupt. Das nehmen Sie mir doch nicht übel?«

»Im Gegenteil. Ich habe ihn auch immer gern gemocht, und mein Vater hat große Stücke auf ihn gehalten. Aber wären Sie jetzt damit einverstanden, dass wir zu uns fahren? Meine Frau würde sich freuen, wenn Sie mit uns essen würden.«

»Einfach so?«, fragte Tina irritiert.

»Einfach so, das mögen wir. Ich würde mich gern noch länger mit Ihnen unterhalten, und Fee kennt Dr. Mooslechner noch gar nicht persönlich. Hunger habe ich außerdem auch.«

Wenn Matthias doch nur ein ganz klein bisschen von Dr. Norden hätte, dachte Tina. So frei müsste man mit ihm auch reden können.

»Sie sind wahnsinnig nett, Herr Dr. Norden«, sagte Tina. »Aber wenn Dr. Mooslechner jemanden so mag, muss er ja nett sein.«

Dasselbe dachte Daniel von ihr und auch Fee war da seiner Meinung. Ihr konnte er es gleich immer am Gesicht ansehen, was ihr durch den Sinn ging.

Doch auch Danny fand sich bereit, Händchen zu heben und Felix fremdelte nicht.

»Sind die Kinder wonnig«, sagte Tina weich. »Dr. Mooslechner würde sich narrisch freuen, wenn er die mal sehen könnte. Aber er kommt ja gar nicht raus aus seinem Trott.«

»Dann werden wir wohl mal einen Besuch bei ihm machen müssen«, sagte Fee.

»Da tät er ja Purzelbäum schlagen«, meinte Tina. »Gut beieinand ist er schon noch. Ich meine fast besser, als derzeit Matthias.«

Es gefiel Fee, dass sie so redete, wie sie es wohl in ihrer Heimat gewohnt war.

Und als sie dann gut und auch reichlich gegessen hatten, sprach Tina auch von sich.

»Es muss wohl gesagt sein, dass ich mit Matthias sehr befreundet war. Und auch noch bin«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu. »Nur bin ich nach München gegangen und habe mir eingebildet, dass ich es hier zu mehr bringen könnte.«

»Haben Sie das nicht?«, fragte Fee nachdenklich.

»Ja, was den Beruf anbelangt schon. Aber ich habe auch manches einstecken müssen. Ich mag unser Dorf und die Leute, aber als Bäuerin tauge ich nicht. Oder vielleicht doch, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Wenn man die Menschen besser kennt, lernt man die Tiere und die Natur mehr lieben. Da gibt es kein Falschsein. Matthias hat das immer gesagt, und ich habe darüber gelächelt. Ich schäme mich dafür.«

»Das brauchen Sie doch nicht, wir alle müssen Erfahrungen sammeln, einer so, der andere so«, sagte Fee. »Auf die Selbsterkenntnis kommt es am Ende an. Ich denke, wir machen es so, dass Sie Herrn Mühlbauer hierher bringen, damit er nicht den Eindruck hat, in eine Arztpraxis geschleppt zu werden. Ich werde den Tee von der Insel kommen lassen. Das war eine ganz gute Idee von Dr. Mooslechner. Und uns wird bestimmt etwas einfallen, Herrn Mühlbauer zu überreden, sich klinisch untersuchen zu lassen.«

»Das überlasse ich dir, Fee«, sagte Daniel lächelnd. »Die besten Ideen hat immer meine Frau«, fügte er hinzu.

Was ist das für ein Paar, dachte Tina.

Einfach ideal. So, wie man es sich erträumt.

Von Fee Norden war sie ebenso begeistert wie von ihrem Mann. Da stimmte alles, und dazu noch diese süßen Kinder, dieses Haus, in dem man sich wohl fühlen musste. Man konnte, ja, man musste ins Träumen geraten.

»Sie rufen uns an, wenn Herr Mühlbauer kommt?«, fragte Fee.

»Wenn ich das darf«, sagte Tina.

»Das ist abgemacht. Übrigens würde ich das Orgelkonzert auch gern hören, aber ich habe einfach keine Zeit, mich um Karten zu kümmern«, sagte Fee.

»Vielleicht kann ich noch welche bekommen«, sagte Tina. »Ich kenne ein Mädchen, das gute Verbindungen hat. Oh, es wäre schön, wenn wir Sie dort treffen würden.«

»Wenn es klappt, können Sie mit meiner Frau rechnen«, sagte Daniel. »Bei mir ist das immer ungewiss, aber die zweite Karte würden wir bestimmt unterbringen.«

»Ich werde mich gleich bemühen«, sagte Tina. »Aber dann sind Sie meine Gäste. Ich schulde Ihnen viel Dank.« Sie ließ ihren Blick zwischen Fee und Daniel hin und her wandern. »Helfen Sie Matthias, wenn es möglich ist«, schloss sie.

*

Es herrschte Einigkeit darüber, dass Matthias Mühlbauer geholfen werden sollte. Aber wie, solange man nicht wusste, was ihm fehlte?

Schon am nächsten Tag hatte Tina bei den Nordens angerufen und gesagt, dass sie noch zwei Karten für das Konzert bekommen hätte. Noch aber stand die Zusage von Matthias aus.

Doch zu Tinas Erleichterung bekam sie auch die. Ein wenig beklommen war es ihr schon zumute, als er sagte, dass auch seine Mutter mit nach München kommen würde, aber das gab sich gleich als er hinzufügte, dass sie ihre Kusine Sopherl besuchen wolle.

»Dann trinken wir bei mir Kaffee«, schlug sie vor, und damit erklärte sich Matthias einverstanden. Sie beschrieb ihm, wie er zu ihrer Wohnung gelangen könne, denn das war ein ganz neues Viertel, das selbst Einheimische noch nicht kannten.

Diese Wohnung betrachtete Tina immer mit gemischten Gefühlen, denn Robert Carstens hatte sie mit ihr ausgesucht, und er hatte die Wohnung nebenan schon vorher inne.

»Wenn wir heiraten, lassen wir einfach eine Verbindungstür einbauen«, hatte er gesagt.

Es war nur gut gewesen, dass man von solchen Aussprüchen im Büro nichts gewusst hatte.

Nun war Robert schon längst ausgezogen. Während Tina ihren Jahresurlaub genommen hatte, war das geschehen. Der Urlaub stand ihr noch zu, darauf folgte dann der Stellungswechsel. Und in Roberts Wohnung war eine nette junge Frau eingezogen, die genau so zurückgezogen lebte wie Tina.

Robert hatte sie nicht wieder getroffen, und sie wollte ihn auch niemals wiedersehen. Ihr Stolz hatte doch empfindlich gelitten, aber jetzt hatte sie Abstand gewonnen und schalt sich, so töricht gewesen zu ein.

Ihre Gedanken beschäftigten sich in ihrer Freizeit ausschließlich mit Matthias und dieser geheimnisvollen Krankheit, der der erfahrene Dr. Mooslechner nicht zuleibe rücken konnte.

Ihren Vater hatte sie gefragt, aber der hatte sie konsterniert angeschaut.

»Matthias soll krank sein? Ein Mann wie er ist nicht krank. Den kann selbst ein Stier nicht umwerfen.«

»Wieso ein Stier?«, hatte sie gefragt.

»Getreten hat dieser wilde Bursche ihn doch mal, als so ein paar alberne Ausflügler ihn verrückt gemacht hatten. Wollten wohl privaten Stierkampf inszenieren. Zu dumm sind diese Leute manchmal, fordern die Gefahr einfach heraus. Ein paar Tage ist der Matthias schon herumgehumpelt, aber dann war er wieder ganz der Alte. Wenn es ihm jetzt nicht gut geht, kommt es wohl daher, dass er zu viel arbeitet. Man bekommt ja kaum noch Leute, und er ist nun mal arbeitswütig.«

Tina hatte dazu nichts mehr gesagt. Voller Spannung wartete sie auf den Tag an dem Matthias kommen und die Begegnung mit Dr. Norden stattfinden sollte.

Während dieser Tage ging es Matthias wieder bedeutend besser, und darüber machte sich nun seine Mutter ihre Gedanken. Auch mit ihr hatte Dr. Mooslechner darüber gesprochen, dass Gelenkschmerzen durch einen seelischen Zwiespalt verstärkt werden könnten.

Sollte es bei Matthias so sein? Hatte er Tina mehr vermisst, als er sich eingestehen wollte? War nun die Freude, sie wiedergesehen zu haben und womöglich doch öfter zu treffen, der Grund, dass sich sein Befinden gebessert hatte?

Die härteste Arbeit war nun auch getan. Der Herbst war gekommen, die Zeit der Jagd. Doch Matthias zeigte dafür keine Neigung. Er hatte sogar beiläufig bemerkt, dass es wohl besser wäre, sie an den Pichler zu verpachten.

»An einen Städter?«, fragte Hannerl bestürzt.

»Er versteht was von der Jagd«, erwiderte Matthias. »Er hat mich neulich gefragt deshalb. Ist doch ein zuverlässiger Mann. Hast du etwas dagegen, Mutter?«

»Das entscheidest du«, sagte sie.

Er hatte es entschieden, und das wiederum sprach nicht dafür, dass er sich ganz wohl fühlte.

Sie war froh, als die Woche vorbei und der Tag herangekommen war, an dem sie nach München fuhren. Hannerl konnte sich sehen lassen in ihrem schwarzen Trachtenkostüm. Groß und schlank war sie und aufrecht hielt sie sich, und selbst das silbergraue Haar änderte nichts daran, dass sie jünger aussah, als sie war. Sie hatte es zu einem schlichten Knoten im Nacken verschlungen.

Matthias war sehr überrascht, als sie erklärte, dass sie es sich abschneiden lassen wolle.

»Es ist einfacher«, meinte sie. »Man braucht dann nur ein paar Mal mit der Bürste hindurchzufahren.

»Du freust dich ja richtig auf die Stadt, Mutter«, staunte Matthias.

»Freilich freu ich mich«, gab sie zu. »Es braucht halt einen Anstoß. Du bist ja nicht unternehmungslustig.«

Auch Matthias trug einen Trachtenanzug. Damit könne man überall hingehen, meinte er.

So, mit dem weißen Hemd und dem Brokatbinder, den Hannerl ihm zuWeihnachten geschenkt hatte, sah er schon sehr imponierend aus. Hannerl meinte für sich voller Mutterstolz, dass er schon ein Mannsbild war, nach dem die Frauen sich umschauen würden. Es gefiel ihr nur nicht, dass er so viel abgenommen hatte, dass er die Hose mit Trägern halten musste und die Jacke recht salopp saß. Hager war auch sein Gesicht geworden, aber so markant waren seine Gesichtszüge, dass man ihn auch für einen Intellektuellen halten konnte.

»Deppert braucht ein Bauer nicht sein«, hatte der Mühlbauer-Toni gesagt, als der Lehrer Wagner darauf bestand, Matthias aufs Gymnasium zu schicken. Er selbst hatte zwar nur die Realschule besucht und später dann die Landwirtschaftsschule, aber gescheit war auch er gewesen.

Bürgermeister war er geworden, und in den Landtag hatte man ihn wählen wollen, aber das hatte er dann doch nicht gewollt. Ihm war der Hof wichtiger, aber für die Belange der kleinen Leute setzte er sich schon gewaltig ein. Und da gab ihm Matthias nichts nach.

Hannerl setzte sich neben ihren Sohn in den Wagen, nachdem sie ihre Gedanken mal wieder hatte in die Vergangenheit schweifen lassen. Den Wagen hatten sie auch schon zu Lebzeiten ihres Mannes gehabt. Er sah immer noch gut aus. Matthias ließ nichts verkommen.

»Über hunderttausend Kilometer hat er schon drauf«, stellte Hannerl fest, denn sie fuhr ihn auch manchmal.

»Der macht’s noch lang«, erwiderte Matthias. Er hatte wirklich keine Mucken, der Wagen weniger als der Bauer, wie Hannerl schmunzelnd für sich feststellte.

Er brummte in sich hinein, als sie die neue Siedlung erreichten, mit den modernen Häusern. Es gab hässlichere. Man hatte hier versucht, sich mehr der Villengegend anzupassen, doch Matthias gefiel auch das nicht.

»Wie man hier nur wohnen mag«, sagte er. »Ich verstehe nicht, dass Tina sich da wohl fühlen kann.«

»Die Wohnungen werden schon hübsch sein«, meinte Hannerl versöhnlich. »Und billig sind sie bestimmt nicht. Tina muss ganz gut verdienen.«

Matthias sagte darauf nichts. Die Wohnung war sogar sehr hübsch, wie sie dann feststellen konnten. Blumen aus dem eigenen Garten hatten sie Tina mitgebracht. Einen großen bunten Herbststrauß, den Tina in einen schönen kupfernen Krug ordnete.

»Hübsch hast du es«, sagte Hannerl anerkennend. Schön waren auch die schlichten Eichenmöbel. Alles war rustikal, aber doch nicht zu wuchtig.

Tina hatte selbstgebackenen Kuchen anzubieten, Apfel- und Zwetschgenkuchen, und er war ihr gut gelungen.

Festlich hatte sie den Tisch gedeckt und der Kaffeeduft zog schon durch die Wohnung.

»Ich freue mich, dass ihr gekommen seid«, sagte sie.

Matthias war wieder sehr schweigsam, aber Hannerl hatte eine ganze Menge zu fragen, und sie stand auch eine ganze Zeit auf dem Balkon, von dem man einen hübschen Ausblick hatte.

»Fühlst dich wohl hier, Tina?«, fragte sie.

»Es geht schon«, erwiderte Tina ausweichend. »Der Betrieb in der Stadt kann einen schon manchmal verrückt machen, wenn man unterwegs ist, hier draußen ist es schon besser.«

»Hast Freunde gefunden?«, tastete sich Hannerl langsam vor.

»Keine richtigen Freunde«, erwiderte Tina. »Man trifft sich manchmal, aber jeder hat sein eigenes Leben. Ich bin abends zu müde um auszugehen, es sei denn in die Oper oder ins Konzert.«

Matthias blätterte indessen in einem Magazin, das herrliche Bilder von Griechenland zeigte.

»Warst du da schon, Tina?«, fragte er.

»Ja, voriges Jahr.«

»Hast du schon viel von der Welt gesehen?«

»Auf Sardinien war ich, und dann in der Schweiz zum Skifahren.«

»Allein?«, fragte er.

»Wir waren mehrere Leut’«, erwiderte sie ausweichend.

»Was sind das für Leut’?«

Seine Mutter warf ihm einen mahnenden Blick zu, doch den übersah er geflissentlich.

»Kollegen«, erwiderte Tina lakonisch. »Man muss sich schon ein wenig umschauen in der Welt, dann gefällt es einem zu Hause viel besser.«

»Ich brauch mich nicht umzuschauen. Nirgendwo ist es so schön, wie bei uns daheim.«

So hatte er auch schon früher geredet, als Tina noch gemeint hatte, dass sie mal beisammen bleiben würden, und das hatte ihr nicht gefallen.

Sie hatte schon etwas von der Welt sehen und andere Menschen kennenlernen wollen.

Nun, da sie zurückblickte, musste sie zugeben, dass sie mehr trübe, als gute Erfahrungen gemacht hatte, denn alles in rosarotem Licht zu sehen, wie so manche, war sie nicht bereit.

Vielen genügte es ja, wenn sie erzählen konnten, was für Reisen sie schon gemacht hatten, und wenn sie sich dabei auch so manches Mal geärgert hatten, verschwiegen sie die trüben Seiten.

So war Tina nicht. Die Reise nach Griechenland war teuer gewesen, das Hotel durchaus nicht dem Preis entsprechend. Das Essen war ihr nicht bekommen. Der dauernde Sonnenschein hatte das nicht ausgleichen können.

Und außerdem hatte sie diese Reise noch mit Robert gemacht und schon deshalb wollte sie sich nicht zurückerinnern. Sie hatte gewaltig draufgezahlt dabei. Robert hatte immer irgendwelche Ausreden gehabt, wenn es ans

Bezahlen ging, da sie ja genügend Geld umgetauscht hatte. Sie würde dann alles daheim zurückbekommen von ihm, hatte er gesagt. Das Rücktauschen der Landeswährung brächte nur Verluste. Zurückbekommen hatte sie nichts. Vier Wochen später hatte er sich mit Ilona verlobt.

»Ich werde mir ein Taxi bestellen«, sagte Hannerl Mühlbauer in ihre Gedanken hinein.

»Wir können doch bei Tante Sopherl vorbeifahren, Mutter«, sagte Matthias. »Das ist doch kein großer Umweg.«

»Wenn es Tina recht ist?«, meinte Hannerl.

»Freilich. Ich muss mich nur noch umkleiden.«

»Mach dich nicht zu fein«, sagte Matthias. »Kann ich mit meinem Trachtenanzug da überhaupt erscheinen?«

»Er steht dir sehr gut«, sagte Tina.

Sie zog ein tannengrünes Kostüm an, das schlicht und hochgeschlossen war. Ihr wundervolles, kastanienbraunes Haar und die helle Haut wurden dadurch noch mehr unterstrichen.

An ihr können die Männer doch nicht achtlos vorbeigegangen sein, dachte Hannerl Mühlbauer, und vielleicht ging Matthias Ähnliches durch den Sinn.

Tina war nicht einfach nur ein hübsches Mädchen. Sie war apart, sie hatte eine besondere Note.

»Werdet ihr noch ausgehen nach dem Konzert?«, fragte Hannerl beiläufig. »Ich frage nur, weil Sopherl meist früh zu Bett geht.«

»Ich kann in einer Pension schlafen, Mutter«, sagte Matthias. »Oder ich fahre heim und hole dich morgen ab.«

»Nein, in der Nacht fährst du nicht heim«, protestierte Hannerl. »Pass auf, dass er das nicht tut, Tina.«

»Ich werde es nicht erlauben«, versprach Tina. Dass sie noch ausgehen würden, dachte sie nicht, aber wenn alles klappte, würden sie doch noch ein wenig mit den Nordens beisammen sein.

Matthias konnte auch in ihrem Zimmer schlafen und sie auf der Couch im Wohnzimmer, aber das schlug sie doch nicht vor, weil sie nicht wusste, wie Hannerl Mühlbauer das auffassen würde.

»Bevormunde mich nicht immer, Mutter«, sagte Matthias. »Es gibt genug Hotels in München. Wenn du dich auch schwer daran gewöhnen kannst, ich bin erwachsen.«

»Ich will dich nicht bevormunden, ich würde mir nur Sorgen machen, wenn du nachts heimfährst«, erwiderte Hannerl sanft.

Tina warf ihr einen bedeutsamen Blick zu. Sie waren sich einig. Sie waren zu Verbündeten geworden. Mit einem festen Händedruck wurde das besiegelt, als Hannerl Mühlbauer vor dem Hause ihrer Kusine Sopherl aus dem Wagen stieg.

Es war ein schönes Haus. Auch die Seitenlinie der Mühlbauers hatte keine Not zu leiden.

Sopherl war auch verwitwet. Ihre drei Kinder waren gut verheiratet, sehr wohlhabend, aber in alle Winde zerstreut.

»Ich bin froh, dass Mutter auch mal rauskommt«, sagte Matthias, als sie dann gleich weiterfuhren, denn er hatte keine Neigung, sich auf ein ausgedehntes Gespräch einzulassen.

»Und du bist nicht froh?«, fragte Tina.

»Ich freue mich auf das Konzert«, erwiderte er.

*

Bei den Nordens musste alles hopphopp gehen, denn Daniel war lange in der Sprechstunde aufgehalten worden, aber glücklicherweise kam nicht noch etwas anderes dazwischen.

Allerdings kamen sie als Letzte in die Kirche, in der das Orgelkonzert stattfand. Tina und Matthias hatten ihre Plätze längst eingenommen.

Matthias merkte gar nicht, wie Fee und Tina sich kurz begrüßten, und Daniel saß am weitesten von ihm entfernt.

Das war nur recht so, denn eine Vorstellung hätte nur Unruhe geschafft. Die wollte Tina bis zum Ende aufschieben, denn eine Pause gab es nicht.

Es war ein wundervolles Konzert, das alle auf ihre Art genossen.

Fee und Daniel sehr besinnlich, Tina aufgewühlt, weil so viel in ihrem Innern vor sich ging, und Matthias geplagt von Schmerzen, die er nicht wahrhaben wollte.

Am Ende konnte er sich dann kaum erheben. Er versuchte es, und sank dann wieder auf den Sitz zurück.

Er stöhnte leise auf. Tina war erschrocken und warf Dr. Norden einen flehenden Blick zu.

»Stütz dich auf mich, Matthias«, sagte sie.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Daniel. »Ich bin Arzt.«

Matthias hob abwehrend die Hand, aber dann, als auch der zweite Versuch missglückte, gab er nach.

Sie warteten, bis sich der Saal geleert hatte. »Es wäre besser, wir würden einen Krankenwagen rufen«, schlug Daniel Norden vor.

»Nein, ich schaffe es schon«, widersprach Matthias. »Es tut mir leid, es ist wie ein Hexenschuss.«

Er wusste nicht, dass Daniel Norden bereits viel besser informiert war, und es war jetzt auch nicht der Augenblick, sich gegenseitig namentlich vorzustellen.

»Hol mir bitte meinen Arztkoffer, Fee«, sagte Daniel, als sie Matthias dann mühsam bis ins Foyer geschleppt hatten.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Matthias stockend.

»Wofür? Ich bin dazu da zu helfen«, erwiderte Daniel.

Große Schweißperlen standen auf Matthias’ Stirn. Seine Hände waren eiskalt. Tinas Hände zitterten und auch ihre Lippen zuckten. Hilfeheischend sah sie Dr. Norden an.

Fee kam im Eilschritt zurück. Matthias hatte die Augen geschlossen und rang schwer nach Atem, er merkte gar nicht mehr so recht, was passierte.

»Ruf einen Krankenwagen, Fee«, raunte Dr. Norden seiner Frau zu. Dann zog er schon eine Injektion auf. Eine starke Dosis war es, aber das konnte er verantworten. So sehr Matthias sich auch um Beherrschung bemüht hatte, die Schmerzen waren einfach zu stark. Als der Krankenwagen kam, war er schon betäubt und merkte nichts mehr davon, dass er zur Behnisch-Klinik gebracht wurde.

Fee hatte Dr. Dieter Behnisch bereits angerufen. Er war ihr und Daniels Freund. Auf ihn konnten sie sich immer verlassen.

Tina hatte darauf bestanden, mit Matthias zu fahren. Daniel und Fee Norden folgten mit ihrem Wagen.

Tina hielt Matthias’ Hand, diese sehnige Hand, die früher so kraftvoll zupacken konnte und nun fast schwerelos schien.

Sie hatte ihm die Schweißperlen von der Stirn getupft und das dichte, störrische Haar zurückgestrichen, das sich auch feucht anfühlte.

Sie hatte Angst um ihn, eine fürchterliche Angst. An all den einsamen Abenden, die sie in letzter Zeit verbracht hatte, hatte sie viel gelesen, auch von rätselhaften, unerforschten Krankheiten, von Symptomen, die zur Vorsicht mahnen sollten. Es war begreiflich, dass sie jetzt völlig aufgelöst war.

Flüchtig dachte sie auch an seine Mutter, die jetzt wohl mit ihrer Kusine beisammensaß. Schnell fuhr der Krankenwagen durch die Straßen. Es war genau halb elf Uhr, als er vor der Behnisch-Klinik hielt.

*

»Du möchtest jetzt sicher schlafen, Sopherl«, sagte Hannerl Mühlbauer zu ihrer Kusine.

»Ach was, wir sehen uns so selten und haben uns doch so viel zu erzählen, und vielleicht kommt der Matthias doch noch«, erwiderte Sopherl Köninger. »Ich freue mich doch riesig, dass du mich mal besuchst, Hannerl. Die Kinder sind so weit weg, und sie kommen nur einmal im Jahr zu Besuch. Es wird schon arg still um einen, wenn man älter wird. Du kannst froh sein, dass der Matthias nicht gar so früh ans Heiraten denkt.«

»Ich hätt’ es aber gern, wenn er eine liebe Frau hätte«, erwiderte Hannerl. »Und ein paar Enkelkinder würden mir auch guttun.«

»Man hat nicht viel davon«, seufzte Sopherl. »Die Jungen gehen eigene Wege.«

»Ich würde mich nicht aufdrängen, gewiss nicht. Nur das Gefühl, dass der Bub glücklich ist, würde mir guttun. Du bist doch auch froh, dass deine Kinder gut versorgt sind, Sopherl. Und gern gesehen bist du auch bei ihnen.«

»Ja, gewiss, man gewöhnt sich an alles. Ich habe ja auch mein Kaffeekränzchen und meinen Bridgeclub, aber was tust du auf deinem Dorf, wenn Matthias verheiratet ist.«

»Brauchen könnt er mich dann doch auch noch«, meinte Hannerl.

»Wünschen würde ich es dir. Aber du könntest dann auch öfter bei mir sein. Man kann sich das Leben schon kurzweilig gestalten. Geldnöte haben wir ja beide nicht. Hast du nie daran gedacht, noch mal zu heiraten, Hannerl?«

»Gott bewahr mich, wen denn schon? Dem Toni kommt doch keiner gleich.«

Dr. Norden Bestseller Classic 39 – Arztroman

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