Читать книгу Familie Dr. Norden 729 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

Оглавление

»Klären Sie sofort, wie das passieren konnte, Steinberg! Und beschaffen Sie mir die Unterlagen von Hübner, ich muß mich auf die Besprechung vorbereiten.« Genervt ließ Leana Wollrab den Hörer auf die Gabel fallen, rückte ihre rahmenlose Brille zurecht und stöberte in dem Papierwust, der sich vor ihr auf dem Schreibtisch türmte.

Schon wieder klingelte ihr Telefon, gleichzeitig erschien auf dem Bildschirm ihres Computers eine neue Textmeldung. Während sie telefonierte, las Leana die eingegangene Nachricht und beantwortete sie sofort. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, was einen Teil ihres geschäftlichen Erfolges ausmachte. Doch manchmal schienen selbst ihr, der streßerprobten Karrierefrau, die Dinge über den Kopf zu wachsen. So hängte sie das Telefon einfach aus, um in Ruhe ein paar E-Mails zu beantworten. Sichtlich ungehalten hob sie den Kopf, als sich die Tür zu ihrem geschmackvoll eingerichteten Büro öffnete und ihre Sekretärin Mizzi Wolke den blonden Schopf durch den Spalt steckte.

»Entschuldigen Sie die Störung, Lea, aber bei Ihnen ist ständig besetzt.« Lächelnd wies sie mit dem Kopf in Richtung Telefon. Sie hatte also richtig geraten.

»Erwischt!« gestand Leana, die den Blick bemerkte. »Ich weiß auch nicht, was heute morgen los ist. Alle Welt scheint ausgerechnet mit mir sprechen zu wollen. Dabei muß ich mich eigentlich mit dem anstehenden Meeting beschäftigen.«

»Keine Panik, ich verrate Sie schon nicht«, gab Mizzi lachend zurück. Die beiden Frauen arbeiteten schon seit geraumer Zeit zusammen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatten sie sich schließlich zusammengerauft und waren seitdem ein eingeschworenes Team. »Allerdings habe ich auch einen Anrufer zu vermelden. Ein gewisser Christian Thaller hat bereits mehrere Male bei der Zentrale angerufen und ist schließlich bei mir gelandet. Scheint ein sehr hartnäckiger Mann zu sein, er läßt sich einfach nicht abwimmeln.« Mizzi richtete ihren Blick auf Leana, die eingefleischte Junggesellin. War da etwa eine Männergeschichte im Busch?

»Privat oder geschäftlich?«

»Er sagte privat. Aber in den heutigen Zeiten kann man ja nie wissen, welche Tricks die Vertreter anwenden.«

»Christian Thaller, Christian Thaller«, murmelte Lea nachdenklich, während sie einen Satz in den Computer tippte und nebenbei die Nachrichten ihres Handys abhörte. »Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor, aber ich kann ihn gerade nicht einordnen. Wissen Sie was, Mizzi, stellen Sie ihn einfach durch, wenn er wieder anruft.«

»Dazu sollten Sie aber Ihr Telefon wieder einhängen«, schlug die Sekretärin augenzwinkernd vor, ehe sie das Büro ihrer Chefin verließ.

Leana sah ihr belustigt nach und legte den Hörer wieder auf. Kurz darauf klingelte der Apparat erneut. Sie legte den Kopf schief und stellte überrascht fest, daß ihr Herz einen unvermuteten Satz machte, obschon sie immer noch nicht wußte, um wen es sich bei dem mysteriösen Anrufer handelte. Kopfschüttelnd meldete sie sich mit ihrer Schönwetterstimme, wie Mizzi Wolke den weichen Tonfall nannte, der in krassem Gegensatz zu ihrer knallharten Geschäftsstimme stand.

»Ach, Mutti, du bist es«, seufzte sie und sank in ihrem Stuhl zusammen.

»Wen hast du denn erwartet, Lea-Schätzchen?« Waltraud Wollrab horchte erstaunt auf.

Einen Augenblick lang war Leana versucht, alles zu leugnen, doch dann entschied sie sich plötzlich anders.

»Kannst du dich an einen gewissen Christian Thaller erinnern, Muttchen?«

»Aber natürlich kann ich das! Der Chrissi war immer so ein lieber Bub. Er ist mit seinen Eltern vor Jahren ins Dorf gezogen. Die Saskia, der Chrissi und du, ihr wart doch immer unzertrennlich. Bis er wieder zurück nach Konstanz mußte. Das ist typisch für euch modernen jungen Frauen, daß ihr eure Vergangenheit am liebsten ausradieren würdet.«

»So ein Unsinn, Mutti«, fiel Lea ihr ungehalten ins Wort. »Natürlich erinnere ich mich an Chrissi. Ich hatte nur im Augenblick soviel anderes im Kopf. Wie könnte ich je die tollkühnen Streiche vergessen, die wir drei ausgeheckt haben!« Sie stützte das Kinn in die Hand und schloß die Augen. Der Duft frisch gemähter Felder zog durch ihre Erinnerung, fröhliches Kinderlachen hallte in ihren Ohren wider. Sie sah sich mit zwei anderen Kindern über einen Bach springen und auf Bäume klettern.

»Bist du noch da, Lea? Warum antwortest du mir nicht?«

»Ich habe nur gerade an früher gedacht. Damals war das Leben noch leicht und unbeschwert.« Sie seufzte tief.

»Das könnte es heute auch noch sein, wenn du nur wolltest. Aber du hast dich ja für die Karriere entschieden, statt dir einen lieben Mann zu suchen, zu heiraten und Kinder zu bekommen.« Waltraud machte keinen Hehl aus ihrem Mißmut.

»Diese Diskussion hatten wir schon so oft, Mutti. Du kennst meine Meinung und dabei bleibt es, basta! Warum hast du eigentlich angerufen? Ich habe wenig Zeit.«

»Wenig Zeit, wenig Zeit!« blaffte Traudi zornig zurück. »Warum habe ich denn eigentlich eine Tochter, wenn die sich nicht um mich kümmert?«

»Das ist nicht wahr, und du weißt es so gut wie ich. Fast jeden Abend schaue ich auf eine Stunde bei dir vorbei. Werde jetzt bitte nicht ungerecht.«

»Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann du mich zuletzt besucht hast.«

Leana verdrehte die Augen zum Himmel und ermahnte sich, geduldig zu bleiben. Doch die Termine brannten ihr unter den Nägeln, der Computer meldete schon wieder zwei neue Nachrichten, und auch das Handy piepste störrisch.

»Laß uns ein andermal darüber reden, Mutti. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr. Bis später. Küßchen.« Sie hauchte einen Kuß in den Hörer und legte auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Wenn Waltraud in dieser Stimmung war, konnte ein Telefonat Stunden dauern, ohne ein Ergebnis zu bringen. Nur kurz wunderte sich Leana über den Umstand, daß sich ihre Mutter nicht an ihren letzten Besuch erinnern konnte, der erst zwei Tage zurücklag. Gewöhnlich hatte sie noch kein schlechtes Gedächtnis. Das ständige Alleinsein bekommt ihr nicht, dachte Leana, während sie ihre Unterlagen zusammenraffte und in eine Tasche stopfte. Dann verschob sie diese Überlegungen auf einen späteren Zeitpunkt. Das Meeting wartete, und der Chef duldete weder Verspätung noch Unkonzentriertheit.

*

Um die Mittagszeit ging es im Café ›Schöne Aussichten‹ immer hoch her. Es war bekannt wegen seiner schmackhaften, leichten Küche und bot für jeden Geldbeutel und Hunger das Passende. So war es kein Zufall, daß die Belegschaft der umliegenden Büros einen Besuch in dem ›Schöne Aussichten‹ einem lieblos zubereiteten Kantinenessen vorzogen. Dazu gesellten sich ein paar versprengte Touristen, unternehmungslustige Rentner mit kleinem Geldbeutel und hin und wieder auch Teenager auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit vor dem Nachmittagsunterricht. Es war ein bunt gemischtes Publikum. Gerade das war es, was Saskia an ihrem Café, das sie zusammen mit ihrer ehemaligen Studienkollegin Nana betrieb, besonders liebte.

»Hey, Sasa, gibt es noch Erdbeeren mit Schlagsahne?« tönte ein lauter Ruf durch das angenehme Stimmengewirr, und Saskia drehte sich lachend um.

»Klar, Fred, für dich habe ich doch immer ein Schälchen im Kühlschrank«, entgegnete sie freundlich.

»Kann ich bitte noch ein alkoholfreies Bier haben?« Ein anderer Gast hob sein leeres Bierglas.

»Und ich möchte bezahlen. Die Arbeit ruft wieder.«

»Ich komme sofort.« Saskia drehte sich um die eigene Achse und versuchte, die Wünsche ihrer Gäste schnell und zu aller Zufriedenheit zu erfüllen. Da sie ihre Arbeit mit einer unverkennbaren Freude machte, kamen die Leute immer wieder gern hierher in das Café, das seinem Namen gleich auf zweierlei Art gerecht wurde. Im ersten Stock eines modernen Glasbaus untergebracht, bot es einen wunderbaren Ausblick auf die Münchner Innenstadt. Aber auch Saskia war eine wahre Augenweide mit den naturgelockten mittelblonden Haaren und den fröhlich blitzenden Augen. Sie kleidete sich gern ausgefallen und schreckte vor keinem noch so schrillen Modetrend zurück. Ihre Freundin Nana, die das genaue Gegenteil von Saskia war, wunderte sich beständig über diese Frohnatur. Das glatte Haar zu einem unscheinbaren Zöpfchen geflochten, stand sie lieber in der Küche und kreierte unermüdlich neue Gerichte, während Saskia ihre Erfüllung zusammen mit zwei Aushilfen im Umgang mit den Gästen fand.

Auch Leana bemühte sich, sich zumindest einmal täglich aus ihrem Büro abzuseilen, um in dieser ungezwungenen Atmosphäre wenigstens für eine Stunde Abstand zu ihrem stressigen Job zu gewinnen. In dieser kostbaren Zeit schaltete sie sogar ihr Handy aus.

»Da bist du ja, Lea. Ich habe dich schon vermißt.« Saskia hatte ständig die Tür im Blick und winkte ihrer besten Freundin aus Kindertagen fröhlich zu, als die sichtlich eilig hereinwehte.

»Meeting beim Chef!« rief Leana zurück und zuckte die Schultern. Saskia deutete auf einen freien Tisch, doch Lea schüttelte nur den Kopf und kämpfte sich vor zur Bar. Heute hatte sie allerhand zu erzählen und schob sich auf einen der gemütlichen Barhocker, die sogar über eine Lehne verfügten.

»Wie geht’s dir denn? Du siehst so aus, als hättest du was auf dem Herzen.« Saskia musterte ihre Freundin mit Kennermiene, während sie mit einem feuchten Lappen über den Platz am Tresen wischte.

»Hey, ich habe tolle Neuigkeiten. Du wirst Augen machen.«

»Warte noch einen Moment. Zuerst deine Bestellung. Laß mich raten, ein Salat mit Hühnerbruststreifen, Joghurt-Dressing und ein Glas stilles Mineralwasser.«

»Der Salat ist okay. Aber heute brauche ich was Stärkeres. Wie wäre es mit einem Glas Prosecco?« Mit sichtlicher Freude sah Leana den überraschten Gesichtsausdruck ihrer Freundin.

»Was ist denn heute los? Das gab es ja noch nie.«

»Erstens habe ich dem Chef eine tolle Präsentation hingelegt und zweitens… aber halt, das ist eine Überraschung. Dafür habe ich mir eine kleine Belohnung verdient.«

»Wie du willst. Ich platze schon vor Neugier.« Sasa schenkte den Prosecco ein und stellte ihn vor Leana. »Der Salat kommt gleich. Ich kassiere nur noch schnell da drüben ab, dann kann meine Kollegin weitermachen. Ich bin gleich wieder da.«

Es dauerte etwas länger als versprochen, und Lea befürchtete schon, ihre Mittagspause überziehen zu müssen. Doch endlich konnte sich Saskia von ihrem Gast loseisen, der sie in ein Gespräch verwickelt hatte. Sie eilte zurück zu ihrer Freundin.

»Tut mir leid, Gäste gehen vor Privatvergnügen«, entschuldigte sie sich.

»Bin ich etwa kein Gast?« Scheinbar verärgert zog Leana eine Augenbraue hoch, doch Sasa kannte sie lange genug.

»Jetzt schieß endlich los. Was für eine Überraschung hast du für mich?« Zur Feier des Tages schenkte sie sich auch einen Prosecco ein und setzte sich mit erwartungsvoller Miene neben Leana.

»Kannst du dich an einen gewissen Christian Thaller erinnern?«

»An Chrissi? Natürlich, wie könnte ich den vergessen?« rief Saskia sofort begeistert aus. »Was hatten wir doch für eine herrliche Zeit zusammen! Wie viele Jahre ist das nur her?«

Leana konnte sich nur wundern.

»Wieso kannst du dich sofort an seinen Namen erinnern?«

»Wir haben uns noch ein paarmal geschrieben, nachdem er weggezogen war. Leider ist die Sache schließlich im Sande verlaufen, wie das in dem Alter halt so ist.«

»Davon hast du mir nie was erzählt.« In Leanas Stimme schwang ein Hauch Eifersucht.

»Natürlich, wahrscheinlich weißt du es nicht mehr. Alles, was nicht mit deinem Beruf zusammenhängt, scheinst du ja verdrängt zu haben.«

»Jetzt redest du schon genauso wie meine Mutter.« Beleidigt leerte Lea ihr Glas.

»Sei nicht bockig. Wie kommst du denn auf Chrissi?« erkundigte sich Sasa versöhnlich.

»Er hat mich heute in der Firma angerufen.«

»Woher hatte er denn deine Nummer?« Saskia konnte sich nur wundern. »Die schirmen dich doch ab wie einen Superstar.«

»Danke für das Kompliment«, lachte Leana. »Im Ernst, er war einfach beharrlich genug, daß die Telefonistin schließlich nicht mehr ein noch aus wußte und ihn zu Mizzi durchstellte. Die hatte endlich Mitleid mit ihm.«

»Woher weiß er, wo du arbeitest?« Jetzt war es an Saskia, ein wenig eifersüchtig zu sein.

»Es ist doch neulich dieser große Bericht über unsere Firma in der Zeitung erschienen. Da war auch ein Foto von mir drin mit einer Bildunterschrift. Habe ich dir das nie gezeigt?« fragte Lea erstaunt.

»Natürlich nicht. Du hast es mal wieder vergessen.«

»Tut mir leid, ich werde es so bald wie möglich nachholen.«

»Nicht nötig, ich glaube es auch so. Aber was ist jetzt mit Chrissi?« Saskia wurde zunehmend neugierig.

»Stell dir vor, er kommt für ein paar Monate nach München und möchte uns treffen«, berichtete Leana stolz. Sie hatte außerhalb ihrer Arbeit nicht oft Interessantes zu berichten und rechnete es Sasa hoch an, trotzdem noch ihre Freundin zu sein.

»Das ist ja toll! Wie geht es ihm?«

»Unser kleiner Chrissi ist inzwischen Arzt und wird für eine Weile an der Behnisch-Klinik arbeiten.«

»Behnisch-Klinik? Nie gehört.« Sasa zuckte mit den Schultern.

»Typisch meine beste Freundin. Die Behnisch-Klinik ist eine sehr renommierte Privatklinik in der Stadt. Mutti war schon hin und wieder dort, zuletzt nach ihrem schweren Sturz vor einem Jahr. Ein tolles Haus mit hervorragenden Ärzten und sehr netten Schwestern.«

»Nichts für mich Normalsterbliche. Mit meinen paar Euro kann ich mir keine Privatklinik leisten«, meinte Saskia und räumte Leas Teller und das Glas ab. »Wann kommt Chrissi denn?«

»Er will uns nächstes Wochenende treffen. Paßt dir das?«

»Hm, laß mich mal nachdenken. Wenn ich es recht im Kopf habe, schiebe ich am Samstag den Frühdienst. Ab Mittag bin ich also zu allen Schandtaten bereit.«

»Chris und ich könnten natürlich auch ein schönes Frühstück hier einnehmen und dir bei der Arbeit zuschauen. Was hältst du davon?« sagte Leana süffisant.

»Untersteht euch! Sonst besorge ich mir für Samstag einen Türsteher, der euch nicht reinläßt«, warnte Saskia lachend.

»Also gut, überzeugt. Ich kann ihm also Bescheid sagen, daß wir uns Samstagmittag um eins am Fischbrunnen treffen?«

»Das krieg ich hin«, freute sich Saskia. »Endlich mal wieder was los!«

Kurze Zeit später verabschiedete sich Lea von ihrer Freundin und machte sich wieder auf den Weg ins Büro. Kaum war sie aus der Tür getreten, als sie ihr Handy auch schon wieder anschaltete und die eingegangenen Nachrichten abhörte. Mit der einen Hand telefonierend, mit der anderen heftig gestikulierend, schritt sie weit aus, um nicht noch mehr Arbeitszeit zu verlieren. Saskia sah ihre Freundin davoneilen und lächelte in sich hinein. Leana war einfach unverbesserlich in ihrer Arbeitswut. Daran würde auch die Rückkehr von Christian Thaller gewiß nichts ändern.

*

Waltraud Wollrab saß auf der Terrasse im Schatten. Obwohl es ihr Hausarzt verboten hatte, steckte sie sich trotzig ein großes Stück Schokoladenkuchen in den Mund. Seit ihre einzige Tochter Leana vor drei Jahren endgültig ausgezogen war, um ihr Glück in der Stadt zu suchen, machte ihr die Einsamkeit mehr und mehr zu schaffen. Obschon das Haus für drei Personen gerade recht gewesen, also nicht groß war, erschien es ihr jetzt riesig und die Stille beinahe erdrückend. Insgeheim hatte sie gehofft, Lea würde sich nach kurzer Zeit besinnen und aufs Land zurückkehren, um eine Familie zu gründen. Doch es sah nicht mehr danach aus, als ob sich ihre Hoffnung je erfüllen würde.

Traudi seufzte und erhob sich schwerfällig. Die überschüssigen Pfunde machten das Leben nicht gerade leichter. Mühsam ging sie in die Küche, um sich ein Glas Milch einzuschenken. Drohend klangen ihr die Worte ihres Hausarztes Dr. Wallner in den Ohren: Zu hoher Blutdruck, die Cholesterinwerte bedenklich gestiegen. Er hatte ihr dringend ans Herz gelegt, auf tierische Fette zu verzichten, aber Traudi liebte nun einmal alles, was gut und nahrhaft war. Und auch die Seelenschmerzen ließen nach, wenn der Magen zufrieden war.

Sie blickte auf den verwilderten Garten hinaus. Wahrlich, die Zeiten hatten sich geändert. Dort auf der Wiese, wo Leana früher ausgelassen getobt hatte, wucherte jetzt das Unkraut. Wenn Waltraud die Augen schloß, meinte sie, Mann und Kind wie in einem Film vor sich zu sehen und hörte sogar die vertrauten Stimmen wieder. Aber Leana war längst groß und Fritz vor vielen Jahren gestorben. Ein warmes Gefühl durchflutete Traudis Herz, als sie an Fritz dachte, den Mann, der ihr Leben schließlich doch noch lebenswert gemacht hatte, indem er die unglückliche, damals gerade schwangere Frau bei sich aufgenommen und somit ehrbar gemacht hatte. Niemals war ein Vorwurf über seine Lippen gekommen, und stets hatte er Leana freundlich, wenn auch distanziert, behandelt.

Doch die zufriedenen Jahre waren vergangen und verschwanden im Nebel der Erinnerung. Waltraud bemerkte selbst verwundert, wie sehr sie ihr Kurzzeitgedächtnis immer öfter im Stich ließ. Dafür trat die Zeit in ihrer Erinnerung auf einmal klar und deutlich hervor, die vor ihrer Ehe mit Fritz lag. Unter all den Bildern, die vor ihrem geistigen Auge aufstiegen, war eines besonders deutlich, das Gesicht eines Mannes, jung und gutaussehend. Schmerzlich berührt stöhnte Traudi auf, das Herz in ihrer Brust schlug hart gegen die Rippen. Sie öffnete die Augen und verdrängte die Bilder, die ihr nur Wehmut bereiteten. Langsam ging sie wieder zurück auf die Terrasse, als sie bemerkte, wie der Boden bedrohlich unter ihren Füßen zu schwanken begann.

Panik stieg in ihr auf, der Gedanke zu stürzen und dann hilflos auf dem Boden zu liegen, gab ihr die Kraft, sich zum stützenden Geländer zu schleppen. Waltraud ermahnte sich, tief ein- und auszuatmen. Aus Erfahrung wußte sie, daß sich ihr aufgeregtes Herz bald beruhigen würde.

Endlich, nach schier endlos scheinenden Minuten, kam der Boden unter ihren Füßen wieder zur Ruhe. Erleichtert legte sie die wenigen Meter bis zur rettenden Bank zurück, auf der sie sich schwerfällig niederließ. Während sie erschöpft in die blasser werdende Nachmittagssonne blinzelte, dachte sie daran, daß die Anfälle immer häufiger kamen. Bisher hatte sie mit niemandem darüber gesprochen, nicht mit Dr. Wallner und nicht mit Leana. Sie hatte Angst davor, in ein Pflegeheim abgeschoben zu werden.

*

Christian spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend, als er kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt am Fischbrunnen ankam. Neugierig sah er sich um, ob er zwischen all den Menschen, die sich dort im hellen Sonnenschein tummelten, ein bekanntes Gesicht entdeckte. Doch Saskia und Leana schienen noch nicht da zu sein. So nutzte er die Gelegenheit, sich ein wenig auf dem weitläufigen Marienplatz umzusehen. Trotz aller guten Vorsätze war er seit seinem Umzug nach Konstanz nicht mehr in seine alte Heimat zurückgekehrt, und voller Wehmut dachte er an die lustigen Ausflüge, die er als Sechzehnjähriger mit den beiden zwei Jahre jüngeren Mädchen hierher unternommen hatte. Viele Jahre lang waren sie ein eingeschworenes Team gewesen, das allerlei Streiche ausgeheckt hatte. Aber wie alles im Leben hatte auch dieses unbeschwerte Glück ein Ende gefunden.

Noch ehe die Verwirrungen der Liebe ihre Gemeinschaft zerstören konnte, hatte sich Christians Vater, Dr. Christian Thaller senior, entschieden, zurück nach Konstanz zu gehen. Ein alter Kollege war verstorben und somit der Weg frei, sich seinen Jugendtraum von einer eigenen Praxis zu erfüllen.

Versonnen lächelte Christian in sich hinein. Die Wunden der Trennung waren längst verheilt, und er freute sich auf seine Zeit hier in München. Die Behnisch-Klinik war ein hervorragender Ort, um seine medizinischen Kenntnisse zu vertiefen, ehe er die Praxis seines Vaters in Konstanz übernehmen würde.

»Ist das nicht unser kleiner Chrissi? Groß ist er geworden, findest du nicht?« Eine amüsierte Frauenstimme riß ihn aus seinen Gedanken, und neugierig blickte er sich um. Neben ihm an den Brunnen gelehnt standen zwei gutaussehende Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, und musterten ihn interessiert. Die eine hatte blondes, fast krauses Haar, das sie zu einer frechen Frisur aufgesteckt hatte. Sie trug ein bauchfreies, wild gemustertes Shirt über der engen Hüfthose und gefährlich hohe Sandalen. Sofort war ihm klar, daß es sich dabei nur um die wilde Saskia handeln konnte. Leana dagegen machte ihrem eleganten Namen alle Ehre. Ein sommerliches Twinset, dem sein hoher Preis anzusehen war, ergänzte die schwarze Caprihose, zu der sie flache Slipper in derselben Farbe trug. Kein modischer Schnickschnack störte das vollkommene Bild einer selbstbewußten, offenbar erfolgreichen Frau.

»Erkennst du uns nicht, oder hat es dir die Sprache verschlagen?« fragte Saskia mit lustig blitzenden Augen, als er ihren Gruß nicht erwiderte.

»Oh, entschuldigt, ich war so in euren bezaubernden Anblick vertieft…«, stammelte er verlegen.

»Immer noch der alte Charmeur«, stellte Saskia fest und umarmte Christian herzlich. Mit dieser spontanen, freundschaftlichen Geste war das Eis gebrochen. Auch die etwas zurückhaltendere Leana folgte dem Beispiel ihrer Freundin.

»Gut schaust du aus.« Anerkennend musterte sie Chris, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte.

»Ein bißchen altmodisch für meinen Geschmack«, neckte Saskia den jungen Arzt.

»Findest du? Ich fühle mich im Anzug einfach wohler als in einer Jeans.« Unsicher blickte er an sich herab.

»Laß dich von Sasa nicht durcheinanderbringen. Ich mag Männer mit Anzug besonders, wenn sie dazu ein lässiges Shirt tragen wie du.«

»Da habe ich ja Glück gehabt, daß ich wenigstens fünfzig Prozent der Erwartungen erfüllen kann«, lachte Chris. Zwei Grübchen erschienen auf seinen Wangen, als er seine Begleiterinnen anstrahlte. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, euch wiederzusehen. Wie ist es euch in den vielen Jahren denn ergangen?«

»Das besprechen wir am besten bei einer kühlen Flasche Weißwein. Ich kenne ein schönes Weinlokal mit wunderbarem Innenhof ganz in der Nähe. Der ideale Ort, um einen Tag wie diesen zu feiern«, schlug Lea vor. Noch ehe die beiden anderen zustimmen konnten, klingelte ihr Handy. Mit einem entschuldigenden Schulterzucken nahm sie es an ihr Ohr.

»Was gibt’s denn, Mizzi?« fragte sie ungeduldig in den Apparat. Ihre Miene wurde jedoch schlagartig konzentriert, als sie den Worten ihrer Sekretärin lauschte, die wie ihre Chefin kein Wochenende kannte. »Steinberg erwartet mich in einer Stunde zum Mittagessen? Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«

»Er ist auf der Durchreise zur Konkurrenz und hat sich zu einem spontanen Zwischenstop entschieden«, erklärte Mizzi Wolke aufgeregt. Es ging um einen wichtigen Auftrag, an dem Lea schon seit Monaten arbeitete.

»So ein Mist! Warum kann ich nicht einmal einen freien Tag genießen?« seufzte Lea kurz. »Aber das Geschäft geht vor. Wenn ich daran denke, daß mir dieser Auftrag nach all der Arbeit durch die Lappen gehen könnte, wird mir ganz schlecht. Wo will er mich treffen?«

»In einer Stunde im Tantris.«

»Gut, ich werde dort sein.« Resigniert drückte Leana eine Taste ihres Handys und kehrte zurück zu ihren Freunden, die sich etwas abseits unterhielten und bestens zu amüsieren schienen. »Schlechte Nachrichten, liebe Leute«, kündigte sie betreten an.

»Laß mich raten.« Saskia musterte ihre Freundin eindringlich. »Die gute Mizzi Wolke hat vergessen, dir einen dringenden Lunchtermin mitzuteilen.«

»So ähnlich. Kannst du dich an Steinberg erinnern? Ich habe dir doch von diesem Auftrag erzählt, hinter dem ich schon seit Monaten her bin.«

»Keine Ahnung, das hast du wohl mal wieder vergessen.«

»Komisch, und ich dachte… na egal. Auf jeden Fall ist Steinberg heute überraschend in der Stadt und erwartet mich in einer Stunde im Tantris. Es tut mir leid, aber ich muß euch heute allein lassen. Glaubt ihr, ihr schafft das ohne die alte Lea?« versuchte sie, die unangenehme Situation etwas ins Lächerliche zu ziehen.

»Ich bin das ja inzwischen schon gewohnt, von den Steinbergs, Hochmuts und wie sie alle heißen, verdrängt zu werden«, erklärte Saskia trocken. »Aber wie sieht’s mit Chris aus?« wandte sie sich an ihren Jugendfreund.

»Als Arzt habe ich für deine Situation vollstes Verständnis. Ich bin auch immer auf dem Sprung und habe nicht viel Privatleben.« Er lächelte Lea verständnisvoll zu, und die atmete insgeheim auf.

»Du bist ein Schatz, Christian. In ein paar Stunden bin ich wieder bei euch und lade euch als Entschädigung auf ein großes Eis ein. Ist das ein Angebot?«

»Mal sehen, ob wir dann noch Lust haben.« Sasa war beleidigt. Zu oft hatte Lea sie schon versetzt, als daß sie dieses Benehmen noch lustig finden konnte.

»Komm schon, Sasa. Sei nicht böse. Es kommt bestimmt nicht mehr vor. Aber dieser Auftrag ist so wichtig für mich. Bitte, Schätzchen«, bat Lea inständig. Ihr Augenaufschlag brachte Saskia schließlich zum Lachen.

»Ich weiß gar nicht, warum ich immer noch deine Freundin bin«, seufzte sie ergeben und lachte gutmütig. »Vermutlich liegt es an meinem weichen Herzen. Dann mußt du eben mit mir vorliebnehmen, Chris.« Sie hakte sich bei Christian unter, und unwillkürlich durchzuckte Leana ein eifersüchtiger Stich. Nur zu gern wäre sie in diesem Moment an Sasas Stelle gewesen, an der Seite dieses attraktiven Mannes, der viel besser zu ihr gepaßt hätte. Aber es nützte alles nichts, das Geschäft war ihr Leben und hatte absolute Priorität.

»Bis später dann!« Sie winkte zum Abschied und drehte sich dann entschlossen um. Ihre Gedanken waren schon bei dem wichtigen Treffen, und sie tippte eine Nummer in ihr Handy, während sie weit ausschritt. Saskia und Christian schauten ihr nach, wie sie telefonierend verschwand.

»Die sehen wir heute bestimmt nicht mehr«, stellte Saskia fest und warf Christian einen prüfenden Blick zu. War er sehr enttäuscht, den Tag mit ihr allein verbringen zu müssen?

»Tja, da kann man nichts machen. Aber ich bin sicher, uns wird auch so nicht langweilig.« Er warf Sasa einen wohlwollenden Blick zu, und erleichtert lachte sie auf.

»Dann mal los. Das Weinlokal wartet schon.« Übermütig zog sie ihn davon. Auf einmal waren beide froh, unter sich zu sein. Ein unbeschwerter, fröhlicher Tag lag vor ihnen.

*

Entspannt plaudernd schlenderte Dr. Daniel Norden mit seiner langjährigen Kollegin und Freundin Jenny Behnisch durch die Flure der Privatklinik. Nach Praxisende hatte er noch nach einer jungen Patientin gesehen, die er eine Woche zuvor mit den Symptomen einer hochinfektiösen Lungenentzündung in die Klinik eingewiesen hatte. Dort hat sie drei Tage auf der Quarantänestation gelegen und war rund um die Uhr überwacht worden, bis Dr. Behnisch schließlich erleichtert Entwarnung hatte geben können. Die Untersuchungsergebnisse zeigten eindeutig, daß es sich nur um eine gewöhnliche Lungenentzündung handelte. Alle Beteiligten atmeten erleichtert auf. So hatte Daniel allen Grund, entspannt zu sein.

»Das ist das wirklich Schöne an unserem Beruf, daß immer noch die positiven Nachrichten überwiegen«, stellte er gerade fest, als ihnen Dr. Michael Graef an der Seite eines jungen Mannes entgegenkam, der ebenfalls einen Arztkittel trug. Jenny hielt inne, um Dr. Norden mit dem jungen Kollegen bekannt zu machen.

»Daniel, darf ich dir Christian Thaller vorstellen? Sein Vater war ein guter Freund von Dieter und arbeitete eine Zeitlang hier an der Klinik, ehe er in Konstanz die Praxis eines Kollegen übernahm.«

»Freut mich.« Daniel reichte dem jungen Mann die Hand, der ihn offen ansah. Sein Blick barg keine Geheimnisse. »Dann schlagen Sie also den gleichen Berufsweg ein wie Ihr Vater?«

»Ich versuche es, aber ich muß noch viel Erfahrung sammeln, bis ich so ein erfolgreicher Arzt werde wie mein Vater oder Frau Dr. Behnisch«, gab Chris zurück, was ihm die Sympathien der Anwesenden einbrachte.

»Nicht so bescheiden«, ermahnte ihn Dr. Graef lachend. »Immerhin haben Sie auf Ihrem Fachgebiet bereits erstaunliche Kenntnisse erworben.«

»So jung und schon Facharzt?« fragte Daniel Norden interessiert.

»Die Jugend täuscht, immerhin bin ich schon zweiunddreißig«, erklärte Christian entschieden und fiel in das Gelächter seiner Kollegen mit ein.

»Ach, noch einmal zweiunddreißig sein«, sinnierte Jenny, plötzlich ernst geworden. »Damals war die Welt noch in Ordnung.« Sie erlaubte sich einen kurzen, wehmütigen Gedanken an Dieter Behnisch, ihren Mann, den sie allzu früh verloren hatte, doch der Moment verging schnell, ohne daß jemand etwas bemerkte.

»Ich für meinen Teil bin sehr zufrieden mit meinem Alter«. erklärte Daniel. »Für welches Fach haben Sie sich denn entschieden?« wandte er sich dann wieder an Christian.

»Ich bin Internist wie mein Vater. Schließlich werde ich in ein paar Monaten wieder zurückkehren und seine Praxis übernehmen.«

»Noch ist nicht aller Tage Abend«, fiel ihm Jenny lächelnd ins Wort. »Gute Ärzte brauchen wir immer und ich bin noch dabei, Herrn Thaller davon zu überzeugen, bei uns zu bleiben. Leider weigert er sich im Moment noch beharrlich.«

»Eine große Versuchung ist es schon. München ist eine herrliche Stadt. Aber für meinen Vater würde eine Welt zusammenbrechen, wenn ich nicht zurückkäme. Ich bin sein einziger Sohn.«

»Das kann ich gut verstehen. Obwohl wir unseren Kindern immer die Entscheidung selbst überlassen haben, bin ich sehr stolz darauf, daß unser Ältester auch Arzt werden will. Und natürlich habe ich im Hinterstübchen, daß er später einmal meine Praxis übernehmen wird«, gab Daniel nachdenklich zu.

»Das ist doch nur natürlich. Schließlich steckt viel Herzblut in unserer täglichen Arbeit und dem, was wir uns aufgebaut haben«, schloß Christian.

Jenny lächelte zufrieden, und Daniel sah ihn erstaunt an.

»Für Ihr Alter haben Sie überraschend reife Gedanken. Ich glaube nicht, daß ich mit zweiunddreißig schon so dachte. Leider muß ich mich jetzt von Ihnen verabschieden.« Er warf einen bedauernden Blick auf die Uhr. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

»Ganz meinerseits.« Christian strahlte, als er dem älteren Kollegen die Hand schüttelte. So sehr ihn dieses Kompliment verlegen machte, so sehr freute er sich auch darüber. Die Entscheidung, nach München zu gehen, war wirklich goldrichtig gewesen. Nicht nur im privaten Bereich war alles erfreulich, auch die Arbeit an der Behnisch-Klinik füllte ihn vollkommen aus.

*

Eine Hupe tönte laut durch die Straße. Es dauerte eine Weile, ehe Christian bemerkte, daß das Hupen nur ihm gelten konnte. Er war so sehr in einen medizinischen Artikel vertieft gewesen, daß er die Zeit völlig übersehen hatte. Erschrocken sprang er deshalb auf und lief zum Fenster, das weit offen stand, da sein möbliertes Zimmer noch nicht einmal über einen Balkon verfügte und die Hitze des Tages durch die schlecht isolierten Wände kroch. Eine kühle Brise umwehte ihn, als er den Kopf aus dem Fenster steckte und das elegante Cabrio von Leana unten auf der Straße stehen sah. Sie saß winkend im Wagen und lachte.

»Einen Augenblick, ich komme gleich.« Er stürzte zurück ins Zimmer, holte ein frisches Shirt aus dem Schrank und eine dunkle, schmal geschnittene Anzughose. Das Sakko warf er salopp über die Schulter. Obwohl der Abend schon dämmerte, war es immer noch recht warm, zu warm selbst für ein dünnes Schurwolljackett.

»Entschuldige meine Verspätung, Lea. Ich habe die Zeit über einem interessanten Artikel total vergessen«, erklärte er, als er sich kurz darauf atemlos in den Ledersitz setzte.

»Das passiert mir auch immer wieder«, gestand Lea lächelnd, nachdem sie Chris zur Begrüßung einen Kuß auf die Wange gegeben hatte. »Leider hat meine Umwelt nicht viel Verständnis dafür.«

»Meinst du mit deiner Umwelt unsere Freundin Saskia?« erkundigte sich Christian schmunzeln, während er sich anschnallte und den neuen silberfarbenen Wagen bewunderte.

»Sasa gibt sich wenigstens Mühe, mir meine Fehler nachzusehen. Aber Mutti ist einfach gnadenlos«, seufzte Leana tief.

»Inwiefern?«

»Sie hatte wohl gehofft, ich würde bei ihr auf dem Land bleiben, einen Mann suchen, liebe Kinderchen bekommen. Die alten Geschichten eben.«

»Das ist doch nur natürlich. Meine Mutter wünscht sich auch, einmal Enkelkinder zu haben«, erklärte Chris verwundert.

»Das mag schon sein. Aber es ist mein Leben, und ich will selbst entscheiden, was ich zu tun und zu lassen habe. Und im Moment ist mir meine Arbeit einfach wichtiger. Mutti hat mir ein Leben lang gesagt, wo es langgeht. Diese Fesseln habe ich endlich abgestreift und denke nicht daran, mich gleich wieder zu binden«, erklärte Lea und bog rasant in eine Seitenstraße ein.

»Es gibt also keinen Mann in deinem Leben?« fragte Chris eine Spur neugierig.

Leana warf ihm einen mißtrauischen Seitenblick zu.

»Nein, und darüber bin ich heilfroh. Welcher Mann hätte auf Dauer schon Verständnis für meine Arbeit?«

»Immerhin wäre es einen Versuch wert. Du bist eine tolle Frau, Lea«, gestand Christian offen.

»Was soll das sein? Ein Annäherungsversuch?« Sie lachte spöttisch.

»Keine Angst, da würde mir schon was Besseres einfallen«, gab er zurück. »Ich dachte, wir sind Freunde und können offen über alles reden.«

»Entschuldige, Chris, ich wollte dir nicht weh tun. Ach, kannst du mir mal mein Handy geben, es liegt im Handschuhfach und klingelt wie verrückt.« Sie machte ihn auf das penetrante Geräusch aufmerksam, das er standhaft ignoriert hatte.

»Natürlich.« Er reichte ihr den Apparat und verbrachte den Rest der Fahrt schweigsam. Lea war in ihr geschäftliches Telefonat vertieft, während sie versuchte, im abendlichen Verkehr die Übersicht zu behalten. Erstaunlicherweise passierte ihr kein Malheur, sie nahm keinem Wagen die Vorfahrt und überfuhr keine rote Ampel, worüber Christian sich nur wundern konnte. Endlich, als sie vor dem Café ›Schöne Aussichten‹ angelangt waren, beendete Leana das Gespräch.

»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, Chris. Geh schon mal rein und sage Sasa Bescheid, daß wir da sind. Ich komme gleich nach. Nur ein einziger Anruf noch«, fügte sie mit treuherzigem Blick hinzu.

Seufzend tat er, was sie vorgeschlagen hatte. Im Café empfing ihn ein Dunstschleier aus Zigarettenrauch, Möbelpolitur und Essendüften, die sich auf geheimnisvolle Weise zu einer interessanten Mischung verbanden. Er blieb kurz stehen und schnupperte, sein Magen knurrte laut und vernehmlich, doch es gelang ihm nicht, das Gericht zu identifizieren, dessen Duft so verführerisch war. So drängte er sich weiter nach vorn an die Bar, wo Sasa in ihrer unbekümmerten Art schaltete und waltete. Es dauerte eine Weile, ehe sie ihn entdeckte. So blieb ihm genügend Zeit, sie unbehelligt zu beobachten. Auch heute trug sie wieder eine ausgeflippte Bluse, für seinen Geschmack ein wenig zu grell und ausgefallen. An ihren Ohren baumelten riesige Kreolen, die sich ständig in ihren Locken verfingen, doch das schien ihr nichts auszumachen. Christian konnte den Blick nicht lösen von diesem Ausbund an Temperament.

Plötzlich hob Saskia den Blick und schaute direkt in sein Gesicht, als hätte sie seinen Blick auf sich ruhen gespürt. Für Sekunden versanken sie ineinander, bis Sasa den Zauber löste, indem sie laut auflachte.

»Na endlich!« rief sie ihm über den Tresen zu, so daß sich die Gäste an der Bar neugierig zu ihm umdrehten. »Ich warte schon eine halbe Ewigkeit auf euch. Wo ist Lea?«

»Draußen im Wagen. Sie telefoniert noch«, gab er zurück und hielt die Hand ans Ohr, als hielte er einen Hörer, um seine Worte durch den Lärm hindurch zu verdeutlichen.

»Typisch!« Saskia schnitt eine Grimasse. »Geh schon mal vor, ich komme gleich.«

Christian blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten, doch noch ehe er den Ausgang erreicht hatte, drängte sich Saskia dicht neben ihn. In der Hand hielt sie eine große Aluschale, aus der es verführerisch duftete.

»Hier, ich habe uns zur Stärkung einen kleinen Imbiß mitgebracht. Du magst doch Chicken Wings?«

»Kannst du Gedanken lesen? Ich stehe kurz vor dem Hungertod«, gestand er erleichtert und nahm ihr die Schale ab.

»Das habe ich dir gleich angesehen. Diese hungrigen Augen…« Sie wollte sich gerade an ihm vorbei zur Tür hinausdrängeln, doch in diesem Moment hielt er sie mit der freien Hand an der Schulter fest.

»Der Hunger in meinen Augen hat einen anderen Grund«, erklärte er heiser und spürte ihren Herzschlag, so nah standen sie beieinander.

»Wirklich?«

»Saskia, tu doch nicht so. Du spürst es doch auch, ich weiß es.«

»Also gut, Chris, du hast recht.« Sanft schob sie seine Hand von ihrer Schulter und trat vor ihm aus der Tür. »Wir hatten in den letzten Wochen wirklich viel Spaß miteinander. Ich habe schon lange nicht mehr soviel mit einem Mann gelacht wie mit dir.« Langsam gingen sie nebeneinander her auf Leas Wagen zu. Die telefonierte immer noch, so daß Sasa leise weitersprechen konnte. »Aber du gehst in ein paar Wochen wieder zurück nach Konstanz, und ich bleibe hier in München. Verstehst du, daß ich mir aus diesem Grund eine Liebesgeschichte mit dir ersparen möchte? Herzschmerz ist das letzte, was ich jetzt brauchen kann.«

»Das muß gar nicht sein. Wir sind uns beide klar darüber, daß wir nicht zusammenpassen. Du bist der wilde Feger und ich der konservative Arzt. Trotzdem könnten wir uns eine schöne Zeit machen, findest du nicht?«

»Einfach so, ohne jede Verpflichtung?« Saskia sah skeptisch drein.

»Ja, einfach so. Hältst du das für möglich?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde mal darüber nachdenken«, versprach sie mit einem belustigten Seitenblick. So ein Angebot hatte sie von ihrem ein wenig altmodischen Freund nicht erwartet. In diesem Moment beendete Lea ihr Telefonat und winkte ihren Freunden übermütig zu.

»He, was gibt’s da zu tuscheln?«

»Nichts weiter, wir wollten dich nur nicht stören«, wich Chris verlegen aus.

»Ich warte schon eine halbe Ewigkeit auf euch. Deshalb habe ich die Zeit für ein paar wichtige Gespräche genutzt«, erwiderte Leana mit leichtem Vorwurf.

»Das sieht dir wieder ähnlich. Immer eine Ausrede parat«, lachte Saskia unbekümmert und schlüpfte auf die Rückbank des Wagens. »Aber es ist eine Ehre für uns, daß du deine kostbare Zeit opferst. Wohin soll es denn gehen?«

»Kennt ihr Wasserburg am Inn? Das ist eine wunderschöne, mittelalterliche Stadt mit italienischem Flair. Dort findet alljährlich ein Nachtflohmarkt statt, und auch die Lokale haben die ganze Nacht durch geöffnet. Ich war selbst noch nie da, aber es soll ein einzigartiges Erlebnis sein.«

»Klingt sehr vielversprechend«, lobte Chris und nahm sich einen Chicken Wing aus Saskias Aluschale. »Hier, hast du Hunger? Sasa hat für den Reiseproviant gesorgt.« Während er Lea die Schale hinhielt, drehte er sich um und lachte Saskia an.

»Nein, vielen Dank.« Ungeduldig schob Lea seine Hand weg. Wieder fühlte sie den leichten, eifersüchtigen Stich in der Herzgegend. Sie hatte Christians Blick bemerkt, und obwohl sie nicht in ihn verliebt war, war sie eigentümlich verletzt. In den vergangenen Wochen hatten sie einiges zu dritt unternommen, für Leas Verhältnisse geradezu viel Zeit miteinander verbracht. Trotzdem verfügten Saskia und Chris über mehr Freizeit als sie und waren sich in den Stunden, in denen sie zu zweit durch die Stadt streiften, offenbar sehr vertraut miteinander geworden.

Die ganze Fahrt über blieb Lea einsilbig und schweigsam, bis sie in Wasserburg angelangt waren. Dort vergaß sie ihre Verstimmung jedoch schnell. Es herrschte ein lustiges Jahrmarkttreiben, die Leute waren ausgelassen und fröhlich, feilschten und handelten, was das Zeug hielt. Aus den Kneipen und Bars hallte Musik durch die Straßen und Gassen und sorgte für eine südländische Atmosphäre, wie man sie im kühlen Deutschland gewöhnlich nicht kannte. Wie verzaubert schlenderten die drei Freunde über den Flohmarkt. An einem der Stände entdeckten Saskia und Lea ein altertümliches Operationsbesteck, das sie für Christian erstanden und ihm lachend überreichten. Die Vertrautheit der drei jungen Leute war wiederhergestellt. Sie genossen das Gefühl, den unerbittlichen Lauf der Zeit überlistet und die Lebensuhr um Jahre zurückgedreht zu haben.

*

Unruhig wälzte sich Waltraud Wollrab in ihrem Bett. Sie war früh schlafen gegangen, weil sie sich in der unheilvollen Stille ihres leeren Hauses nicht wohl fühlte, doch auch im Schlaf fand sie keine Ruhe. Bilderfetzen aus der Vergangenheit gaukelten durch ihre Träume, längst vergessene Landschaften und Orte. Immer wieder durchzuckte ein Gesicht die rasche Bilderfolge, das Gesicht eines dunkelhaarigen jungen Mannes mit dunklen, schwermütigen Augen. Sie wollte ihn rufen, streckte sehnsuchtsvoll die Hand nach ihm aus, doch noch ehe sie ihn erreichen konnte, verschwamm das Bild vor ihren Augen und löste sich in Luft auf. Warum nur verließ er sie immer wieder? War die eine wirkliche Trennung nicht schmerzhaft genug gewesen?

Erschöpft öffnete Waltraud die Augen und starrte blicklos in das Dunkel ihres Schlafzimmers. Durch die Ritzen der Jalousie fiel helles Mondlicht gespenstisch ins Zimmer, ein sanfter Wind umwehte das Haus und rüttelte an den Zweigen der alten Obstbäume, die leise knarrten. Erschrocken flog ein Käuzchen auf und stieß einen schrillen Schrei aus, der Waltraud hochfahren ließ. Ihr Herz klopfte schmerzhaft, und ein stechender Kopfschmerz durchzuckte sie. Als sich das Bett zu drehen begann und sie sich ermahnte, tief ein- und auszuatmen, bemerkte sie die Trockenheit ihrer Kehle. Das Verlangen nach einem Schluck Wasser wurde übergroß. Mühsam stemmte sie sich hoch, eine Hitzewelle durchflutete ihren Körper, die Anstrengung war übergroß. Aber sie mußte einfach trinken, die erfrischende Kühle auf den ausgedörrten Lippen spüren. So tastete sie sich langsam vorwärts, vom Türstock an die Wand des Flurs und langsam vorwärts, die Kommode war nicht mehr weit und dahinter die Badtür, wo es Wasser im Überfluß gab. Schon meinte Traudi, einen ganzen Wasserfall rauschen zu hören, zuerst leise und verhalten, doch das Geräusch kam immer näher, schien aus ihrem Innern zu kommen und verdrängte schließlich alles andere. Hilflos sah sie sich mit weit aufgerissenen Augen um, sie meinte, von Wasser umgeben zu sein, obwohl sie es nicht sehen konnte. Verwirrt drehte sie sich um die eigene Achse, verlor den Halt an der Wand, stieß sich den Kopf, schrie auf und sank zu Boden.

Familie Dr. Norden 729 – Arztroman

Подняться наверх