Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 40 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Es war kurz nach sechzehn Uhr, als Melissa Vollmer ihre Mutter vom Büro aus anrief. Sie war bestens gelaunt und guter Dinge, aber etwas in Eile.

»Hallo, Mutsch, ich wollte dir nur schnell Bescheid sagen, daß ich wegen der Malaria-Impfung einen Termin bei Dr. Norden habe. Ich komme danach gleich nach Hause. Wenn Till anruft, sag ihm bitte, daß er auch zu uns kommt, damit wir noch alles besprechen können. Ihr habt doch nichts vor?«

Uschi Vollmer erklärte daraufhin, daß sie natürlich nichts vorhätten.

»Bussi, bis bald«, sagte Melissa und legte den Hörer auf. Aber so schnell, wie sie wollte, sollte sie nicht zu Dr. Norden kommen.

Vor dem Bürohaus traf sie mit einer anderen jungen Frau zusammen, die sehr überrascht tat.

»Das gibt es doch nicht!« rief diese mit einem gekünstelten Lachen aus. »Melissa wie sie leibt und lebt. Was machst du denn hier?«

»Ich arbeite hier. Du bist wieder im Lande, Simone?« fragte sie kühl.

»Schon ein paar Wochen, aber ich habe noch keine alten Freunde sprechen können, zuviel Arbeit. Wie du ja sicher weißt, bin ich Promoterin bei C und AC.«

»Ich wußte es nicht«, erwiderte Melissa, »und jetzt habe ich keine Zeit für eine Unterhaltung. Ich wüßte auch nicht, was wir uns noch zu sagen hätten.«

»Ich wüßte es schon«, konterte Simone anzüglich, »oder willst du es nicht wissen, daß Till zu mir zurückgekehrt ist?«

Melissa erstarrte. Sonst war sie meist sehr beherrscht und ließ sich keine Gemütsbewegung anmerken, aber das warf sie doch fast um.

Simone war die Schadenfreude und Genugtuung anzusehen, als sie mit einem frivolen Lächeln sagte: »Ich nahm an, daß er schon mit dir gesprochen hat, aber anscheinend ist er zu rücksichtsvoll. Nun weißt du es jedenfalls. «

Das brachte Melissa wieder zu sich. »Du hast dich nicht verändert«, sagte sie eisig. »Verschone mich mit deinen Bosheiten, du widerst mich an.«

Zum Glück schob sich eine ganze Gruppe von Passanten zwischen sie und Simone, und Melissa lief schnell durch die Passage zum Parkplatz und setzte sich in ihr Auto. Sie meinte immer noch Simones höhnisches Lachen zu hören. In ihr brodelte es, und das Blut hämmerte in ihren Adern. Sie bekam kaum Luft, so wild schlug ihr Herz.

Das kann nicht wahr sein, dachte sie, das kann Till mir doch nicht antun! Ihr wurde es schwarz vor Augen, als sie vor dem Steuer saß. Es dauerte Minuten, bis sie sich halbwegs gefangen hatte. Sie wollte nicht daran denken, daß Simone einmal ihre Freundin gewesen war und das war noch nicht allzu lange her. Sie wollte am liebsten gar nichts mehr denken, aber dennoch wurde ihr bewußt, daß Till in der letzten Woche sehr verändert gewesen war und er als Ausrede benutzte, daß er viele Sonderflüge hätte. Er war Pilot, und sie glaubte es ihm. Er kann nicht so gemein sein, dachte sie jetzt, ich kann mich nicht so in ihm getäuscht haben!

Geistesabwesend startete sie den Wagen, und dann kam ihr in den Sinn, daß die Malariaimpfung eigentlich überflüssig würde. Aber hatte Simone nicht wieder gelogen, wie so oft?

Nur kurz verweilten ihre Gedanken in der jüngsten Vergangenheit. Lange war es noch nicht her, daß Simone sich als ihre beste Freundin bezeichnet hatte, um sich dann plötzlich ins Gegenteil zu verwandeln und eher als Feindin zu bezeichnen war.

Zuviel ging Meliassa durch den Kopf, als daß sie länger über Simone nachdenken wollte. Schließlich ging es mehr um Till Herder, mit dem sie in Kürze nach Afrika fliegen wollte. Am vorigen Sonntag hatte er offiziell um ihre Hand angehalten, weil das so sein mußte, wie er sagte, denn nur zögernd hatten ihre Eltern der gemeinsamen Reise zugestimmt. Erst hatte Melissa sie daran erinnern müssen, daß sie bereits dreiundzwanzig Jahre sei und genug verdiene, um sich ganz auf eigene Füße zu stellen. Sie wollte keine Differenzen heraufbeschwören, denn sie hatte ein sehr herzliches, ungetrübtes Verhältnis zu ihren Eltern, aber sie hatte auch ihre eigenen Ansichten über ihre Zukunft und ihre Beziehung zu Till. Er war Pilot, und das erschien Melissas Eltern zu gefährlich und für ein Zusammenleben zu schwierig zu sein. Sie wollten nicht, daß ihre einzige Tochter in ständiger Angst um ihren Mann lebte. Melissa fand, daß es ein Beruf wie jeder andere sei, weil überall, auch auf den Straßen, Gefahren lauerten. Sie liebte Till und war überzeugt davon, mit ihm glücklich zu werden und negative Erwägungen schob sie beiseite.

Momentan sah es allerdings etwas anders aus in ihrem Seelenleben, das zwischen Zorn und Angst hin- und herschwankte. Daß Simone gefährlicher Spielchen fähig war, hatte sie schon zu spüren bekommen. Sie hatte sich schon einmal sehr um Till bemüht, als Melissa ihn gerade erst kennengelernt hatte.

Melissa fuhr plötzlich durch Straßen, die ihr fremd waren und mahnte sich, besser aufzupassen, aber richtig konzentrieren konnte sie sich nicht. Endlich gelangte sie wieder in eine Gegend, die sie kannte und fand auch den Weg zu Tills Wohnung.

Sie hätte ihn anrufen und ein Treffen mit ihm vereinbaren können, aber sie hatte gefürchtet, dann nicht die richtigen Worte zu finden und alles noch komplizierter zu machen.

Sie war immer für Offenheit und dafür, Unklarheiten zu diskutieren.

Till wohnte in einem jener modernen Wohnhäuser, in denen sich die Bewohner eigentlich nie kennenlernten, sofern sie nicht Kontakt suchten und auch fanden. Melissa war mehrmals bei ihm gewesen, aber sie war nur zwei anderen Personen begegnet im Lift. Wahrscheinlich wäre es an diesem Abend auch nicht anders gewesen, wenn sie das Haus betreten hätte. Als sie jedoch aus ihrem Wagen steigen wollte, kamen Till und Simone Arm in Arm aus dem Eingang und Melissa war es, als würde ein Messerstich ihr Herz durchbohren. Die beiden lachten und es war für Melissa purer Hohn. Eiskalte Wut stieg in ihr empor und gab ihr die Kraft, den Wagen zu verlassen und auf die beiden zuzugehen.

Jetzt erstarrte Till, als er sie erkannte. Simone war für den ersten Moment auch erschrocken.

»Es stimmt also«, sagte Melissa mit klirrender Stimme. »Ich wollte esa nicht glauben, aber einmal hat Simone anscheinend doch die Wahrheit gesagt. Was seid ihr beide mies!«

Damit drehte sie sich um und ging zu ihrem Wagen zurück. Till folgte ihr.

»Warte doch, Melissa«, rief er, »laß es dir erklären.« Er war schon bei ihr, als sie einsteigen wollte, aber da rief Simone: »Laß sie laufen, du verlierst doch nichts, Till!«

Till wollte Melissa festhalten, aber sie riß sich los, verlor den Halt, stürzte und schlug mit dem Hinterkopf auf ihren Wagen auf.

»Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte Till.

»Laß uns gehen, sie wird schon wieder aufstehen«, sagte Simone.

»Weißt du eigentlich, wie brutal du bist«, stieß er hervor. »Sie ist ohnmächtig. Ich muß einen Arzt rufen.«

»Und man wird sagen, daß du sie gestoßen hast. Du weißt hoffentlich, was das für deine Stellung bedeuten kann.«

Melissa hörte davon nichts, um sie war tiefschwarze Nacht.

*

»Wo Melissa nur bleibt«, sagte Uschi Vollmer zu ihrem Mann. »Sie weiß doch, daß wir in die Oper gehen wollen.«

»Vielleicht war Till auch bei Dr. Norden und sie haben sich verbummelt«, meinte Frank Vollmer gleichmütig.

»Ich rufe lieber mal bei Dr. Norden an«, sagte Uschi, »Ich bin so unruhig.«

»Du bist wirklich eine Glucke. Melissa ist kein Kind mehr, sie hat es uns deutlich genug gesagt. Vielleicht ist sie lieber mit Till zusammen, als mit uns in die Oper zu gehen.«

»Sie hätte Bescheid gesagt, so ist sie nicht, daß sie uns einfach sitzenläßt. Und sie geht gern in die Oper.«

Uschi wählte schon Dr. Nordens Nummer und wurde blaß, als Wendy ihr sagte, daß Melissa gar nicht gekommen sei.

»Wir wissen auch nicht, was los ist«, stammelte sie, »hoffentlich ist ihr nichts passiert, es ist immer noch stellenweise Glatteis.«

Sie zitterte, als sie den Hörer auflegte. »Ruf du doch mal bei Till an, ich mache das nicht gern«, flüsterte sie. »Es ist nicht Melissas Art, bestimmt ist etwas nicht in Ordnung.«

Er tat ihr den Gefallen, und suchte Tills Nummer heraus. »Es ist das Besetzzeichen«, erklärte er. Er konnte nicht ahnen, daß Till das Telefon beiseitegelegt hatte, als Simone bei ihm war, um nicht gestört zu werden.

Die Zeit verrann, Melissa kam nicht. Es wäre Zeit gewesen, zur Oper zu fahren, aber daran dachten die besorgten Eltern schon nicht mehr. Sie hatten im Büro angerufen, dann wieder versucht, Till zu erreichen, jetzt kam bei ihm das Freizeichen, aber er meldete sich nicht, sondern sein Anrufbeantworter.

»Es ist etwas passiert, Frank, ich habe solche Angst«, sagte Uschi bebend. Er bekam es jetzt auch mit der Angst.

»Ich werde bei der Polizei anrufen, ob ein Unfall gemeldet ist«, sagte er heiser.

Als er zum Telefon greifen wollte, läutete es. Es war Dr. Norden.

»Bitte nicht gleich erschrecken«, sagte er gepreßt. »Ich habe gerade die Nachricht bekommen, daß Melissa einen Unfall hatte. Sie wurde ins Klinikum gebracht. Ich fahre gleich hin.«

»Wir kommen natürlich auch. Wo können wir Sie treffen?«

»Ich weiß bisher nur, daß Dr. Lindenhoff zuständig ist.«

»Ist es schlimm?« fragte Frank Vollmer tonlos.

»Ich weiß noch gar nichts. Wir sehen uns.«

*

»Warum hast du ihm nicht gesagt, daß sie eine Gehirnerschütterung hat?« fragte Fee Norden, als Daniel das Gespräch beendet hatte.

»Was soll ich lange reden? Sie werden kommen und hören, daß sie bewußtlos ist. Sie muß schwer gestürzt sein, wenn die Bewußtlosigkeit so lange anhält. Wieso ist sie nicht zu der Impfung gekommen, sondern am anderen Ende der Stadt gefunden worden?«

»In Bogenhausen wohnt doch ihr Verlobter, vielleicht wollte sie zu ihm«, meinte Fee.

»Sie ist immer so gewissenhaft. Irgend etwas paßt da nicht zusammen, das sagt mir mein Gefühl. Ich fahre jetzt, hoffentlich ist es nicht so schlimm.«

»Wieso hat man erst dich und nicht ihre Eltern angerufen?«

»Sie hatte meine Karte in der Jackentasche. Bis bald, mein Schatz.«

»Fahr vorsichtig, Daniel.«

Fee blickte ihm nach und blieb noch eine Zeit am Fenster stehen. Anneka kam herein und schmiegte sich an ihn.

»Was ist denn mit Melissa?« fragte sie ängstlich.

»Sie hatte einen Unfall und ist jetzt im Klinikum. Ich weiß auch nicht, was passiert ist, Kleines.«

»Sie ist immer so nett, und sie wollte mir den Rittberger beibringen. Sie kann ja so gut eislaufen, Mami.«

Anneka hatte durch Melissa ihre Liebe zu diesem Sport auch richtig entdeckt und sehr gute Fortschritte gemacht. Sonst war sie nämlich gar nicht so sportbegeistert, und Fee war froh, daß sie jetzt so eifrig dabei war.

»Du hast Melissa sehr gern«, sagte sie weich.

»Ja, sehr, aber Herrn Herder mag ich nicht so sehr. Er mag wohl auch keine Kinder.«

»Ach, weißt du, das kommt bei Männern oft erst später.«

»Kam es bei Papi auch erst später?«

»Nein, das ist was anderes, er hat doch als Arzt immer schon mit Kindern zu tun gehabt.«

»Er ist auch ein sehr lieber Papi, andere Väter sind manchmal gar nicht lieb. Gabis Vater haut zu, das darf er doch eigentlich nicht.«

»Es ist nicht richtig, wenn man Kinder schlägt. Leider sind die Menschen verschieden und Väter auch. Manchmal sind auch Mütter nicht gerade lieb mit ihren Kindern.«

Sie nahm Anneka bei der Hand und ging mit ihr nach oben zu den Zwillingen, die schon im Bett waren.

»Ist Papi noch mal weg?« fragte Dési schläfrig.

»Warum denn wieder?« fragte Jan.

»Es war ein Unfall, aber ihr sollt jetzt schlafen.«

»Sing uns noch was vor, Mami«, baten beide gleichzeitig.

»Von den vierzehn Englein«, flüsterte Désiree.

Zuerst wollte Fees Stimme nicht richtig gehorchen, dann ging es doch ganz gut. Alle drei lauschten andächtig, und beim letzten Ton schliefen sie schon.

»Du kannst so schön singen, Mami«, sagte Anneka bewundernd.

»Du doch auch«, meinte Fee lächelnd. »Du bist nur zu schüchtern, und das müßte nicht sein.«

»Aber es wär’ dir nicht recht, wenn ich so frech wäre wie Tina«, meinte sie schließlich.

»Das stimmt allerdings.«

»Sie ist aber auch nicht beliebt. Sie darf zu Hause alles, das ist nicht gut.«

»Nein, das ist nicht gut. Erwachsene sollten wissen, wo die Grenzen sind, und das müssen Kinder eben auch lernen. Wenn Tina der Lehrerin die Zunge rausstreckt und Schimpfwörter sagt, ist das sehr ungezogen.«

»Aber ihre Mutter hat zu Frau Breitner gesagt, daß sie keinen Humor hat und so was viel zu ernst nimmt. Da war Frau Breitner erst recht sauer. Sie ist die netteste Lehrerin, die darf man doch nicht vergraulen.«

Durch dieses Gespräch war Fee für kurze Zeit von ihren Gedanken über Melissa abgelenkt. Anneka ging dann doch zu Bett, und für Fee begann das Warten auf Daniel.

Er hatte Uschi und Frank Vollmer bei Dr. Lindenhoff getroffen. Dessen Sohn Manuel könnte Daniel Norden als sehr guten Psychologen. Nun lernte er auch den Vater kennen, der sicher an die sechzig Jahre sein mochte, aber sehr viel jünger wirkte. Daniel war er sofort sympathisch, während das Ehepaar Vollmer ihn ängstlich ansahen.

»Ich kann bisher nur sagen, daß die Patientin eine mittelschwere Rückenprellung und Gehirnerschütterung hat. Am linken Arm hat sie Druckstellen, so daß angenommen werden kann, daß sie festgehalten wurde. Es wurde mir auch mitgeteilt, daß zwei Zeugen eine Auseinandersetzung hörten, aber nur wenig verstanden und auch nicht viel sehen konnten. Darüber kann Ihnen die Polizei sicher besser Auskunft geben. Es ist nicht auszuschließen, daß Ihre Tochter einen psychischen Schock erlitten hat, der diese lange Bewußtlosigkeit auslöste. Sie wird jetzt ständig beobachtet. Lebensgefahr besteht nicht.«

Die Vollmers atmeten hörbar auf. »Können wir Melissa sehen?« fragte Frank Vollmer.

»Selbstverständlich. Ich würde Sie später gern noch sprechen, Herr Kollege«, sagte er zu Daniel, der nickte ihm zu.

Uschi schluchzte leise auf, als sie Melissa betrachtete, die völlig regungslos in dem Bett lag. Das schmale Gesicht war blutleer, aber Daniel Norden meinte einen Ausdruck von Angst zu erkennen.

Frank Vollmer hatte seine Frau in den Arm genommen. »Reg dich nicht mehr auf, Uschi, unsere Melissa lebt und wird wieder gesund werden«, sagte er tröstend.

Dann wandte er sich Dr. Norden zu. »Die Ungewißheit war am schlimmsten«, erklärte er. »Warum nur war sie nicht bei Ihnen, sondern in dieser Gegend?«

Das konnte vielleicht dieser Herder wissen, dachte Daniel. Er wohnt dort, und wen sonst hätte Melissa aufsuchen wollen?

Ihm kamen ungewollt seltsame Gedanken. Hatte es da einen Streit gegeben? War das himmelhochjauchzende Glück getrübt worden? Das ging oft schnell bei den jungen Leuten.

»Ich werde mich laufend informieren«, sagte er zu dem Ehepaar.

»Sie werden sich doch um Melissa kümmern, wenn wir sie nach Hause nehmen können?« fragte Uschi bittend.

»Das ist selbstverständlich, Frau Vollmer. Morgen sieht alles wahrscheinlich viel besser aus.«

»Wir sind ja keine Schwarzseher«, sagte Frank Vollmer. »Und Melissa ist zum Glück ein optimistischer Mensch. Überlassen wir es der Polizei, diesen mysteriösen Fall aufzuklären. Vielleicht wollte jemand ihr Auto stehlen, und sie hat sich gewehrt.«

Sie blieben noch. Dr. Norden begab sich zu Dr. Lindenhoff, der ihm gleich erklärte, daß sein Sohn schon oft von ihm gesprochen hätte.

»Es freut mich sehr, daß wir uns nun auch persönlich kennenlernen, wenn es auch ein ernster Anlaß ist.«

»Sie denken, daß die Verletzungen doch schlimmer sind?«

»Nicht die sichtbaren Verletzungen, sondern das Trauma, die Nachwirkungen eines schweren Schocks. Sie kennen die junge Dame schon länger und können mir sicher etwas über ihre Mentalität sagen.«

»Sie ist keinewegs labil, sondern lebensfroh und optimistischer Natur, sportlich, offenherzig und ehrlich.«

»Also liebenswert. Sie hat einen Freund?«

»Sie ist sozusagen verlobt und wollte mit dem jungen Mann nach Afrika fliegen, schon in den nächsten Tagen. Ich hatte sie zur letzten Malariaimpfung erwartet, sie kam nicht und ich kann es mir auch nicht erklären, warum sie in diese Gegend gefahren ist. Allerdings wohnt ihr Verlobter dort.«

»Sie könnte ihn also besucht haben.«

»Oder sie wollte ihn besuchen. Es passiert soviel auf den Straßen, daß man eigentlich überall in Gefahr sein kann.«

»Mich stimmt nur bedenklich, daß die Bewußtlosigkeit so lange anhält, denn so schwer ist die Verletzung nicht. Das läßt auf einen nachhaltigen Schock schließen. Ich habe meine Erfahrungen auf diesem Gebiet. Ich werde, wenn es Ihnen recht ist, auch noch die Diagnose meines Sohnes abwarten. Er ist ein sehr guter Psychologe.«

»Das weiß ich, und was sollte ich dagegen haben? Ich kann auch für das Ehepaar Vollmer sprechen. Sie werden nichts unterlassen, was Melissa helfen könnte. Denken Sie an eine Amnesie?

Dr. Lindenhof schüttelte den Kopf. »Wir haben das EEG befragt, es spricht dagegen. Wir werden sie ein paar Tage beobachten, dann ist sie in gewohnter, häuslicher Umgebung wahrscheinlich besser aufgehoben. Die Eltern sind ja sehr besorgt.«

»Melissa ist die einzige Tochter, und es herrscht ein überaus harmonisches Verhältnis. Ich kann sie auch täglich betreuen.«

»Das ist gut. Sie wird viel Liebe brauchen.«

Wie der Sohn, so der Vater, dachte Daniel. Für sie ist es nicht ein Fall, sondern ein menschliches Schicksal. Er machte sich auch Gedanken, was Melissa veranlaßt hatte, in diese Gegend zu fahren.

*

Simone und Till Herder saßen in einer Bar und sie hatten schon einiges getrunken. Simone war in Stimmung, Till starrte trübsinnig in sein Glas.

»Wir hätten das nicht tun dürfen«, sagte er heiser.

»Wir haben doch nichts getan«, erklärte sie mit einem frivolen Lächeln. »Was kannst du dafür, daß sie so dumm gefallen ist.«

»Was wollte sie überhaupt von mir? Sie wollte doch bestimmt zu mir«, murmelte er mehr zu sich selbst.

»Vielleicht hat die Eifersucht sie getrieben«, spottete Simone.

Er warf ihr einen schrägen Blick zu.

»Hast du sie etwa aufgestachelt? Es sähe dir ähnlich.«

»Ich bin nicht für halbe Sachen, einer mußte es in die Hand nehmen, ihr reinen Wein einzuschenken. Du konntest dich ja nicht entschließen.«

»Es war unfair, und ich weiß überhaupt nicht, was das soll. Du hast mich da in etwas hineingezogen, was mir nicht gefällt.«

»Das fällt dir aber spät ein«, warf sie ihm vor. »Wer hat dir denn diese Position verschafft? Meinst du, ich habe es aus purer Nächstenliebe getan? Etwas möchte ich davon auch profitieren.«

»Zwischen uns würde es aber nie gutgehen.«

Sie starrte ihn aus schmalen Augen an. »Denk ja nicht, daß ich mich zum Betthasen eigne. Wenn du abspringen willst, sag es gleich, aber dann bist du auch die Stellung los.«

Er hob den Kopf. »Wie soll ich das ihren Eltern erklären?« stöhnte er. »Das ist doch nicht so einfach abzutun.«

»Was mußt du denn erklären, du hast dich anderweitig entschieden. Afrika fällt flach, wenigstens für Melissa. Du mußt an deine Karriere denken…«

»Und man wird sich Gedanken machen, was da auf dem Parkplatz passiert ist, fast direkt vor meiner Wohnung. Wahrscheinlich wird die Polizei eingeschaltet, und ich sitze in der Klemme.«

»Mamma mia, bist du schwerfällig! Du warst nicht zu Hause, du kannst ja jetzt mit dem Taxi heimfahren, und sorgst dafür, daß du Zeugen dafür hast. Sei doch mal ein bißchen flexibel, aber wenn du kalte Füße kriegst, ist es nichts mit unserer Partnerschaft. Angsthasen sind nicht mein Fall.«

Er starrte sie wieder finster an. Ihre Kaltschnäuzigkeit ließ ihn frösteln. Ihm wurde bewußt, daß er sich da in etwas eingelassen hatte, was ihn in große Schwierigkeiten bringen konnte, und das haßte er. Mit Melissa war alles so einfach gewesen. Alles hatte seine Ordnung, und das mochte er eigentlich auch. Als Pilot war er ständig unterwegs, da war es ihm nur recht, ein bißchen Behaglichkeit genießen zu können. Mit Simone war das freilich nicht möglich, sie war ständig unterwegs und für Abwechslung. Er konnte jetzt schon nicht mehr sagen, wie er in ihre Fänge geraten war, aber langsam wurde es ihm bewußt, daß sie Melissa ausstechen wollte. Und er hatte sich aufs Glatteis begeben und kam gewaltig ins Schleudern.

»Jetzt fahre ich heim«, erklärte er und erhob sich abrupt. »Ich werde ein Taxi nehmen und mir alles durch den Kopf gehen lassen. Und du sperrst Augen und Ohren auf, was mit Melissa inzwischen geschehen ist.«

Sein Ton war härter, als er beabsichtigt hatte, wußte er doch, daß es besser war, sich Simone nicht zum Feind zu machen.

Ihr Blick verriet allerdings nichts Gutes und war ihm erst recht eine Warnung. Ein Taxi kam gleich, und als er sich hineinsetzte, hatte er schon wieder ein ungutes Gefühl. Es regten sich immer stärkere Gewissensbisse, und seine bangen Ahnungen sollten sich schon bewahrheiten, als er am Ziel aus dem Taxi stieg. Vor dem Eingang zu dem Hochhaus standen zwei Polizisten.

Sie fragten höflich nach seinem Namen, und ihm fiel es sehr schwer, die Fassung zu bewahren.

»Was ist denn passiert?« tat er unwissend und meinte, man müsse ihm die Unsicherheit vom Gesicht ablesen können.

Die Polizisten merkten, daß er getrunken hatte.

»Inspektor Scholtz wird mit Ihnen sprechen«, wurde ihm erklärt.

Jetzt hatte er ein ganz flaues Gefühl im Magen. »Ich war den ganzen Abend unterwegs. Sie können mir doch wenigstens sagen, worum es sich handelt.«

»Um einen Unfall.«

Er sagte wenigstens Unfall, Till nahm sich zusammen. »Ich kann dazu leider nichts sagen, weil ich nicht hier war«, erklärte er.

Inspektor Scholtz gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, und Till erfuhr nun, daß es um Melissa ging, was er natürlich wußte. Aber es wurde ihm sehr unbehaglich, als der Inspektor sagte, daß es zwischen ihr und ihrem Angreifer anscheinend zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen war.

»Das würde ich schon gern genauer wissen, denn schließlich bin ich mit Melissa seit langem befreundet. Warum sie allerdings hier war, weiß ich nicht, denn verabredet waren wir nicht. Es muß ein spontaner Einfall von ihr gewesen sein. Wo befindet sie sich jetzt? Ich möchte mich natürlich um sie kümmern.«

»Das müssen Sie mit den Eltern ausmachen. Vorerst dürfen nur diese zu ihr.«

Mit Grausen dachte Till daran, was er ihnen auftischen sollte, denn er mußte sich auch sagen, daß es ihn in ein ganz schlechtes Licht rücken würde, wenn er sich gar nicht meldete. Insgeheim verfluchte er seine Schwäche, sich mit Simone eingelassen zu haben.

Er konnte in Teufels Küche geraten, wenn jemand ihn und Simone gesehen und seinen Streit mit Melisa beobachtet hatte. Wie sollte er sich aus der Affäre ziehen?

Frank Vollmer war ein hoher Staatsbeamter mit beträchtlichem Einfluß. Melissa war Redaktionsassistentin und ihr Chef würde bestimmt interessiert sein, diesen mysteriösen Unfall zu klären.

Es war ein Unfall, wenn er auch durch eine Situation zustandekam, die zu seinen Ungunsten sprach, Till wußte das. Er konnte wieder ganz klar denken. Aber gegen ihn sprach, daß er Melissa nicht geholfen hatte, daß er nicht den Notarzt verständigte, daß er sie einfach liegenließ, weil Simone ihn dazu überredete.

Es war ihm nicht gesagt worden, wer Erst Hilfe geleistet hatte. Inspektor Scholtz hatte sich sehr reserviert gehalten, das war Till auch aufgefallen. Er war nicht gewissenlos, nur besorgt um seine Existenz. Er war Simone ausgeliefert, denn ihm war längst klar, daß sie skrupellos ihre eigenen Ziele verfolgte.

Er konnte nicht schlafen, stand auf und trank einen doppelten Whisky, aber ihm wurde erst recht schlecht. Schließlich war er froh, als die Nacht zu Ende war, aber er mußte sich gedulden, bis es soweit war, daß er das Ehepaar Vollmer anrufen konnte.

Er mußte das reiflich überlegen, jedes Wort, das er sagte, denn er konnte nicht einfach so tun, als wüßte er nichts von diesem Zwischenfall, nachdem er von Scholtz unterrichtet worden war. Er konnte allerdings auch nicht ahnen, daß der Inspektor bereits um neun Uhr ein Gespräch mit Uschi und Frank Vollmer hatte.

Sie hatten schlecht geschlafen, was nicht verwunderlich war. Frank hatte früh bei der Polizei angerufen, daß er auch wissen wollte, was mit Melissas Auto und ihren Sachen, die sich darin befanden, geschehen war. Er wurde an Inspektor Scholtz verwiesen, und der bat um ein persönliches Gespräch. Ihnen war es nur recht, daß es schon früh stattfinden sollte, denn sie wollten bald wieder in der Klinik sein.

Sie erfuhren von Inspektor Scholtz, daß der Wagen mit seinem Inhalt sichergestellt wurde und noch auf Fingerabdrücke untersucht werden sollte. Er sagte ihnen auch, daß der Mann, der Melissa gefunden hatte, Kai Erlander hieß und im selben Hochhaus wohnte wie Till Herder.

»Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte Frank Vollmer.

»Das werde ich nach dem Gespräch mit Ihnen tun. Aber ich habe gestern abend noch Herrn Herder gesprochen. Er behauptet, den ganzen Abend unterwegs und nicht mit Ihrer Tochter verabredet gewesen zu sein. Er machte einen ziemlich verwirrten Eindruck, hatte aber auch anscheinend einiges getrunken.«

»Er hatte sich noch nicht bei uns gemeldet, allerdings sind wir über diese Verbindung auch nicht so ganz glücklich und haben uns reserviert verhalten«, erklärte Frank.

»Aus der Afrikareise wird nun ja nichts«, warf Uschi ein. »Wir möchten uns gern bei Herrn Erlander bedanken, daß er Melissa geholfen hat. Wären Sie so freundlich, uns seine Adresse zu geben?«

»Ich werde mit ihm sprechen und ihm sagen, daß er sich mit Ihnen in Verbindung setzen soll.«

Uschi und Frank Vollmer fuhren zum Klinikum, nachdem sich Inspektor Scholtz verabschiedet hatte, und er fuhr zu seiner Verabredung mit Kai Erlander. Da sollte er allerdings ein paar Einzelheiten erfahren, die sehr interessant waren.

Kai Erlander war trotz seiner erst dreißig Lebensjahre eine Persönlichkeit, wie Inspektor Scholtz feststellen konnte.

Er beeindruckte durch seine Ruhe und Sachlichkeit, redete nicht lange herum, sondern erklärte unmißverständlich, was er zu sagen hatte.

»Da ich im selben Haus wohne, kenne ich Herder vom Sehen, wir haben auch schon mal ein paar Worte gewechselt. Ich habe ihn erkannt, als er mit der jungen Dame sprach. Er war nicht allein, sondern war mit einer anderen Frau aus dem Haus gekommen.«

»Von wo aus konnten Sie das sehen?« fragte Inspektor Scholtz.

»Von meinem Wagen aus. Es ist ein Kombiwagen, und ich war vollbeladen gekommen. Eine Großtante von mir ist kürzlich gestorben und hat mir ein paar schöne, antike Kleinmöbel hinterlassen, die hatte ich abgeholt.«

»Sie hörten also einen Streit?«

»Es war ein erregter Wortwechsel, deutlich zu verstehen war er nicht. Erst als sich Herder mit seiner Begleiterin entfernte, hörte ich, daß sie ihn bedrängte, schnell wegzufahren. Sein Auto stand nicht weit von meinem Parkplatz. Ich hatte schon gefürchtet, daß sie mich gesehen hätten, aber das war wohl nicht der Fall. Sie sagte, daß jemand sie schon finden würde, und das machte mich stutzig. Als sie abgefahren waren, zwang mich eine Eingebung, zu der Stelle zu gehen, an der ich die junge Dame dann tatsächlich fand. Ich habe sofort den Notarzt verständigt. Später habe ich darüber nachgedacht, warum Herder nichts dergleichen unternahm, das wäre doch seine Pflicht gewesen. Ich erkannte in der Verletzten jene junge Dame, mit der ich ihn früher schon mal gesehen hatte. Ihren Namen wußte ich allerdings nicht.«

»Melissa Vollmers Eltern möchten sich gern persönlich bei Ihnen bedanken, daß Sie ihrer Tochter geholfen haben. Es dürfte für das Ehepaar auch interessant sein zu erfahren, was Sie beobachtet haben, da Herr Herder so gut wie verlobt war mit ihrer Tochter.«

»Ich rede nicht gern darüber, aber von Treue scheint er nicht viel zu halten«, sagte Kai spöttisch, »und ich glaube, daß sie ihn deswegen zur Rede gestellt hatte, während die andere sich darüber ausließ, daß es ihn seine Stellung kosten könne, wenn er nicht schnell verschwinden würde.«

»Es ist gut, daß wir wenigstens einen Zeugen haben«, sagte Inspektor Scholtz. »Es hätte für die junge Dame auch schlimmer ausgehen können.«

»Was hat der Arzt feststellen können?« fragte Kai.

»Eine Gehirnerschütterung und Prellungen, vor allem aber ein traumatischer Schock.«

Kai sah ihn mit einem seltsam nachdenklichen Ausdruck an. »Sie könnte eine große Enttäuschung erlebt haben«, sagte er gedankenverloren.

»Sind Sie Psychologe?« fragte Inspektor Scholtz.

»Nein, das nicht, aber ich bin Personalchef bei ACRA und da braucht man Menschenkenntnis und Intuition. Haben Sie schon mit Herder gesprochen?«

»Nein, er ist zur Zeit nicht erreichbar.«

»Ich habe keine Gespenster gesehen«, sagte Kai mit fester Stimme.

»Ich darf auf Sie zurückkommen?«

»Selbstverständlich.«

Inspektor Scholz dachte sich sein Teil. Da wohnten zwei Männer im gleichen Haus, die sich aber nur flüchtig kannten und allem Anschein nach sehr unterschiedlichen Charakters waren. Jedenfalls schien es Herder mit der Treue nicht genau zu nehmen, und Kai Erlander war ein Mann mit Verantwortungsbewußtsein. Wenn er nicht so reagiert hätte, hätte es für Melissa Vollmer schlimme Folgen haben können.

*

Simone machte sich darüber keine Gedanken, während Till Herder immer noch nicht wußte, wie er sich aus der Affäre ziehen sollte. Er mied seine Wohnung, wollte den Schein aufrecht erhalten, daß er ein paar Tage nicht anwesend sei, hatte sich in einer kleinen Pension außerhalb der Stadt ein Zimmer gemietet, und auch Simone nicht verraten, wo er sich aufhielt.

Sie war wütend, hatte sie doch gedacht, ihn ganz unter ihren Einfluß zu bringen. Sie hatte große Pläne mit ihm. An dem Mann war sie nicht interessiert, denn Männer waren für sie auch nur wichtig, wenn sie ihr nützlich sein konnten. Bei Till spielte es vor allem eine Rolle, daß er Pilot war, denn sie brauchte einen für gewisse Unternehmungen, und dann war es ihr auch eine Genugtuung, daß sie Melissa eine Niederlage hatte bereiten können. Melissa war ihr schon lange ein Dorn im Auge, und lange genug hatte sie ihr Freundschaft geheuchelt.

Melissa besaß alles, was sie so gern besitzen wollte. Ihre Eltern spielten eine Rolle in der Gesellschaft, waren vermögend und angesehen und Melissa hatte einen Freundeskreis, an den Simone nie Anschluß gefunden hatte. Sie war immer eine Außenseiterin geblieben, obgleich sie immer und überall betonte, Melissas beste Freundin zu sein. Aber da war auch noch Andrea Schweiger, die sich ihr gegenüber so betont reserviert verhielt, daß es auffallen mußte, und Andrea war diejenige, deren Meinung in allen Situationen sehr gefragt war, zum großen Ärger von Simone, die aber bei Andrea gar nichts erreichen konnte.

Andrea erfuhr von Manuela Lindenhoff, was Melissa widerfahren war.

Sie wunderte sich, als er sagte, daß sie öfter von Melissa gesprochen hätte.

»Warum fängst du jetzt davon an, Manuela. Sie ist mit einem Mann zusammen, den ich nicht ausstehen kann. Ich habe sie wirklich gemocht, aber verstanden habe ich sie manchmal nicht. Auch diese Freundschaft mit Simone Gorden ist mir suspekt.«

»Ich habe von meinem Vater erfahren, daß sie einen Unfall hatte und unter einem schweren Schock steht. Ich soll sie behandeln.«

»Was für einen Unfall hatte sie?« fragte Andrea. Er erklärte es ihr, und ihre feinen Augenbrauen hoben sich.

»Eine merkwürdige Geschichte. Sie ist ein sehr nettes Mädchen und es ist schade, daß sie an diesen Mann geraten ist.«

»Kennst du ihn denn so gut?« fragte Manuel.

»Zum Glück nicht gut, obgleich er mich auch mal anmachen wollte. Er gehört zu der Kategorie, die mit jeder attraktiven Frau anbandeln wollen.«

»Warst du nicht mit Melissa Vollmer befreundet?«

»Als wir jünger waren, waren wir oft zu dritt, aber Simone hat mich dann vergrault. Ich habe mich allerdings auch nie so ganz wohl gefühlt als Dritte. Meine Mutter war mit Frau Vollmer befreundet.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Es hat sich nach Vaters Tod gelockert. Manchmal sehen sie sich noch, aber Mutti hat sich von allen zurückgezogen, da nützt kein Zureden. Mir gefällt es nicht, daß sie dauernd auf den Friedhof geht, aber wenn man mit einem Mann mehr als zwanzig Jahre verheiratet war, reißt es eine große Lücke, wenn er nicht mehr da ist. Sie waren sehr glücklich. Frau Vollmer ist noch glücklich mit ihrem Mann. Melissa kann froh sein, solche Eltern zu haben, aber sie gerät an einen Mann, der ein solcher Macho ist, daß sie mir nur leid tun kann.«

»Man sagt doch: Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie liegen.«

Andrea lachte kurz auf. »Oder sie wird zertreten. Ich halte nichts von diesen seltsamen Weisheiten. Liebe ist ein weiter Begriff oder auch Auffassungssache.«

»Du hältst nicht viel davon?«

Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Ich halte nichts von der Liebe auf den ersten Blick, weil jede Augenblicksstimmung sich schnell verflüchtigen kann. Man sollte immer einer Bewährungszeit ausgesetzt werden, um sicher zu gehen, daß es ein beständiges Gefühl ist.«

»Vielleicht ist das bei deiner Freundin jetzt der Fall.«

»Ich weiß nicht, ob ich Melissa als Freundin bezeichnen kann. Ich mag sie, aber diese Beziehung zu Simone hat mich immer gestört, aber anscheinend hat es da einen Knacks gegeben. Ich wünsche Melissa nur Gutes, und wenn du sie unter deine Fittiche nimmst, wird es ihr sicher bald bessergehen.«

*

Manuel fuhr zum Klinikum. Er hatte sich mit seinem Vater für elf Uhr verabredet und wußte, daß er pünktlich sein mußte. Er schaffte es, obgleich ziemlich viel Verkehr war.

Auch in der Eingangshalle herrschte Trubel, aber das war meistens der Fall. Trotzdem traf er in der Menge mit Kai Erlander zusammen. Er stutzte.

Manuel war noch erstaunter. »Was machst du denn hier, Kai?« fragte er. »Das ist wirklich ein Zufall. Wir haben uns lange nicht gesehen.«

Familie Dr. Norden Classic 40 – Arztroman

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