Читать книгу Dr. Norden Classic 42 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Und jetzt kommt das Tüpfelchen auf dem i.« Hochkonzentriert stand Tatjana Bohde in der Backstube neben der Schwester ihres Freundes und hielt eine geviertelte frische Feige in der Hand. »Die musst du jetzt ganz vorsichtig auf die Sahnerosette setzen.« Trotz ihrer Sehbehinderung tat Tatjana in schlafwandlerischer Sicherheit genau das, was sie Dési Norden angekündigt hatte. »So, fertig!«

»Mann, Tatti, das sieht ja irre aus.« Dési Norden, die in diesem spannenden Augenblick die Luft angehalten hatte, brach in lautes Jubeln aus. »Dafür hast du einen Preis verdient!« Begeistert betrachtete sie die kunstvolle Torte, die tatsächlich wie ein Gemälde aussah. Ein Brandteigring hielt die leichte Vanillecreme, auf der sich frische Beeren und andere Früchte häuften. Der Ring war abwechselnd mit einem Windbeutel und einer mit einer geviertelten Feige verzierten Rosette garniert.

»Ein Lob aus deinem Munde ist mir mehr wert als sämtliche Preise der Welt«, erwiderte Tatjana bescheiden. »Ich hoffe nur, dass meine kalorienarme Variation der Saint-Honoré-Torte auch schmeckt.«

»Wenn du die bei uns auf den Esstisch stellst, ist sie in drei Minuten weg. Das garantiere ich dir«, grinste Dési frech in Gedanken an ihre gefräßigen Brüder. »Wahrscheinlich bekomme ich wieder kein Bröselchen davon ab.«

»Oh, keine Angst, für diesen Fall hab ich vorgesorgt«, erklärte Tatjana geheimnisvoll und winkte Dési mit sich zum Kühlschrank. Sie öffnete ihn und deutete auf eine weitere Torte, die eine genaue Kopie der anderen war.

»Du bist einfach ein Schatz!« Vor Begeisterung fiel Dési der Freundin ihres ältesten Bruders um den Hals. »Und klug obendrein.«

»Ich würde mal sagen lernfähig!«, lachte Tatjana ausgelassen. Nur zu gut erinnerte sich die angehende Bäckerin an die Abende, an denen sie zur Nachspeise Gebäck aus der Bäckerei Bärwald mitgebracht hatte. Selten hatte es länger als fünf Minuten gedauert, bis die wohl gefüllten Teller leer waren und nur noch zufriedene Gesichter und mit Puderzucker bestäubte Fingerspitzen vom Genuss zeugten. »Deshalb nehmen wir heute Abend auch beide Torten zu deiner Familie mit.«

Natürlich gefiel das Dési. Trotzdem wiegte sie gedankenvoll den Kopf.

»Was sagt denn Frau Bärwald dazu? Sie will sie doch bestimmt verkaufen.«

»Zuerst einmal muss die Kreation den Familientest bestehen. Erst dann ist sie zum Verkauf freigegeben. Ihr seid meine schärfsten und wichtigsten Kritiker«, erklärte Tatjana sichtlich stolz, als die kleine Klingel über der Tür der Bäckerei Kundschaft ankündigte.

Frau Bärwald war an diesem Nachmittag zu ihrer Mutter gerufen worden, deshalb hatte sich Dési spontan bereit erklärt, Tatjana unter die Arme zu greifen.

Schnell wischte sie sich die sahnigen Finger an einem Geschirrtuch ab, rückte die lange, blütenweiße Kellnerschürze gerade und ging nach vorn in den Verkaufsraum.

»Einen wunderschönen guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, begrüßte die Schülerin ihre Kundschaft strahlend, als ihr das Wort im Hals stecken blieb. »Valerie, bist du das?« Entsetzt starrte sie auf das Mädchen, das an den Tresen getreten war. Als Dési ihre ehemalige Schulkameradin vor ein paar Monaten zum letzten Mal gesehen hatte, war auch sie noch ein bildhübsches Mädchen gewesen. Doch etwas war geschehen. »Du … du hast dich ganz schön verändert«, stammelte sie und rang sich ein hilfloses Lächeln ab.

»Hallo, Dési, tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.« Wenigstens Valeries melodische Stimme war noch dieselbe. Und als sie lächelte, konnte Dési die vertrauten Züge in dem kugelrunden, blassen, irgendwie teigigen Gesicht ausmachen. »Ich weiß, dass ich ziemlich komisch aussehe. Das kommt vom Cortison«, erklärte Valerie bereitwillig.

»Cortison?«, wiederholte Dési verständnislos. Als Arzttochter wusste sie natürlich, dass es sich dabei um eine Gruppe entzündungshemmender Medikamente handelte. »Warum nimmst du sowas?«

»Ich bin krank«, erwiderte Valerie und klang recht abgeklärt. »Deshalb muss ich starke Medikamente nehmen.«

»Was hast du denn?«, fragte Dési spontan und voller Mitgefühl. Die beiden Mädchen waren einige Jahre zusammen in die Schule gegangen, bis Valerie mit ihren Eltern in einen anderen Stadtteil gezogen war. Obwohl sie einander versprochen hatten, sich regelmäßig zu sehen, war der Kontakt nach und nach eingeschlafen. Umso größer war der Schreck, sie jetzt so wiederzusehen. »Ich meine … wenn die Frage nicht zu aufdringlich ist.«

Valerie lächelte freundlich.

»Wenn ich dir den Namen der Krankheit sag, bist du auch nicht schlauer.«

Doch wenn sie gedacht hatte, ihre ehemalige Freundin damit abspeisen zu können, hatte sie sich geirrt. Nicht umsonst war Dési Arzttochter. Sie war gewöhnt daran, den kompliziertesten Arztgeschichten zu folgen, und hatte allein durch’s Zuhören beim allabendlichen Abendessen ein beachtliches Wissen erworben.

»Wenn du Lust hast, kannst du mir alles erzählen«, bot sie nach einem raschen Blick auf die Uhr an. Es war kurz vor sechs Uhr, und die Bäckerei sowie das angrenzende kleine Café würden in einer halben Stunde schließen.

Dieses Angebot überraschte Valerie sichtlich. Die meisten Menschen fühlten zwar mit der Schülerin, wollten aber lieber keine Details hören. Zu bedrohlich war die grausame Wahrheit, die Hilflosigkeit kaum auszuhalten.

»Sehr gern, aber du musst wirklich nicht …«

»Ich weiß, dass ich nicht muss«, versicherte Dési schnell und zwinkerte Valerie zu. »Wenn du Lust hast, kannst du dich schon mal ins Café setzen. Ich bin gleich bei dir. Was willst du trinken? Und essen?«, fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein. »Deshalb bist du ja wahrscheinlich in die Bäckerei gekommen.«

Valerie lachte gutmütig.

»Stimmt. Ich hab einen Bärenhunger und könnte einen ganzen Laib Brot verschlingen.« Ihr hungriger Blick ruhte auf der Auslage der Bäckerei. »Oder doch lieber eine Torte? Aber davon wird man so dick.« Unwillkürlich strich sie mit den Händen über den Bauch, der sich deutlich unter dem weiten Shirt wölbte. »Daran ist das blöde Cortison schuld. Wenn es wenigstens was helfen würde.« Mit einem Mal wirkte sie so unglücklich, dass Dési sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Da sie aber noch einen weiteren Kunden bedienen musste, der eben hereingekommen war, musste sie diese tröstende Geste auf später verschieben.

»Ich glaube, für die ersten Beschwerden hab ich genau das Richtige für dich«, versprach sie in Gedanken an Tatjanas aufsehenerregende, aber kalorienarme Torte. »Und über alles andere reden wir später.«

»Gut.« Valerie war einverstanden und wandte sich ab, um sich einen Platz im kleinen angrenzenden Café zu suchen. Dési sah ihr nach und kämpfte einen Moment lang mit ihren aufwallenden Gefühlen. Doch schnell hatte sie sich wieder im Griff und bediente den Kunden, der geduldig vor dem Tresen gewartet hatte, mit gewohnter Freundlichkeit.

*

Auch in der Praxis Dr. Norden kehrte an diesem Abend langsam Ruhe ein, sodass Zeit für ein ausgiebigeres Gespräch mit einem Patienten blieb.

»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel«, bat Dr. Daniel Norden, als sein Patient ihm nach der Behandlung wieder ins Sprechzimmer folgte. »Aber normalerweise kommen eher junge Leute mit so einer Verletzung zu mir.« Während er sich an den Schreibtisch setzte, ruhte sein Blick auf Albert Kiesling. Der Anwalt war in seinem Alter, und die dicke Lippe wollte nicht recht zu dem Bild passen, das sich Dr. Norden bereits in der Vergangenheit von ihm gemacht hatte. Albert war ein durch und durch seriöser Mann. Nachdem er sich von der Trennung von seiner Frau erholt hatte, schien er regelrecht aufgeblüht zu sein und wirkte um Jahre jünger. Trotzdem passte diese Verletzung nicht zu ihm und seinem angenehmen Auftreten. »Sie sehen nicht gerade wie der Prototyp eines Schlägers aus. Oder mussten Sie Ihre Tochter vor einem aufdringlichen Verehrer beschützen?«, fragte Dr. Norden lächelnd und tippte seinen Befund und die eingeleitete Behandlung in den Computer ein.

Albert Kiesling lachte belustigt auf und verzog gleich darauf schmerzhaft das Gesicht.

»Schön wär’s, wenn ich so eine ehrenhafte Begründung hätte«, nuschelte er dann. Die Lippe war aufgeplatzt und hatte von Dr. Norden mit einem Klammerpflaster versorgt werden müssen. Gegen die Schwellung hatte Wendy dem Patienten ein Coldpack aus dem Kühlschrank gebracht. Trotz all dieser Maßnahmen würde es eine Weile dauern, bis Alberts Schönheit wieder hergestellt war. »Die Wahrheit ist allerdings, dass ich mit dem Sohn meiner neuen Flamme Skateboardfahren war.

Als Daniel das hörte, hielt er in seiner Arbeit inne. Diesmal machte er keinen Hehl aus seiner Belustigung, wusste er doch, dass auch der Anwalt ein humorvoller Mann war.

»Sie rauben mir alle Hoffnung, dass Alter und Vernunft irgendwie miteinander zusammenhängen.«

»Alt genug, um es besser zu wissen.« Diesmal begnügte sich Albert Kiesling mit einem vorsichtigen Lächeln. »Aber jung genug, um dieses Wissen zu ignorieren.«

»Hoffentlich haben sich Ihre Bemühungen wenigstens ausgezahlt.« Dr. Norden hatte seine Eingabe am Computer beendet und lehnte sich entspannt im Stuhl zurück. Es war ein Geschenk, einen arbeitsreichen Tag mit so einem Fall beenden zu dürfen, und er genoss dieses Gespräch sichtlich.

»Bis jetzt leider nicht«, gestand Albert Kiesling offenherzig. »Die Dame hat mich ausgelacht – oder vielleicht angelacht – und ist dann mit ihrem Sohn davon gegangen.«

Irritiert legte Daniel den Kopf schief.

»Moment mal! Sie haben sich als Entertainer für ihren Sohn zur Verfügung gestellt, und sie hat Ihnen im Gegenzug noch nicht einmal geholfen?«, erkundigte er sich ungläubig.

»Nein, nein!«, versicherte Albert rasch und hob die Hände. »So weit sind wir ja noch gar nicht.« Eine feine Röte überzog seine Wangen. »Ehrlich gesagt hab ich noch nie ein Wort mit ihr gewechselt und bin auch nicht sicher, dass sie mich überhaupt bemerkt hat. Ich sehe ihren Sohn fast jeden Mittag in der Pause im Park, wo er seine Kunststücke übt. Sie holt ihn manchmal dort ab. Da hab ich mir gedacht, wenn ich mir auch ein Skateboard besorge, wäre das eine gute Möglichkeit, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.«

»Und diesen Gedanken haben Sie direkt in die Tat umgesetzt«, schmunzelte Daniel Norden.

»Exakt.« Albert Kiesling nickte schuldbewusst. »Als Kind hatte ich auch so ein Ding. Aber ehrlich gesagt hatte ich es nicht so schwer in Erinnerung.«

»Und was haben Sie jetzt vor?«, konnte sich Dr. Norden eine interessierte Frage nicht verkneifen. »Ich meine bezüglich Ihrer Traumfrau. Denn das muss sie ja sein, wenn Sie noch nicht mal ein Wort mit ihr gesprochen haben, und trotzdem schon Leib und Leben für sie riskieren.«

Grinsend wiegte der Anwalt den Kopf.

»Hmm, zuerst einmal muss die Lippe verheilen, sonst habe ich bei dieser schönen Frau überhaupt keine Chance. Zeit, um sich eine neue Strategie einfallen zu lassen.« Er zwinkerte dem sympathischen Arzt zu und stand auf.

»Ich bin sicher, dass Ihre Kreativität nicht unter dem Unfall gelitten hat«, erklärte Daniel, als er seinen Patienten zur Tür brachte. »Aber vielleicht weichen Sie auf ungefährlichere Ideen aus.«

»Ich weiß noch nicht.« An der Tür blieb der Anwalt noch einmal stehen. »Diese Frau ist schon ein Opfer wert.« Er reichte Dr. Norden zum Abschied die Hand und verließ dann mit elastischen Schritten die Praxis. Ein weiteres Mal war Daniel froh, solche Zeiten der Partnersuche ein für alle Mal hinter sich zu haben, und kaufte auf dem Heimweg einen extra großen Strauß Blumen, um seiner Frau wieder einmal für all das zu danken, was er nur bei ihr fand.

*

An diesem Abend kam es zu einem kleinen Auflauf vor dem Haus der Familie Norden. Wie auf ein geheimes Zeichen hin waren alle Bewohner fast zur selben Zeit den Gartenweg hinauf Richtung Terrasse geströmt.

»Gibt es heute was umsonst?«, fragte Daniel, der als Letzter auf die Terrasse trat, wo bereits munteres Treiben herrschte. Danny und Felix standen – jeder mit einer Flasche Bier in der Hand – nebeneinander und lachten über einen Ärztewitz, den Felix bei einem Freund aufgeschnappt hatte.

Tatjana deckte gemeinsam mit Anneka den Tisch. Sie hatte Daniels Frage gehört und lachte ihn fröhlich an.

»Lenni hat sich mal wieder ins Zeug geschmissen und ihren köstlichen mediterranen Kartoffelsalat gezaubert. Dazu gibt es Forelle vom Grill«, beantwortete sie seine Frage. »Womit habt ihr diese Frau eigentlich bestochen, dass sie immer ihr Bestes gibt?«

Als Danny das hörte, drehte er sich zu seiner Freundin um.

»Na, hör mal, was soll das denn heißen? Gibt es Menschen, für die man lieber kochen und backen könnte als für uns?« Sein Zwinkern verriet, dass er diese Frage nicht wirklich ernst meinte, und Tatjana konterte schonungslos.

»Bescheidenheit, dein Name ist Daniel Norden.«

»Daniel Norden junior bitte!«, korrigierte Daniel Norden senior die Freundin seines ältesten Sohnes schnell. »Mit Größenwahn will ich nicht in Verbindung gebracht werden.«

In diesem Augenblick trat Fee auf die Terrasse. Sie trug eine Schüssel und sah neugierig von einem zum anderen.

»Was ist los? Ich möchte auch lachen.«

»Nichts lieber als das, mein Liebling«, erwiderte Daniel und zauberte einen phänomenalen Blumenstrauß hinter seinem Rücken hervor.

Vor Überraschung hätte Felicitas fast die Schüssel fallen gelassen. Janni bemerkte die Gefahr und griff beherzt zu. In letzter Sekunde brachte er den Kartoffelsalat in Sicherheit. Doch seine Mutter hatte keine Zeit, sich bei ihm zu bedanken. Ihre Augen hingen an dem wunderschönen Strauß.

»Oh, Dan, die sind ja zauberhaft«, schwärmte sie und versenkte das Gesicht in den duftenden Blüten. »Womit hab ich das verdient?«

»Vielleicht solltest du lieber fragen, was er angestellt hat?«, witzelte Felix in seiner gewohnt frechen Art und grinste seinen Vater an.

Doch auch Daniel hatte nur Augen für seine Frau. Er war dicht an Fee herangetreten und strich ihr sanft eine hellblonde Strähne aus dem Gesicht.

»Ich glaube, ich sage dir viel zu selten, wie wichtig du mir bist.« Er legte den Zeigefinger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, um sie innig zu küssen.

»Bisher ist mir das eigentlich gar nicht aufgefallen«, gestand Felicitas, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. Ihre Augen blitzten vergnügt. »Aber wenn das solche Auswirkungen hat … Stimmt, du könntest mir eigentlich viel öfter sagen, dass du mich liebst und brauchst und ohne mich nicht leben kannst«, scherzte sie gut gelaunt.

Einen Moment war Daniel sprachlos. Dann lachte er belustigt auf.

»Wenigstens weiß ich jetzt, woher Felix sein großes Mundwerk hat.« Er dankte Danny, der ihm eine Flasche Bier in die Hand drückte, und sah Felicitas nach, die ging, um die Blumen in eine Vase zu stellen. Sein Blick wanderte über die Terrasse. »Aber sagt mal, wo steckt eigentlich Dési? Hat sie dir nicht heute Nachmittag im Laden geholfen?« Fragend sah er Tatjana an. »Hat sie es vorgezogen, in der Backstube zu übernachten?«

Fast sofort erlosch das Strahlen auf ihrem bildschönem Gesicht.

»Eine alte Schulfreundin ist kurz vor sechs noch in die Bäckerei gekommen. Mit der hat sie sich ziemlich lange unterhalten«, berichtete Tatjana freimütig. Bevor sie weitersprach, trank sie einen großen Schluck von Fees berühmter selbstgemachter Zitronenlimonade. »Auf dem Heimweg hat sie kaum mehr ein Wort gesprochen. Aber ich hab nicht rausgekriegt, was los ist. Sie hat mir noch mit den Torten geholfen und ist dann gleich in ihrem Zimmer verschwunden.«

Schweigend hatte Daniel zugehört. Jetzt trank er noch einen Schluck Bier und stellte die fast volle Flasche auf den Tisch.

»Ich muss mich eh noch umziehen. Dann sehe ich gleich mal nach ihr«, beschloss er, sich um seine jüngste Tochter zu kümmern.

Einen Moment lang verstummten die Gespräche, und aller Augen folgten ihm, ehe Felix seine Familie mit einem weiteren Witz zum Lachen brachte.

*

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lag Dési auf dem Bett und starrte an die Decke. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie das Klopfen zuerst gar nicht hörte. Erst als Daniel die Tür öffnete, drehte sie den Kopf.

»Ach, du bist es, Dad«, seufzte sie und drehte sich wieder weg.

»Na, das nenn ich mal eine leidenschaftliche Begrüßung«, lächelte Daniel freundlich. »Darf ich reinkommen?«

»Na klar.«

Der Arzt schloss die Tür hinter sich und trat ans Bett seiner Tochter. Einen Moment lang blieb er ratlos davor stehen. Dann setzte er sich auf die Bettkante und suchte nach einer Möglichkeit, das Gespräch zu eröffnen.

»Tatjana hat erzählt, dass du hier oben bist«, begann er schließlich. »Du hast eine ehemalige Schulfreundin getroffen?«

Dési antwortete nicht sofort. Eine Weile kaute sie auf ihrer Unterlippe. Erst jetzt nahm sie die fröhlichen Stimmen, das ausgelassene Lachen wahr, das durch das gekippte Fenster in ihr Zimmer drang.

»Ist es nicht ungerecht, dass sich Menschen freuen können, während andere krank sind und Angst haben müssen?«, brach es plötzlich aus ihr heraus. Sie drehte sich zu ihrem Vater um und sah ihn fragend an.

Am liebsten hätte Dr. Norden direkt gefragt, an wen sie dabei dachte. Doch um Dési nicht zu verschrecken, wählte er den diplomatischen Weg.

»Auf der einen Seite hast du natürlich recht«, gab er unumwunden zu und griff nach Désis Teddybär, der in ihrem Bett schlafen durfte, seit sie ein Baby war. Mit einem Anflug von Wehmut streichelte er über das von allzu viel Liebe struppig gewordene Fell. »Andererseits wäre es doch eine Katastrophe, wenn alle Menschen mitleiden und Trauer tragen würden. Wer sollte den Hoffnungslosen dann Trost spenden und helfen?«

Diese berechtigte Frage leuchtete Dési ein. Ihr verschlossenes Gesicht entspannte sich ein bisschen, und schon wirkte sie etwas hoffnungsvoller.

»Du bist sooooo klug«, seufzte sie nach einem weiteren Moment und rappelte sich auf dem Bett hoch.

Daniel lachte.

»Ich bin sicher, dass du irgendwann auf dasselbe Ergebnis gekommen wärst.«

Doch auf diese Bemerkung ging Dési nicht ein. Offenbar hatte sie einen Entschluss gefasst, den sie sofort in die Tat umsetzen wollte.

»Hast du schon mal was von einer Langerhans-Zell-Histiozytose gehört?« Dieser komplizierte Begriff ging ihr so flüssig über die Lippen, dass Daniel nur staunen konnte.

»Hast du heimlich Medizin studiert?«, stellte er eine Gegenfrage und gab sich keine Mühe, seinen Stolz zu verbergen.

Zum Dank huschte ein feines Lächeln über Désis Gesicht. Spontan schlang sie die Arme um den Hals ihres Papis und drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange.

»Nein. Aber Valerie hat mir davon erzählt.«

»Langerhanszellen kommen in der Epidermis, also der Oberhaut des Menschen sowie in der Bauchspeicheldrüse vor«, erinnerte sich Daniel an das, was er einmal gelernt hatte. Darüber hinaus hatte er erst kürzlich in einem Fachblatte einen Artikel über diese Erkrankung gelesen. »Die Langerhans-Zell-Histiozytose ist eine ziemlich seltene und bisher nahezu unerforschte Krankheit«, repetierte er einen Teil des Artikels. »Meist erkranken Kinder unter zehn Jahren an diesem Wachstum infizierter Zellen, die in unterschiedlichsten Organen ungeordnet auftreten. An sich ist die Krankheit gutartig, kann aber einen bösartigen und tödlichen Verlauf nehmen.« Während er sprach, ruhte sein forschender Blick auf seiner Tochter. »Sag bloß, Valerie leidet an dieser heimtückischen Krankheit?«

Dési nickte düster.

»Sie war schon bei vielen Ärzten und hat Unmengen von Tabletten geschluckt. Aber bis jetzt konnte ihr keiner helfen«, berichtete sie in knappen Worten von dem, was Valerie ihr anvertraut hatte. »Vom Cortison ist sie total aufgeschwemmt. Sie sieht schrecklich aus. Am Anfang hätte ich sie fast nicht wiedererkannt.«

»Das arme Mädchen!«, entfuhr es Dr. Norden. In all den Jahren als Allgemeinmediziner hatte er nichts von seiner Fähigkeit zur Empathie verloren. Jedes einzelne Schicksal berührte ihn und sofort sann er über eine Lösung nach. »Willst du, dass ich sie mir mal ansehe?«

Mit dieser Frage hatte Dr. Norden seiner Tochter Mut machen wollen und war erschrocken darüber, sie nur noch tiefer in die Verzweiflung zu stürzen.

»Das ist es ja! Ich hätte dich und Mami sofort gefragt. Aber Valeries Eltern haben kein Vertrauen mehr in die Schulmedizin. Sie wollen die Behandlung abbrechen und mit ihr nach Holland zu irgendeinem Wunderheiler fahren. Zu einem, der seine Patienten in Trance versetzt und Hände und Kräuter auflegt«, brach all ihre Verzweiflung aus Dési hervor.

Daniel Norden war ein moderner Mediziner, der den verschiedensten Behandlungsmethoden aufgeschlossen gegenüber stand. In vielen Fällen verschrieb er selbst naturheilkundliche Mittel, manchmal als alleiniges Medikament, manchmal als unterstützende Therapie. Aber er wusste auch um die Grenzen alternativer Heilkunde besonders bei schweren Krankheiten wie Krebs.

»Ich hätte ja nichts dagegen, wenn sie diese Art von Behandlung zusätzlich anwendeten. Aber als alleinige Maßnahme …« Er hielt inne und schüttelte unwillig den Kopf. »Nein, das scheint mir verantwortungslos zu sein.«

»Das seh ich genauso. Aber besonders ihre Mutter hat die Nase voll. Valerie hat irgendwas gemurmelt, dass ihre Mum schon einen Termin ausgemacht hat.«

»Und was ist mit ihrem Vater?«, hakte Daniel vorsichtshalber nach. »Wie steht er dazu?«

Ratlos zuckte Dési mit den Schultern. Bevor sie antworten konnte, ertönte ein unheimliches Grollen. Erschrocken starrte sie auf ihre Körpermitte.

»Oh, ich glaub, ich hab Hunger.«

Daniel Norden lächelte und stand auf.

»Dann sollten wir so schnell wie möglich runtergehen, bevor uns die anderen alles wegessen.« Er hielt seiner Jüngsten die Hand hin und half ihr vom Bett auf. »Und morgen rufst du mal Valerie an und fragst, ob sie mit ihrem Vater zu mir kommen will. Wer weiß, vielleicht haben wir ja doch noch eine Chance und er kann seine Frau überzeugen«, tat er seine Hoffnung kund.

Während Dési Hand in Hand mit ihrem Vater die Treppe hinunterstieg, war ihr Lächeln schon wieder glücklich.

»Du bist einfach der allerbeste Papi der Welt«, schwärmte sie und konnte sich endlich auf den Abend mit ihrer Familie freuen, der wie immer bestimmt sehr lustig und unterhaltsam werden würde.

*

Als Vater und Tochter auf die Terrasse traten, saß der Rest der Familie schon um den Esstisch herum und ließ sich das marinierte Gemüse schmecken, das Lenni als Vorspeise zubereitet hatte.

»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte Fee die beiden und rückte ein Stück zur Seite. »Wir haben euch gerufen, aber ihr habt nicht gehört.«

»Wir hatten etwas zu besprechen«, erklärte Daniel vielsagend und zwinkerte seiner Tochter zu.

Tatjana lag eine Frage auf der Zunge, aber sie beherrschte sich. Sie wusste, dass sie das Vertrauen der Familie besaß. Früher oder später würde sie erfahren, was Dési bedrückte. Deshalb erzählte sie von dem, was sich an diesem Vormittag bei ihr in der Arbeit ereignet hatte.

»Frau Bärwald hat heute einen Anruf von einer Nachbarin ihrer Mutter bekommen«, berichtete sie und hielt Danny ihren Teller hin, damit er ihr noch eine Portion Gemüse geben konnte. »Ihre Mama hat irgendein gesundheitliches Problem. Leider hat sie sich heute nicht mehr gemeldet, sodass ich keine Ahnung hab, was eigentlich los ist.«

»Heißt das, du bist morgen auch allein in der Bäckerei?«, erkundigte sich Danny alarmiert.

»Keine Panik, das schaffe ich schon«, versuchte Tatjana, ihren Freund zu beruhigen.

»Wenn du willst, kann ich dir nach der Schule gern wieder helfen«, bot Dési ohne Zögern an. Auch Anneka und Felix wollten helfen.

Doch all das konnte Danny nicht beruhigen.

»Ich weiß, dass du alles kannst«, murrte er unwillig und nahm sich eines von den Alufolien-Päckchen, die Felix ihm auf einer Platte vor die Nase hielt. Er legte es auf seinen Teller und öffnete es vorsichtig. »Autsch, ist das heiß!« Er hatte sich prompt die Fingerspitzen verbrannt. Doch der köstliche Duft nach Fisch, Knoblauch und Kräutern, der dem Inneren entströmte, ließ die Schmerzen schnell vergessen sein. »Lenni, du hast dich mal wieder selbst übertroffen mit dieser Forelle.«

»Wenn ich nach so vielen Jahren immer noch nicht kochen könnte, würde ich mir wahrhaft Sorgen machen«, quittierte sie das Lob mit einem schnoddrigen Spruch. Bis auf den heutigen Tag konnte sie nicht recht mit Anerkennung umgehen und versteckte ihre Freude, so gut es ging.

Doch Dannys Gedanken waren inzwischen ohnehin weitergewandert.

Er schickte seiner Freundin einen besorgten Blick.

»Hoffentlich kommt Hilde bald zurück. Ich brauche nämlich deine moralische Unterstützung. Jetzt so dringen wie nie zuvor«, sprach er laut die Gedanken aus, die ihn bewegten.

Ungerührt befreite Tatjana ihre Forelle von den Gräten.

»Ich wusste, dass das schwierig wird … du und deine Doktorarbeit, ich mit meiner Ausbildung zur Bäckerin und Konditorin …«

»Wer weiß, vielleicht ist das auch die Chance für euer junges Glück, und die Liebe bleibt auf diese Art und Weise noch länger frisch«, platzte Felix frech dazwischen und lockerte das allzu ernste Gespräch mit seiner anzüglichen Bemerkungen wenigstens ein bisschen auf. »Ich hab irgendwo gelesen, dass Alltag der Liebes-Killer Nummer Eins ist.«

»Das sagt ein Mann, der sich perfekt in Liebesdingen auskennt«, spottete Danny und zog eine Gräte aus dem Mund.

»Moment mal, nur weil ich keine Lust auf halbe Sachen habe wie mit Elena bin ich noch lange nicht beziehungsunfähig«, erwiderte Felix ungerührt und streckte die Hand nach der Schüssel Kartoffelsalat aus, die sich bereits bedenklich geleert hatte.

Der Tonfall zwischen den Brüdern war ein wenig gereizt, sodass es Fee vorzog, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Du willst also wirklich anfangen mit der Doktorarbeit?«, erkundigte sie sich interessiert bei ihrem ältesten Sohn.

Seit Danny nach seinem Studium als Juniorarzt in die Praxis Dr. Norden eingestiegen war, stand dieses Thema im Raum. Manche Patienten störten sich am fehlenden Doktortitel, andere nahmen es noch nicht einmal zur Kenntnis. Mangels eines geeigneten Themas hatte Danny dieses Vorhaben immer wieder beiseite geschoben. Der abfällige Kommentar einer Patientin hatte aber schließlich eine Entscheidung herbei geführt: Danny würde über das höchst seltene Stevens-Johnson-Syndrom berichten, das seine Mutter vor kurzem um ein Haar das Leben gekostet hatte.

Während der junge Arzt eine weitere Gabel Fisch in den Mund schob, nickte er nachdrücklich.

»Irgendwann muss ich ja mal anfangen.«

»Wie lange dauert sowas denn?« Anneka hatte die Unterhaltung aufmerksam verfolgt.

»Kommt aufs Thema an«, erklärte Danny bereitwillig. »Es gibt stupide Fleißarbeiten, die man in einem halben Jahr schaffen kann. Zum Beispiel könnte man bereits vorhandene Statistiken auswerten und Behandlungsmethoden daraus ableiten.«

»Aber das ist eurem ehrgeizigen Bruder natürlich zu wenig«, scherzte Tatjana und warf Danny stolz eine Kusshand über den Tisch. Selbst ehrgeizig und unerbittlich gegen sich selbst hatte sie in dem jungen Arzt einen ebenbürtigen Partner gefunden, mit dem sie sich gern maß.

Danny verstand den bewundernden Blick aus den riesigen, dunkelblauen Augen und war stolz darauf. Aus Erfahrung wusste er, dass seine Freundin nicht gerade verschwenderisch mit Anerkennung umging.

»Mal abgesehen davon, dass ich das schon allein Mum und Dad schuldig bin, ist diese Doktorarbeit auch für meine berufliche Zukunft interessant.« Satt und zufrieden lehnte er sich zurück. »Wenn es mir gelingt, eine richtig gute Arbeit hinzulegen, könnte ich sie sogar in einem renommierten Journal veröffentlichen. Das wiederum bringt mir möglicherweise ordentlich Respekt bei einem zukünftigen Arbeitgeber ein«, geriet er unvermittelt ins Schwärmen.

Daniel Norden musterte seinen ältesten Sohn mit einer Mischung aus Belustigung und echter Sorge.

»Ist es möglich, dass du mir gerade durch die Blume etwas sagen willst?«, erkundigte er sich zurückhaltend.

Danny verstand sofort, was sein Vater meinte.

»Solange du dich gut benimmst, musst du dir keine Gedanken machen.«

Alle lachten, und sämtliche Sorgen lösten sich zumindest für diesen Abend in Wohlgefallen auf, obwohl sich auch Tatjana Gedanken darüber machte, wie es mit ihr und Danny weitergehen sollte, wenn Hilde Bärwald für längere Zeit ausfiel.

*

Trotz des gelungenen Abends, der damit endete, dass Tatjanas Torten ratzeputz vertilgt wurden, erinnerte sich Dr. Norden am nächsten Morgen an das Versprechen, das er seiner Tochter Dési gegeben hatte.

»Wie sieht es denn in den nächsten Tagen aus?«, erkundigte er sich, als er frühmorgens die Praxis betrat.

Wie immer war Wendy bereits in der Praxis, und es roch nach frisch gekochtem Kaffee. Die Fenster waren weit geöffnet und ließen die frische Morgenluft herein.

»Brauchen Sie einen Termin?«, fragte sie belustigt und stellte die Gießkanne an ihren Platz zurück. »Was darf’s denn sein? Ein Generalcheck mit Langzeit-EKG? Oder doch lieber nur eine kleine Auffrischungs-Impfung?«

Daniel lachte und hängte seine leichte Jacke an die Garderobe. Die Hitze der vergangenen Tage war glücklicherweise zurückgegangen, und ein leichter Nieselregen hatte die erhoffte Abkühlung gebracht.

»Das könnte Ihnen so passen ... Sie scheinen nur darauf zu warten, mir eine Nadel in den Arm rammen zu können, um sich für die Überstunden der vergangenen Jahre zu rächen«, ging Daniel auf den scherzhaften Ton seiner langjährigen Assistentin ein.

Doch davon wollte Wendy noch nicht einmal im Scherz etwas wissen.

»Um in dieser Praxis arbeiten zu dürfen, mit zwei so wundervollen Chefs, würde ich noch viel mehr Überstunden machen«, erklärte sie so innig, dass Daniel ganz gerührt war.

»Sie machen mich richtig verlegen«, gestand er heiser und beugte sich schnell über den Terminkalender. »Mal abgesehen davon, dass Sie beide es uns leicht machen, gute Chefs zu sein«, wollte er ihr in nichts nachstehen.

»Ach, du liebe Zeit! Wird hier heute ein Wettbewerb mit dem Thema ›Das schönste Kompliment‹ ausgetragen?« Von ihren beiden Kollegen unbemerkt war Janine Merck unfreiwillige Zeugin der Freundlichkeiten geworden war.

Überraschte Blicke trafen sie. Doch Daniel Norden wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er nicht eine schlagfertige Antwort parat gehabt hätte.

»Ich habe neulich erst einen Artikel darüber gelesen, dass die Deutschen sparsam sind im Komplimente-Machen und dementsprechend schlecht damit umgehen können, wenn sie welche bekommen. Einziger Ausweg aus diesem Dilemma: Übung!«, verkündetet er unbeeindruckt. »Übriges sehen Sie fantastisch aus heute Morgen!«

Lachend zog Janine ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

»Vielen Dank! Übung macht den Meister, das wusste schon meine Mutter.« Schwungvoll setzte sie sich auf ihren Schreibtischstuhl und sah ihren Chef erwartungsvoll an. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?«

Ihre Frage erinnerte Daniel wieder an sein Versprechen.

»Ich brauche einen Termin. Allerdings nicht für mich, sondern für Désis Freundin Valerie und ihre Eltern. Haben wir kurzfristig was frei?«

Sowohl Wendy als auch Janine beugten sich über den übervollen Terminkalender der kommenden Tage. Die Hitzewelle hatte besonders Kindern und älteren Menschen geschadet und die Nachwirkungen der Kreislaufzusammenbrüche, Durchblutungsstörungen und Hitzekrämpfe würden noch eine Weile zu spüren sein. Doch nach ein paar Minuten intensiven Nachdenkens und Dannys Zusage, ein paar Patienten zu übernehmen, war es geschafft.

»Kann Valerie mit ihren Eltern um 16:00 Uhr hier sein?«, schrieb Daniel, ganz moderner Vater, seiner Tochter noch am Vormittag eine Nachricht auf dem Handy in die Schule. Wie erwartet bekam er keine Antwort. Immerhin war die Benutzung von Mobiltelefonen während des Unterrichts verboten. Doch gleich nach Schulschluss kam die Nachricht, dass Valerie gemeinsam mit ihrem Vater pünktlich in die Praxis kommen würde. Bis zuletzt hatte Daniel Zweifel, ob die beiden tatsächlich auftauchen würden. Doch er wurde eines Besseren belehrt.

*

Auch Dr. Norden erschrak, als er die ehemalige Schulkameradin seiner jüngsten Tochter zum ersten Mal seit Jahren wieder sah.

Ganz Profi war ihm sein Schrecken aber nicht anzumerken.

»Hallo, Valerie, ich freue mich, dich mal wieder zu sehen«, begrüßte er sie freundlich und reichte auch ihrem Vater die Hand. »Herr Kayser, wie schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten. Ihre Frau wollte nicht mitkommen?«, fragte er anstandshalber, als er den beiden einen Platz vor seinem Schreibtisch anbot.

Lucas Kayser räusperte sich umständlich.

»Sie haben ja sicherlich von Ihrer Tochter gehört, wie meine Frau inzwischen über die Schulmedizin denkt«, seufzte er, ehe er den skeptischen Blick auf Dr. Norden richtete. »Glauben Sie, dass Sie Valerie helfen können?«

»Ehrlich gesagt weiß ich das noch nicht«, gab Daniel unumwunden zu und setzte sich Vater und Tochter gegenüber an den Schreibtisch, wo bereits sämtliche Informationen bereit lagen, die er in der Kürze der Zeit über die seltene Krankheit hatte beschaffen können. »Ich muss mir erst selbst einen Überblick verschaffen. Dazu möchte ich Valerie zunächst einmal untersuchen.«

Schlagartig wurde Lucas‘ Miene abweisend.

»Ich habe alle Unterlagen mitgebracht«, erklärte er schroff und reichte zwei große braune Umschläge und einen noch größeren grünen Umschlag – er enthielt die Röntgenbilder – über den Tisch. »Sie müssen nicht alles doppelt machen.«

»Ich hab schon so viele Untersuchungen hinter mich gebracht...« Auch Valerie war ganz offensichtlich nicht angetan von der Vorstellung, wieder auf den Kopf gestellt zu werden.

Das verstand Dr. Norden, ändern konnte er es aber nicht.

»Es tut mir wirklich leid. Aber ganz ohne eigene Untersuchungen geht es nicht. Um herauszufinden, ob ich helfen kann, muss ich mir ein möglichst umfassendes Bild von deinem Gesundheitszustand machen«, erklärte er geduldig.

Lucas Kayser sah seine Tochter zweifelnd an. Schließlich war es Valerie, die die Entscheidung traf.

»Also gut. Aber nur, wenn Sie mir nicht zu sehr wehtun.« Ihr ängstlicher Blick ruhte auf Dr. Norden, dem das Herz wehtat, wenn er an das fröhliche, hübsche Mädchen von einst dachte.

Dr. Norden Classic 42 – Arztroman

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