Читать книгу Dr. Norden Bestseller Classic 40 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Es war nach zehn Uhr abends, als Dr. Daniel Norden in die Villa Deckert gerufen wurde. Er kannte die Familie schon ein paar Jahre und wusste gut über sie Bescheid.

Sie besaßen eine Keramikfabrik und eine Ziegelei, solide Unternehmen, und der alte Martin Deckert war sehr traditionsbewusst.

Eigentlich alt konnte man ihn noch nicht nennen, denn vor ein paar Tagen hatte er erst seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Er war mit vielen Ehrungen und einem Orden ausgezeichnet worden.

Und nun sollte er krank sein? Dr. Norden konnte sich das gar nicht recht vorstellen, denn der Senior der Familie war eigentlich der Einzige, der seine Hilfe nie beansprucht hatte.

Sein Sohn, der traditionsgemäß ebenfalls Martin hieß, hatte Dr. Norden angerufen, und seine Stimme hatte sehr besorgt und erregt geklungen. Schnell hatte Daniel nach seinem Arztkoffer gegriffen und war bald am Ziel.

Das Haus der Deckerts war ein schöner alter Bau, fast ein kleines Palais, gebraucht hatten es die Deckerts, denn in jeder Generation hatte es eine beträchtliche Zahl von Kindern gegeben. Ein großer gepflegter Park, wie man ihn heute in dieser Villengegend nur noch selten sah, umschloss den zweistöckigen lang gestreckten Bau. Die Auffahrt war hell erleuchtet.

Dr. Norden wurde schon erwartet. Rosalie, die Schwiegertochter des Erkrankten, war sehr blass und hatte Tränen in den Augen.

»Vater geht es sehr schlecht, Herr Doktor«, flüsterte sie.

Er folgte ihr durch die weitläufige Halle zu dem Raum, der am Ende des Ganges lag. Martin, Rosalies Mann, saß am Bett seines Vaters und hielt dessen Hand. Der Ältere atmete keuchend.

Dr. Norden fragte nicht viel. Er hatte sofort erfasst, wie ernst der Zustand des Kranken war. Er schloss die kleine Sauerstoffflasche an, die er für Notfälle immer dabei hatte.

»Was soll das?«, murmelte der Kranke, als er ihm die Maske leicht aufdrückte.

»Bitte durchatmen«, sagte Dr. Norden. Leise gab er Order, dass Rosalie aufpasste, während er eine Injektion aufzog, denn Martin Deckert ließ die Hand seines Sohnes nicht los. Bläulich weiß waren die Finger, die die nervige Hand des Jüngeren festhielten.

Die Injektion selbst schien der Kranke nicht zu spüren.

»Halt alles zusammen, mein Junge«, sagte er mit schwacher Stimme, als Dr. Norden die Sauerstoffmaske wieder abgenommen hatte. »Es muss weitergehen, hörst du?«

Dr. Norden tauschte einen langen Blick mit Rosalie. Martin Deckert junior machte einen völlig benommenen, geistesabwesenden Eindruck. Wer die beiden kannte und wusste, wie gut sich Vater und Sohn verstanden, konnte das verstehen. Dr. Norden wusste es, aber er sah auch, dass das Leben des Martin Deckert senior an einem hauchdünnen Faden hing.

Er gab Rosalie einen Wink, und sie folgte ihm zur Tür.

»Es ist ein Infarkt«, sagte Dr. Norden leise. »Ich halte es für dringend notwendig, dass er in die Klinik gebracht wird.«

»Das wäre sein Ende«, gab sie bebend zurück.

Ob klinische Betreuung dieses Leben retten konnte, vermochte Daniel Norden allerdings nicht zu sagen, aber jedenfalls konnte man dort immer noch mehr tun als hier.

Daniel horchte wieder das Herz ab und maß den Blutdruck. Der Kranke war jetzt bewusstlos.

»Ich bin dringend dafür, Ihren Vater in die Klinik zu bringen, Herr Deckert«, sagte Daniel mit ernstem Nachdruck. »Er wird es jetzt nicht merken.«

»Aber wenn er aufwacht«, erwiderte Martin, »und dann …, nein, daran wage ich gar nicht zu denken.«

»Der Zustand Ihres Vaters ist äußerst ernst. Es besteht akute Lebensgefahr«, sagte Daniel.

»Aber warum denn nur? Er war doch den ganzen Tag auf den Beinen. Nichts hat man ihm angemerkt.« Martin Deckert junior sah verzweifelt aus.

»Es ist ein Herzinfarkt, so wenig vorausschaubar wie ein Unfall«, sagte Daniel. »Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kann das kommen.«

»Er hat sich über Ulla aufgeregt«, stieß Martin bitter hervor.

»Er hat sich nie geschont«, sagte Rosalie leise. »Oh, mein Gott, was kann man nur tun?«

Gar nichts mehr konnte man für Martin Deckert tun, obgleich er doch noch in die Klinik gebracht wurde und sich drei Ärzte um ihn bemühten. Im Morgengrauen verlöschte sein Leben. An seinem Bett standen Martin und Rosalie und weinten. Sie hielten sich umschlungen, und ihre Tränen vermischten sich.

Die anderen Kinder des eben verstorbenen Martin Deckert, Henrik, Birgitta und Ursula tanzten auf einer Party in Salzburg.

Völlig erschöpft kam Daniel Norden heim. Nur zwei Stunden konnte er schlafen, dann musste er wieder in seine Sprechstunde.

Fee Norden brauchte nicht zu fragen. Sie hatte ihren Mann nur angeschaut und wusste, was geschehen war.

»Ich habe es befürchtet«, sagte sie leise, dann nahm sie die Hand ihres Mannes und sagte zärtlich: »Du musst ein bisschen schlafen, Liebster.«

*

Martin und Rosalie hatten keinen Schlaf finden können.

»Was soll nun werden, Tino?«, fragte Rosalie leise.

Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen. »Sie tanzen, während Vater stirbt. Womit hat er das verdient?«

Rosalie wollte sagen, dass sie das nicht hätten wissen können, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie wusste doch, dass die drei anderen sich dieses Fest auch nicht hätten entgehen lassen, wenn der Zustand des Vaters schon so beängstigend gewesen wäre.

»Ruh dich aus, Tino«, bat sie. »Es kommen anstrengende Tage.«

»Für dich etwa nicht? Du hast ihn gerngehabt.«

»Sehr gern«, erwiderte sie. »Wir werden ihn sehr vermissen. Ich weiß nicht, wie ich es den Kindern erklären soll. Micky wird es noch nicht verstehen, aber Martin und Philipp …«, ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr, ging in leises Schluchzen über. Aus tränenverschleierten Augen sah sie ihren Mann an. Sie sah die Verzweiflung in seinem Gesicht, und da nahm sie sich zusammen, denn sie wusste, dass sehr viel auf ihn zukommen und nun noch mehr auf seinen Schultern lasten würde.

Martin war der Älteste von fünf Geschwistern. Er hatte immer eine Sonderstellung bei seinem Vater eingenommen, und das nicht nur, weil er ihm am ähnlichsten gewesen war. Auch der jüngste Sohn Christian war ihm sehr ähnlich gewesen. Er war im Alter von sechzehn Jahren auf einer Bergtour, die er mit seiner Schulklasse machte, tödlich verunglückt. Hermine Deckert, ohnehin kränkelnd, hatte den Tod ihres Jüngsten nicht verwunden. Man konnte wohl sagen, dass sie an gebrochenem Herzen gestorben war.

Henrik hatte früh geheiratet und war nach zwei Jahren wieder geschieden worden. Kinder gab es aus dieser kurzen Ehe nicht, und das war nach Meinung des »alten« Deckert nur gut gewesen. Henrik genoss seine wiedergewonnene Freiheit und tat im Betrieb nur das Notwendigste.

Birgitta, jetzt dreißig Jahre alt, zeigte keine Neigung zur Ehe. Sie war eine bekannte Turnierreiterin und der Meinung, dass Kinder nur eine Belastung wären.

Ulla war so exzentrisch, dass sie ihrem Vater laufend Sorgen bereitet hatte, derzeit damit, dass sie sich von Constantin Baltus, mit dem sie vier Jahre lang verheiratet war, scheiden lassen wollte. Auch sie hatte keine Kinder.

Martin hatte sich nach dem Studium ganz der Firma gewidmet. Für Frauen zeigte er kein Interesse, bis er Rosalie kennenlernte. Da war er vierunddreißig Jahre alt gewesen und sie zwanzig, an diesem Tage gerade zwanzig geworden, und zur Feier dieses Tages hatte sie mit einigen Bekannten zum ersten Mal in ihrem jungen Leben in einem vornehmen Restaurant gespeist.

Rosalie war Kosmetikerin, stammte aus bescheidenen Verhältnissen, war mit der mittleren Reife von der Schule abgegangen, notgedrungen, weil es der Vater wollte, und hatte dann den Beruf ergriffen, über den sie dann am ehesten ihr Ziel erreichen konnte, nämlich Maskenbildnerin zu werden. Mit diesem Wunsch hätte sie ihren Eltern nicht kommen dürfen, und es sollte dann ja auch alles ganz anders ausgehen.

Während sie unbeschwert im Freundeskreis feierte, saß Martin mit ein paar Geschäftsfreunden am Nebentisch. Hals über Kopf hatte er sich in das reizende natürliche Mädchen verliebt, und als sie sich später an der Garderobe trafen, was von seiner Seite aus nicht unabsichtlich geschah, hatte er sich ein Herz gefasst und sie um ein Wiedersehen gebeten.

Für Rosalie war es gewiss nicht Liebe auf den ersten Blick, denn sie war bisher stets nur mit Gleichaltrigen befreundet gewesen, ohne jedoch schon einen festen Freund gehabt zu haben.

Ihr imponierte der »ältere« Mann. Ihre beiden Kolleginnen redeten ihr ein, dass dies die Chance ihres Lebens sei, als sie sich dann in regelmäßigen Abständen mit Martin traf. Sie selbst zögerte. Bei ihr war die Liebe, von der sie geträumt hatte, die die Welt aus den Angeln heben konnte, nicht im Spiel, aber sie schätzte Martin doch so hoch ein, dass sie in ihm nicht nur die Chance ihres Lebens sehen wollte.

Doch sie fühlte sich geborgen in seiner Nähe, noch mehr, als ihre Mutter sich zwei Jahre nach dem Tode des Vaters wieder verheiratete.

Sie nahm Martins Heiratsantrag an, der innerhalb der Familie Deckert einen Sturm verursachte.

Für Martins Vater spielte es zwar keine Rolle, dass Rosalie aus einfachen Verhältnissen stammte, aber sie schien ihm zu jung für seinen ernsten Sohn, vielleicht fürchtete er auch, dass dieser nur wegen des Geldes geheiratet wurde.

Henrik hatte sein Ehefiasko bereits hinter sich, für Birgitta war Rosalie einfach nicht standesgemäß, während Ulla spöttisch meinte, dass sie sich ja künftig das Geld für die Kosmetikerin sparen könne, wenn man eine in der Familie hätte.

Martin hatte eine klare Grenze gezogen. Behutsam und taktvoll hatte er Rosalie erklärt, dass er selbst mit seinen Geschwistern keinen engen Kontakt hätte und sie ganz für sich leben könnten. Ja, Rosalie war so sehr beeindruckt worden von dem Lebensstil der Deckerts, dass sie sich sehr schnell anpasste. Und sehr schnell entstand dann die tiefe Zuneigung zwischen dem Senior und ihr. Vier Jahre nach dem Tod Hermine Deckerts fand die Hochzeit statt. Nach außen hin wahrten die Familienmitglieder das Gesicht. Rosalie war eine bezaubernde Braut, und es sollte sich erweisen, dass sie sehr bald einen unantastbaren Platz in diesem Haus einnahm. Dafür sorgte der Senior mehr noch als Martin, der seine junge Frau anbetete, ohne sich jedoch sicher zu sein, dass sie seine Gefühle im gleichen Maße erwiderte.

Der erste Sohn wurde geboren, und auch er wurde traditionsgemäß Martin genannt. Schon ein Jahr später kam Philipp zur Welt, dann weitere zwei Jahre später die kleine Michaela, die bald zum erklärten Liebling ihres Großvaters werden sollte, was alle verblüffte, denn Martin Deckert hatte für Mädchen nie sonderlich viel übriggehabt.

Auf den Tag genau sechs Jahre waren Martin und Rosalie verheiratet, als der Herr des Hauses die Augen für immer geschlossen hatte.

*

Rosalie lag auf ihrem Bett und dachte über den Verlauf dieses Tages nach. Ihr Herz war voller Trauer, da sie sich an das fröhliche Mittagsmahl erinnerte. Mit ihrem Mann, ihrem Schwiegervater und den drei Kindern hatten sie am Tisch gesessen. Der Opa hatte mit der kleinen Schar gelacht, er hatte Micky, wie Michaela genannt wurde, auf seinem Knie reiten lassen. Ihm war nicht anzumerken gewesen, dass ihm etwas fehlen könnte.

Er hatte Rosalie zärtlich auf die Wange geküsst, als er sich dann für eine kurze Ruhepause in seine Räume zurückzog.

»Es ist schön, dass du da bist, Rosalie«, hatte er gesagt. »Mit dir und den Kindern ist wieder Wärme in dieses Haus gekommen.«

Er machte über die andern, über Henrik, Birgitta und Ulla nie eine abfällige Bemerkung, aber Rosalie wuss­te längst, wie groß die Enttäuschung in ihm war, dass sie so gar keinen Familiensinn zeigten. Und manchmal gab Rosalie sich daran die Schuld, weil man sie wohl als einen unerwünschten Eindringling betrachtete.

Aber sie war eine selbstbewusste Frau geworden, und das nicht zuletzt durch den Rückhalt, den ihr Schwiegervater ihr gegeben hatte, während ihr Mann immer den Ausgleich mit seinen Geschwistern suchte.

Rosalie fand es ungerecht, dass die drei in keiner Weise am Familienunternehmen interessiert waren, und dass Martin neben seinem Vater alle Verantwortung auf sich nahm, während von den Jüngeren das Geld für Vergnügungen ausgegeben wurde.

Ulla hatte einen vermögenden Mann gefunden. Zu Constantin hatten Martin und Rosalie einen guten Kontakt, sofern Ulla nicht dazwischenfunkte.

In letzter Zeit war das kaum noch der Fall gewesen, Constantin machte es seiner attraktiven Frau nicht mehr in allem so leicht.

Darüber dachte jetzt auch Martin nach, der am Schreibtisch seines Vaters saß und immer noch nicht die gewohnte Fassung zurückgewonnen hatte. Man konnte nicht sagen, dass der Tod seines Vaters ihn noch tiefer traf als Rosalie, er wusste nur ziemlich genau, was ihn nun erwartete.

Sein Vater war der Motor gewesen, und er hatte das Ruder in der Hand gehalten. Er war eine so unglaublich starke Persönlichkeit gewesen, dass jeder in seinem Schatten stehen musste. Zwar hatte sich Martin nicht in diesen Schatten gedrängt sehen müssen, aber nun wurde das Ruder unerwartet früh in seine Hände gelegt, und er wusste auch genau, dass er sich auf seine Geschwister nicht verlassen konnte.

Voller Bitterkeit dachte er an seine Schwester Ulla. Ungewollt war er Zeuge der Auseinandersetzung zwischen ihr und dem Vater geworden.

Hier, an diesem Schreibtisch hatte er gesessen, um sich mit ein paar wichtigen Auslandsaufträgen zu befassen. Durch eine Sprechanlage war er mit den Privaträumen seines Vaters verbunden, damit sie sich stets bei Unklarheiten verständigen konnten, ohne viel hin- und herzulaufen.

Durch diese Sprechanlage hatte er Ullas erregte Stimme vernommen. Sie musste gerade erst gekommen sein, denn er hatte den Motor ihres Sportwagens gehört, der sehr viel Geräusch verursachte. Und aus einer Intuition heraus hatte er die Sprechanlage nicht abgeschaltet.

Ulla hatte gesagt, dass sie jetzt genug hätte von dieser tristen Ehe und sich scheiden lassen wolle.

Das schien innerhalb der Familie zu einer ansteckenden Krankheit zu werden, hatte der Senior darauf noch ziemlich ruhig erwidert. Ob sie denn Henrik alles nachmachen müsse.

»So ein verblendeter Narr wie Martin kann nicht jeder sein«, erwiderte sie. »Aber eines Tages wird Rosalie auch ihre Koffer packen. Eines Tages, wenn sie ihr Schäfchen im Trockenen hat. Genug Verehrer hätte sie ja.«

Da war der alte Herr aufgebraust, hatte sie eine Intrigantin genannt. »Schmarotzer seid ihr«, hatte er ihr vorgeworfen. »Ihr lasst Martin für euch arbeiten und gönnt ihm nicht einmal sein Glück. Und wer Rosalie angreift, bekommt es mit mir zu tun!«

Wenig später war Ulla wieder davongebraust. Doch der Tag, der so schön begonnen hatte, war zerstört. Martin hatte seinem Vater nichts davon gesagt, dass er das Gespräch mitgehört hatte.

Er hatte mit Rosalie und den Kindern einen Spaziergang gemacht, und als sie heimkamen, saß sein Vater an dem Schreibtisch, an dem nun er saß.

Er machte einen völlig ruhigen, gesammelten Eindruck, aber die Worte, die er sagte, versetzten Martin einen Stich.

»Ich denke, es ist doch besser, wenn ich ein Testament mache. Man weiß nie, was kommt. Meine Hoffnung, dass meine Kinder sich eines Tages einig werden würden, wird wohl unerfüllt bleiben, und ich habe drei Enkelkinder, die ich liebe.«

»Musst du heute davon sprechen, Vater?«, fragte Martin, »ausgerechnet heute?«

»Für euch ist es ein schöner Tag, mein Junge. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mit euch beisammen zu sein. Ihr braucht ja auch mal ab und zu ein paar Stunden für euch. Ich meine, dass ihr etwas zu viel Rücksicht auf den Großpapa nehmt.«

»Du gehörst zu uns, Vater«, erwiderte Martin. »Rosalie ist der gleichen Ansicht.«

»Ja, ich weiß. Ich danke euch. Ihr macht mir das Leben lebenswert, aber dennoch muss man an die Zukunft denken.«

»Ulla war hier«, sagte Martin vorsichtig.

»Ja, sie war hier. Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen. Ihr seid jetzt sechs Jahre verheiratet, das siebente Jahr beginnt. Man nennt es das kritische Jahr, aber um euch brauche ich mir wohl keine Sorgen zu machen.«

»Gewiss nicht, Vater«, hatte Martin erwidert.

Und warum tönten jetzt Ullas Worte in seinen Ohren fort? Liebte ihn Rosalie denn so, dass er nicht um den Fortbestand seiner Ehe fürchten musste? Hatte sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte?

Sie war so jung und so bezaubernd schön. Er hatte oft so wenig Zeit für sie gehabt, aber sie hatten drei Kinder und war eine vorbildliche Mutter.

Was ist nur mit mir los?, fragte sich Martin. Warum kommen solche Gedanken und lassen sich nicht vertreiben?

Hatte es während der sechs Ehejahre jemals Zweifel gegeben? War er nicht eifersüchtig gewesen, wenn Rosalie bewundert und umschwärmt wurde, wo immer sie auch in Erscheinung trat, immer an seiner Seite?

Gegen sechs Uhr war Birgitta gekommen, die ihre Wohnung im Obergeschoss hatte. Sie hatte bei ihnen hereingeschaut. Da spielten sie gerade mit den Kindern.

»Trautes Heim, Glück allein«, hatte sie ironisch gesagt. »Kannst du dich nicht mal von deiner Familie trennen, Martin? Konsul Kordas gibt eine Party in Salzburg. Du hast doch eine Einladung bekommen.«

»Wir haben eine bekommen«, erwiderte Martin, »aber wir haben heute unseren sechsten Hochzeitstag.«

»Wie aufregend«, spottete Birgitta. »Na, dann kommt ja das siebente verflixte Jahr. Was sagst du, Rosalie? Du fühlst dich doch in unseren Kreisen recht wohl. Kordas ist ein Verehrer von dir.«

Martin entging es nicht, dass sie »ein« betonte. Boshaft konnte sie sein, aber Rosalie hörte darüber hinweg.

Wie hatte sie überhaupt die Anzüglichkeiten ertragen können in all den Jahren? Das fragte er sich jetzt auch.

Aus Zuneigung zu ihm, oder war es sein Vater gewesen, der ihr noch mehr bedeutete?

Mit einem Stöhnen erhob er sich und ging hinüber zu ihren Räumen.

»Endlich kommst du, Tino«, sagte Rosalie verhalten. »Es ist doch alles schwer genug, Lieber. Mach es dir nicht noch schwerer. Ich möchte dir helfen.«

Er lag neben ihr, ihre Hand lag an seiner Wange. »Ich liebe dich, Rosalie«, sagte er leise.

»Ich liebe dich auch, Tino«, erwiderte sie. »Vater wird uns sehr fehlen, aber er wusste doch, dass er sich auf dich verlassen kann. Er war ein wunderbarer Mann. Er bleibt lebendig in mir. Ich liebte ihn mehr als meinen eigenen Vater. Es hat mich immer geschmerzt, dass ich nicht auch deine Mutter kennenlernen durfte.«

»Sie liebte Christian am meisten«, sagte er leise. »Wäre er doch am Leben! Wir verstanden uns so gut. Ich weiß nicht, wie ich es ohne Vater schaffen soll. Mit Christian wäre es leichter gewesen.«

»Du hast doch auch mich, Tino. Wa­rum kannst du nicht mit mir über all deine Sorgen sprechen?«, fragte Rosalie.

»Da sind doch die Kinder. Sie brauchen dich. Mir ist der Gedanke schrecklich, dass Henrik und Birgitta hier im Hause wohnen und Vater nicht mehr da ist. Vielleicht wird sich auch Ulla nun wieder hier breitmachen. Ich bin in der Fabrik, und du bist hier. Sie werden weiterleben wie bisher. Ja, auch das bereitet mir Sorgen.«

»Was ist mit Ulla?«, fragte Rosalie.

»Sie will sich scheiden lassen. Deswegen hat Vater sich aufgeregt.«

Dann schwiegen sie, weil sie Motorengeräusch hörten. Rosalie blickte auf die Uhr. Es war fünf Uhr morgens.

Knatternde Geräusche durchbrachen die Stille der Nacht, dann verstummten sie.

Martin richtete sich auf. »Es wird Birgitta sein«, sagte er. »Ich werde es ihr sagen.«

Er erhob sich und zog den Morgenmantel an. »Es wird auch für sie ein Schock sein«, sagte Rosalie leise.

»Ein Schock? Sie werden sich ausrechnen, was sie nun ausgeben können«, erwiderte er bitter.

Rosalie blickte ihm mit angehaltenem Atem nach. Dann tat sie etwas, was sie früher nie getan hätte. Sie lief auf nackten Füßen zur Tür und öffnete diese einen Spalt. Sie hätte sich keine Rechenschaft geben können, wa­rum sie das tat. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und sie hatte Angst, dass Martin die kommenden Tage nicht durchstehen würde.

Warum hatte sie diese Angst? Das fragte sie sich in dieser Stunde nicht. Sie wollte nur an seiner Seite sein, wenn er sie brauchte.

»Wieso bist du auf?«, hörte sie ihren Schwager Henrik fragen.

»Tut es dir leid, dass du nicht mitgekommen bist?«, ertönte gleich da­rauf Birgittas Stimme. »Es war wundervoll.«

»Dann zehrt davon«, hörte Rosalie ihren Mann sagen. »Ich muss euch mitteilen, dass unser Vater gestorben ist.«

Tonlos klang seine Stimme, aber auch so hart, wie Rosalie sie noch nie gehört hatte. Sie hielt den Atem wieder an, presste ihre Stirn an die Türfüllung und klammerte sich an der Klinke fest.

Stille herrschte drunten in der Halle. Totenstille. »Das kann doch nicht wahr sein«, sagte Henrik dann, und wenn es nicht so totenstill gewesen wäre, hätte Rosalie es nicht hören können. Kalte, eisige Schauer rannen über ihren Rücken, als Birgitta hysterisch zu schreien begann.

»Das ist nicht wahr, nein, das ist nicht wahr! Ein Mann wie er stirbt nicht so einfach. Ich will es nicht glauben!«

»Wenn du jetzt erst merkst, was er dir bedeutete, ist es zu spät«, sagte Martin. »Du brauchst nicht zu heulen, Birgitta.«

»Aber wie konnte das geschehen?«, fragte Henrik in die darauffolgende Stille.

»Es war ein Herzinfarkt. Wir haben Vater noch in die Klinik gebracht. Es konnte ihm nicht mehr geholfen werden.«

»Dann hattet ihr die falschen Ärzte«, sagte Birgitta anklagend.

»Vielleicht hatte er die falschen Kinder«, erwiderte Martin darauf.

»Dich natürlich ausgenommen«, empörte sich Birgitta. »Du und Rosalie wart doch hier. Was habt ihr denn unternommen?«

»Was möglich war, während ihr euch amüsiert habt«, erwiderte Martin. »Auf dieser wundervollen Party bei Konsul Kordas.«

Rosalie richtete sich auf, zog ihren Frotteemantel über und ging hinaus.

Sie sah ihren Schwager Henrik unter dem Lichtkreis der Deckenleuchte stehen, groß, schlank, dunkelhaarig. Er war ein interessanter Mann. Viele verglichen ihn mit einem bekannten amerikanischen Schauspieler. Von Martin wurde nie gesagt, dass er ein interessanter Mann sei.

»Das war doch nicht vorauszusehen, Martin«, sagte Henrik leise. »Ich bin erschüttert.«

»Wirklich?«, fragte Martin.

»Fühlst du dich schon als Herr des Hauses?«, fragte Birgitta schrill. »Es war doch auch unser Vater.«

»Gut, dass ihr euch wenigstens jetzt daran erinnert«, erwiderte Martin.

»Ein wenig taktvoller hättest du es uns beibringen können«, warf ihm Birgitta vor.

Martin schwankte. Rosalie sah es und eilte die Treppe hinab, um bei ihm zu sein.

»Martin hat noch kein Auge zugetan«, sagte sie leise. »Es ist schlimm für uns alle.«

»Was geht das dich an?«, schrie Birgitta.

»Mäßige dich«, warf Henrik ein. »Herrgott, nimm dich zusammen, Birgitta.«

»Sie hat sich eingeschmeichelt bei Vater«, sagte Birgitta schrill. »Sie war ja immer da. Eine hübsche Taktik.«

»Komm jetzt, Tino«, sagte Rosalie leise. »Du brauchst etwas Ruhe.« Dann hob sie den Kopf. »Nun wisst ihr es. Ihr könnt allein darüber sprechen, was es euch bedeutet. Ja, ich habe Vater geliebt, weil er gut zu mir war. Er hat mich akzeptiert.«

»Weil du ihm Enkel geschenkt hast«, sagte Birgitta höhnisch. »Den Nachwuchs, die künftigen Erben. Wir sind ja die Versager gewesen in seinen Augen.«

»Denk erst nach, bevor du so etwas aussprichst, Birgitta«, sagte Rosalie. »Komm, Tino, ich bitte dich.«

Martin ging mit ihr. »Der brave Hund folgt seinem Herrn«, rief Birgitta ihnen höhnisch nach.

»Hör nicht hin, Rosalie«, sagte Martin heiser.

»Warum nicht? Ich habe vieles gehört in all den Jahren. Ich denke an Vater. Wenn er da war, haben sie sich zusammengenommen. Das werden sie jetzt nicht mehr tun. Ich war ja nur ein ganz einfaches Mädchen.«

»Du bist meine Frau, Rosalie«, sagte Martin. »Du hast mehr Rechte als sie.«

»Die mir Vater einräumte. Er ist tot, Tino.«

»Für uns, in uns wird er weiterleben, dessen sind wir doch sicher und werden es auch nicht vergessen, mein Liebes«, erwiderte Martin.

»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie verhalten.

*

»Du solltest dich zusammennehmen, Birgitta«, sagte Henrik vorwurfsvoll. »Es könnte immerhin sein, dass wir in gewisser Hinsicht von Martin und auch von Rosalie abhängig werden.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Nun, Vater könnte doch ein Testament gemacht haben, da er ja drei Enkel hatte.«

Birgitta kniff die Augen zusammen. »Das hat er nicht«, stieß sie hervor.

»Bist du so sicher?«, fragte er erstaunt.

»Ganz sicher. Lass mich jetzt in Ruhe. Ich finde es pietätlos, jetzt schon darüber zu sprechen.«

Der harte Ton irritierte ihn, und es stimmte ihn nachdenklich, dass sie keinerlei Erschütterung zeigte. Ihn ließ der Tod des Vaters nicht unberührt. Ihm war jetzt ganz seltsam zumute. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser vitale Mann nicht mehr sein sollte. Schlagartig hatte sich dadurch alles für ihn verändert. Er verspürte Gewissensbisse, nun nichts mehr nachholen zu können, was er versäumt oder falsch gemacht hatte.

Im Grunde seines Wesens war er weich und verletzlich. Dies war auch der eigentliche Grund gewesen, sich sobald wieder scheiden zu lassen, denn seine Frau Stella war herrschsüchtig und egoistisch gewesen.

Er hatte sehr an seiner Mutter gehangen und immer im Schatten des älteren Bruders gestanden. Das hatte in ihm gewisse Aggressionen erzeugt, auch im Betrieb hatte er sich nie durchsetzen können. Man hatte ihn nie um seine Meinung gebeten und ihn nicht gefordert, weil man sowieso keine Leistung von ihm erwartete. Und so hatte er sich mehr und mehr treiben lassen.

Für Rosalie empfand er aufrichtige Bewunderung, wenngleich er sich hütete, dies seinen Schwestern gegenüber zu äußern. Christians Tod und dann der Tod der Mutter hatten ihn tiefer getroffen, als er zugab, Birgittas Kälte stieß ihn oftmals ab, dann wieder hatte er Mitgefühl mit ihr, weil sich niemals ein Mann ernsthaft für sie interessiert hatte, oder vielleicht für ihr Vermögen. Henrik wusste das besser als jeder andere, auch dass Birgitta nur aus Stolz betonte, dass Männer ihr völlig gleichgültig wären. Ulla liebte er. Ihr verzieh er alles, weil er wusste, dass ihr exzentrisches Benehmen innerer Zerrissenheit entsprang. Im Grunde waren sie sich sehr ähnlich.

Was würde Ulla sagen, wenn sie nun vom Tod ihres Vaters erfuhr? Henrik wusste, dass sie eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt hatte, die sie gleich darauf bereut hatte.

Sie war zu impulsiv, unbeherrscht und eigensinnig. Sie war nicht auf der Party erschienen. Ihm hatte sie gesagt, dass sie noch einmal vernünftig mit Constantin sprechen wolle.

Was würde die Hiobsbotschaft für Ulla bedeuten? Auch sie hatte keine Chance mehr, sich mit dem Vater zu versöhnen.

Henrik lief in seinem Zimmer auf und ab, ohne klare Gedanken fassen zu können. Es war mittlerweile zwanzig Minuten nach sechs Uhr. Sollte er Ulla anrufen? Nein, am Telefon konnte er es ihr nicht sagen. Ob Martin sie schon benachrichtigt hatte? Doch das schien unwahrscheinlich, da er ja sicher angenommen hatte, dass sie auch auf der Party sei.

Henrik duschte und kleidete sich wieder an. Der dunkelgraue Flanellanzug ließ sein Gesicht noch bleicher erscheinen.

Als er draußen auf dem Gang ein Geräusch hörte, ging er hinaus. Er sah Martin in der Halle mit der Haushälterin Elsa. Sie schluchzte hörbar. Als Henrik die Treppe herunterkam, starrte sie ihn fast feindselig an und eilte dann in die Küche.

Die Brüder maßen sich mit einem langen Blick. »Ich werde zu Ulla fahren«, sagte Henrik tonlos. »Sie war nicht auf der Party.«

»Nicht?« Martin sah Henrik konsterniert an.

»Ihr war gestern wieder mal der Gaul durchgegangen, und nun kann sie Vater nicht mehr sagen, dass es ihr leidtut. Du wirst ihr doch nicht die Schuld an Vaters plötzlichem Tod geben?«

»Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass er nicht mehr da ist«, sagte Martin rau.

»Ich auch nicht, oder meinst du, es mache mir nichts aus?«, fragte Henrik leise. »Was kann ich dir abnehmen?«

»Benachrichtige Ulla. Ich fahre jetzt in die Fabrik.«

*

Dr. Norden war pünktlich in der Praxis. Loni sah ihn forschend an.

»Sie haben aber nicht gut geschlafen«, bemerkte sie.

»Fast gar nicht«, erwiderte er. »Herr Deckert ist gestern gestorben.«

»O Gott«, sagte Loni bestürzt. »Das ist schlimm. Er war doch eigentlich nie krank.«

»Herzinfarkt«, erwiderte Dr. Norden kurz, »aber hier muss es jetzt weitergehen.«

Zwei Patienten hatte er abgefertigt, als das Telefon läutete. Wenn Loni zu ihm durchstellte, musste es dringend sein.

Es war Constantin Baltus in höchster Erregung. »Bitte, kommen Sie schnell, meine Frau, wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen!«

Ulla Baltus war auch Dr. Nordens Patientin. Häufig litt sie unter Aller­gien und war sehr anfällig für Erkältungen.

Es passierte öfter, dass Dr. Norden aus der Praxis geholt wurde, glücklicherweise zeigten seine Patienten in der Mehrzahl Verständnis dafür.

Während er unterwegs war, versuchten Constantin und Henrik Ulla zu beruhigen.

Sie hatte noch geschlafen, als Henrik gekommen war. Constantin hatte sein Frühstück schon eingenommen. Er war restlos erschüttert, als Henrik ihm den Grund seines frühen Erscheinens erklärte. Sie waren sich einig, dass sie es Ulla sehr gefühlvoll beibringen mussten. Aber so schonend sie es auch taten, die Reaktion war trotzdem entsetzlich.

»Nein, nein, das ist nicht wahr«, schrie Ulla, »das ist nicht wahr, das darf nicht sein! Dann bin ich schuld! Henrik, sag, dass es nicht wahr ist!«

Begreifen wollte sie es nicht, aber man sagte so etwas doch nicht, wenn es nicht stimmte. Und nun überhäufte sie sich mit Selbstanklagen, redete wirres Zeug und rief immer wieder: »Ich bringe mich um. Ich will nicht mehr leben!«

Es war nicht nur Hysterie, es war maßlose Verzweiflung, die den totalen Nervenzusammenbruch verursachte.

Als Dr. Norden kam, warf sie ihm vor, dass er ihrem Vater nicht geholfen hatte.

Daniel Norden hatte es schon oft genug erlebt, dass Menschen in tiefster Verzweiflung nicht mehr wussten, was sie redeten. Er ließ sich dadurch nicht beirren und zog eine Injektion auf.

Constantin und Henrik mussten Ulla festhalten. Sie schlug um sich und entwickelte Kräfte, die man diesem zierlichen Persönchen nie zugetraut hätte.

Endlich gelang es doch, die feine Nadel einzustechen. Dem Toben folgte bald darauf Apathie.

Constantin hob sie empor und trug sie zu ihrem Bett.

»Die Nachricht vom Tod unseres Vaters hat Ulla furchtbar getroffen«, sagte Henrik gequält. »Aber ich musste es ihr doch sagen.«

Daniel Norden kam es in den Sinn, dass Martin gesagt hatte, sein Vater hätte sich über Ulla aufgeregt.

Nun, er kannte die jüngste Decker-Tochter auch schon Jahre. Er wusste, dass sie mit eifersüchtiger Liebe an ihrem Vater gehangen hatte, dass sie besonders eifersüchtig auf Rosalie war.

Er wusste, dass das Widersprüchliche in ihrem Wesen daher kam, dass sie sich zurückgesetzt fühlte. Der ruhige, ausgeglichene Constantin schien darauf auch keinen Einfluss zu haben.

»Man darf sie keinesfalls aus den Augen lassen«, sagte Dr. Norden eindringlich zu Henrik. In diesem Augenblick trat Constantin wieder ein. »Ulla schläft jetzt«, sagte er deprimiert. »Ich werde mein Büro anrufen, dass ich bei ihr bleibe.«

»Sie können mich jederzeit erreichen«, sagte Dr. Norden. »Wenn ich nicht in der Praxis bin, dann privat, und sollte ich unterwegs sein, weiß meine Frau, wo sie mich benachrichtigen kann. Sollte sich der Anfall wiederholen, würde ich Ihnen allerdings raten, Ihre Frau in die Nervenklinik zu bringen, Herr Baltus.«

Constantin sah ihn entsetzt an. »In die Nervenklinik?«, wiederholte er tonlos.

»Zu ihrem eigenen Schutz. Diese Selbstmorddrohung ist ernst zu nehmen. Ich muss Ihnen das nachdrücklich sagen. Jetzt muss ich aber schleunigst in die Praxis zurück. Bitte, haben Sie dafür Verständnis. Ich hoffe sehr, dass Ihre Frau lange schläft.«

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte Constantin.

»Das ist selbstverständlich. Ich bedaure sehr, dass Herrn Deckert nicht geholfen werden konnte.«

Henrik neigte leicht den Kopf. »Ich bin überzeugt, dass Sie nichts versäumt haben, Herr Dr. Norden.«

»Leider ist man oft machtlos«, erwiderte Daniel.

Henrik und Constantin blieben zurück, starrten sich an und suchten nach Worten.

»Es ist schlimm«, sagte Constantin leise. »Aber wenn Ulla sich Vorwürfe macht, muss ich mir auch welche machen. Wir hatten Differenzen und …«, er unterbrach sich und ging zum Fenster.

»Und da ging ihr der Gaul durch und sie raste zu Vater. Sie explodierte mal wieder. Und nun kommt der Katzenjammer nach. Worum ging der Streit bei euch eigentlich diesmal, Constantin?«

»Um Lappalien, auch wegen dieser Party. Ich weigerte mich, dorthin zu fahren. Ich habe geschäftlich viel um die Ohren und keinen Sinn für Vergnügen. Ich habe den Fehler gemacht, Ulla darauf hinzuweisen, dass Rosalie nicht an Langeweile zu leiden hat. Es war seltsam, als sie zurückkam, war sie ruhig und sachlich. Sie sagte, dass es vielleicht besser wäre, wenn wir auch Kinder hätten, und dass sie für Vater dann mehr gelten würde.«

»Und von Scheidung war dann nicht mehr die Rede?«

»Ich würde mich nicht scheiden lassen, Henrik. Ich liebe Ulla. Manchmal ist sie wie ein bockiges Kind und maßlos eifersüchtig auf Rosalie. Ja, was jetzt werden soll, weiß ich auch nicht. Dass sie sich mit Vater nicht versöhnen konnte, wird sie sehr belasten. Ich habe auch meine Fehler, aber ich lasse mich nicht zum Narren machen. Jetzt ist es jedoch vordringlich, dass man ihr hilft.« Er machte eine kleine Pause. »Wie hat es Birgitta denn aufgenommen?«

»Sehr gelassen«, erwiderte Henrik, »aber in sie hineinschauen kann man nicht.«

»Und Martin?«

»Das kannst du dir wohl vorstellen. Es kommt viel auf ihn zu.«

»Auf euch nicht, Henrik?«, fragte Constantin ernst.

»Was mich betrifft, so habe ich wohl den Anschluss verpasst«, erwiderte Henrik resigniert.

»Gib dir einen Ruck, es sollte nie zu spät sein!«

*

Für Rosalie wurde es ein schlimmer Tag. Mit dieser Trauer im Herzen sollte sie die Kinder trösten, die einfach nicht begreifen wollten, dass der Opa nicht mit am Tisch saß, nicht mit ihnen scherzte. Der Tod war etwas Unvorstellbares für sie. Schlimmer noch war es für Rosalie, in die traurigen kleinen Gesichter blicken zu müssen und Mickys jämmerliches Weinen zu hören.

»Will zu Opi, will zu meinem Opi«, jammerte sie.

Und dann erschien Birgitta. »Das kann einen ja wahnsinnig machen«, sagte sie herrisch. Aber nun begann Micky erst recht zu weinen.

»Die Kleine versteht es doch noch nicht«, sagte Rosalie leise.

»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Birgitta, doch Rosalie hatte das eigentümliche Gefühl, als wäre Birgitta verunsichert. Doch in den kühlen Augen war zugleich auch ein lauernder Ausdruck. Konnte man das so deuten? War sie jetzt nicht ungerecht, weil ihre Schwägerin so unbeherrscht war und auf die Kinder losging?

»Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an«, sagte Birgitta nun auch noch. »Wir konnten schließlich nicht wissen, dass das passieren würde.«

»Du bist bös«, sagte Philipp, »ganz bös. Unser Opi ist nicht mehr da, und du bist immer noch bös. Gestern warst du auch schon bös zu ihm.«

»Sei still, Philipp«, sagte Rosalie erschrocken, ohne recht zu begreifen, was der Junge gesagt hatte.

»Aufgehetzt seid ihr«, zischte Birgitta. »Jetzt willst du uns wohl aus dem Hause ekeln, Rosalie.«

»Sei doch nicht ungerecht, Birgitta. Die Kinder begreifen das doch wirklich noch nicht. Sie vermissen ihren Opa«, sagte sie.

»Jetzt steht er jedenfalls nicht mehr hinter euch, und ich werde mir nicht mehr alles bieten lassen. Das ist mein Elternhaus und …«

»Birgitta!«, tönte da Henriks Stimme mahnend durch die Halle. »Das muss doch nicht sein.«

Philipp lief zu ihm. »Sie schimpft, Onkel Henrik. Wir wollen doch nur unseren Opi wiederhaben.«

Rosalie war starr vor Staunen, als Henrik den Jungen emporhob und sagte: »Das wünschte ich auch, Philipp.«

Auch Birgitta war jetzt verstummt, sichtlich aus der Fassung gebracht.

Sanft setzte Henrik den Kleinen wieder auf den Boden, ging zu Rosalie, nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Ich bitte für Birgitta um Entschuldigung, Rosalie«, sagte er leise. »Ich werde jetzt mit ihr sprechen. Martin wird auch gleich kommen, aber mit Ulla ist heute nicht zu rechnen. Vielleicht solltest du mit den Kindern in den Park gehen.«

»Ja, das werde ich tun«, erwiderte Rosalie.

*

»Was machst du für ein Getue mit ihr und den Kindern, Henrik?«, fragte Birgitta, als sie mit ihrem Bruder allein war.

»Dein Benehmen ist unmöglich, Birgitta«, sagte er. »Du weißt, wie sehr die Kinder an Vater hingen. Du weißt auch, wie gut er sich mit Rosalie verstand.«

»Na und, sie hat sich ihre Vorteile ausgerechnet. Sie rechnet sich schon aus, dass nun sie das Regiment übernimmt, aber ohne mich. Du Weichling wagst ja nicht, den Mund aufzutun.«

Henriks Augenbrauen schoben sich zusammen. »Du bist impertinent«, sagte er rau. »Rosalie ist Martins Frau, und er ist jetzt der Herr des Hauses.«

»Und du kuschst vor ihm«, herrschte sie ihn an. »Wir haben alle die gleichen Rechte. Vater hat das immer gesagt. Und ich verzichte nicht auf meine Rechte.«

»Wir haben ja auch so schrecklich viel dazu beigetragen, dass alles seinen Gang ging«, sagte er sarkastisch. »Vater hat viel Geduld mit uns gehabt. Er wollte keinen vorziehen, aber es war doch schließlich Martin, auf den er sich verlassen konnte.«

»Da kommt er schon im Büßerhemd daher, der Henrik Deckert«, höhnte Birgitta. »Kriech du doch meinetwegen zu Kreuze, ich nicht. Und was ist mit Ulla?«

»Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Sie macht sich bittere Vorwürfe.«

»Auf einmal! Gestern kam sie wie eine Furie daher.«

»Aber wir kennen sie doch. Sie überlegt nicht, was sie sagt. Birgitta, was ist nur in dich gefahren?« Wie das leibhaftige böse Gewissen erschien sie ihm, und dafür wusste er keine Erklärung. »Ich denke, wir haben uns einiges vorzuwerfen«, fuhr er fort.

»Nur Martin nicht, aber er war ja immer das liebe, folgsame Kind und der Erbe! Ja, der Erbe, der jetzt alles an sich reißen wird. Dafür wird seine liebe Frau schon sorgen. Aber jetzt werden sie mich kennenlernen. Jetzt lasse ich mir nicht mehr den Mund verbieten.«

»Ich verstehe dich nicht, Birgitta«, sagte Henrik. »Wir werden uns an einen Tisch setzen. Wir können miteinander reden. Unser Vater ist gestorben. Ich sage unser Vater.«

»Und wenn sie nun den Arzt zu spät gerufen haben? Ich mache mir meine Gedanken«, sagte Birgitta.

»Du bist ja verrückt«, entfuhr es ihm.

»Durchaus nicht. Ich denke klar. Ein Mann wie Vater stirbt nicht so einfach. Entweder war Dr. Norden nicht schnell genug da, oder er hat ihm eine falsche Spritze gegeben. Ich bin jedenfalls dafür, dass alles genauestens untersucht wird.«

Lähmendes Schweigen herrschte darauf für ein paar Minuten.

»Wir waren auf einer Party, während Vater starb«, sagte Henrik tonlos.

»Und er war völlig gesund, als wir wegfuhren«, stieß Birgitta hervor.

Sie sagte es sehr laut. Martin, der jetzt heimgekommen war, hörte es. Er stieß die Tür auf.

»Würdest du mir bitte eine Erklärung geben, was du damit sagen willst, Birgitta?«, fragte er heiser.

»Dass ich es sehr merkwürdig finde, dass ein völlig gesunder Mann so schell sterben kann«, erwiderte sie giftig.

»Sie ist überreizt, du darfst sie nicht ernst nehmen, Martin«, warf Henrik ein.

»Misch du dich nicht ein!«, schrie ihn Birgitta an. »Wenn du ein Mann wärest, hättest du dich nicht so ausbooten lassen.«

»Mir ist das zu erbärmlich«, sagte Martin tonlos. »Aber mir ist nicht nach einem Streit zumute.«

»Mir auch nicht«, sagte Henrik.

»Ich bestehe auf einer Obduktion«, sagte Birgitta.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, erwiderte Henrik, während Martin seine Schwester fassungslos anblickte.

*

Eine halbe Stunde brauchte er, um sich ganz klar darüber zu werden, was Birgitta da gesagt hatte, dann rief er Dr. Norden an.

Daniel war noch daheim. Er hatte damit gerechnet, dass man ihn nochmals zu Ulla Baltus rufen würde, aber ganz gewiss nicht mit dem, was Martin Deckert ihm da mitteilte.

»Das schlägt dem Fass den Boden aus«, sagte er kopfschüttelnd.

»Was?«, fragte Fee.

»Birgitta Deckert verlangt eine Obduktion. Was soll man dazu sagen?«

»Nicht mal dem Toten gönnt sie Ruhe«, sagte Fee. »Es scheint so, als würden die Leute doch nicht übertreiben.«

»Inwiefern?«, fragte Daniel.

»Sie hätte den Teufel im Leib, sagt man.«

»Irgendwelche Komplexe scheint jeder von ihnen zu haben«, meinte Daniel.

»Auch Martin?«, fragte Fee nachdenklich.

»Vielleicht auch er«, räumte Daniel ein. »Der Senior war eine sehr starke Persönlichkeit. Mir kann es nur recht sein, wenn eine Obduktion stattfindet. Da wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass er schon länger an Herzkranzgefäßverengung litt, die er nicht wahrhaben wollte. Vielleicht hatte er auch schon einen kleinen Infarkt. Du brauchst mich nicht so ängstlich anzuschauen, Fee, ich habe nichts zu fürchten.«

»Das weiß ich, Daniel, aber ich finde es schrecklich, dass innerhalb einer Familie unterschwelliges Misstrauen die Atmosphäre vergällt.«

»Das ist bei Birgitta nur Wichtigtuerei. Womöglich will sie sich selbst rehabilitieren, denn sie war bestimmt diejenige, die ihrem Vater insgeheim am meisten zu schaffen machte. Sie hat ein wahnsinniges Geltungsbedürfnis, das sie bei ihrer kühnen Reiterei zu befriedigen versucht.«

»Warum widmet sie ihre Kraft nicht der Firma?«, fragte Fee.

»Weil sie genau weiß, dass sie Martin nicht verdrängen kann, und anpassen kann und will sie sich nicht. Am meisten zu bedauern ist Rosalie Deckert in dieser Situation. Ihr Mann wird noch mehr am Halse haben, als vorher, und sie sitzt mit den Kindern in dem Haus, belauert von dem Rest der Familie. Möglich ist es zudem, dass Ulla Baltus völlig durchdreht.«

»Du lieber Gott, das wäre aber ein bisschen viel auf einmal«, sagte Fee.

*

Ulla drehte nicht durch. Sie erwachte und blieb bewegungslos liegen, als wäre sie gelähmt.

Constantin hatte sie keine Minute aus den Augen gelassen. Er griff nach ihrer Hand, die sich eiskalt anfühlte.

»Es ist wahr«, sagte sie schleppend. »Vater ist tot. Ich habe ihn getötet.«

»Das darfst du nicht sagen, Ulla, das darfst du nicht einmal denken.« Seine Stimme klang flehend.

»Warum hast du mich nicht einfach hinausgeworfen, Conny?«, fragte sie.

»Du bist meine Frau. Ich liebe dich. Es ist alles nicht wahr, was du dir eingeredet hast. Mich verbindet nichts mit Traudl Stark. Sie ist meine Sekretärin, sonst nichts.«

»Davon habe ich nichts zu Vater gesagt«, flüsterte Ulla. »Ich weiß selbst nicht, was manchmal mit mir los ist. Ich kenne mich nicht mehr vor Wut, und dann muss ich mich abreagieren. Meistens hat Vater nur darüber gelacht, aber gestern war er böse. Niemand darf etwas gegen Rosalie sagen.«

»Gibt es etwas gegen sie zu sagen?«, fragte er behutsam und erleichtert, dass sie überhaupt sprach.

»Ich glaube nicht, dass sie Martin liebt. Er ist vierzehn Jahre älter als sie. Sie war arm, er konnte ihr alles bieten, das ist doch verlockend.«

»Sie ist sechs Jahre mit ihm verheiratet und hat ihm drei Kinder geschenkt, und man kann ihr nicht nachsagen, dass sie verschwenderisch ist.«

»Jeder schwärmt von ihr. Sie ist die schönste Frau, die er je gesehen hat, sagte mein Fotograf, als ich mir letzthin Passbilder machen ließ. Wir sind vier Jahre verheiratet und haben keine Kinder, Conny. Es ist nicht so, dass ich keine wollte. Ich bekomme keine. Ich hätte Vater doch auch so gern einen Enkel in die Arme gelegt und gern gewusst, ob er meine Kinder auch so lieben würde wie die von Martin und Rosalie.«

Solche Worte hatte Constantin noch nie aus ihrem Munde gehört. Er war erschüttert.

»Hast du dich damit gequält, Ulla?«, fragte er. »Warum hast du nicht mit mir gesprochen?«

Dr. Norden Bestseller Classic 40 – Arztroman

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