Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 41 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Danke, Herr Doktor«, sagte Sophia Ohlsen bebend und legte den Hörer auf.

Man sah ihr die durchwachte Nacht an, die verweinten Augen hatten allen Glanz verloren. Heftig zuckte sie zusammen, als es läutete, obgleich der Gong einschmeichelnd klang.

Sie warf einen Blick in den Spiegel, als sie zur Tür ging und erschrak. Mit einer heftigen Bewegung strich sie das wirre Haar zurück.

Auch der Postbote, der vor der Tür stand, sah sie erschrocken an. »Entschuldigen’s vielmals, Fräulein Sophia, daß ich läuten mußte, aber ich habe ein Einschreiben, das Sie unterschreiben müssen.«

»Ich?« fragte sie geistesabwesend.

»Es ist an Sie adressiert, kommt aus dem Ausland. Es tut mir ja so schrecklich leid, was dem Herr Doktor passiert ist. Ausgerechnet ihn mußte es treffen. Der Robert soll ja tot sein. Das hat er nun von seiner Raserei, aber immer müssen Unschuldige leiden.«

Er meinte es ja nur gut, der Schorschi, wie er von allen genannt wurde, aber in Sophias Ohren waren die Worte wie schmerzhafte Stiche. Es war ein schrecklicher Unfall gewesen, der ihr junges Leben völlig durcheinander brachte, und das nach ihrem neunzehnten Geburtstag, den sie gestern so fröhlich gefeiert hatten.

Sie konnte sich nicht zurechtfinden, hatte die Fassung völlig verloren. Sie drehte den dicken Brief zwischen den Fingern und sah nur grauen Nebel vor ihren Augen.

»Sie müssen noch unterschreiben, Fräulein Sophia«, sagte Schorschi. Aber sie dachte an ihren Vater, der mit dem Tod rang, weil ein leichtsinniger, betrunkener junger Mann die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte.

Sophias Hand zitterte, als sie ihren Namen auf den Zettel schrieb.

»Der Herrgott wird den Herrn Doktor beschützen«, murmelte Schorschi. »Alles Gute wünsch’ ich.«

Sophia nickte nur kurz. Sie drehte den Brief zwischen den Händen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Es war ihr, als hätte sich alles gegen sie verschworen.

Gestern noch war sie so glücklich gewesen! Wundervoll hatte der Tag begonnen. Ihr geliebter Paps hatte vorher nichts verraten, und dann hatte ein funkelnagelneues silberblaues Auto vor der Tür gestanden mit einer großen weißen Schleife und einem Strauß weißer Rosen, die sie so liebte. Bis Mitternacht wurde eine fröhliche Party gefeiert mit einem Dutzend junger Leute, mit denen sie aufgewachsen war. In einem kleinen Ort mit fünfzehntausend Einwohnern hielt man anders zusammen als in der Großstadt. In diesem Ort war Dr. Elmo Ohlsen der bei allen beliebte Tierarzt, denn irgendein Haustier hatten die meisten.

Robert Klinger war zu der Party nicht eingeladen gewesen. Man hatte sich von ihm distanziert, als der verwöhnte Sohn des Bauunternehmers nicht nur mit seinen Playboyallüren, sondern auch wegen seiner Neigung zu Alkohol und Drogen unangenehm auffiel. Aber immer wieder versuchte er, Kontakt zu Sophia zu bekommen, und immer wieder wies sie ihn zurück.

Dr. Ohlsen hatte drei Freundinnen von Sophia heimgebracht, die etwas weiter entfernt wohnten, während die anderen Gäste zu Fuß gekommen waren. Auf dem Heimweg war dann der Unfall passiert, an der Kreuzung, unweit des Anwesens des Bauunternehmers Klinger.

Robert war der einzige Sohn, aber Sophia konnte nicht daran denken, was sie wohl empfinden mochten, sie dachte an ihren Vater, den einzigen Menschen, den sie liebte, dem sie sich verbunden fühlte. Sie hatte grenzenlose Angst, ihn zu verlieren.

Sie wagte kaum, sich in das neue Auto zu setzen, aber sie mußte es tun, denn der Weg zum Krankenhaus war weit und sie wollte bei ihrem Paps sein, seine Hände halten und für ihn beten. Nichts anderes war ihr wichtig, auch nicht der Brief, den sie in ihre Tasche steckte, um ihn vielleicht zu lesen, wenn sie lange am Bett ihres Vaters wachte.

Ihr war die Kehle eng und trocken, als sie das Krankenhaus betrat.

Es war ein moderner Bau, der nicht abschreckend wirkte. Eine freundliche junge Schwester brachte sie zu dem Stationsarzt, als sie fragte, wo ihr Vater lag.

Dr. Marlow war jung, groß und breitschultrig, ein sportlicher Typ mit rotbraunem Haar und klaren grauen Augen.

»Ich bin Sophia Ohlsen«, sagte sie bebend, »wie geht es meinem Vater?«

»Den Umständen entsprechend dürfen wir zufrieden sein. Sein Zustand ist stabil. Er hat ein starkes Herz, und die Operation ist gut verlaufen.«

»Würden Sie mich bitte genau informieren? Ich muß alles wissen, damit ich mich entsprechend verhalten kann. Mein Vater neigt dazu, alles Schwierige für sich zu behalten, aber ich bin jetzt kein Kind mehr. Ich wurde gestern neunzehn.«

»Dann war es ja ein dramatischer Abschluß Ihres Geburtstages…«

»Sagen Sie bitte nicht Frau zu mir, ich hasse das«, fiel sie ihm ins Wort.

Er lächelte flüchtig. »Ich sage nicht Frau, und Sie sagen nicht Herr Doktor. Einverstanden, Sophia?«

»Ich kann einfach Doc sagen, wenn es Ihnen recht ist. Was war es für eine Operation?«

»Wir mußten Ihrem Vater eine Niere entfernen, aber die andere ist gesund, und andere Organe sind nicht in Mitleidenschaft gezogen. Dann haben wir noch einen Unterschenkelbruch rechts, ein Schleu­dertrauma und schwere Gehirnerschütterung. Wir müssen ihn noch durchleuchten, wenn sein Zustand stabil genug ist, aber es besteht keine akute Lebensgefahr.«

Sophia atmete hörbar auf, und er sah sie mitfühlend an. »Jetzt entspannen Sie sich. Sie sehen sehr müde aus.«

»Ich habe nicht geschlafen, weil ich so schreckliche Angst hatte.«

»Sie waren ganz allein?«

Sophia nickte. »Ich wollte auch mit niemandem sprechen. Kann ich jetzt zu meinem Vater?«

»Er liegt noch auf der Intensivstation, das ist so üblich. So wird er auch ständig beobachtet.«

»Darf ich bei ihm bleiben?«

»Sie können sich in einem Nebenraum ausruhen. Wir sind momentan überbelegt und können neue Patienten nicht mehr brauchen.«

»Sehe ich so aus?«

»Zum Umpusten«, erwiderte er. »Schwester Astrid wird Ihnen Tropfen geben, damit der Kreislauf Sie nicht im Stich läßt.«

*

Schwester Astrid erschien Sophia wie ein Engel, so sanft und gütig wirkte sie. Paps wird wenigstens nicht erschrecken, wenn er die Augen öffnet, dachte Sophia unwillkürlich, aber als sie ihn sah mit diesem blassen, starren Gesicht, drängten sich Tränen in ihre Augen.

»Die Narkose wirkt nach«, erklärte Schwester Astrid, »Sie brauchen nicht zu erschrecken. Es ist nur ein postoperatives Koma.«

Das brauchte sich Sophia nicht erklären zu lassen, denn in der Medizin wußte sie ganz gut Bescheid, wenngleich sie sich mehr für die Tiermedizin interessierte, da sie ihrem Vater assistieren wollte. Studieren wollte sie nicht, weil sie meinte, daß ihr Paps Hilfe nötiger brauchte, war es ihr doch wichtig, daß er auch an seine Gesundheit dachte.

Schwester Astrid betrachtete das junge Mädchen, das so in sich gekehrt am Krankenbett saß, nachdenklich. Sie spürte die Angst, konnte sie ihr vom Gesicht ablesen. Behutsam legte sie eine Hand auf Sophias Schulter.

»Er wird es schaffen«, sagte sie leise, »er hat einen starken Willen.«

»Ich möchte bei ihm bleiben«, flüsterte Sophia.

»Wird Ihre Mutter kommen?«

»Sophias Kopf sank noch tiefer. »Ich habe keine Mutter, hatte nie eine, nur meinen Vater«, sagte sie in einem Ton, der Astrid ans Herz rührte.

»Ihr Vater wird leben», sagte sie, und es klang wie ein Versprechen.

*

Sophia war ein paar Minuten allein. Jetzt lösten sich Tränen aus ihren Augenwinkeln. Sie suchte in ihrer Tasche nach Taschentüchern und hatte den Brief zwischen den Fingern, bevor sie welche fand. Dieser Brief, was konnte der bedeuten?

»Wenn ich doch mit dir sprechen könnte, Paps«, flüsterte sie. Was werde ich jetzt noch erfahren? Gibt es in diesem fremden Land Menschen, die dir nahe standen? Aber warum ist der Brief an mich gerichtet?

Ihr Leben war bisher in engen Grenzen verlaufen, und sie hatte diese auch nicht durchbrechen wollen. Sie hatten ein schönes, behagliches Haus, und ihr Paps einen Beruf, der ihr auch sehr gefiel, denn sie liebte Tiere. Sie lebten glücklich und zufrieden, und sie ging gern zur Schule. Einen Freundeskreis hatten sie auch, und sie sehnte sich nicht nach der weiten Welt.

Sie machten schöne Ausflüge, wenn Elmo Ohlsen Zeit hatte, er hatte mit ihr ein verlängertes Wochenende in Rom verbracht und eins in Paris. London hatten sie für das Frühjahr geplant. Sie fuhren auch ab und zu nach München und besuchten die Oper oder ein Konzert, aber die Stadt übte auf Sophia nur insofern einen Reiz aus, als sie deren Geschichte und die Sehenswürdigkeiten interessierten. Einkaufsbummel oder gar Discos besaßen keine Anziehungskraft für sie.

Vielleicht kam es auch daher, weil sie sich oft Gedanken über ihre Mutter gemacht hatte, von der sie eigentlich nichts wußte oder nur das, was ihr Vater ihr auf ihre Fragen erzählte. Weil sie aber bald merkte, daß er diese Fragen nicht gern oder nur zögernd beantwortete, verzichtete sie darauf, ihn damit zu quälen.

Mit müden, brennenden Augen starrte sie auf den Briefumschlag, den sie krampfhaft festhielt. Schwester Astrid hatte sie wieder einige Minuten beobachtet.

»Jetzt legen Sie sich nebenan hin, Sophia«, sagte sie mütterlich. »Sie müssen schlafen.«

»Ich muß die Hunde, füttern«, murmelte Sophia.

»Sie werden nicht gleich verhungern. Haben Sie keine Hilfe?«

»Es ist Sonntag.«

»Es ist bereits Montag«, erklärte Schwester Astrid sanft.

»Dann kommt Muck.« Sie schlief schon fast, und als sie im Nebenraum auf die Liege sank und Astrid sie zudeckte, sank sie in tiefsten Schlummer.

Wenig später kam Dr. Marlow, um nach dem Patienten zu sehen.

»Gerade ist Sophia eingeschlafen«, sagte Astrid, »sie tut mir leid. Sie ist ganz allein, hat keine Mutter und liebt ihren Vater sehr.«

»Wenn nichts dazwischen­kommt, wird sie ihn ja auch behalten. Und es gibt schon eine ganze Menge Leute, die sich um sie und ihren Vater sorgen. Wir brauchen bald eine Extratelefonleitung, wenn es so weitergeht. Wir können ihr auf jeden Fall ausrichten, daß für die Tiere gesorgt wird.«

»Sie hat noch gesagt, daß sie die Hunde füttern muß.«

»Immerhin erfreulicher als die Braut von unserem Skifahrer, die nur jammert, daß er für die ganze Saison ausfallen wird. Manche könnte man auf den Mond schießen.«

Astrid kannte ihn. Er hatte im Grunde ein weiches Herz, wollte es aber nicht zeigen. Für Frauen, die oberflächlich und egoistisch waren, hatte er nur Spott übrig.

Der junge Skirennläufer, der am Vormittag mit schweren Verletzungen eingeliefert worden war, hatte eher Trost und Mitgefühl nötig als hysterische Ausbrüche einer gefühllosen Freundin.

Dr. Marlows Blick fiel auf den Brief, den Schwester Astrid auf den Hocker neben die Liege gelegt hatte.

»Hat sich Sophia darüber aufgeregt?« fragte er.

»Sie hat ihn noch gar nicht gelesen. Hoffentlich nicht noch was Unangenehmes. Er sieht amtlich aus.«

»Sie hatte gestern erst ihren neunzehnten Geburtstag«, sagte er geistesabwesend.

Astrid sah ihn verwundert an, weil er Gefühl zeigte.

»Sie ist noch ein halbes Kind«, fügte sie hinzu.

»Wir legen Sven Böring auch auf die Intensivstation und die Freundin darf nicht mehr zu ihm, falls er es nicht ausdrücklich verlangt.«

»Ich habe es zur Kenntnis genommen«, erwiderte Astrid.

Er wandte sich noch einmal Elmo Ohlsen zu. »Sieht doch ganz ordentlich aus«, stellte er aufatmend fest. »Gut, daß er einen so kompakten Wagen fuhr.«

*

»Das war ja ein entsetzlicher Unfall«, sagte Fee Norden am Abend zu ihrem Mann. »Sie haben es im Fernsehen gezeigt. Wieder mal so ein junger Raser.«

»Und das Opfer ist Elmo Ohlsen, du erinnerst dich an ihn, Fee? Der junge Tierarzt.«

»Das ist doch ewig her, mein Schatz, so jung kann er nicht mehr sein. – Elmo Ohlsen – ging es da nicht um ein Kind?« Sie schlug sich leicht an die Stirn. »Das war doch die Sturzgeburt in deiner Praxis.«

»So was vergißt man nicht, Fee. Ich habe mich sofort daran erinnert, als ich seinen Namen hörte. Plötzlich war er Vater, und ich sehe noch sein fassungsloses Gesicht.«

»Wie lange ist das her? Laß mich mal überlegen. Damals war Molly noch bei dir, und jetzt lebt sie auch schon drei Jahre nicht mehr. Sie hatte kein leichtes Leben und dann auch noch Krebs.«

Wenn Fee Nordens Gedanken in die Vergangenheit wanderten, kam Wehmut auf, denn manch einen hatten sie schon beerdigen müssen, der ihr Leben ein Stück begleitet hatte.

»Was ist eigentlich aus dem Kind geworden?« fragte sie nach einer längeren Gedankenpause.

»Ohlsen hat diese Sarah Stone geheiratet, aber lange hat die Ehe wohl nicht gehalten«, erwiderte Daniel. »Ich habe ja nichts mehr von ihm gehört. Du weißt, wie das ist. Ich habe meine Praxis und er seine, und Tölz ist doch ein ganzes Stück von München entfernt.«

»Du bist sicher, daß es sich bei dem Unfallopfer um den Ohlsen handelt?«

»Der Name Elmo ist wohl selten genug, und dazu Ohlsen und Tierarzt, es gibt keinen Zweifel.«

»Woher weißt du es so genau?«

»Weil ich mich erkundigt habe. Die Tante von dem Unglücksfahrer ist meine Patientin. Sie war gleich bei mir. Eine gute Meinung hat sie von ihrem Neffen nicht, aber sie fürchtet, daß ihre Schwester durchdreht und weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Ja, mein Schatz, so wird die Vergangenheit wieder ganz lebendig. Wir waren damals ganz jung verheiratet.«

»Und ich durfte dir ab und zu noch in der Praxis helfen.«

»Damals hatten wir noch keine Kinder, Allerliebste.«

»Und unser gutes Lenchen hat noch gelebt. Aber wenn wir auch von so manchem Abschied nehmen mußten, das Schicksal hat es doch gut gemeint mit uns. Hättest du deine Patientin nicht ein bißchen nach Elmo Ohlsen ausfragen können?«

»Das wollte ich denn doch nicht. Vielleicht wird noch mehr über den Unfall veröffentlicht. Hoffen wir, daß er am Leben bleibt.«

Sie konnten an diesem Abend nicht ahnen, daß sie bald viel mehr über Elmo Ohlsen und seine Tochter Sophia erfahren würden.

*

Nepomuk Hanfelder, genannt Muck, hatte nicht lange gefragt, wer sich um die Tiere kümmern solle, als er von dem Unfall erfahren hatte. Er wohnte in einer abgelegenen Hütte und war von Schorschi verständigt worden. Mit dem Reden hatte er es nicht, er handelte, spannte sein Pferd ein und fuhr sofort zum Doktorhaus. Unterwegs sagte er der Sina Bescheid, die beim Doktor im Haushalt half, aber die mußte er erst beruhigen, weil sie schon schrecklich aufgeregt war wegen des Unfalls und gar nicht wußte, wo ihr der Kopf stand.

Aber Muck sorgte dafür, daß alles seine Ordnung hatte. Sina wollte ihm nicht nachstehen. Die Hunde bekamen ihr Futter, die anderen Tiere, die in Pflege waren, wurden auch versorgt und Sina brachte das Haus in Ordnung, in dem noch Spuren von der Party vorhanden waren.

»Wie muß es dem Kindchen zumute sein«, schluchzte Sina. »Unser guter Doktor, und alles wegen diesem Nichtsnutz!«

»Er hat’s mit dem Leben bezahlt, Sina, und seine Eltern müssen sich fragen, was sie hätten besser machen können.«

»Aber unserm Doktor hätt’s es auch das Leben kosten können. Wie mag es dem Sopherl bloß gehen?«

Immer wieder kamen Leute, um sich zu erkundigen und nach Sophia zu fragen, und Sophias Freundinnen wollten helfen. Aber Sophia konnte ein paar Stunden schlafen und alles vergessen. Als sie aufwachte, war es draußen schon dunkel geworden.

Momentan wußte sie gar nicht, wo sie war und meinte geträumt zu haben. Aber dann war Astrid bei ihr, und die Erinnerung war wieder da.

»Wie geht es Paps?« fragte sie.

»Er schläft noch, aber sein Puls ist gut. Erschrecken Sie nicht, Sophia, wir haben noch einen Patienten auf der Intensivstation, einen jungen Skirennläufer, der schwer verletzt ist.«

»Wie heißt er?«

»Sven Böring.«

»Er hat vor ein paar Tagen gewonnen, ich habe es im Fernsehen gesehen. So schnell kann alle Hoffnung dahin sein.«

»Aber die Sportler wissen um die Gefahren«, meinte Astrid.

»Wie die Autofahrer, aber manchmal trifft es die Schuldlosen.«

Eine Trennwand war zwischen Elmo Ohlsen und Sven Böring. Astrid hatte für Sophia einen bequemen Stuhl ans Bett geschoben. Sie hatte sich entfernt, kam aber gleich zurück. »Ihr Brief, Sophia«, sagte sie leise.

Sophia sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Haben Sie schon mal das Gefühl gehabt, einen Brief am liebsten nicht zu lesen, Schwester Astrid?«

»Ich bekomme keine Post. Ich stamme aus Ostpreußen, dem jetzigen Polen, und bin als Waise aufgewachsen, aber weil ich deutscher Abstammung bin, wurde ich abgeschoben.«

»Sie haben gar keine Angehörigen?« fragte Sophia bestürzt.

»Ich kann froh sein, daß ich zu einem Orden kam vor fünfzehn Jahren und zur Krankenschwester ausgebildet wurde. Jetzt ist das Krankenhaus meine Heimat. Ich habe mehr Glück gehabt als andere.«

»Aber Sie haben doch sicher Freunde gefunden.«

»Das ist nicht so einfach, wenn man ein Außenseiter ist. Aber denken Sie nicht, daß ich unzufrieden bin. Ich habe einen Beruf, der mich ausfüllt.«

»So habe ich mir als Kind immer Engel vorgestellt«, sagte Sophia leise. »Oder eine Mutter, die ihr Kind liebt. Eine Madonna.«

Astrid strich ihr übers Haar, das auch so blond war wie ihres. »Etwas so Nettes hat noch nie jemand zu mir gesagt. Sie sind lieb, Sophia.«

»Wir werden Freunde, das fühle ich. Soll ich den Brief lesen, Schwester Astrid?«

»Er ist bestimmt sehr, sehr wich­tig.«

»Und wenn etwas darin steht, was ich nicht wissen möchte?«

»Wenn Sie ihn nicht lesen, wird immer die Frage bleiben, was er enthält. Das ist oft schlimmer als eine Gewißheit.«

»Sie haben sicher recht. Es ist gut, daß ich Sie kennengelernt habe. Es hilft mir, weil ich nicht mit Paps reden kann.«

Unwillkürlich verglich Astrid sie mit zwei jungen Lernschwestern, die im gleichen Alter wie Sophia waren. Sie hatte öfter gehört, wie sie sich über ihre Eltern unterhielten, besonders über ihre Väter, von denen sie keine gute Meinung hatten. Allerdings hatten diese beiden Mädchen auch ganz andere Ansichten als Sophia. Sie wollten frei sein, sich jedem Zwang entziehen, denn sie sahen es als Zwang, wenn sie sich der Familie anpassen sollten. Sie hatten ihr Elternhaus so schnell wie nur möglich verlassen, und obgleich sie sich für einen nicht leichten Beruf entschieden hatten, wollten sie ihre Freizeit unbeschwert genießen und besuchten ihre Eltern nur selten.

Sophias Liebe zu ihrem Vater war rührend und beeindruckte Astrid tief. Sie empfand eine Sympathie für das Mädchen wie zu keinem anderen Menschen zuvor. Sie hatte nie daran gedacht, ein Kind haben zu wollen, weil ihre eigene schwere Kindheit immer noch ihre Erinnerung belastete, aber jetzt erwachte die Sehnsucht in ihr, eine solche Tochter wie Sophia zu haben. Wenn sie Sophia ansah, empfand sie eine tiefe Zärtlichkeit.

»Ich werde den Brief lesen«, sagte Sophia stockend.

»Ich lasse Sie jetzt allein«, erklärte Astrid, »aber wenn Sie mich irgendwie brauchen, Sophia, ich bin für Sie da.«

Sven Böring rief nach ihr. Er stöhnte. »Ich möchte endlich schlafen, geben Sie mir bitte etwas, und Josy soll draußen bleiben.«

Astrid brachte ihm ein Glas mit Tropfen, und bald herrschte auch Ruhe.

Sophia hatte den Umschlag vorsichtig geöffnet. Der Brief war in deutscher Sprache abgefaßt, nicht perfekt geschrieben, aber gut verständlich. Der Absender hieß ­Raoul Tabasso und erklärte, der Anwalt von Frau Rinaldi, vormals Janson, geschiedene Ohlsen, Witwe von José Rinaldi seit drei Jahren.

Frau Sarah Rinaldi hat mich im Oktober letzten Jahres beauftragt, für ihre Tochter Sophia diese Erklärung aufzuzeichnen, da sie nicht mehr fähig ist, selbst zu schreiben. Frau Rinaldi weiß, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben hat und möchte ihr Wissen nicht mit ins Grab nehmen. Ihre Tochter soll die Wahrheit über ihre Geburt erfahren, damit ihr nicht durch einen Zufall oder eine jener nicht voraussehbaren Schicksalsfügungen das Leben zerstört wird.

Bis dahin war Sophia nicht sonderlich berührt. Sie hatte von Kindheit an eine Einstellung zu ihrer Mutter wie zu einer völlig Fremden. Diese Frau hatte nie eine Bedeutung für sie gehabt. Sie hatte sie nicht vermißt, denn sie hatte ihren Papi, ihren Paps, wie sie ihn später nannte, als sie erwachsen wurde. So sehr wurde sie geliebt, daß sie nichts vermißte.

Noch ahnte sie nicht, wie bald sie mit einer rauhen schmerzhaften Wirklichkeit konfrontiert werden sollte.

Ich schreibe nieder, wie es mir von Frau Rinaldi diktiert wird: Ich habe von Jugend an ein verrücktes, unruhevolles und abenteuerliches Leben geführt. Einige Männer haben in diesem Leben eine Rolle gespielt, wenn auch keine entscheidende, bis auf einen, der mich zwang zu lügen und andere zu verletzen. Es ist der wirkliche Vater meiner Tochter.

Sophia laß es. Ihr wurde es schwarz vor Augen, weil sie nicht gleich die Wahrheit begriff.

Nicht nur, daß sie mich im Stich gelassen hat, jetzt will sie den besten Menschen, der mir geblieben ist, vernichten, dachte sie. Maßloser Haß brannte in ihr empor. Sie war schon drauf und dran, das Bündel Papiere zu zerreißen, als Astrid eintrat. Die hielt erschrocken den Atem an, als sie in Sophias entsetzte Augen blickte.

»Was ist, Kleines?« fragte sie mit mütterlicher Besorgtheit.

»Sie sind ein Engel, meine Mutter war ein Teufel«, stieß Sophia hervor. Sie sagt, daß mein Leben nicht zerstört werden soll, aber sie ist es, die es zerstören will. Wie konnte sie mir das antun, wie kann sie es meinem Paps antun«, schluchzte sie auf.

Astrid wußte nicht, was sie sagen sollte. »Was steht in dem Brief?« fragte sie nach einem tiefen Atemzug gepreßt.

»Lesen Sie es selbst, ich will nicht weiterlesen. Es soll wohl eine Beichte sein, dabei ist es nur boshaft und gemein, was sie mir hinterlassen will, so wie ihr ganzes Leben gewesen sein muß. Mein Paps darf das nie erfahren. Helfen Sie mir, Schwester Astrid, damit fertig zu werden.«

Sie war nicht erwachsen, sie war ein zutiefst verletztes Kind. Ganz mechanisch nahm Astrid ihr das Papierbündel aus den Händen.

»Komm jetzt mit mir, Sophia«, sagte sie, unwillkürlich zum Du findend. »Sven Böring könnte aufwachen.«

»Paps vielleicht auch«, flüsterte Sophia. »Ich muß mich beherrschen, er darf nichts merken.«

Wie eine Blinde ging sie neben Astrid, die ihre Hand ergriffen hatte.

Astrid rief Schwester Käthe zu, daß sie mal kurz die Wache übernehmen solle, da sie sich um Sophia kümmern müsse.

»Sie sollte mal was essen«, brummte Käthe gutmütig.

»Das stimmt allerdings auch«, sagte Astrid.

»Ich habe keinen Hunger«, widersprach Sophia trotzig. Dann aber verschanzte sie sich hinter noch trotzigerem Schweigen.

»Jetzt sag doch, was dich so wütend macht, Sophia«, drängte Astrid.

»Lesen Sie es, ich will nicht darüber reden.«

Mit einem Gefühl des Unbehagens las Astrid die erste Seite, auf der der Schlußsatz stand, der Sophia so aufgeregt hatte, aber auch Astrid war bestürzt und las ihn noch einmal.

»Wenn das bedeutet, daß dein eigentlicher Vater ein anderer Mann ist, solltest du weiterlesen«, sagte sie mit erzwungener Ruhe.

»Wieso ein anderer Mann?« Jetzt war Sophia noch verwirrter.

»So könnte sie es gemeint haben. Die Frau war krank, sie hat sich etwas unklar ausgedrückt und der Anwalt hat es so aufgeschrieben, wie sie es sagte. Sie scheint ja sehr krank gewesen zu sein und wollte ihr Gewissen erleichtern.«

Sophia preßte die Lippen aufeinander. »Sie bringt nur Unglück, ich habe es geahnt. Ist es nicht schlimm genug, daß diese schreckliche Frau meine Mutter ist? Ich möchte nicht wissen, was sie Papa angetan hat. Er ist mein Vater, niemand sonst.«

»Du liebst ihn, und so wird es auch bleiben. Was immer sie dir mitteilen wollte, es ändert nichts an deinen Gefühlen. Vielleicht hatte sie einen Grund, dir etwas zu sagen, was trotz allem wichtig für dich sein könnte.«

»Lesen Sie bitte erst weiter, und sagen Sie mir, ob es wirklich für mich wichtig sein könnte«, bat Sophia jetzt etwas ruhiger.

»Danke für dein Vertrauen, aber du mußt mir versprechen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken.«

»Ich verspreche es.«

Astrid las noch eine Seite, und sie hätte weitergelesen, weil sie so fasziniert war, aber Käthe rief nach ihr, denn Sven Böring fantasierte. Seine Temperatur war angestiegen, und das war bedenklich.

Dr. Marlow wurde geholt. Sophia blieb in dem Schwesternzimmer sitzen und begann nun auch wieder zu lesen.

Ich hatte gerade eine so glückliche Zeit mit Elmo gehabt. Wir waren beide jung, und er war so ein richtiger fröhlicher Junge, aber da mußte er wieder auftauchen, dieser Jason mit all seinem Geld, seinem unwiderstehlichen Charme, dem ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr nicht widerstehen konnte, und ich ließ mich wieder von ihm mitreißen. Wir fuhren nach Italien. Elmo nahm es mir nicht übel, weil ich sagte, daß ich Verwandte besuchen wollte. Er war gutgläubig und ahnte nichts von meiner bewegten Vergangenheit. Er hätte wohl auch gar nicht begriffen, daß man mit einundzwanzig Jahren schon solche Vergangenheit haben könnte, denn er war der anständigste Mensch, der mir je begegnet ist.«

Sophia atmete auf und war erleichtert, weil sie dies nun doch lesen konnte.

Drinnen war Sven versorgt worden, hatte eine Infusion bekommen und Kompressen auf die Stirn.

Schwester Käthe war gegangen, um den Medikamentewagen zu holen, da Elmo auch eine Injektion bekommen sollte.

»Was macht die kleine Ohlsen eigentlich da drüben?« fragte Dr. Marlow.

»Sie liest den Brief, und er macht ihr sehr zu schaffen. Er ist der Nachlaß ihrer Mutter, die kürzlich gestorben ist.« Ganz leise hatte Astrid gesagt: »Sie braucht seelischen Beistand.«

»Da ist sie ja bei Ihnen an der richtigen Adresse«, meinte Dr. Marlow lächelnd.

»Sie ist ein besonders liebes Mädchen. Sie sollten auch behutsam mit ihr umgehen.«

Er sagte darauf nichts, sondern wandte sich dem Patienten zu.

»Halten Sie mich für herzlos?« fragte er beiläufig.

»Für sehr reserviert«, erwiderte sie ehrlich.

»Das hat schon seine Gründe, aber es ist nett, wenn Sie sich um die Kleine kümmern.«

Wenn man aus ihm doch nur klug werden könnte, dachte Astrid. Als Arzt bewunderte sie ihn, aber als Mensch war er undurchschaubar, wenn er auch niemals ungerecht oder launisch war.

»Herr Ohlsen wird bald aufwachen«, sagte er. »Es wäre gut, wenn seine Tochter dann bei ihm wäre, falls sie sich von ihrer Lektüre trennen kann.«

»Sie muß mit einem großen Problem fertig werden, anscheinend ist Dr. Ohlsen nicht ihr leiblicher Vater, aber das nur zu Ihnen. Sie wußte es bisher nicht.«

»Das ist allerdings hart in dieser Situation.«

Sophia hob den Kopf, faltete die Blätter zusammen und steckte sie in den Umschlag. Astrid konnte sehen, daß sie zur Verbindungs­tür ging, und gleich darauf trat sie ein.

»Darf ich wieder bei ihm sein?« fragte sie leise.

»Ihr Vater wird sicher bald erwachen, Sophia«, erwiderte er. Er sprach mit ihr wie mit einem Kind, und sie sah ihn an mit Augen, die rein und klar waren.

»Danke, Doc«, sagte sie.

»Wofür?« fragte er verlegen.

»Daß Sie sich so um meinen Vater bemühen. Ich will ihn nicht verlieren.«

»Sie werden ihn nicht verlieren, das kann ich Ihnen schon versprechen. Schwester Astrid wird auch dafür sorgen.«

»Das weiß ich.«

Er sprach noch kurz mit Sophia und Käthe, als sie mit dem Medikamentenwagen kam, dann ging er wieder.

Sophia sah den beiden Krankenschwestern zu, wie sie die Injektionen fertig machten und Astrid die feine Nadel in Elmo Ohlsens Armvene gleiten ließ. Sie meinte, ein leichtes Zusammenzucken bei ihm gesehen zu haben, aber seine Augen blieben fest geschlossen. Käthe ging zu Sven, um ihm seine Injektion zu geben. Gleich danach verließ sie aber wieder die Intensivstation.

»Wieviel hast du noch gelesen, Sophia?« fragte Astrid.

Sophia deutete auf den Schluß der Seite. Ihr Gesicht entspannte sich. »Das ist doch wenigstens ein Trost. Nun werde ich auch alles lesen«, erklärte sie. »Paps darf auf keinen Fall etwas davon erfahren, das ist doch versprochen?«

»Das ist selbstverständlich«, erwiderte Astrid. Aber für sich dachte sie, wie Sophia wohl damit fertigwerden würde. Sie war ja noch so jung, so unerfahren und so ganz auf Elmo Ohlsen fixiert. Warum mußte sie gerade jetzt in einen solchen Konflikt gebracht werden!

»Sie sollten sich jetzt auch ausruhen, Astrid«, meinte Sophia. »Wie lange haben Sie überhaupt noch Dienst?«

»Bis zweiundzwanzig Uhr.«

»Das sind noch fünf Stunden.«

»Ich bin es gewöhnt, mach dir keine Gedanken. Du solltest aber lieber heimfahren und dich richtig ausschlafen.«

»Der Doc hat gesagt, daß Paps bald aufwachen wird.«

»Aber bestimmt nur für kurze Zeit, dann schläft er wieder lange. Es wäre nicht gut für ihn, wenn er sich um dich auch noch sorgen muß.«

»Er wird mir schon sagen, was er von mir erwartet und was ich tun soll.« Da vernahm sie einen Seufzer und verstummte.

Sie griff nach der Hand des Kranken und streichelte sie.

»Ich bin bei dir, Paps, hörst du mich?« sagte sie.

Ein Zucken lief über Elmos Gesicht. Ganz langsam hoben sich die Lider, aber die Augen waren trübe und ohne Ausdruck.

»Bist du wirklich da, Poppi?«

Es war der Kosename, den sie sich selbst gegeben hatte, weil sie zuerst das S nicht hatte sprechen können. Elmo nannte sie immer so, wenn sie allein waren.

»Ich bin bei dir, Paps, es wird alles wieder gut werden.«

»Es ging so schnell, ich konnte nicht mehr tun«, murmelte er.

»Du lebst, nur das zählt, und du wirst wieder ganz gesund.«

»Mein Liebling.« Zärtlichkeit lag in diesen zwei Worten, obgleich ihm das Sprechen schwerfiel. »Wirst du dich um die Tiere kümmern? Muck darf nicht zuviel Futter geben.«

»Ich sorge dafür, Paps. Denk du nur daran, daß du bald gesund wirst.«

Er seufzte wieder und schlief auch gleich darauf ein. Sanft strich Sophia ihm über das dichte, nur leicht ergraute Haar. Zum ersten Mal wurde ihr richtig bewußt, daß er, ein attraktiver Mann und gerade erst vierundzwanzig Jahre jung, als sie geboren wurde, nie eine Freundin hatte oder ernsthaftes Interesse an einer Frau zeigte. Er war immer nur für sie dagewesen. Sarah hatte ihn in die Rolle des Vaters gezwungen, um dann so bald wieder ihr wildes Leben fortzuführen. Er war der liebevollste Vater geworden, den sich ein Kind wünschen konnte. Heiße Tränen drängten sich aus ihren Augen, flossen über ihre Wangen und fielen auf seine Hände.

Astrid legte den Arm um Sophia.

»Er liebt dich so sehr, was kann sich ein Kind sonst wünschen«, sagte sie weich.

»Wie konnte sie ihn so betrügen«, flüsterte Sophia.

»Du fährst jetzt heim und kümmerst dich um die Tiere. Dann schläfst du dich gründlich aus, Kleines. Wenn er wirklich vor morgen früh erwacht und dich sehen will, wirst du angerufen.«

»Darf ich auch du sagen, Astrid?« fragte Sophia leise.

»Sehr gern, wenn wir allein sind.«

»Ich bin so froh, daß ich mit dir sprechen kann.«

Sie fuhr nach Hause und wurde von den Hunden mit gedämpfter Freude begrüßt, denn sie merkten natürlich, daß etwas nicht so war wie sonst. Sie vermißten Elmo besonders. Schekko wich dann allerdings nicht mehr von ihrer Seite, und als sie ein Bad nahm, legte er sich vor die Badezimmertür und rührte sich auch nicht, als Muck noch einmal kam, um nach ihnen zu sehen.

Sophia rief ihm durch die Tür zu, daß er warten möge und beeilte sich mit dem Abtrocknen und Haare fönen.

Muck saß in der Küche, Franzi und Bobo, die beiden Terrier, lagen zu seinen Füßen, standen aber sofort auf, um sich schwanzwedelnd bei Sophia einzuschmeicheln, denn sie wollten Schekko das Terrain nicht ganz allein überlassen.

»Wie geht es unserem Doktor?« fragte Muck mit rauher Stimme.

»Ich konnte schon kurz mit ihm sprechen. Du sollst die Tiere nicht zu gut füttern, Muck. Er wird wieder gesund, er hat ein starkes Herz. Trinkst du einen Tee mit mir?«

»Nichts dagegen einzuwenden, auf mich wartet ja keiner.«

Sophia brühte den Tee auf und stellte die Gebäckdose auf den Tisch, sie wußte, daß Muck die Plätzchen sehr mochte.

»Du hast Paps ja schon als Buben gekannt, Muck. Es ist eine lange Freundschaft.«

»Freilich, seine Eltern waren liebe Leut’, nur schad, daß seine Mutter auch so früh sterben mußte. Der Elmo war schon ein arg lieber Bub. Uns hat’s gefreut, daß er uns treu geblieben ist. Als sein Vater herkam, ein Norddeutscher und ein Preuß’, da haben die Dorf­leut schon a bisserl gemotzt, weil sich die Lieserl für ihn entschieden hatte, aber er hat sich auch schnell eingelebt und viele Freunde gemacht. Ein feiner Mensch war er halt, wie unser Doktor auch.«

»Meine Mutter hast du auch gekannt, Muck. Sie war wohl nicht beliebt.«

»Mei, Dirndl, man hat sie ja kaum gekannt. Wie ein Wirbelsturm war sie da und auch wieder fort. Verstanden hat es wohl niemand, aber der junge Doktor wußte doch gar nichts von den Frauen, und solche wie die Sarah gibt es hier ja nicht. Aber unfreundlich war sie nicht, das kann ihr keiner nachreden. Sie hat halt nur nicht hierher gepaßt, und es war schon recht, daß sie dich hiergelassen hat. Das hätt’ deinem Papa ja das Herz zerrissen, wenn er sein Popperle hätt’ hergeben müssen. Aber er hätt’ schon eine liebe Frau verdient.«

»Das meine ich auch«, sagte Sophia leise. »Ich habe mich übrigens mit seiner Pflegerin angefreundet. Astrid heißt sie und ist eine ganz liebe, wie ein Engel ist sie mir vorgekommen. Wenn ich solche Mutter gehabt hätte, Muck, das hätte meinem Paps gutgetan.«

»Es ist nun mal so, daß wir es uns nicht aussuchen können, was der Herrgott bestimmt hat«, murmelte er.

»Dann muß ich mich fragen, warum der Herrgott so ungerecht sein kann. Jetzt wieder. Warum muß Paps leiden, weil dieser Bursch ohne Sinn und Verstand herumrasen durfte! Ihm hätte gleich der Führerschein genommen werden müssen, als er den ersten Unfall baute. Vielleicht denken seine Eltern wenigstens jetzt nach, was sie falsch gemacht haben.«

»Jammern werden sie, aber daß sie auch daran schuld haben, das werden sie trotzdem nicht einsehen«, sagte Muck. »Soviel Geld wie die haben, verdirbt den Charakter. Wollen wir dankbar sein, daß unser Doktor uns erhalten bleibt und du sollst bleiben, wie du bist, Sopherl.«

Muck schaute noch mal nach, ob den Tieren nichts fehlte, ob Fenster und Türen verschlossen waren und sagte, daß er am Morgen wiederkommen würde.

Sophia begleitete ihn zur Tür und schloß dann auch hinter ihm ab. Angst hatte sie nicht. Sie fühlte sich sicher mit den Hunden, obgleich auch im Ort schon des öfteren eingebrochen worden war. Aber wo Hunde im Haus waren, hatten Einbrecher doch Respekt.

Familie Dr. Norden Classic 41 – Arztroman

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