Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden 5 – Arztserie - Patricia Vandenberg - Страница 3
ОглавлениеValentina und ihr Mann Korbinian waren seid fünfundzwanzig Jahren verheiratet und würden demnächst ihre Silberhochzeit feiern. Es sollte ein großes Fest werden. Valentina war sehr froh, dass Carolina, Korbinians Nichte, die Tochter seiner Schwester, sich bei ihnen einquartiert hatte, um ihnen bei den Vorbereitungen zu helfen. Carolina hatte sich nach ihrer Ausbildung zur Köchin zur Ernährungsberaterin fortgebildet, und sie liebte es, für andere zu kochen.
»Was hast du heute vor, mein Schatz?«, wollte Valentina von Korbinian wissen, bevor sie sich an diesem Morgen auf den Weg zu Danny Norden machte, um sich um seinen Haushalt zu kümmern, so wie an jedem Vormittag von Montag bis Freitag.
»Onkel Korbinian könnte mich zum Einkaufen begleiten«, sagte die junge Frau, die in der gemütlichen Bauernküche der Merzingers stand und im Stehen eine Tasse Kaffee trank.
»Danke für das Angebot, Carolina, aber ich habe ein bissel Arbeit im Garten, und heut ist ein schöner Tag dazu«, antwortete Korbinian seiner Nichte.
»Du bist jetzt Rentner, Korbinian, du kannst jeden Tag in den Garten gehen«, sagte Valentina und streichelte ihrem Mann über das kurze graue Haar. Er saß auf der Eckbank am Küchentisch und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand.
»Ich habe aber einen Zeitplan aufgestellt, bis zur Feier will ich alles erledigt haben. Außerdem tut es mir gut, mich ein bissel unter Stress zu setzen, dann habe ich nicht das Gefühl, aussortiert zu sein«, erklärte er ihr, nachdem er einen Schluck Kaffee getrunken hatte.
»Geh, du bist doch nicht aussortiert«, entgegnete Valentina lächelnd, die neben ihm stand und ihn liebevoll betrachtete. Sie hatte den großen starken Mann mit den warmen dunklen Augen erst kennengelernt, als sie schon auf die vierzig zuging. Er war ihre erste große Liebe, und sie war auch für ihn die erste Frau, mit der er sich vorstellen konnte, sein Leben zu verbringen.
»Es ist halt eine Umstellung«, seufzte Korbinian, der über vierzig Jahre lang als Elektriker in dem Bauunternehmen angestellt war, in dem er seinen Beruf erlernt hatte.
»Stimmt, aber mir gefällt die Umstellung, weil du jetzt mehr Zeit für mich hast«, entgegnete Valentina.
»Du müsstest auch nicht mehr arbeiten gehen.«
»Mei, die paar Stunden bei unserem Doktor. Ich hab ihn gern, und es macht mir Spaß, ihn ein bissel zu umsorgen«, gestand Valentina ihrem Mann, dass sie nicht nur wegen des Geldes zu Danny ging.
»Ich weiß, du brauchst immer jemanden, den du umsorgen kannst.«
»Sie kann dich umsorgen, Onkel Korbinian«, meldete sich Carolina zu Wort.
»Das ist nicht dasselbe. Doktor Norden ist in dem Alter, in dem er Valentinas Sohn sein könnte, und das ist, was sie braucht. Wir hatten doch nicht mehr das Glück, noch eigene Kinder zu bekommen«, erklärte Korbinian seiner Nichte.
»Weil ich schon zu alt war«, seufzte Valentina.
»Wir sind doch auch so glücklich«, sagte Korbinian und umfasste sanft Valentinas Hand.
»Ja, das sind wir«, versicherte ihm Valentina.
»Und ihr liebt euch noch immer, das finde ich großartig. Es wird ein wundervolles Fest werden, dafür werde ich sorgen«, versprach Carolina den beiden.
»Das wissen wir, Kleines«, sagte Valentina. »Aber jetzt muss ich los, wir sehen uns dann zum Mittagessen.«
»Um das ich mich kümmern werde«, sagte Carolina. Sie half Valentina in die blaue Strickjacke, die sie zu ihrer weißen Bluse und dem hellblauen Faltenrock trug.
»Mei, damals, als der Korbinian und ich geheiratet haben, da war ich auch noch so schlank wie du«, stellte Valentina mit einem verträumten Lächeln fest, als sie die schlanke junge Frau betrachtete und gleichzeitig über ihre im Laufe der Jahre rundlich gewordenen Hüften strich.
Carolina trug Jeans und T-Shirt, hatte ihr dunkles Haar zu einem dicken Zopf geflochten, und Valentina wurde es ganz warm ums Herz, als Carolina sie mit ihren strahlend blauen Augen ansah. Als sie sie kennenlernte, ging sie noch in den Kindergarten, und sie hatte sie schon damals in ihr Herz geschlossen. Es war ihr immer eine große Freude gewesen, wenn das Mädchen, das mit seiner Familie in der Nähe von Bremen lebte, in den großen Ferien zu ihnen kam, um ein paar Tage mit ihnen in den Bergen wandern zu gehen.
»Mit dir ist alles in Ordnung, Tante Valentina«, versicherte ihr Carolina und umarmte sie liebevoll.
»Danke, mein Schatz. Bis später!«, rief Valentina, schaute noch einmal in die Küche und warf Korbinian einen Handkuss zu. Als sie gleich darauf das Haus verließ, blieb sie kurz stehen, bevor sie das Grundstück verließ.
Die Sonne schien und wärmte sogar schon ein wenig. Der Frühling kündigte sich an. Sie schaute auf das Haus mit der sonnengelben Fassade, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Küche, Wohnzimmer und das Gästezimmer im Erdgeschoss, Schlafzimmer und ein großes Bad im ausgebauten Dachgeschoss, das war ihr immer genug gewesen. Und sie liebte den Garten mit seinen reichtragenden Obststräuchern und prächtigen Blumenbeeten. Die immergrüne Hecke aus hochgewachsenen Buchsbaumpflanzen schirmte den Garten vor neugierigen Blicken der Nachbarn und zur Straße hin ab, was sie als äußerst angenehm empfand.
Valentina lächelte in sich hinein, als sie auf den Teich schaute, den Korbinian vor einigen Jahren mit Freunden angelegt hatte. Im letzten Herbst hatte er beschlossen, ihn zu einem Schwimmteich zu erweitern. Die zusätzliche Erde war bereits ausgehoben. Den Winter über hatte Korbinian die Erdkuhle mit einer Plane abgedeckt, die wollte er heute abnehmen und mit den Arbeiten für den Teich beginnen. Er hoffte, bis zur bevorstehenden Feier fertig zu sein. Ihre Gäste sollten sich bei ihnen wie in einem kleinen Paradies fühlen. Mein Korbinian schafft alles, was er sich vornimmt, dachte Valentina lächelnd und ließ das Gartentor hinter sich zufallen.
*
Korbinian hatte mit der Arbeit im Garten gewartet, bis Carolina gegangen war. Sie wollte in die Innenstadt fahren. Dort hatte ein neuer Bioladen eröffnet, dessen Angebot sie sich ansehen wollte. Korbinian genoss den Besuch seiner Nichte und wollte so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Er wäre auch mit ihr in die Stadt gefahren, aber er wäre sicher kein guter Begleiter gewesen, weil er ständig an die Arbeit im Garten gedacht hätte.
Er zog seine Arbeitshose an, die mit den vielen Taschen, in denen er das unterschiedlichste Werkzeug unterbringen konnte, und dazu sein blauweißkariertes Hemd. Bevor er in den Garten hinausging, schaltete er den Backofen aus und nahm das Backblech heraus, worum Carolina ihn gebeten hatte. Sie hatte Teigtaschen gebacken, die er und Valentina heute probieren sollten. Seit Tagen kochte sie schon für sie, weil sie mit ihnen gemeinsam ein Menü für die Feier zusammenstellen wollte.
Die Teigtaschen dufteten verlockend, und er konnte nicht widerstehen, eine davon zu nehmen. Da sie noch sehr heiß war, nahm er sie mit hinaus in den Garten. Zuerst musste er die Plane entfernen, mit dem er die Kuhle abgedeckt hatte, danach würde er die ersten Teichpflanzen in die Erde setzen. Er ging noch einmal um den Teich herum, um ihn von allen Seiten zu betrachten, und biss in die Teigtasche, die mit Gemüse und Käse gefüllt war.
»Was ist denn jetzt los?«, flüsterte er, als ihm auf einmal ganz heiß und schwindlig wurde. Als ihm plötzlich die Beine wegsackten, versuchte er noch, sich mit den Händen abzufangen, aber es gelang ihm nicht. Er stürzte und fiel auf die Plane, die den Teich abdeckte. Sie sackte unter seinem Gewicht nach unten. Er spürte noch, wie er mit dem Kopf auf etwas Hartes schlug, danach wurde ihm schwarz vor Augen.
*
Währenddessen saß Valentina bei Danny Norden in der Küche und trank in aller Ruhe Kaffee. Sie hatte Rühreier und Toast für Danny gemacht und leistete ihm wie jeden Morgen, wenn sie bei ihm war, Gesellschaft. »Wie viele Gäste erwarten Sie denn zu Ihrer Feier?«, fragte Danny, als Valentina ihm von Carolinas Kochkünsten erzählte.
»So um die fünfzig«, sagte sie und ließ ihren Blick durch Dannys große helle Wohnküche mit dem Kachelofen schweifen. Die Schiebetür zum Wohnzimmer, die sich fast über die ganze Wand hinzog, war geöffnet. Die beiden Räume schienen nahtlos ineinander überzugehen. So viel Platz hatte sie zwar nicht in ihrem Haus, aber für ihre Gäste würde es reichen. »Sie kommen doch?«
»Ja, Valentina, sehr gern«, sagte Danny.
»Frau Doktor Mai habe ich auch eingeladen.«
»Ich weiß«, entgegnete er lächelnd.
Dass Valentina in ihm und seiner schönen Nachbarin bereits ein Paar sah, war ihm schon länger klar.
»Wir bekommen Besuch«, sagte sie, als sie das Mädchen im Garten sah, das auf die Terrassentür zusteuerte. »Guten Morgen, Ophelia«, begrüßte sie das Mädchen mit den langen roten Haaren und den hellen blauen Augen, als sie ihr gleich darauf die Tür öffnete.
»Ist Ortrud da?«, fragte Ophelia, Olivia Mais Tochter.
»Nein, Herzl, heute nicht, ich habe sie schon vermisst«, antwortete Valentina mit einem bedauernden Achselzucken. Ortrud, die Katze der Mais, kam für gewöhnlich jeden Morgen zu Danny, legte sich auf die Fensterbank mit Blick auf den Garten und ließ sich streicheln.
»Ich hatte so gehofft, dass sie hier sein würde. Wir haben sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen, und das ist ungewöhnlich. Sie kommt sonst nachts immer nach Hause«, entgegnete Ophelia mit besorgter Miene.
»Sie kommt schon wieder. Katzen kommen sehr gut allein zurecht. Vielleicht hat sie ihr Revier ausgedehnt und erkundet die Gegend«, beruhigte Valentina das Mädchen.
»Ja, vielleicht, ich werde mich aber trotzdem mal in der Nachbarschaft umsehen. Ich habe heute erst zur dritten Stunde Schule. Guten Morgen, Doc!«, rief sie, als sie Danny am Küchentisch entdeckte.
»Guten Morgen«, antwortete Danny freundlich. »Falls du Ortrud nicht findest, gib mir Bescheid. Ich höre mich dann in der Praxis um, ob jemand etwas weiß«, schlug er Ophelia vor.
»Danke, Doc, ich werde vielleicht darauf zurückkommen«, verabschiedete sich Ophelia und stürmte davon.
»Hoffentlich findet sie Ortrud«, sagte Valentina, während sie dem Mädchen in der roten Jeans und der weißen taillenkurzen Jacke nachsah.
»Sie taucht ganz bestimmt wieder auf«, versicherte ihr Danny und schaute auf die Fensterbank, auf der Ortrud sonst um diese Zeit lag. Seitdem seine Nachbarinnen in das Haus neben ihm gezogen waren, kam die Katze fast jeden Morgen vorbei, und er hatte das sanfte Tier schon lange in sein Herz geschlossen.
Ein paar Minuten später machte er sich auf den Weg zur Praxis, die durch einen abgeschlossenen Gang mit dem Wohnteil des Hauses verbunden war. Sophia und Lydia, seine beiden Arzthelferinnen, waren wie immer schon da und standen hinter dem weißen Empfangstresen. Lydia telefonierte, Sophia schrieb die Namen der Patienten auf, die zu ihm in die Sprechstunde wollten. An diesem Morgen war schon einiges los. Auch im Wartebereich mit den gelben Sesseln und den hochgewachsenen Grünpflanzen, der nur durch eine Glaswand von der weiten hellen Diele getrennt war, waren schone einige Plätze besetzt.
»Guten Morgen, Herr Doktor!«, rief Sophia, als sie auf Danny aufmerksam wurde.
»Guten Morgen, Herr Doktor!«, schlossen sich die Patienten der Begrüßung an, während Lydia ihm lächelnd zunickte.
»Guten Morgen«, antwortete Danny freundlich in die Runde und durchquerte den Gang in Richtung seines Sprechzimmers. Er gab vor, es eilig zu haben, weil er nicht wollte, dass ihn seine Patienten schon im Gang ansprachen und jeder dabei dem anderen zuvorkommen wollte. Er war nicht darauf aus, sich dem Vorwurf auszusetzen, er würde dabei jemanden bevorzugen.
Das Sprechzimmer war ebenso hell eingerichtet wie die ganze Praxis. Der Kontrast zwischen dem modernen Schreibtisch, der an einem Stahlarm befestigten Lampe mit dem großen Schirm und der antiken Standuhr, die eine Ecke des Zimmers einnahm, verlieh diesem Raum einen besonders interessanten Charakter. Danny hatte gerade das Fenster geschlossen, das zum Lüften geöffnet war, als es an der Tür klopfte und Lydia hereinkam.
»Was kann ich für Sie tun, Lydia?«, fragte Danny.
»Ich weiß nicht mehr, wie ich die Leute beruhigen soll. Ich hatte heute Morgen schon unzählige Anrufe. Ich befürchte, auf uns rollt etwas Beängstigendes zu.«
»Und das wäre?«
»Die Leute wollen wissen, wie sie sich vor diesem neuen Virus schützen können, das gerade grassiert. Sie glauben mir nicht, wenn ich Ihnen sage, dass gründliches Händewaschen allein schon eine Menge dazu beiträgt, sich keine krankmachenden Viren einzufangen.«
»Aber so ist es«, sagte Danny und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
»Ich weiß das, aber die Leute wollen unbedingt mit Ihnen persönlich sprechen. Das würde allerdings dazu führen, dass Sie keine Zeit mehr für die Patienten hätten, die in die Praxis gekommen sind und noch kommen werden.«
»Das wäre allerdings ein Problem«, stimmte Danny der hübschen jungen Frau mit dem dunkelblonden halblangen Haar zu.
»Ich wünschte, die Leute würden sich nicht immer gleich bedroht fühlen, wenn irgendwo ein neues Virus auftaucht. Es reicht schon, wenn sich alle vor der jährlich wiederkehrenden Grippe fürchten«, seufzte Lydia.
»Hände waschen ist nun einmal die beste Option. Sie könnten zusätzlich noch dazu raten, auf gesunde Ernährung zu achten und einen Arzt aufzusuchen, falls sie plötzlich Fieber bekommen.«
»Alles klar, drei Ratschläge. Damit klinge ich gleich viel kompetenter«, entgegnete Lydia lächelnd. »Können wir dann mit der Sprechstunde anfangen?«
»Können wir«, sagte Danny.
*
Ophelia hatte bereits die nähere Nachbarschaft nach Ortrud abgesucht, in die Gärten geschaut und auch bei den Leuten geklingelt, aber ihre Katze war nirgendwo zu sehen. Inzwischen war sie in der Straße unterwegs, in der Valentina wohnte. Vielleicht war sie auf ihren Streifzügen durch die Gärten irgendwo verunglückt und konnte sich nicht allein retten.
»Ortrud!«, rief Ophelia und schaute sich in alle Richtungen um.
»Wen suchst du?«, fragte eine ältere Frau, die mit einem Staublappen in der Hand am Fenster im ersten Stock eines der Einfamilienhäuser stand.
»Meine Katze, sie hat ein rotgetigertes Fell«, beschrieb Ophelia Ortrud. Sie war vor dem Eisentor stehengeblieben, das zum Garten des Hauses führte.
»Ich habe vorhin etwas gehört, es kam von dort.« Die Frau deutete auf die Eiche, die auf der anderen Straßenseite vor dem Grundstück der Merzingers stand.
»Vielen Dank«, sagte Ophelia. Sie überquerte die Straße, blieb unter dem Laubdach der Eiche stehen und schaute nach oben. »Ortrud, bist du da irgendwo?!«, rief sie und beobachtete die Äste, ob sie sich bewegten. »Ortrud?!«, versuchte sie es erneut und plötzlich sah sie, wie ein Ast in Schwingungen geriet. Gleich darauf hörte sie Ortruds vertrautes Miauen, und sie atmete erleichtert auf, als sie das rote Fell der Katze durch das Laub schimmern sah. »Ortrud, komm zu mir!«, lockte sie das scheue Tier. »Du schaffst das, Süße«, machte sie Ortrud Mut, die weit oben im Baum über einen Ast balancierte.
Aber Ortrud schien das Wagnis nicht eingehen zu wollen. Sie hatte es zwar geschafft, den Baum hinaufzusteigen, traute sich aber nicht mehr hinunter. Möglicherweise war sie am Abend zuvor vor etwas oder jemandem geflüchtet, vielleicht vor einem unbekannten Hund oder einem Menschen, der sie ärgern wollte. Sie hatte sich zwar in Sicherheit gebracht, aber ganz bestimmt hatte sie nicht damit gerechnet, die Nacht dort oben verbringen zu müssen.
»Ortrud, du bist eine Katze, du kannst auch einen Baum wieder hinunterklettern«, redete Ophelia weiter auf Ortrud ein, aber sie hatte keinen Erfolg.
Inzwischen war auch die Frau auf die Straße gekommen, die sie auf Ortrud aufmerksam gemacht hatte, und nach und nach kamen noch weitere Nachbarn dazu, die alle zusehen wollten, wie Ophelia das Problem lösen würde.
»Du solltest deine Mutter oder deine Großmutter bitten herzukommen. Oder wirkt die Sache mit der Psychologie nicht bei Tieren?«, fragte der pensionierte Steuerbeamte grinsend, der im Haus am Ende der Straße wohnte und mit seinem Hund, einem Zwergspitz, unterwegs war.
»Geh, Herr Brettschneider, das war eine recht blöde Bemerkung. Die Katze hockt auf einem freischwingenden Ast in etwa fünfzehn Meter Höhe«, entgegnete die Frau aus dem Haus gegenüber.
»Es war nur ein Vorschlag, Frau Leinberger«, sagte Herr Brettschneider.
»Bitte, sorgen Sie dafür, dass Ihr Hund sich beruhigt«, forderte Ophelia Herrn Brettschneider auf, als der weiße Zwergspitz laut kläffend um den Baum herumrannte und dabei seine Leine um den Stamm wickelte. »Herr Brettschneider, bitte«, bat Ophelia, als der Hund einfach weiterbellte, nachdem Herr Brettschneider ihn aufgefordert hatte, Ruhe zu geben.
»Mein liebes Kind, Lazarus ist ein Zwergspitz. Diese Rasse wurde als Wachhund ausgebildet, und deshalb bellt er, wenn etwas Ungewöhnliches vor sich geht. Dagegen kann ich nichts tun«, entgegnete Herr Brettschneider achselzuckend.
»Nein, das ist sicher nicht die Rasse. Nur schlecht erzogene Hunde bellen einfach drauflos«, sagte Ophelia. Sie hatte Angst, dass der Hund Ortrud verunsicherte und dass ihr deshalb etwas passierte.
»Sie hat recht, der Hund sollte Ruhe geben. Und die Katze braucht keinen psychologischen Beistand, hier kann nur noch die Feuerwehr helfen«, mischte sich eine junge Frau ein, die einen kleinen Jungen auf ihrem Arm hielt, der gespannt nach oben in den Baum schaute.
»Stimmt, die Feuerwehr«, sagte Ophelia und zückte ihr Handy. Statt den Notruf zu wählen, rief sie in der Praxis Norden an, um mit Lydia zu sprechen, die seit Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr war. »Lydia, Ortrud sitzt in etwa fünfzehn Meter Höhe auf einem Baum und traut sich nicht mehr runter. Kann mir die Feuerwehr helfen?«, fragte sie sie, und Lydia versprach ihr, sich darum zu kümmern.
*
Korbinian war vor einiger Zeit schon wieder zu sich gekommen. Er hatte Kopfschmerzen und fühlte eine Beule an seinem Hinterkopf. Seine Arme und Beine taten ihm weh, und es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. Er hatte auch schon einige Male nach Hilfe gerufen, aber niemand hatte ihn gehört. Die meisten Nachbarn waren noch berufstätig und nicht zu Hause. Wie es aussah, musste er warten, bis Carolina oder Valentina zurückkamen.
Sein rechtes Knie und sein linker Arm taten höllisch weh, und er befürchtete, dass er sich ernsthaft verletzt hatte. Da er es aber nicht schaffte, aus der Kuhle herauszuklettern, musste er wohl an Ort und Stelle ausharren.
Was ist denn da los?, dachte er, als er die Feuerwehrleiter sah, die auf der Straße direkt vor dem Haus ausgefahren wurde und auf das Geäst der alten Eiche ausgerichtet wurde, deren Laubdach auch einen Teil seines Gartens beschattete. Für einen Moment vergaß er sogar seine Schmerzen, als er sah, wie Lydia Seeger, die er aus der Praxis Norden kannte, die Leiter hinaufkletterte. Sie trug einen Feuerwehrhelm und dicke Handschuhe. Gleich darauf verschwand sie zwischen den belaubten Ästen.
»Hallo?! Hört mich jemand?!«, rief er, weil er davon ausging, dass dieser Feuerwehreinsatz Zuschauer angelockt hatte. Aber da war dieses laute Hundegekläffe, das immer wieder von Neuem anschwoll. Er war so gut wie sicher, dass es der verzogene Zwergspitz der Brettschneiders war, der sich ständig so aufführte. Er musste den Baum im Blick behalten und darauf hoffen, dass Lydia in den Garten schaute.
Dann sah er, warum Lydia auf dem Baum war. Ortrud, die rotgetigerte Katze der Mais, die für gewöhnlich morgens bei Doktor Norden vorbeischaute, wie er von Valentina wusste, kletterte auf einem der oberen Äste herum. Lydia versuchte sie einzufangen. Da Ortrud auch Lydia kannte, wurde sie schließlich zutraulich, und Lydia konnte sie packen. Als sie mit der Katze wieder auf der Leiter nach unten steigen wollte, rief er nach ihr, aber sie hörte ihn nicht. In seiner Verzweiflung rief er nach Ortrud. Die Katze reagierte sofort und drehte ihre Ohren in seine Richtung. Das erregte glücklicherweise Lydias Aufmerksamkeit.
»Ich bin gleich bei Ihnen, Herr Merzinger!«, rief sie.
»Was ist mit Herrn Merzinger?«, fragte Ophelia, als Lydia gleich darauf die Leiter verließ und ihr die Katze in die Hand drückte.
»Er liegt im Garten, ich glaube, er ist verletzt«, sagte Lydia. »Jungs, alles klar!«, rief sie den beiden Kollegen von der Feuerwehr zu, die auf ihre Bitte hin den Wagen mit der Drehleiter hergebracht hatten. »Du bringst Ortrud nach Hause«, wandte sie sich danach an Ophelia. »Und Sie bleiben alle draußen«, wies sie die Neugierigen an, die ihre Bergungsaktion beobachtet hatten und ihr in den Garten der Merzingers folgen wollten.
»Du hast ganz offensichtlich alles im Griff«, raunte Ophelia ihr zu.
»Das hoffe ich doch«, sagte Lydia und streichelte Ophelia liebevoll über den Arm.
Während sie in den Garten rannte, um Korbinian zu helfen, telefonierte sie mit Danny und bat ihn zu kommen.
»Sie haben doch gehört, was sie gesagt hat!«, rief Ophelia, als die Neugierigen vor dem Gartentor stehen blieben, nachdem Lydia es hinter sich hatte zufallen lassen.
»Wer bist du denn, dass du so mit uns sprichst?«, fuhr Herr Brettschneider sie an.
»Ich bin die Tochter der Psychologin, das wissen Sie doch«, antwortete Ophelia lächelnd und ließ den Mann stehen, der sich gern mit seinen Nachbarn anlegte und den deshalb niemand wirklich leiden konnte.
»Wir gehen dann alle«, sagte Frau Leinberger, »grüße deine Mutter von mir«, bat sie Ophelia.
»Werde ich gern ausrichten«, sagte sie. Das Mädchen drückte die Katze behutsam an sich und lief durch den schmalen Weg, der an den Gärten vorbeiführte, zurück nach Hause.
»Sind Sie Patientin der Psychologin oder warum lassen Sie sie grüßen?«, wollte Herr Brettschneider von Frau Leinberger wissen.
»Im Gegensatz zu Ihnen habe ich eben ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft, da grüßt man sich auch hin und wieder«, entgegnete Frau Leinberger. »Sie sollten ohnehin ganz still sein. Frau Doktor Mais Tochter hat vollkommen recht, wenn sie sagt, dass nur ein schlecht erzogener Hund ständig kläfft. Gestern Abend habe ich Ihren Lazarus auch wie wild kläffen gehört, als sie mit ihm an unserem Haus vorbeigingen. Könnte es sein, dass er die arme Katze auf den Baum getrieben hat und sie nichts dagegen unternommen haben?«
»Eine Katze kann klettern«, murmelte Herr Brettschneider, nahm Lazarus, den Zwergspitz mit dem wuscheligen weißen Fell, fester an die Leine und marschierte davon.
»Da haben Sie wohl ins Schwarze getroffen, Frau Leinberger«, sagte eine ältere Frau, die eine Stofftasche in der Hand hielt, aus der es nach frischem Brot und Brötchen duftete.
»So sehe ich das auch, Frau Meisel. Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee bei mir? Oder haben Sie es eilig?«
»Für einen Kaffee ist doch immer Zeit«, antwortete Frau Meisel und folgte Frau Leinberger ins Haus.
*
»Was ist denn passiert?«, wollte Lydia wissen, die in den Teich geklettert war und neben Korbinian kniete.
»Mir wurde schwindlig«, sagte er und erzählte ihr, wie er in diese Lage geraten war.
»Vielleicht ist Ihr Blutdruck abgesackt.«
»Möglich, aber das tut höllisch weh«, stöhnte Korbinian.
»Was genau?«, fragte Lydia. Sie hatte zuerst die Wunde an seinem Kopf untersucht und sich danach den verletzten Arm und das Knie angesehen.
»Der Arm und das Knie, die Wunde am Kopf brennt nur ein bisschen«, sagte er.
»Es wird Ihnen bald wieder besser gehen, Sie haben noch einmal Glück gehabt«, beruhigte Lydia ihn. Sie hatte bei der Feuerwehr eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin absolviert und konnte gut einschätzen, wie schwer eine Verletzung war. »Doktor Norden wird gleich hier sein, und ich rufe auch schon mal den Krankenwagen.«
»Ich muss ins Krankenhaus?«, flüsterte Korbinian erschrocken.
»Ihr Arm ist gebrochen, und Sie haben eine Knieverletzung, die muss genauer untersucht werden.«
»Werde ich bis zur Feier wieder gesund?«
»Auf jeden Fall«, versicherte ihm Lydia. Mit ein bisschen Glück würde Korbinian nicht lange im Krankenhaus bleiben müssen.
»Korbinian, mein Schatz, was ist denn mit dir?!«, rief Valentina, die mit Danny in den Garten kam.
»Alles nicht so schlimm«, beruhigte Korbinian seine Frau. »Sei vorsichtig, sonst musst du mich am Ende noch ins Krankenhaus begleiten.« Er versuchte zu lächeln, während Valentina sich von Danny den abgeschrägten Erdhügel hinunterhelfen ließ, der in den Teich führte.
»Der Krankenwagen ist schon unterwegs«, sagte Lydia und erzählte Danny, welche Verletzungen sie bei Korbinian festgestellt hatte.
»Wie ist das denn nur passiert?«, fragte Valentina aufgeregt. Sie ging neben ihrem Mann in die Hocke und nahm seine Hand.
»Mir war nur ein bisschen schwindlig, und dann bin ich wohl ausgerutscht.«
»Der Kreislauf scheint in Ordnung«, sagte Danny, der neben Korbinian kniete, seinen Blutdruck überprüfte und ihn mit dem Stethoskop abhörte.
»Aber sie werden ihn doch im Krankenhaus noch einmal gründlich untersuchen?«, fragte Valentina.
»Mit Sicherheit, aber ich denke nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen. Ihr Mann war doch erst vor ein paar Wochen zur Vorsorgeuntersuchung bei mir. Da war alles in Ordnung«, versicherte Danny ihr.
»Ich zeige ihnen, wo wir sind«, sagte Lydia, als sie die Sirene des Krankenwagens hörte. Sie wollte den Sanitätern die Suche nach dem Verletzten ersparen. Sie hatte es schon einige Male erlebt, dass der Rettungswagen der Feuerwehr gerufen wurde, jemand die falsche Adresse angegeben hatte und sie kostbare Zeit mit der Suche nach dem Opfer vergeuden mussten.
»Was haben Sie denn gemacht, bevor Ihnen schwindlig wurde?«, wollte Danny von Korbinian wissen.
»Ich hatte vor, ein paar Teichpflanzen einzusetzen, und bin am Rand des Teiches entlanggegangen, um mir das Gelände noch einmal anzusehen. Ich habe in den letzten Tagen viel im Garten gearbeitet. Vielleicht habe ich mir einen Nerv im Nacken eingeklemmt und mir wurde deshalb schwindlig. Könnte das sein?«, wollte Korbinian von Danny wissen.
»Möglich wäre es. Wir lassen das im Krankenhaus überprüfen«, sagte Danny. Als die Sanitäter kurz darauf mit der Trage in den Garten kamen, machte Danny ihnen Platz, damit sie Korbinian bergen konnten. Bevor sie Korbinian zum Krankenwagen trugen, teilte er ihnen noch mit, welche Untersuchungen im Krankenhaus unbedingt gemacht werden sollten.
Valentina, die Korbinian ins Krankenhaus begleitete, hörte genau zu, damit sie darauf achten konnte, dass auch alle Untersuchungen durchgeführt wurden, um die Danny gebeten hatte.
»Falls ich etwas von dem, was sie uns sagen werden, nicht verstehe, rufe ich Sie dann an, Herr Doktor. Das wär Ihnen doch recht?«, fragte Valentina.
»Sie können mich jederzeit anrufen«, versicherte ihr Danny. »Und bitte nehmen Sie sich die nächsten Tage frei, damit Sie Zeit für Ihren Mann haben«, sagte Danny. Er und Lydia hatten sie zum Krankenwagen begleitet und sahen zu, wie die Trage, auf der Korbinian lag, in den Wagen geschoben wurde.
»Vielen Dank, Herr Doktor.«
»Sehr gern, Valentina. Alles Gute für Sie und Ihren Mann«, verabschiedete Danny sich von ihr, als sie zu Korbinian in den Rettungswagen stieg.
»Herr Merzinger hat Glück gehabt, das hätte auch anders ausgehen können«, stellte Lydia nachdenklich fest, als sie mit Danny zu seinem Auto ging, nachdem der Rettungswagen losgefahren war.
»Glücklicherweise sind die Menschen in Herrn Merzingers Alter mittlerweile noch ausgesprochen fit. Das hilft, schwere Verletzungen zu vermeiden.«
»Sie haben recht, das ist mir gerade neulich erst wieder aufgefallen. Wir mussten zwei Ehepaare, sie waren so um die siebzig, aus einem brennenden Dachstuhl retten. Ich habe gestaunt, wie schnell und geschickt die vier die Drehleiter hinuntergeklettert sind«, erzählte Lydia.
»Dann sollten wir uns wohl auch weiterhin fit halten, um das in diesem Alter noch hinzubekommen.«
»Das sollten wir auf jeden Fall tun«, antwortete Lydia lächelnd.
*
Danny hatte angenommen, dass seine Patienten inzwischen ungeduldig auf seine Rückkehr warteten und Sophia damit beschäftigt sein würde, die Leute zu beruhigen. Er hatte sich geirrt, wie er von Sophia erfuhr. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass Korbinian Merzinger verletzt in seinem Garten aufgefunden wurde und auf dem Weg ins Krankenhaus war. Da die meisten Patienten, die im Wartezimmer saßen, in der Nachbarschaft wohnten, kannten sie Korbinian und sorgten sich deshalb um ihn.
»Die Leute sollten erfahren, dass es Herrn Merzinger bald wieder gut gehen wird, sonst werden Sie sicher gleich von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Oder verletzen wir die Schweigepflicht, wenn wir eine Stellungnahme abgeben?«, fragte Lydia, als sie und Danny bei Sophia am Empfangstresen standen und sich alle Blicke auf sie richteten.
»Ich kümmere mich darum«, entgegnete Danny. Als er gleich darauf die Tür zum Wartebereich aufzog, verstummte auf der Stelle jede Unterhaltung.
»Was ist mit Korbinian?«, fragte eine hellblonde Mittsechzigerin im rosafarbenen Kostüm.
»Herr Merzinger ist jetzt im Krankenhaus und wird dort untersucht, aber Sie müssen sich keine Sorgen um ihn machen«, versicherte Danny seinen Patienten. Diese Auskunft musste fürs Erste genügen. Wer mehr wissen wollte, würde ohnehin Valentina anrufen. Sie konnte dann entscheiden, wem sie was sagte und wer ihren Korbinian besuchen durfte.
»Herr Doktor, ein Doktor Anthes hat angerufen. Er sagte, dass er in der Stadt sei und gegen Ende der Sprechstunde vorbeikommen würde«, teilte ihm Sophia mit, als er wieder aus dem Wartezimmer kam.
»Danke, sagen Sie mir bitte Bescheid, sobald er da ist«, bat Danny Sophia und ging in sein Sprechzimmer. Viktor Anthes und er hatten zusammen studiert und waren eng befreundet gewesen. Nach dem Studium hatten sie sich allerdings aus den Augen verloren. Vor einiger Zeit hatte er gehört, dass Viktor an einer Privatklinik in der Nähe von Innsbruck als Chirurg arbeitete.
Offensichtlich hat er sich wieder an mich erinnert, dachte Danny. Warum er aber die Praxis als den Ort ihres Wiedersehens ausgewählt hatte, wunderte ihn. Er hätte erwartet, dass Viktor sich mit ihm in der Stadt in einem Restaurant oder einer Bar verabreden würde, aber vielleicht wollte er einfach nur wissen, wie seine Praxis aussah, was für Viktor, der ein mondänes Ambiente mit reichlich Privatpatienten bevorzugte, dann wohl eher ein enttäuschendes Erlebnis sein würde.
Mein Leben, meine Entscheidungen, ich muss mich mit niemandem vergleichen, dachte Danny, zumal sein Leben auch außerhalb der Praxis mittlerweile wieder ganz angenehm war. Sehr angenehm sogar, dachte er, als er aus dem Fenster schaute und Olivia Mai auf der anderen Seite der Hecke sah, die ihre beiden Grundstücke voneinander trennte. Sie trug ein hellrotes Kleid und ihr Haar flatterte im Wind, als eine Böe über ihren Hof hinwegfegte, als sie zur Haustür ging.
Olivia hatte das gleiche rote Haar wie ihre Tochter und die gleichen hellen blauen Augen, die er aus der Entfernung natürlich nicht sehen konnte, aber er stellte sie sich in seiner Fantasie vor. Vor einiger Zeit hätte er noch mit absoluter Sicherheit behauptet, dass er sich niemals in eine Psychologin verlieben könnte, weil die Psychologinnen und Psychologen, die er vor Olivia kannte, immerzu damit beschäftigt waren, ihre Mitmenschen zu analysieren. Mit Olivia dagegen konnte er Spaß haben, ohne das Gefühl zu haben, dass sie ihn beobachtete, um daraus auf seinen geistigen Zustand zu schließen.
Als Olivia plötzlich in seine Richtung schaute, zuckte er wie ertappt zusammen, auch wenn sie ihn vermutlich gar nicht sehen konnte. Im nächsten Augenblick musste er über sich selbst lachen. Er wandte sich vom Fenster ab, um die Sprechstunde fortzusetzen.
An diesem Vormittag fragten ihn alle Patienten nach dem neuen Grippevirus, das gerade grassierte. Glücklicherweise konnte er Entwarnung geben, da das Virus weniger gefährlich war, als die Leute sich von der Presse hatten einreden lassen. Auch nach Korbinian wurde er immer wieder gefragt, aber mehr als das, was er bereits im Wartezimmer gesagt hatte, gab er nicht preis.
Zwei Stunden nachdem Korbinian in die Klinik eingeliefert wurde, rief Danny dort an, um sich nach ihm zu erkundigen. Korbinian hatte eine Gehirnerschütterung, einen gebrochenen Arm und eine Bänderdehnung am Knie. So wie es aussah, würde er das Krankenhaus in ein paar Tagen wieder verlassen können. Das waren gute Nachrichten, die er auch gleich Lydia und Sophia mitteilte, die mit Valentina und ihrem Mann mitgelitten hatten. Die Vorbereitungen für die Silberhochzeit konnten also weitergehen, die Feier würde stattfinden.
Als Sophia ihm kurz vor zwölf Bescheid gab, dass Viktor eingetroffen war, war gerade der letzte Patient, ein junger Mann, der tatsächlich Grippesymptome hatte, bei ihm.
Er verordnete ihm Bettruhe und verschrieb ihm Nasenspray und Tabletten gegen Halsschmerzen. Nachdem er ihn verabschiedet hatte, kam Viktor zu ihm.
»Hallo, Viktor, wie geht es dir?«, begrüßte er den gutaussehenden dunkelhaarigen Mann in dem eleganten Anzug, dem er die Tür aufhielt.
»Hallo, Daniel, es ist lange her«, sagte Viktor, nachdem er seinen ehemaligen Studienkollegen freundschaftlich umarmt hatte.
»Du warst irgendwann verschwunden«, entgegnete Danny.
»Ich war nach der Trennung von meiner damaligen Freundin auf Abenteuersuche. Ich hatte auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert, bin ein paar Jahre zur See gefahren und habe mich danach an einem Krankenhaus in Seattle zum Chirurgen ausbilden lassen.«
»Spannender Lebenslauf«, stellte Danny anerkennend fest. »Setzen wir uns«, sagte er und deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Er rückte sie ein Stück vom Tisch weg, damit sie sich gegenübersitzen konnten.
»Ja, es war ein aufregendes Leben«, stimmte Viktor Danny zu, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Aber dann sind meine Großeltern gestorben und haben mir einen Bauernhof in der Nähe von Mittenwald vererbt. Als ich von der Stelle an der Privatklinik bei Innsbruck hörte, habe ich mich sofort dort beworben.«
»Du bist Chirurg und Landwirt?«, fragte Danny erstaunt.
»Auf dem Hof habe ich Angestellte, die sich um alles kümmern. Ich bin nur in der Freizeit Landwirt, aber der Hof ist mein Zuhause, er erinnert mich an meine glückliche Kindheit. Daniel, ich brauche deine Hilfe«, sagte Viktor, und auf einmal wirkte er ausgesprochen besorgt.
»Was ist los?«, fragte Danny. Er hatte Viktor zwar schon lange nicht mehr gesehen, aber er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihm nicht leichtfiel, jemanden um Hilfe zu bitten.
»Mir wurde die Leitung der Chirurgie angeboten.«
»Das ist großartig. Ich gratuliere dir. Und wobei kann ich dir jetzt helfen?«
»Ich bin nicht in der Lage, die Stelle anzunehmen.«
»Du willst sie nicht?«, wunderte sich Danny.
»Doch, ich will sie, aber es geht nicht. Ich habe hin und wieder Aussetzer.«
»Welcher Art?«
»Einen Tremor, ungefähr so.« Viktor streckte seine Hände aus und bewegte sie, so als würden sie zittern.
»Was bedeutet hin und wieder?«
»Es gibt keine Regel. Es passiert einfach.«
»Seit wann leidest du darunter?«
»Ich hatte vor zwei Monaten einen Autounfall. Die Feuerwehr musste mich aus dem Auto herausschneiden.«
»Das klingt gar nicht gut. Wie kam es zu dem Unfall?«
»Ich musste einem entgegenkommenden Auto ausweichen und bin gegen einen Baum geprallt.«
»Welche Verletzungen hattest du?«
»Eigentlich nur Prellungen, zumindest wurde sonst nichts festgestellt. Ich gehe aber inzwischen davon aus, dass etwas übersehen wurde, sonst hätte ich diese Beschwerden nicht.«
»Hast du mit deiner Klinikleitung über den Tremor gesprochen?«
»Nein, sie würden mich sofort aus dem OP verbannen.«
»Zu Recht. So darfst du nicht operieren.«
»Das tue ich auch nicht. Ich lasse meine Assistenzärzte operieren, ich überwache sie nur. Glücklicherweise stellen wir keine Anfänger an, nur Ärzte ab dem vierten Ausbildungsjahr. Die sind schon ziemlich gut, da muss ich gewöhnlicherweise nicht mehr eingreifen. Aber es ist natürlich ein Risiko.«
»Und irgendwann fliegst du auf.«
»Deshalb bin ich hier. Ich bitte dich, mir zu helfen, die Ursache für den Tremor zu finden.«
»Wieso ich? Ich bin weder Neurologe noch Orthopäde. Ich gehe davon aus, dass du bereits alle Spezialisten aufgesucht hast, die etwas zur Aufklärung beitragen könnten.«
»Richtig, und alle sind davon überzeugt, dass ich inzwischen geheilt bin. So soll es auch erst einmal bleiben. Deshalb bitte ich dich um Hilfe. Wir haben uns immer aufeinander verlassen können. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.«
»Was genau erwartest du von mir?«, fragte Danny.
»Deine Eltern leiten doch ein Krankenhaus. Ich dachte …«
»In Ordnung, ich werde das arrangieren«, sagte Danny. Viktor hatte sich ihm anvertraut, und er würde ihn mit seinem Problem nicht allein lassen.
»Ich danke dir, Daniel. Ich werde mir ein Hotel suchen, und du sagst mir Bescheid, wann es soweit ist.«
»Du musst dir kein Hotel suchen. Ich habe ein Gästezimmer, sogar mit eigenem Bad.«
»Ist das dein Ernst? Ich platze nach Jahren hier herein, bitte dich um einen Gefallen, und du lädst mich ein, bei dir zu übernachten«, staunte Viktor.
»Willst du nicht bei mir wohnen?«
»Doch, sogar sehr gern.«
»Wo ist dein Gepäck?«
»Im Auto.«
»Hole es, wir sehen uns dann drüben in der Wohnung.«
»In Ordnung, danke, mein Freund.«