Читать книгу Familie Dr. Norden 730 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Dr. Daniel Norden telefonierte, als Felix, aus der Schule kommend, ungestüm ins Zimmer stürzte.

»Pssst!« zischelte Fee mahnend, und sofort ging der Junge auf Zehenspitzen. Er blieb abrupt stehen, als er hörte, wie sein Vater sagte: »Ist schon okay, Emely, ich bin in einer halben Stunde in der Praxis.«

»Was ist mit Emely?« fragte Felix aufgeregt, denn er wartete bereits seit einer Woche auf eine Nachricht von seiner Freundin, die seit ein paar Monaten mit ihrer­ Mutter im Schwarzwald lebte.

»Du brauchst dich nicht aufzuregen, es handelt sich um eine andere Emely«, erklärte Daniel mit väterlicher Nachsicht.

»Aber du bist besorgt«, stellte Fee fest.

»Sie scheint ziemlich verwirrt zu sein, das ist man von ihr nicht gewohnt«, erwiderte Daniel nachdenklich.

»Vielleicht muß sie sich erst wieder an München gewöhnen«, meinte Fee. »Es kann doch nicht sein, daß es schon Eheprobleme gibt.«

»Wundern würde es mich nicht«, sagte Daniel ironisch.

»Was soll denn das heißen?« fragte Fee irritiert.

»Er bildet sich ein bißchen zuviel ein, das wird Emely inzwischen auch zu spüren bekommen.«

»Aber sie liebt ihn doch, und du kennst ihn kaum.«

»Liebe macht manchmal blind, mein Schatz, aber ich werde schon erfahren, was sie bedrückt.«

»Dann werde ich es hoffentlich auch erfahren«, meinte Fee anzüglich. »Vergiß es nicht wieder.«

Er küßte sie auf die Nasenspitze. »Wichtige Dinge vergesse ich nicht, das solltest du wissen.«

»Sag ihr, daß sie mich besuchen soll, wenn sie sich einsam fühlt. Jörn wird in seiner neuen Stellung im Klinikum gefordert sein.«

»Sie werden ihm hoffentlich zeigen, wo es langgeht«, murmelte Daniel, und es klang sogar ziemlich bissig. Fee fand das doch eigenartig, denn abfällig hatte sich Daniel über den Kollegen noch nie geäußert. Hatte Emely doch eine Bemerkung über ihren Mann gemacht?

Fee Nordens Gedanken wanderten fünf Jahre zurück. Sie wollte es gar nicht glauben, daß es tatsächlich schon so lange her war, daß sie Emely Reiker auf der Insel der Hoffnung kennenge­lernt­ hatte, wo sich die junge Kollegin von einem Reitunfall erholte.

Emely hatte erst kurz zuvor promoviert und hätte schon vier Wochen später ihre erste Stellung antreten können. Sie wollte bis dahin unbedingt wieder fit sein, und mit eiserner Energie hatte sie es auch geschafft.

Fee und Daniel konnten darüber nur genauso staunen wie Dr. Cornelius. So hatten sie sich angefreundet und blieben auch in Verbindung, bis Emely Jörn Brink kennenlernte, der zu dieser Zeit Assistenzarzt an einer Kölner Klinik war.

Bereits vier Monate später kam die Heiratsanzeige. Das junge Ehepaar ging für zwei Jahre in die Schweiz, dann für weitere zwei Jahre nach Straßburg. Es schien alles in bester Ordnung zu sein, aber Emely schrieb nicht mehr so regelmäßig wie früher. Dann kam die Nachricht, daß ihr Vater verstorben war, und sie kam allein nach München zurück, um den Nachlaß zu regeln.

Seither hatten Fee und Daniel nichts mehr von ihr gehört, bis zum heutigen Tag.

Daniel Norden hatte es nicht weit bis zu seiner Praxis und wäre gern bei diesem schönen Frühlingswetter zu Fuß gegangen, aber er brauchte sein Auto für dringende Notfälle, denn manchmal konnten Minuten über ein Menschenleben entscheiden. Er hatte das schon öfter erlebt.

Emely wartete schon auf ihn, und er war erschrocken, als er sie sah. Er hatte sie als sehr aparte und lebensfrohe junge Frau in Erinnerung. Jetzt wirkte sie so blaß und zerbrechlich, daß es ihn schmerzte.

Er griff gleich nach ihrem Arm und stützte sie, weil sie schwankte, aber auch er fand erst ein paar Worte, als sie sich in der Praxis befanden. Wendy war noch nicht anwesend, sie brauchte erst nach fünfzehn Uhr zu kommen.

»Wir sind allein, das ist gut«, sagte Emely tonlos. »Ich danke Ihnen, Daniel, daß Sie Zeit für mich haben.«

»Sie hätten auch zu uns nach Hause kommen können. Fee hätte sich gefreut. Allerdings wären wir dann nicht ungestört, da wir neugierige Kinder haben.«

»Es ist besser so.« Ihre Stimme zitterte und auch ihre Hände, wie er gleich feststellte.

»Was fehlt Ihnen, Emely?« fragte er besorgt.

»Das ist eine längere Geschichte, aber ich muß einmal mit einem Menschen, dem ich vertrauen kann, darüber sprechen. Aber sagen Sie bitte nicht, daß ich an Verfolgungswahn leide.«

»Ich möchte erst hören, was Sie quält, bevor ich eine Diagnose stelle. Ich glaube, Sie brauchen mehr einen Freund als den Arzt.«

»So ist es«, nickte sie. »Ich dachte, hier würde es aufhören mit dem Spuk, aber ich habe mich geirrt. Ich fühle mich scheußlich. Zuerst hat mich mein Mann ausgelacht, jetzt nennt er mich schon paranoid. Wir entfernen uns immer weiter voneinander. Dabei hoffte ich doch, wenigstens bei ihm Verständnis zu finden.«

Dr. Norden betrachtete sie mitfühlend, denn die Verzweiflung war ihr anzusehen.

»Erzählen Sie mir bitte genau, wodurch Sie sich bedroht fühlen, Emely.«

»Vielleicht werden Sie mich auch für verrückt halten«, flüsterte sie tonlos.

»Das werde ich nicht. Verrückte suchen keine Hilfe und kein Verständnis, sie fühlen sich im Recht. Das müßte Ihr Mann als Arzt auch wissen.«

»Er liebt mich nicht mehr, ich bin ihm nur noch lästig.« Ihre Hände verkrampften sich ineinander, daß die Finger ganz weiß wurden. Sie suchte nach Worten und begann endlich stockend zu erzählen.

»Es begann vor einem Jahr, nach Jörns Geburtstag. Wir haben ihn mit ein paar Freunden in Straßburg gefeiert, in einem sehr guten Restaurant, das für sein exzellentes Essen und guten Service bekannt ist. Wir wurden auch nicht enttäuscht, aber es sollte der letzte unbeschwerte Tag in meinem Leben sein.«

Ihre Stimme wollte ihr wieder nicht gehorchen.

»Wie viele Gäste waren anwesend?« fragte Daniel aufmunternd, denn ihre düstere Miene ließ wahrlich Schlimmes ahnen.

»Es waren zwei Kollegen von Jörn mit ihren Frauen, meine Freundin Dana und ein Psychologe, den ich vorher nicht gekannt habe. Die Unterhaltung war lebhaft und im gewohnt losen Umgangston, der mir nicht so liegt. Jörn spottete, daß ich prüde sei. Die Kollegenfrauen und Dana amüsierten sich über die derben Witze. Vielleicht bin ich wirklich zu empfindlich, aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was ich dann durchgemacht habe. Sie dürfen nicht denken, daß Ich Mißtrauen gegen die Kollegen hege, ich rätsel nur, wer mich so hassen könnte, um mich so zu quälen.«

»Können Sie mir das genauer schildern, Emely? Ich möchte Ihnen gern helfen, aber ich müßte Zusammenhänge finden. Haben Sie schon mal beruflichen Ärger gehabt? Und nehmen Sie mir diese Frage bitte nicht übel, hat Ihr Mann eine Beziehung zu einer anderen Frau?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber es gibt keine Beweise. Er ist sehr beliebt bei Frauen, bei Kolleginnen und auch bei Patientinnen. Es haben öfter welche auch privat bei uns angerufen, aber er hat darüber nur gelacht, und für mich gab es immer nur den einen Mann.«

»Sie sind eine attraktive Frau, und ich kann mich erinnern, daß Sie manche Verehrer hatten.«

»Seit ich Jörn kenne, bestimmt nicht mehr. Ein anderer Mann hätte auch keine Chance bei mir gehabt. Als ich mich verfolgt fühlte, dachte ich zuerst auch, daß es dieser Psychopath sei, der…«

»Welcher Psychopath?« wurde sie von Daniel unterbrochen.

»Als ich Assistenzärztin war, betreute ich eine alte Dame, die sehr labil war. Sie wollte keinen anderen Arzt, nur mich. Dann wollte sie mich mit ihrem Sohn verkuppeln. Sie war sehr reich und dachte wohl, sie könnte mich damit ködern. Ihr Sohn war schizophren, man sah es ihm aber nicht an. Er verfolgte mich damals tatsächlich, schickte mir Blumen und Geschenke, sogar Schmuck, aber ich gab alles zurück und machte ihm klar, daß ich bald heiraten würde. Da starb seine Mutter, und er drehte durch. Er kam in eine Nervenklinik und wurde unter Vormundschaft gestellt. Ich habe Jörn geheiratet.«

Ihre Gedanken irrten wieder ab und Daniel merkte, wie es in ihrem Gesicht arbeitete.

»Ihr Vater erlebte die Hochzeit noch, soweit ich mich erinnere.«

Emely nickte.

»Begeistert war er aber nicht. Er wollte wohl, daß ich immer sein kleines Mädchen bleibe, und ich glaube, er hat Linda nur aus purem Trotz geheiratet, weil ich sie auch nicht mochte.«

Daniel überlegte ein paar Sekunden, wie weit er bei dieser verstörten jungen Frau gehen könnte, aber dann stellte er doch die Frage, die ihm auf der Zunge lag. »Also, es war so, daß Ihr Vater seinen Schwiegersohn nicht ins Herz schloß, und Sie dagegen etwas gegen diese Linda hatten.«

»Ja, so kann es gewesen sein«, gab Emely zögernd zu. »Aber Linda interessierte doch nur Vaters Geld, mit dem sie sich ein angenehmes Leben machen konnte.«

Wieder überlegte Daniel. »Ist sie denn seine Alleinerbin?« fragte er.

»Nein, eben nicht, er hat sein Testament nicht geändert. Nun streiten sich die Anwälte. Ich bin die Alleinerbin, und da Linda erst drei Monate mit Vater verheiratet war, hat sie vielleicht nur Anspruch auf eine Abfindung.«

Jetzt überlegte er noch länger, denn die nächste Frage fiel ihm sehr schwer.

»Ich sage es wirklich nicht gern, Emely, aber wer würde erben, wenn Sie durch einen Unfall sterben würden?«

»Zuerst meine Kinder, falls ich welche hätte, aber ich habe keine und werde wohl auch keine bekommen. Ich hatte noch vor Vaters Tod eine Fehlgeburt, wahrscheinlich durch diesen mir angedichteten Verfolgungswahn«, erklärte sie sarkastisch.

»Und Ihr Mann?«

»Er geht leer aus, wenn ich nicht selbst ein Testament zu seinen Gunsten hinterlasse. Das habe ich allerdings nicht vor, da ich mich von ihm im Stich gelassen fühle.«

»Hat er das Thema einmal angeschnitten?«

»Nein, und ich will ihm auch nicht unterstellen, daß er diese Quälerei inszeniert. Aber ich habe auch einen anonymen Brief bekommen, in dem es heißt, es sei an der Zeit, mein Testament zu machen, da mir sehr bald plötzlich etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. Und in letzter Zeit habe ich öfter das Gefühl, verfolgt zu werden. Einmal wurde ich auch von der Straße abgedrängt, als ich abends von der Klinik heimfuhr. Jörn war schon zu Hause. Ich habe es ihm erzählt, aber er sagte, daß ich mir alles nur einbilde und endlich wieder zur Vernunft kommen solle.«

Vielleicht redet sie sich tatsächlich alles ein, dachte Daniel Norden.

Emely machte einen verwirrten Eindruck.

»Was beunruhigt Sie sonst noch, Emely?« fragte er vorsichtig.

»Die nächtlichen obszönen Anrufe. Ich lege ja immer gleich auf, aber dann läutete das Telefon unaufhörlich.«

»Das muß Ihren Mann doch auch stören.«

»Wir haben getrennte Schlafzimmer, seit wir in München wohnen. Jörn hat oft Nachtdienst, und wenn er nicht da ist, höre ich auch seltsame Geräusche im Haus und kann nicht mehr schlafen.«

»Sie fürchten sich?«

Emely nickte. »Dann kommen mir wieder alle möglichen schrecklichen Gedanken. Vielleicht will mich jemand tatsächlich in den Wahnsinn treiben.«

»Emely, Sie sind Ärztin«, sagte Daniel eindringlich. »Was würden Sie in einem solchen Fall einer Patientin raten?«

»Ich bin keine Psychiaterin, aber wahrscheinlich würde ich Sie zu einem Kollegen von dieser Fakultät schicken.«

»Und wie wäre es, wenn Sie selbst einen konsultieren würden?«

Sie atmete schwer. »Ich weiß nicht, wem ich noch trauen könnte, Sie ausgenommen, Daniel. Ich habe mich doch schon selbst gefragt, ob ich nicht an Verfolgungswahn leide. Wenn ich doch nur einen handfesten Verdacht hätte, wer mich so peinigen will, hätte ich eher die Kraft, mich zu wehren.«

»Dann gibt es zwei Möglichkeiten, den Dingen auf die Spur zu kommen«, erklärte er nach einigem Überlegen. »Ihr Telefon müßte überwacht werden, und Sie sollten auch einen Privatdetektiv einschalten, aber ohne jemandem davon etwas zu sagen, auch Ihrem Mann nicht. Sie haben doch die nötigen Mittel, ohne seine finanzielle Unterstützung etwas zu Ihrem Schutz zu unternehmen.«

»Und Sie meinen, daß ein Fremder, der mich gar nicht kennt, mir Glauben schenkt?«

»Wenn Sie mir vertrauen, werde ich Ihnen die richtigen Gesprächspartner vermitteln. Nur eine Frage vorab: »Haben Sie schon ernsthaft in Erwägung gezogen, sich von Ihrem Mann zu trennen?«

»Nein, es kränkt mich nur so, daß er alles ins Lächerliche zieht und mich niemals ernst nimmt.«

»Hat er schon mal von Trennung gesprochen?«

»Nicht direkt. Er sagt nur ab und zu, daß man es mit mir wirklich nicht mehr aushalten könnte oder etwas Ähnliches.«

Sie schien jetzt viel ruhiger zu sein. Daniel fragte, ob sie Kontakt zu Linda hätte.

»Nein, schon lange nicht mehr. Sie ist jetzt in Italien, hat dort anscheinend einen Lover, wie mir Dr. Hartung angedeutet hat.«

»Hartung ist Ihr Anwalt?« fragte Daniel erstaunt.

»Haben Sie etwas gegen ihn?«

»Sie sollten auf jeden Fall vorsichtig sein. Erwähnen Sie nicht, was Sie vorhaben, falls Sie meinem Rat folgen wollen. Aber Sie könnten ihn einmal ganz beiläufig fragen, was bei einer möglichen Scheidung auf Sie finanziell zukommen würde.

Emely war plötzlich hellwach. »Meinen Sie etwa, daß Jörn ihn kontaktiert?«

»Möglich ist alles, Mißtrauen ist angebracht.«

»Ich bin doch sowieso schon mißtrauisch. Welchen Psychiater empfehlen Sie mir?«

»Dr. Lorenzo. Er ist noch jung und nicht sehr bekannt, aber seinen Beruf versteht er. Und als Privatdetektiv schlage ich Ernst Huber vor, ein völlig unauffälliger Mann, aber sehr erfolgreich in jedweden Ermittlungen.«

»Sie würden das vermitteln, Daniel?«

»Sie müssen mir nur sagen, wann Sie Zeit haben.«

»Das kann ich gleich, ich habe meinen Dienstplan immer dabei.«

»Wie kommen Sie eigentlich mit Ihren Kollegen aus?«

»Es gibt keine Schwierigkeiten. Ich fühle mich in der Klinik eigentlich am sichersten, aber die Nächte, in denen ich nicht schlafen kann, rauben mir viel Kraft. Jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten, Daniel. Sie haben doch noch andere Patienten.«

»Wendy meldet sich schon, wenn es unruhig wird«, erklärte Daniel, und er wagte dann noch eine Frage: »Hätten Sie gern Kinder, Emely?«

Sie sah ihn mit einem verlorenen Ausdruck an. »Jetzt nicht mehr. Es hat sich alles geändert. Es ist wie in der Natur. Werden und Vergehen. Auch Liebe kann sterben, wenn man gedemütigt wird. Ich bin nicht verrückt, nein, ich bilde mir das alles nicht ein. Es ist nur schwer, gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen.«

»Sie dürfen sich nicht unterkriegen lassen, Emely. Sie müssen sich wehren.«

Sie nickte. »Das werde ich. Es hat mir gutgetan, mit Ihnen zu sprechen.«

»Fee würde sich sehr freuen, wenn Sie sie auch besuchen würden. Sie haben Freunde, auf die Sie sich verlassen können.«

Wendy war schon seit einer halben Stunde in der Praxis, aber sie konnte auch lautlos arbeiten, wenn niemand sie ärgerte. Es war ruhig an diesem Nachmittag, und sie hatte sich schon gedacht, daß Dr. Norden einen besonderen Patienten hatte. Sie gestattete sich einen langen, forschenden Blick auf Emely, die mit einem freundlichen Gruß an ihr vorbeiging, während Dr. Norden zu Wendy sagte, daß die Sprechstunde nun beginnen könne. »Bevor Sie sich Gedanken machen, Wendy, das war eine Kollegin«, erklärte er.

Mehr sagte er nicht, und so neugierig Wendy auch war, sie stellte keine Fragen.

Er mußte sich jetzt ganz auf andere, auch recht schwierige Patienten einstellen.

Er erlebte häufig genug, wie sehr persönliche Konflikte die Gesundheit beeinflussen konnten. Emely war gewiß kein Einzelfall.

*

Eigentlich hatte Emely ein paar Einkäufe tätigen wollen, aber sie war von dem Gespräch mit Daniel Norden so nachhaltig beeindruckt, daß sie keine Lust mehr auf einen Stadtbummel hatte. Sie besorgte nur einiges für ein Abendessen, das eine versöhnlichere Atmosphäre schaffen sollte, denn sie war entschlossen, ein klärendes Gespräch mit Jörn zu führen.

Das Angebot in dem Delikatessengeschäft war appetitanregend. Sie kaufte, was Jörn besonders mochte. Dabei kam ihr in den Sinn, wie unterschiedlich auch ihre Geschmacksrichtungen waren, und das nicht nur in Bezug aufs Essen. Es betraf auch Kleidung und sogar Musik, von der Wohnungseinrichtung ganz abgesehen. Es wurde Emely bewußt, wie sehr sie sich auf ihn eingestellt hatte, sich seinen Vorstellungen anpaßte. Wie hatte Dana einmal gesagt? Das ist keine Liebe, du bist ihm untertan, Emely. Ich finde das gar nicht gut.

Aber Dana war eben ganz anders. Erst gestern hatte Emely in einer Zeitschrift gelesen, daß Frauen eher auf ihren Mann verzichten würden als auf ihre beste Freundin. War es bei ihr etwa auch so? Nein, so war es bei ihr nicht, so unendlich wichtig war ihr Dana auch nicht. Aber wie war es mit Jörn? Konnte sie nicht auch ohne ihn auskommen?

Sie war entschlossen, einiges in ihrem Leben zu ändern. Sie mußte sich zur Wehr setzen gegen diese Feindseligkeiten aus dem Nichts, durch die sie zermürbt werden sollte. Aber wer konnte solches Interesse daran haben? Es mußte doch wohl einen Grund geben!

Sie fuhr jetzt heim, und wieder wurde sie von einem Angstgefühl gelähmt, als sie einen fremden Wagen vor ihrem Haus stehen sah. Es war ein ganz neues, flottes Cabrio.

Sollte Jörn sich diesen Wagen gekauft haben, ohne mit ihr darüber zu sprechen? Aber woher hatte er so viel Geld, denn billig waren diese Modelle nicht. Außerdem war er um diese Zeit nie zu Hause. Emely beruhigte sich mit dem Gedanken, daß ein Fremder zufällig hier parkte und in einem Haus gegenüber zu Gast war.

Als sie das Haus betrat, vernahm sie Stimmen, die aus dem Wohnraum kamen, es waren Jörns Stimme und die einer Frau, die Emely aber auch wohlbekannt war. Es war Danas Stimme.

»Ich werde jetzt gehen«, sagte sie. »Emely könnte mißtrauisch werden, wenn sie uns beide zusammen antrifft.«

»Ach was, sie bildet sich doch sowieso allerhand Schwachheiten ein.«

Sein spöttisches Lachen traf Emely wie Nadelstiche. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Einfach wieder verschwinden? Nein, es konnte ja sein, daß sie gerade aus dem Zimmer kamen. Sie faßten einen spontanen Entschluß, da sie gerade noch an der Haustür stand. Sie öffnete diese leise, ließ sie dann aber laut ins Schloß fallen. Man mußte es auch drinnen hören. Tatsächlich hatte sie den gewünschten Erfolg, wenngleich sie jetzt auch noch um Haltung kämpfte, um unbefangen zu wirken.

Dana erschien in der Tür. Sie war niemals schnell aus der Fassung zu bringen und begrüßte Emely überschwenglich.

»Da bin ich doch nicht umsonst gekommen«, sagte sie. »Ich habe so gehofft, daß du zu Hause bist, weil ich dich zu einer Spritztour mit meinem neuen Wagen einladen wollte. Du hast hoffentlich Lust dazu?«

Emely war es, als würde sie Dana, die sie doch schon seit der Schulzeit kannte, jetzt zum ersten Mal richtig sehen. War sie tatsächlich so naiv, so töricht, daß sie niemanden durchschaute, Jörn nicht und Dana auch nicht? Und wer mochte noch alles über sie gespottet haben, weil sie mit Scheuklappen durch die Welt gelaufen war?

»Es wird schon dunkel, und außerdem ist es mir zu kalt für ein Cabrio«, erklärte sie mit erzwungener Ruhe, aber sie merkte doch selbst, wie kühl auch ihre Stimme klang. »Ich kann auch keine Erkältung brauchen, es greift sowieso ein Virus um sich, der nicht ungefährlich ist. Willst du nicht lieber zum Abendessen bleiben, Dana? Ich habe leckere Sachen eingekauft.«

Es entging ihr nicht, daß Dana und Jörn schnell einen Blick tauschten.

»Warum nicht, wenn ich schon mal eingeladen werde. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.«

»Du warst doch ständig unterwegs«, stellte Emely fest.

»Das bringt mein Beruf mit sich. Ich war überrascht, Jörn zu Hause anzutreffen um diese Zeit.«

»Das bin ich allerdings auch«, erklärte Emely mit einem hintergründigen Lächeln. »Sonst ist er so früh nicht hier.«

»Du doch auch nicht«, sagte er sofort.

»Mein Dienstplan hat sich geändert«, erklärte Emely, »aber lassen wir den Beruf mal vor der Tür. Ich bin froh, wenn darüber nicht geredet wird.«

»Es scheint dir jedenfalls gutzugehen«, stellte Dana fest, aber irgendwie schien sie irritiert zu sein. »Hast du dich jetzt eingelebt?«

»Das kann man sagen. Also, bleibst du zum Abendessen? Es ist genug da.«

»Wenn es euch nichts ausmacht, bleibe ich gern.«

»Dann kannst du Jörn noch Gesellschaft leisten, während ich alles vorbereite.«

Es gab nicht viel vorzubereiten, aber sie konnte Zeit gewinnen, um sich ein Konzept zurechtzulegen, denn sie wollte sich keine Blöße geben, aber die beiden doch verunsichern. Das, was sie vorhin erlauscht hatte, gab ihr zu denken. Sie wunderte sich nur, daß sie sich nicht tiefer verletzt fühlte, aber der Hinterhältigkeit wollte sie sich doch gewachsen zeigen.

»Sie ist komisch«, raunte Dana Jörn zu. »Ob sie etwas gemerkt hat?«

»Unsinn, außerdem sieht sie sowieso Gespenster. Ich würde ihr einen Verdacht schon ausreden.«

»Du glaubst also, daß sie sich wirklich alles einbildet?«

»Reden wir jetzt nicht darüber, sie kann jeden Augenblick erscheinen.«

Wie lange mag das zwischen den beiden schon gehen, dachte Emely indessen. Sind sie es, die mich in den Wahnsinn treiben wollen?

Sie gab sich besondere Mühe, alles herzurichten. Schon lange hatte sie das nicht mehr getan, und ihr kam jetzt auch in den Sinn, daß sie sich mit Dana noch nicht getroffen hatte, seit sie in München wohnten, obgleich Dana schon zwei Jahre hier lebte. Tatsächlich hatten sie sich zum letzten Mal zu Jörns Geburtstag in Straßburg getroffen und sonst nur ab und zu miteinander telefoniert.

Ja, es war tatsächlich schon so lange her, Emely wollte es fast nicht glauben, aber für sie war es ja so eine aufregende Zeit gewesen, daß sie gar nicht hatte nachdenken können.

Sie schob den Servierwagen ins Eßzimmer, das mit seiner leicht rustikalen Einrichtung ganz gemütlich war, während die anderen Räume mit der hypermodernen Ausstattung kaum Behaglichkeit aufkommen ließen.

»Es ist angerichtet«, sagte sie.

»Das ging aber schnell«, sagte Dana, »und sieht sehr lecker aus.«

»Als hätte ich es geahnt, daß ich nicht allein essen muß«, erklärte Emely daraufhin etwas anzüglich.

»Sehr aufmerksam von dir, daß du an meinen Geschmack gedacht hast«, ließ sich jetzt Jörn vernehmen.

Emely sah ihn forschend an, und er wurde tatsächlich verlegen.

Emely wunderte sich, wie sicher sie sich plötzlich fühlte, aber es kam wohl auch daher, daß Jörn und Dana ihre gewohnte Selbstsicherheit vermissen ließen. Jörn war von Emelys lässiger Art so überrascht, daß er gar nicht wußte, was er sagen sollte.

»Jörn sagte mir vorhin, daß es dir in letzter Zeit nicht so besonders gut gegangen sei«, bemerkte Dana stockend. »Du kannst dich doch bei mir melden, wenn du Sorgen hast.«

»Ich habe keine Sorgen, ich werde nur von irgendwelchen Irren belästigt, aber da Jörn meint, daß ich mir das nur einbilde, behalte ich es lieber für mich. Daniel Norden meint allerdings, daß man es nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.«

»Wann hast du ihn getroffen?« fragte Jörn wie elektrisiert.

»Heute.« Emely blieb ganz ruhig. »Ich habe ihn wegen einer Patientin angerufen, die er behandelt hat, und da wir gute Freunde sind, hat er sich Zeit für mich genommen.«

»Und du hast ihm deine Spukgeschichten erzählt«, sagte Jörn spöttisch.

»Ich habe ihn gefragt, ob er den Eindruck hat, daß ich mich sehr verändert habe.«

»Und was hat er gesagt?«

»Daß er mein Lachen vermißt. Er meint, daß ich einen langen Urlaub brauche. Den werde ich auch nehmen, sobald es möglich ist.«

»Du hast ja schon immer sehr viel von ihm gehalten«, stellte Dana fest.

»Er und Fee sind wirklich gute Freunde, auf die man sich verlassen kann.«

»Und auf mich kannst du dich nicht verlassen?« fragte Dana beleidigt.

»Ich habe gemerkt, daß wir sehr verschieden sind, Dana. Ich bin nicht mehr so naiv wie früher.«

»Du kannst mir doch offen sagen, was dir an mir nicht mehr gefällt.«

»Ich kann nur sagen, daß ich mich verändert habe, daß ich vieles anders sehe als früher, aber ich bin nicht paranoid.«

»Mein Gott, das ist mir mal so herausgerutscht. Du mußt nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen«, brauste Jörn auf.

»Empfindlich warst du schon immer«, warf Dana ein. »Erinnerst du dich, wie du in der Schule genannt wurdest?«

»Blümchen-rühr-mich-nicht-an, ich habe es nicht vergessen. Aber als du beim Schwimmen ins Becken fielst und vor Schreck zuviel Wasser schlucktest, war ich diejenige, die dich herausholte, falls du dich daran erinnerst«, sagte Emely betont.

Dana starrte sie schockiert an, und Jörn sagte: »Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Du weißt manches nicht, weil deine Erlebnisse immer aufregender und wichtiger waren«, stellte Emely ironisch fest.

»Du bist heute aber aggressiv«, warf er ihr vor.

»Ich werde nur deutlich machen, daß ich mich wehren kann und mir nicht allerhand Schwachheiten einbilde.«

Das saß! Jörn und Dana erstarrten, weil ihnen bewußt wurde, daß Emely doch einiges von ihrem Gespräch mitgehört hatte. Aber wieviel? Jetzt waren sie verunsichert.

»Lassen wir dieses Thema«, sagte Jörn mit mühsamer Beherrschung. »Wir werden vernünftig miteinander reden, wenn wir allein sind.«

»Das könnt ihr gleich haben«, stieß Dana gereizt hervor. »Ich überlasse es gern deinem Mann, etwaige Mißverständnisse auszuräumen.«

Sie war so schnell auf dem Weg zur Tür, daß sie stolperte und sich gerade noch an einem Stuhl festhalten konnte.

»So eilig mußt du es auch nicht haben«, sagte Emely spöttisch. Ohne sich noch einmal umzuschauen und grußlos entfernte sich Dana.

»Du hast sie gehörig aus dem Gleichgewicht gebracht«, sagte Jörn mit einem Lächeln.

»Ich lasse mir nichts mehr gefallen.«

»Dein lieber Dr. Norden scheint gute Arbeit geleistet zu haben. Ich habe anscheinend nicht den richtigen Ton bei dir getroffen.«

»Du warst verletzend und ungerecht. Nun habe ich es gesagt, es ist mir wohler.«

»Und wir sollten wenigstens einen Versuch machen, die Mißverständnisse auszuräumen.«

»Ich halte das nicht für Mißverständnisse, sondern für deine Überzeugung, daß ich Unsinn rede und mir alles nur einbilde. Du mußt einen sehr tiefen Schlaf haben, wenn du das nächtliche Telefonläuten nicht gehört hast. Es waren keine Fehlverbindungen sondern Schikanen.«

»Du wirst mir doch nicht unterstellen, daß ich dahinterstecke?«

»Jedenfalls scheint jemand sehr interessiert daran zu sein, mich tatsächlich um den Verstand bringen zu wollen.«

»Aber warum denn? Ich bin ein realistischer Mensch. Wenn ich falsch reagiert habe auf dein Gejammer, tut es mir leid, aber da du eine intelligente Frau bist, begreife ich nicht, warum du dich so in die Vorstellung hineinsteigerst, daß jemand nach deinem Leben trachten könnte. Wenn es dich beruhigt, werde ich in Zukunft wachsamer sein und deine Klagen auch ernst nehmen. Ich habe mich schon oft gefragt, was sich in unserer Ehe so verändert hat, daß wir nur noch aneinander vorbeireden.«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Ich habe dich wohl mit zu verklärten Augen gesehen. Auch Liebe ist relativ.«

»Dann siehst du das romantische Kapitel unserer Ehe wohl als beendet an?«

»Hat es für dich überhaupt ein romantisches Kapitel gegeben, Jörn? Wenn du lieber frei sein willst, brauchst du es nur zu sagen.«

»So ein Unsinn! Du hast es wohl falsch verstanden, daß ich ein paar Minuten mit Dana allein im Haus war. Du denkst doch nicht etwa, sie sei nicht rein zufällig erschienen?«

»Doch, das denke ich. Ich bin ja nicht von gestern und auch nicht beschränkt. Aber mir ist es gleichgültig geworden. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die eine allerbeste Freundin brauchen und ihr bedingungslos vertrauen. Mir war immer bewußt, daß wir grundverschieden sind.«

Er starrte eine ganze Weile vor sich hin, und Emely wollte schon das Zimmer verlassen, da fragte er, ob sie nie daran gedacht hätte, daß Dana neidisch sein könnte.

»Auf was denn schon? Sie bildet sich doch viel auf ihre Erfolge ein, im Beruf, bei den Männern, auf ihren einmalig guten Geschmack.«

»Aber du hast sehr früh deinen Doktor gemacht, du bist vermögend und brauchst dir keine Sorgen um die Zukunft zu machen.«

»Geld war für mich nie das Wichtigste, das solltest du wissen.«

»Aber für deinen Vater war es ungeheuer wichtig, daß du unabhängig bleiben kannst.«

»Wenn du auf Vaters Testament anspielst, ich habe davon nichts gewußt, und wenn ich sterbe, wird Vaters Vermögen an wohltätige Stiftungen verteilt werden.«

Sie sah, wie er sich auf die Lippen biß. Er war blaß geworden.

»Das sieht dir ähnlich«, sagte er heiser, »du denkst wohl gar nicht mehr daran, daß wir Kinder haben könnten?«

»Wir? Ist das überhaupt noch eine Ehe, Jörn?«

»Mit ein wenig gutem Willen läßt sich das doch ändern.«

»Daran glaube ich nicht mehr. Das meinst du doch nicht ehrlich«, sagte Emely ruhig. »Gute Nacht, ich gehe zu Bett.«

Er blickte ihr fassungslos nach, war er doch tatsächlich überzeugt gewesen, sie versöhnlich stimmen zu können. Er war es nicht gewöhnt, daß eine Frau ihm so deutlich die kalte Schulter zeigte. Von Emely erwartete er das erst recht nicht.

Sie war Wachs in seinen Händen gewesen, und da er sich noch nicht schlüssig war, wer die Veränderung bei ihr bewirkt hatte, richtete sich seine Wut auf Daniel Norden. Er überlegte, wie er an ihn herankommen konnte, aber dann läutete das Telefon. Es war Dana, und die paßte ihm jetzt erst recht in den Kram.

»Laß mich in Ruhe«, fauchte er sie an, »ich muß jetzt ausbaden, was du mir eingebrockt hast!« Er knallte den Hörer auf und holte die Whiskyflasche aus der Hausbar.

*

Aller Aufregung zum Trotz war Emely schnell eingeschlafen. Erst gegen zwei Uhr wurde sie aus dem tiefen Schlummer gerissen, weil es ganz gewaltig krachte im Haus.

Immer waren es schleichende Geräusche gewesen oder das Läuten des Telefons, das sie nicht ruhig schlafen ließ, aber dieser Krach jagte ihr noch mehr Angst ein. Sie überlegte, ob sie gleich die Polizei rufen sollte, aber als sie ins Treppenhaus ging, vernahm sie jetzt nur noch ein Stöhnen.

Sie überwand sich und ging zu Jörns Zimmer, aber die Tür stand offen und das Zimmer war leer, das Bett nicht benutzt.

Mit angehaltenem Atem ging sie zur Treppe. Da es eine Wendeltreppe war, konnte sie nicht bis zur Eingangstür schauen. Mit angstvoll klopfendem Herzen schlich sie sechs Stufen herunter, um dann aber starr vor Entsetzen stehenzubleiben. Die Glastür war zertrümmert, und davor lag Jörn bewegungslos und voller Blut auf dem Boden.

Emely konnte keinen klaren Gedanken fassen, aber sie sah in ihm jetzt nicht den Mann, von dem sie sich schon weit entfernt hatte. Sie sah nur den Verletzten, und sie war Ärztin. Sie überwand die Furcht, daß er tot sein könnte und ging nun schnell und an nichts anderes denkend hinunter zu ihm. Die Glasscherben klirrten unter ihren Füßen, aber ihr kam auch nicht der Gedanke, daß sie sich verletzen könnte. Sie fühlte seinen Puls und atmete auf, als sie fühlte, daß Leben in ihm war. Aber sie wußte auch, daß sie ihn nur notdürftig versorgen konnte. Er mußte in eine Klinik, die tiefen Schnitte mußten genäht werden. Aber sie sah auch die zerbrochene Whiskyflasche und roch, daß er eine beträchtliche Menge getrunken haben mußte. Trotz allem, was trennend zwischen ihnen stand, wollte sie ihn nicht beruflich in Schwierigkeiten bringen, aber in welche Klinik konnte sie ihn bringen lassen, um auf Diskretion rechnen zu können?

Es war Nacht, erst ein Uhr vorbei, konnte sie es wagen, Daniel Norden anzurufen, ihn aus dem Schlaf zu reißen?

Es gab keinen Menschen sonst, den sie um Hilfe bitten konnte. Sie suchte seine Privatnummer aus ihrem Telefonbüchlein heraus. Er hatte sie ihr gegeben, für alle Fälle, hatte er gesagt und damit auch gemeint, wenn sie in Schwierigkeiten sein würde. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer.

Fee Norden hatte sich so mit dem beschäftigt, was Daniel über Emely erzählt hatte, daß es sie bis in den Traum verfolgte. Das Läuten des Telefons schien dazuzugehören. Schlaftrunken meldete sie sich. Von nächtlichen Notfällen waren sie in letzter Zeit weitgehend verschont geblieben, und als Emely eine Entschuldigung stammelte, meinte sie schon, daß es eine Fehlverbindung wäre. Aber dann vernahm sie, was Emely ängstigte, daß sie unzusammenhängende Worte über die Lippen brachte. Immerhin war Fee nun gleich hellwach, als sie hörte, daß alles voller Blut sei.

»Ganz ruhig, Emely, mein Mann ist schon wach geworden. Dein Mann hatte also einen Unfall. Ist er ansprechbar? Er ist nicht ansprechbar«, raunte sie Daniel zu. »Er muß in eine Klinik? Da käme die Behnisch-Klinik in Frage. Bewahren Sie jetzt Ruhe, wir leiten alles in die Wege.«

Hastig erklärte sie dann ihrem Mann, der sich bereits ankleidete, daß Jörn Brink anscheinend in eine Glasscheibe gestürzt sei und sehr viel Blut verloren hätte.

Daniel war schon startbereit.

»Ruf du in der Klinik an, sie sollen einen Krankenwagen zum Tannenweg sieben schicken. Ich fahre gleich hin. Hoffentlich dreht Emely jetzt nicht noch ganz durch.«

»Sie bildet sich das nicht nur ein«, sagte Fee. Aber sie machte sich Gedanken, was da passiert sein könnte, nachdem sie in der Behnisch-Klinik angerufen hatte.

Jenny Behnisch machte selbst Nachtdienst, da Dr. Graef eine Grippe auskurieren mußte.

»Du machst das doch nicht allein, Jenny?« sorgte sich Fee.

»Dr. Lorenzo hilft aus.«

»Versteht er denn davon auch etwas?« staunte Fee.

»Er ist auch ein guter Allgemeinmediziner, und ein Psychotherapeut ist hier manchmal sehr nötig. Die Menschen machen sich selbst verrückt.«

Fee wollte nicht sagen, daß Emely wohl auch Hilfe benötigte. Sie gab sich Erinnerungen hin an eine Zeit, in der Emely eine glückstrahlende junge Frau gewesen war.

Daniel fand ein Häufchen Elend vor. Emely zitterte am ganzen Körper, anscheinend einem Nervenzusammenbruch na­he, was er aber verstehen konnte, als er Jörn in den Glastrümmern liegen sah. Er wagte auch nicht, ihn allein zu bewegen, aber der Sanitätswagen kam bald. Die Sanitäter hoben den Verletzten vorsichtig auf eine Trage.

»Er hat wohl ein bißchen zuviel getrunken«, sagte der jüngere Sanitäter. Man konnte es intensiv riechen.

Emely wollte mit dem Krankenwagen fahren, aber Daniel sagte, er würde sie zur Behnisch-Klinik bringen. Er hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und hoffte, von ihr zu erfahren, wie das geschehen war.

»Ich habe schon geschlafen, als ich durch das laute Klirren geweckt wurde. Ich hatte Ihnen doch schon gesagt, daß ich manche Nacht durch seltsame Geräusche geweckt wurde, aber diesmal war es sehr laut. Ich war oben und mußte erst die Treppe hinunter, um bis zur Tür sehen zu können«, erzählte sie monoton. Wie in Trance schien sie zu sein, aber vielleicht wirkte das Beruhigungsmittel auch stark.

Daniel hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie bei der Behnisch-Klinik ankamen, wußte er schon alles.

Dort lag Jörn schon auf dem Operationstisch. Es war allerhöchste Zeit, denn die Schnitte waren zum Teil sehr tief, und einer hatte die Halsschlagader um Haaresbreite verfehlt. Die Schädeldecke war teilskalpiert, und überhaupt lagen die Verletzungen im Kopf- und Oberkörperbereich.

Unwillkürlich kam Daniel Norden der Gedanke, daß ein so eitler Mann wie Jörn Brink darunter am meisten leiden würde. Er hatte nur kurz in den OP geschaut und festgestellt, daß Jenny Behnisch und Dr. Lorenzo allein zurechtkamen. So konnte er sich wieder um Emely kümmern, die jetzt fast apathisch wirkte.

Familie Dr. Norden 730 – Arztroman

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