Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 36 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Die Nachmittagssprechstunde hatte sich bis neunzehn Uhr hingezogen, als Dr. Daniel Norden den letzten Patienten verabschieden wollte, der sich mal wieder beklagt hatte, daß ihm kein Medikament helfen würde. Allerdings wußte der Arzt, daß er nur die Beipackzettel studierte und dann bestimmt bei den Gegenanzeigen etwas fand, was möglicherweise auf ihn zutreffen könnte, um das Medikament dann gar nicht erst zu nehmen.

Manchmal verlor auch Dr. Norden die Geduld. »Ich kann Ihnen nur empfehlen, einen anderen Arzt aufzusuchen, Herr Pohl«, sagte Dr. Norden mit erzwungener Ruhe, da rief Wendy, daß er dringend Dr. Behnisch anrufen möge.

»Ich will aber keinen anderen Arzt«, sagte Herr Pohl beleidigt und machte gleich Anstalten, Wendy seine eingebildeten Leiden zu klagen. Da kam er aber erst recht an die falsche Adresse.

Daniel Norden hatte gleich zum Telefon gegriffen. Dieter Behnisch rief selten bei ihm an, das überließ er meist seiner Frau Jenny. Hoffentlich ist nichts mit Jenny, dachte Daniel deshalb auch sogleich.

Dr. Behnisch hatte ein anderes Anliegen.

»Ich brauche deine Hilfe, Daniel«, sagte er ohne lange Einleitung. »Ich habe hier eine Patientin, die mir Rätsel aufgibt. Sie ist vor ein paar Stunden eingeliefert worden, wurde ziemlich schwer verletzt im Birkenwäldchen gefunden. Da das in eurer Gegend ist, kennst du sie vielleicht.«

»Wie heißt sie?«

»Das weiß ich noch nicht, aber sie phantasiert dauernd und sagte merkwürdige Dinge, die mir zu denken geben. Bitte, komm, so schnell du kannst, du bist der bessere Psychologe.«

»Ich komme sofort, Dieter.« Er war schon an der Tür, als Wendy ihm noch nachrief, daß Herr Pohl ein Hypochonder sei.

»Das weiß ich«, gab er zurück.

*

Dr. Dieter Behnisch und seine Frau Jenny waren beide Chirurgen und hatten die eigene Klinik zu großem Ansehen gebracht. Jenny war zudem auch eine sehr gute Diagnostikerin und Internistin, und sie waren schon sehr lange mit dem Ehepaar Norden befreundet. Bei jedem besonders schwierigen Fall holten sie Daniels Meinung ein, wie jetzt bei dieser jungen Frau, die sich in ihrem Bett hin und her wälzte und zusammenhanglose Worte murmelte.

Sie hatte ein sehr schmales Gesicht, in dem sich tiefstes Leid abzeichnete und ein gewiß nicht leichtes Leben seine Spuren hinterlassen hatten, obgleich sie noch jung sein mußte.

»Ich kenne sie nicht«, sagte Daniel, »was hast du an Verletzungen festgestellt, Dieter?«

»Zwei Rippenbrüche, schwere und mittelschwere Prellungen und entsprechende Hämatome, sie ist untergewichtig und feingliedrig und Jenny meinte, daß sie möglicherweise ein Kind haben oder gehabt haben könnte. Wir schätzen sie nicht älter als dreißig. Sie trug keinerlei Schmuck und...«

Dr. Behnisch verstummte, denn die Patientin stöhnte auf und sagte laut, voller Angst und Abwehr: »Er kann es nicht sein, er ist tot, er kann nicht leben! Papa, hilf mir doch, er hat Timmy geholt!« Dann wurde ihre Stimme ganz leise, aber Daniel Norden beugte sich dicht über sie und konnte sie verstehen.

»Genau wie damals – geh nicht wieder fort, Papa.« Wieder folgte ein Stöhnen, dann öffnete sie plötzlich die Augen, die groß und blau waren und starr wie die einer Porzellanpuppe.

»Wer sind Sie?« frage sie monoton mit einem Ausdruck der Furcht.

»Ich bin Arzt, Dr. Daniel Norden«, erwiderte er langsam und betont, so daß sie es auch verstehen konnte. »Und wie heißen Sie?«

Er war schon darauf gefaßt, daß sie den Kopf schütteln und sagen würde, sie könnte sich nicht erinnern, aber nichts dergleichen geschah. Ihr Blick wurde nachdenklich.

»Den Namen habe ich schon gehört. Norden… Fee Norden. Ich heiße…«, dann ein kurzes Zögern, ein schneller Atemzug, »ich heiße Trebnitz, Rebecca Trebnitz.«

»Wo wohnen Sie?« fragte Daniel.

»Nirgends. Wo bin ich überhaupt? In welcher Stadt?«

Daniel tauschte mit Dieter einen Blick. Der zuckte mit den Schultern.

»In München sind Sie, in der Behnisch-Klinik, und das ist Dr. Dieter Behnisch. Seine Frau werden Sie auch kennenlernen.«

»Wie bin ich hergekommen?« fragte sie verwirrt.

»Das wird man Ihnen noch genau erklären. An was können Sie sich erinnern?«

Sie schloß die Augen. »Es ist alles so verschwommen, im Nebel, das Meer, das Haus. Ich finde mich nicht zurecht.«

»Wer sind Ihre Angehörigen? Wo sind sie zu erreichen?«

»Ich kenne niemand mehr. Es ist so lange her.«

»Sie haben nach ihrem Vater gerufen.«

»Papa ist tot«, sagte sie tonlos. »Er hat es gesagt.«

»Wer hat es gesagt?«

Sie stieß einen spitzen Schrei aus und deutete auf die Tür, dann verlor sie das Bewußtsein.

»Es war niemand an der Tür, ich habe mich gleich umgedreht«, sagte Dieter. »Das ist wohl doch ein Fall für den Psychiater.«

»Warten wir es noch ab. Sie hat sicher etwas Schreckliches durchgemacht, aber ich denke, sie wird sich erinnern können. Benno Heinze soll sich mit ihr befassen. Er ist Psychologe und könnte sie hypnotisieren.«

»Es käme auf einen Versuch an«, sagte Dieter, »zu Jennys Beruhigung. Sie hat einen Narren an dieser Frau gefressen. Es sind aber noch viele Rätsel zu lösen, wie es scheint.«

»Kein leichter Fall, das gebe ich zu«, nickte Daniel. »Wer ist Timmy? Wer der tote Mann, den sie gesehen hat?«

»Sicher in ihren Träumen. Ich träume auch manchmal von Toten und sehe sie lebend.«

»Ein Wunder, daß du überhaupt träumst, wo du doch kaum zum Schlafen kommst.«

»Jenny behauptet, daß ich schnarche, also muß ich wohl auch schlafen, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt mit meiner Frau geschlafen habe. Da bist du wohl besser dran.«

»Du mußt dir auch Privatleben gönnen.«

»Sag den Patienten, daß sie mich mal in Ruhe lassen sollen. In letzter Zeit haben wir Unfälle wie nie zuvor. Woran mag das liegen?«

»Sollten wir es auch auf die Sonnenfinsternis schieben?«

»Die ist doch längst vorbei.«

»Aber sie soll ihre Nachwirkungen haben.«

»Auf etwas muß man es ja schieben, wenn kein Föhn ist«, brummte Dieter Behnisch.

Da kam Jenny.

»Ich habe etwas erfahren«, sagte sie hastig. »Ein Auto mit italienischem Kennzeichen hat eine ganze Zeit im Halteverbot am Birkenwäldchen gestanden. Vielleicht kann man dadurch etwas in Erfahrung bringen.«

»Wir haben inzwischen mit ihr gesprochen, nicht viel, aber wenigstens was«, erklärte Daniel. »Sie heißt Rebecca Trebnitz.«

»Sagt sie jedenfalls«, warf Dieter ein.

»Er ist immer skeptisch«, meinte Jenny nachsichtig. »Lieb, daß du gekommen bist, Daniel.«

»Ist doch selbstverständlich. Ich werde mich auch um die Patientin kümmern. Ihr ist nämlich der Name Fee Norden bekannt. Mal sehen, was wir da erfahren.«

»Nichts Gutes, wie ich annehme«, sagte Jenny ernst. »Aber fahr jetzt heim, sonst kündigt Fee uns die Freundschaft.«

»Sie ist immer schnell versöhnt, wenn ich etwas Interessantes zu berichten habe. Wenn man es recht bedenkt, ist unser Leben doch recht eintönig.«

»Jetzt hör aber auf, bei eurer Kinderschar kann es doch gar nicht eintönig sein.«

»Soviel Neues gibt es da auch nicht, und Fee hat sie ja den ganzen Tag um sich. Haltet mich bitte auf dem laufenden, wenn es etwas Neues von Rebecca Trebnitz gibt.«

Darauf brauchte er nicht lange zu warten, und Fee war nun auch sehr gespannt, wie es weitergehen würde, nachdem Daniel ihr die Geschichte abends erzählt hatte. Sie fuhr gleich am nächsten Vormittag zur Behnisch-Klinik. Sie konnte sich nicht erinnern, den Namen Trebnitz schon mal gehört zu haben und wollte sich überzeugen, ob sie die Patientin früher mal gesehen hätte. Sie hatte ein gutes Namens- und auch Personengedächtnis, und wenn ihr etwas im Kopf herumspukte, mußte sie sich Gewißheit verschaffen.

Jenny freute sich, sie zu sehen. »Es muß doch immer erst mal was passieren, damit du den Weg zu uns findest«, meinte sie mit sanftem Vorwurf.

»Ich weiß doch, wieviel ihr zu tun habt, da will ich lieber nicht stören, nur um zu plaudern, aber ab und zu sollten wir schon mal wieder Zeit finden zu einem Treffen.«

»Wenn wir doch nur mal längerfristig einen Assistenzarzt bekämen«, seufzte Jenny, »aber diese jungen Burschen sind alle so ehrgeizig und möchten gar zu gern auch mal Professor werden.«

»Aber einigen muß doch klar sein, daß es so viele Professuren nicht gibt. Seid ihr vielleicht ein bißchen zu wählerisch?«

»Du kennst doch Dieter, er hat an jedem etwas auszusetzen. Ich mische mich da lieber nicht ein, sonst kriegt Dieter auch noch einen Eifersuchtsanfall.«

»Das ist also der Grund, warum er keinen jungen Arzt in deiner Nähe haben will. Ihr hattet aber schon mal ein paar Aushilfen, die sehr brauchbar waren.«

»Die aber andere Pläne hatten. Ich kann mich nicht darum kümmern, Fee, das würde Dieter erst recht nicht passen. Er hat schon seine Eigenheiten.«

»Aber du weißt doch, was du wert bist, Jenny.«

»Aber Dieter ist für mich am wichtigsten, und ich bin froh, daß ich für ihn so wichtig bin.«

Sie hatte sehr viel durchgemacht, bis sie Dieters Partnerin geworden war, seine ihm dann unersetzliche Frau, denn mit Frauen hatte er sich vorher immer schwergetan. Jenny war als Ärztin im Einsatz in der dritten Welt gewesen. Sie hatte dort beruflich und auch persönlich Schlimmes erlebt und lange gebraucht, um mit diesen Erfahrungen fertig zu werden. Dieter hatte ihr dabei geholfen, und es war zu verstehen, daß sie es ihm für alle Zeiten dankte.

»Kümmern wir uns jetzt um Frau Trebnitz«, sagte Jenny, »dann muß ich nach zwei Frischoperierten sehen.«

*

Rebecca Trebnitz, unter diesem Namen wurde sie nun in der Behnisch-Klinik geführt, wenn auch noch niemand wußte, wer für ihre Pflege aufkommen würde. Das war in diesem Fall zweitrangig, denn dank einer unerwarteten Erbschaft war ein Fonds vorhanden, aus dem für Notfälle Zuwendungen zur Verfügung standen. Natürlich mußte man auch in dieser Klinik darauf bedacht sein, kostendeckend zu arbeiten.

Die Patientin lag still im Bett. Sie warf sich nicht mehr hin und her wie am Vortag und phantasierte auch nicht mehr.

Fee Norden war immer noch Ärztin genug, um festzustellen, daß sie nicht im tiefen Schlummer lag, sondern mehr vor sich hindämmerte. Sie betrachtete das schmale Gesicht und konnte nicht feststellen, es schon einmal gesehen zu haben, aber es erinnerte sie dennoch an ein anderes, wenn es auch nur eine flüchtige Erinnerung war.

Fee hatte sich entschlossen, die andere mit dem Vornamen anzusprechen und das tat sie auch. Doch es kam keine Reaktion. »Ich bin Fee Norden«, sagte sie, und ruckartig hoben sich die Lider und die blauen Augen sahen sie ängstlich forschend an. »Ich möchte Ihnen helfen, Ihre Erinnerung wiederzufinden«, fuhr Fee fort. »Ist Rebecca Trebnitz Ihr richtiger Name?«

Tränen stahlen sich aus den Augenwinkeln der Kranken. »Ich weiß es nicht, wo ist meine Tasche, meine Sachen?«

»Sie hatten nichts bei sich, als man Sie fand, so wurde es mir gesagt. Woran können Sie sich erinnern?«

»Ich glaube, ich war krank, sehr lange krank. Ich muß Timmy suchen, er hat ihn mir weggenommen.«

»Ihr Mann?« fragte Fee, die zuckende Hand umfassend.

»Ich kann niemand trauen«, sagte sie nach einem minutenlangen Schweigen.

»Mir können Sie vertrauen, ich bin die Frau von Dr. Norden, der gestern bei Ihnen war. Wir sind Ärzte. Was Sie sagen, erfährt niemand.«

»Ich muß nachdenken. Kommen Sie morgen wieder.«

Sie hat entsetzliche Angst, dachte Fee. Was hat man ihr angetan? Daniel mag recht haben, daß Benno sich mit ihr befassen soll, aber wird er etwas erreichen können? Jedenfalls mußte er mit aller Vorsicht vorgehen.

Als sie das Krankenzimmer verließ, kam Jenny Behnisch sehr eilig vom Empfang her. »Geh nicht gleich, Fee, ich muß dir etwas zeigen, was uns eben gebracht wurde.«

Fee ging mit ihr ins Büro. Jenny nahm eine schwarze Umhängetasche aus ihrem Schreibtisch.

»Sie wurde unweit der Stelle, an der Rebecca lag, in einem dichten Gebüsch gefunden. Die Polizei hat alles noch einmal abgesucht. Schau mal, was darin ist.«

Es war eine Brieftasche mit zwei Reisepässen. Einer war auf den Namen Rebecca Trebnitz ausgestellt, der andere auf den Namen Jennifer Sestrum. In diesem befand sich ein Foto, das der Patientin ähnlich war, während das Foto von Rebecca Trebnitz eine dunkelhaarige Frau mit vollerem Gesicht darstellte. Paßfotos waren meist nicht schmeichelhaft, aber diese Rebecca konnte man dennoch als attraktiv bezeichnen.

»Es wird immer rätselhafter«, sagte Fee nachdenklich.

»In der Geldbörse befinden sich österreichische Schillinge und italienische Lire, und das hier«, sie zeigte Fee das Foto eines etwa einjährigen bildhübschen Kindes, das ein Junge aber auch ein Mädchen sein konnte.

»Was denkst du, Fee?« fragte Jenny.

»Was soll ich denken, ich habe kein bißchen Ahnung, was das gewesen sein könnte. Ich denke nur, daß sie schreckliche Angst hat.«

»Ob sie Schuldgefühle hat? Sie könnte etwas getan haben, vor dem sie flieht.«

»Du meinst wegen der beiden Pässe? Vielleicht war die andere bei ihr, und sie ist ihr weggelaufen. Das sollte die Polizei herausfinden. Sei es, wie es sei, Jenny, wenn sie nicht redet, finden wir keine Erklärung.«

»Ich möchte ihr gern helfen, sie hat viele Narben am Körper, die kommen nicht nur von einem Sturz.«

»Ich möchte ihr auch helfen«, sagte Fee. »Du meinst, sie sei mißhandelt worden?«

»Es könnte sein.«

»Vielleicht hatte sie einen Mann von einer Nationalität, bei der andere Sitten herrschen.«

»Und der ihr Kind entführt hat?«

»Ich weiß nicht, ob es um ihr Kind geht. Vielleicht war sie ein Babysitter.«

»Jetzt sind wir wieder mal beim Kombinieren«, meinte Jenny

»Aber ich sehe kein bißchen Licht. Rebecca Trebnitz, Jennifer Sestrum, diese beiden Namen sind alles, was wir genau wissen.«

»Es liegt keine Vermißtenmeldung auf einen dieser Namen vor, und es ist keine Anzeige gegen eine dieser Personen erstattet worden.«

»Dann werden wir etwas unternehmen. Ich spreche mit Benno Heinze. Wenn er keine Zeit hat, setze ich mich mit der Psychiatrie in Verbindung.«

»Ich habe Benno schon angerufen, er kommt heute nachmittag«, erklärte Jenny.

Sie reichten sich lächelnd die Hände, waren sich wieder einmal ganz einig, wie schon so oft, ohne Vorurteile, bereit zu helfen.

*

»Wann kommt meine Mami endlich?« fragte der kleine blonde Junge trotzig. Die dunkelhaarige Frau starrte weiterhin zum Fenster hinaus, ohne zu reagieren.

»Ich habe dich gefragt, wann meine Mami kommt«, beharrte das Kind, »du hast gesagt, daß sie nicht lange bleibt. Jetzt ist sie aber schon sehr lange weg. Wieviel Tage?«

»Hör endlich auf mit der Fragerei, iß lieber.«

»Ich will das Zeug aber nicht essen. Du kannst nicht gut kochen, und warum heißt du jetzt Jackie?«

»Du sollst nicht soviel fragen! Ist es nicht schön hier? Du kannst spielen und hast alles. Was kann ich dafür, wenn deine Mami nicht kommt?«

»Du bist schuld«, stieß er böse hervor, »ich weiß es. Hier ist es nicht schön, bei uns war es schön. Ich will zu meiner Mami. Mami, Mami!« schrie er.

»Sei ruhig, Tim, sonst kommst du in den Keller«, fuhr sie ihn an. »Meinst du, mir macht es Spaß, auf so einen ungezogenen Jungen aufzupassen?«

»Du brauchst nicht auf mich aufzupassen, du brauchst mich nur zu meiner Mami zu bringen. Ich kann dich nicht leiden, und Sascha kann ich auch nicht leiden.«

»Aber Sascha ist dein Vater, und wenn deine Mami nicht kommt, wirst du bei deinem Vater bleiben, hörst du?«

Der Junge sah sie mit einem Ausdruck an, dem sie nicht standhalten konnte. Sie drehte sich wieder um.

»Ihr seid gemein, so gemein«, sagte das Kind aufschluchzend. »Der liebe Gott wird euch strafen, ihr werdet es schon sehen. Der Marshal wird kommen und euch einsperren. Er wird Mami suchen, das weiß ich, und ich werde ihm sagen, daß du erst Rebecca heißt und dann plötzlich Jackie.«

Sie war plötzlich hellhörig geworden und änderte ihren Tonfall.

»Von wem redest du überhaupt, Timmy?« fragte sie sanft.

»Vom Marshal, das habe ich doch gesagt, er heißt auch noch Steven. Er ist groß und stark.«

»Und wo ist er jetzt?« fragte sie mit einem lauernden Blick.

Tim verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Das sag’ ich nicht. Aber ich sage meiner Mami, daß du nicht mehr meine Tante sein darfst, weil du lügst und böse bist.«

Sie ging wieder zum Fenster und hob lauschend den Kopf. »Ich will nicht mit dir streiten, Tim, du ißt jetzt und dann legst du dich hin. Wenn du lieb bist, fahren wir morgen zu deiner Mami.«

Seine Unterlippe schob sich trotzig vor. »Ich glaub’ dir nichts mehr«, sagte er heftig.

*

Schnell ging sie hinaus, denn sie hatte richtig gehört, ein Auto war gekommen. Ein Mann stieg aus. Er war mittelgroß und schlank, hatte dunkles, fast schwarzes Haar und trug einen dunklen Trenchcoat. Sie lief ihm entgegen.

»Was soll das?« fuhr er sie an. »Du sollst auf den Jungen aufpassen.«

»Meinst du, es macht Spaß, mir dauernd sein Gerede anzuhören? Er will zu seiner Mami, wann werden wir ihn endlich los?«

»Der Alte schaltet auf stur. Er will erst mit seiner Tochter sprechen.«

»Er hat sechs Jahre kein einziges Wort mit ihr gesprochen, du wirst ihm doch seinen Enkel präsentieren. Er hat Geld wie Heu.«

»Je mehr Geld sie haben, desto geiziger sind die Reichen. Wenn er nicht zahlt, lassen wir Tim laufen. Wenn wir Jennifer gefunden haben, wird sie das Geld beschaffen.«

»Was willst du nun eigentlich, den Jungen laufen lassen oder Jennifer suchen? Ich habe gedacht, du hast alles genau durchdacht?«

»Es ist eben manches schiefgegangen, wie du weißt.«

»Bist du Tims Vater, oder bist du es nicht? Der Junge ist zwar erst vier, aber er ist nicht dumm. Er macht sich Gedanken und hat von einem Mann geredet, der Steven heißt, entweder ein Marshal ist oder diesen Nachnamen hat. Ich habe nie von so einem Mann gehört, und du bist anscheinend auch nur sehr mäßig informiert. Dein Gerede, daß du alles durchdacht hast, ist unglaubwürdig.«

»Hast du nicht auch gesagt, daß du alles über Jennifer weißt? Mach jetzt keine Zicken, Jackie, wir sitzen im selben Boot. Wir sollten nicht vergessen, daß Jennifer wahrscheinlich noch lebt und es eine Rebecca Trebnitz gibt, die nach ihr suchen könnte.«

»Und daß es keine rechtmäßige Heirat zwischen dir und Jennifer gibt«, höhnte sie. »Ich habe keine Lust, für etwas zu bezahlen, was du verbockt hast.«

In seinen Augen war jetzt ein Ausdruck, der sie warnte und ihr Angst einjagte.

»Bist du es nicht, die nicht genug bekommen kann und voller Neid ist auf die, die in eine goldene Wiege hineingeboren sind und die sich außerdem so schlau dünkt, daß sie alles mit links macht.«

»Wenn du mir den alten Sestrum überlassen hättest, wären wir bestimmt schneller zum Ziel gekommen. Er liebt junge Frauen.«

»Er hat eine, und sie heißt wirklich Rebecca«, sagte er zynisch. »Und ich glaube, daß sie unseren Plan vermasselt hat.«

»Wieso?«

»Weil sie selber geldgierig ist. Sie beherrscht den Alten.«

»Aber sie hat es noch nicht geschafft, daß er sie heiratet. Wenn es ihm nun völlig gleichgültig ist, was mit seiner Tochter wird, da er so von ihr enttäuscht wurde? Und wenn er längst mit der Polizei Kontakt aufgenommen hat?«

»Hier wird uns niemand suchen, wenn du nicht die Nerven verlierst. Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.«

»Du hättest dich nicht mit Mirko einlassen sollen. Ich habe ihm gleich nicht getraut. Wenn er nun das Lösegeld kassiert hat und abgehauen ist?«

Er hatte das auch schon gedacht, aber noch nicht wahrhaben wollen.

»Lassen wir solche Vermutungen. Er ist vorsichtig und wird uns schon noch mitteilen, wohin er Jennifer gebracht hat. Du solltest den Jungen aushorchen, wer dieser Marshal ist.«

»Ich glaube, daß er eine von seinen Phantasiefiguren ist. Er denkt sich selber Geschichten aus.«

»Aber es könnte auch etwas Wahres dabei sein.«

»Ich habe es mir leichter vorgestellt, mit ihm umzugehen, aber mir dauert es zu lange und er ist zäh. Ich möchte endlich Geld sehen und verschwinden.«

Sascha kniff die Augen zusammen und ging an den Kühlschrank.

»Du hast ganz schön was weggetrunken«, stellte er fest.

»Irgendwie muß ich die Zeit überstehen«, erwiderte sie gereizt. »Hoffentlich hast du auch Proviant mitgebracht.«

»Genug für die nächsten Tage, aber ich muß sparen. Wenn nicht bald etwas reinkommt, schicken wir den Jungen im Sack zurück.«

»Willst du ihn umbringen?« fragte sie heiser.

»Meinst du etwa, ich werde ihn durchfüttern? Er ist schlau, das sagst du, er könnte uns ans Messer liefern.«

»Und alles für nichts und wieder nichts«, murmelte sie.

»Warte ab, ob er nicht doch auf den letzten Anruf reagiert. Heute abend um neun Uhr entscheidet es sich. Jetzt will ich etwas essen.«

*

Es gab eine Rebecca Trebnitz, und man konnte nicht von ihr sagen, daß sie ein zartbesaitetes Wesen wäre. Für sie war Geld von Kindheit an ein Anreiz gewesen, alles mögliche zu tun, um dazu zu kommen. Man konnte ihr nachsagen, daß sie sehr zielstrebig vorgegangen war.

Ihr war es ein Dorn im Auge gewesen, daß Arno Sestrum ihre Mutter links liegen ließ, denn schließlich war sie auch eine geborene Sestrum, wenn auch nur eine Cousine des reichen Finanziers, der eine Spürnase für glänzende Geschäfte hatte, und für den die Volksweisheit hundertprozentig zutraf, daß Geld zu Geld kommt, denn er hatte auch eine sehr reiche Frau geheiratet, während Isolde Sestrum an einen Möchtegernmillionär geraten war, der meinte, bei den Sestrums einheiraten zu können. Mit dieser Ehe hatte sie es dann erreicht, daß alle Brücken zu ihr abgebrochen wurden, und so war Rebecca nicht in eine goldene Wiege gelegt worden wie die noch entferntere Cousine Jennifer, auf die Rebecca immer voller Neid blickte.

Aber Rebecca hatte geschafft, was niemand für möglich gehalten hatte, sie hatte sich Arno Sestrums Wohlwollen errungen. Sie brachte alles mit, was er an Frauen liebte, war attraktiv und verführerisch, sie war sehr ehrgeizig und völlig unsentimental. Dazu überaus geschäftstüchtig, und davon hatte in seinen Augen seine Tochter Jennifer nichts. Er machte sich keine Gedanken darüber, wie Rebecca es geschafft hatte, sich bei ihm einzunisten, er war ihr inzwischen hörig.

Sie war zweiunddreißig, er war fünfundsechzig, und alle, die ihn lange kannten, schüttelten nur den Kopf über seine nahezu lächerlich anmutende Unterwürfigkeit Rebecca gegenüber.

Endlich auf der Siegerseite, tat sie alles, um ihre Position zu halten und verstand es meisterhaft, ihm gegenüber die gleiche Unterwürfigkeit zu heucheln.

»Was war mit dem Anruf?« fragte sie, als er wieder einmal nervös den Hörer auflegte.

»Sie wollen den Jungen töten, wenn sie das Geld nicht bekommen«, erklärte er grimmig.

»Woher willst du wissen, ob sie das nicht schon getan haben?«

»Er wird mit mir sprechen. Heute abend ruft dieser Gangster wieder an.«

»Tim kennt dich doch gar nicht, und du kennst ihn auch nicht. Es kann irgendein Kind am Telefon sein. Es ist oft so gewesen, daß das Lösegeld bezahlt wurde und die Entführten lebten schon lange nicht mehr.«

»Sie werden doch nicht ein unschuldiges Kind töten!« stöhnte er.

»Erinnere dich mal, wie oft du schon davon gehört hast, soll ich dir die Fälle aufzählen, vom Lindberghbaby angefangen, da war eine Armee mit der Suche beschäftigt und es hat nichts genützt.«

»Wieso sind sie gerade auf Jennifers Kind gekommen?«

»Weil du reich bist.«

»Aber sie ist nicht reich. Sie wurde von diesem Tagedieb sitzengelassen.«

»War es nicht so, daß sie damals auch entführt wurde?«

Er starrte sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Wie kommst du darauf? Woher nimmst du diese Vermutung?«

»Man hat es gemunkelt, und dein Vater soll ein gewaltiges Lösegeld gezahlt haben. Ist das nur Gerede?«

»Gewäsch, Tratsch«, stieß er zornig hervor. »Ich will nicht, daß du noch einmal davon sprichst. Es war ein übles Komplott, um mir geschäftlich zu schaden. Aber einen Sestrum bringt man nicht so schnell um, merk dir das.« Sein Gesicht hatte eine blaurote Färbung angenommen, er schien einem Schlaganfall nahe zu sein. Da bekam Rebecca es doch mit der Angst. Das konnte ihr nun gar nicht recht sein. Ihr war er nur nützlich, solange er lebte, denn an Heirat brauchte sie gar nicht zu denken, das hatte er ihr schon sehr deutlich zu verstehen gegeben.

»Komm, beruhige dich, Arno«, redete sie auf ihn ein. »Du kannst nichts dafür, daß der Junge entführt wurde. Vielleicht ist das auch von Jennifer inszeniert worden, um zu Geld zu kommen.«

Darauf folgte ein sehr langes Schweigen, und Rebecca ahnte, daß er gründlich nachdachte. Auch das gefiel ihr nicht.

*

Dr. Norden verfügte über gute Verbindungen zur Polizei und zu sehr einflußreichen Leuten, und wenn es darum ging, anderen zu helfen, nutzte er diese Beziehungen auch aus.

So erfuhr er auch sehr schnell, daß sich die Kriminalpolizei und auch Interpol bereits bemühten, etwas über die Besitzerinnen der beiden Pässe in Erfahrung zu bringen, die man in Jennifers Handtasche gefunden hatte, da Jennifer noch immer nicht vernehmungsfähig war.

So geschah es, daß um vier Uhr nachmittags zwei Beamte in Zivil vor Arno Sestrums Villa standen und nach einem kurzen Wortwechsel klingelten.

Der Butler öffnete und erkundigte sich sehr reserviert nach ihren Wünschen.

»Wir möchten Herrn Arno Sestrum sprechen. Kriminalpolizei München.« Sie zeigten ihre Ausweise, die eine genaue Beachtung fanden, dann wurde der Hausherr telefonisch verständigt.

Arno Sestrum war es nicht geheuer, aber so leicht konnte ihn nichts erschüttern. Neugierig war er jedoch auch, denn er nahm an, daß es mit dem Verschwinden des Jungen zu tun hätte.

»Wir haben erfahren, daß eine Rebecca Trebnitz bei Ihnen als Hausdame angestellt ist. Trifft das noch zu?«

»Gewiß, sie ist eine entfernte Verwandte. Liegt etwas gegen sie vor?« fragte Sestrum zögernd und mißtrauisch geworden, da ihn Rebeccas Verhalten bereits nachdenklich gestimmt hatte.

»Wir würden die Dame gern sprechen. Sie können dabei sein, falls es Ihnen lieber ist.«

»Ich möchte schon wissen, worum es geht«, sagte Arno Sestrum nervös.

Rebecca erschien ein paar Minuten später. Es war ihr anzusehen, daß sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlte.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie gereizt.

»Sie heißen Rebecca Trebnitz – können Sie sich ausweisen?«

»Selbstverständlich. Ich hole meine Papiere.« Jetzt hatte sie schon wieder Oberwasser und brachte einen Personalausweis und den Führerschein.

»Besitzen Sie auch einen Reisepaß?« wurde sie gefragt.

»Der ist mir kürzlich abhanden gekommen. Wurde er vielleicht gefunden?«

»Sie haben den Verlust nicht gemeldet.«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, habe ihn ja auch nicht gebraucht. Ist das denn wichtig?«

»Allerdings, vor allem auch, um sich selbst vor Mißbrauch zu schützen. Es ist möglich, daß er zu einer Straftat benutzt wurde.«

»Zu einer Straftat?« fragte sie konsterniert.

»Eine junge Frau wurde schwer verletzt unter mysteriösen Umständen gefunden. Sie wurde in eine Klinik eingeliefert und konnte noch nicht vernommen werden. Es könnte sich um Ihre Tochter Jennifer handeln, Herr Sestrum.«

Arno Sestrum sprang fassungslos auf. »Meine Tochter soll hiersein? Sie lebt in Wien, soviel ich weiß.« Er biß sich gleich auf die Lippen, da ihm bewußt wurde, daß er es so besser nicht gesagt hätte.

»Es wäre nützlich, wenn Sie die Verletzte identifizieren könnten«, sagte der Beamte.

»Ich stehe zur Verfügung, in welcher Klinik liegt sie?«

»Das erfahren Sie gleich. Wenden wir uns erst Frau Trebnitz zu. Seit wann vermissen Sie den Paß?«

»Das kann ich so genau nicht sagen. Ich brauche ihn ja nicht, da ich zur Zeit nicht verreise. Wieso bringen Sie das in Zusammenhang mit Jennifer?«

»Weil beide Pässe in einer Tasche gefunden wurden, die Jennifer Sestrum bei sich gehabt hatte, als sie verunglückte. Die Tasche wurde später in der Nähe des Ortes gefunden, wo man die Verletzte fand. Sie sagten, daß sie in Wien lebte, aber es ist ein deutscher Paß.«

»Sie ist ja auch Deutsche. Es wird alles noch rätselhafter, was sollen wir tun, Rebecca?«

»Am besten alles sagen. Es kann doch kaum noch schlimmer kommen«, erwiderte sie.

»Wie meinen Sie das?« fragte der Beamte.

»Es geht um die Entführung meines Enkelsohnes«, erklärte Arno. »Man hat Lösegeldforderungen an mich gestellt. Ich hatte vergeblich versucht, meine Tochter zu erreichen. Wie lange liegt sie schon in der Klinik?«

»Es ist der vierte Tag.«

»Und der Junge wurde bereits vor zwei Wochen entführt, jedenfalls geht das Gerangel um das Lösegeld so lange. Ich gehöre nicht zu denen, die sich so schnell erpressen lassen. Zu meiner Tochter hatte ich schon Jahre keinen Kontakt mehr. Eigentlich müßte sie mit einem Mann namens Vestral verheiratet sein und seinen Namen tragen, aber anscheinend hat sie ihren Mädchennamen behalten.«

»Und die Lösegeldforderungen wurden an Sie gestellt?«

»Ja, wohl in der Ansicht, bei mir schneller und mehr holen zu können.«

»Erzählen Sie das bitte genau.«

»Würdest du das bitte tun, Rebecca, mich regt das alles zu sehr auf«, murmelte Arno.

*

Von der Vernehmung wurde ein Protokoll angefertigt, das die Ärzte am nächsten Tag lesen konnten. Für Arno Sestrum und Rebecca, wie auch für die Polizisten sollte sich der Abend ausdehnen, nachdem Arno mit dem Beamten kurz in der Behnisch-Klinik gewesen war, um Jennifer als seine Tochter zu identifizieren. Danach wirkte er selbst krankenhausreif und erklärte tonlos, daß er selbstverständlich für alle Kosten aufkäme. Dann aber mußte er wieder auf einen Anruf warten. Allerdings war nun die Polizei eingeschaltet, und es war bereits eine Fangschaltung eingerichtet.

Rebecca gab sich sehr hilfsbereit, vielleicht meinte sie es auch ehrlich, aber wer sollte diese Frau durchschauen? Kommissar Berness konnte sie auch noch nicht einschätzen, aber er war von ihr ebenso fasziniert wie zur Vorsicht gemahnt. Jedenfalls hatte sie ihm den ganzen Hergang sehr präzise und verständlich und ohne Ausschmückungen geschildert. Sie ließ durchklingen, daß sie ebenso für Jennifer wie auch für Arno Mitgefühl und Bedauern empfand und zudem sehr besorgt war, daß Tim getötet werden könnte.

»Wie gut kennen Sie ihn?« fragte Berness.

»Persönlich überhaupt nicht. Ich hatte auch keinen Kontakt mehr zu Jennifer, seit sie ihr Elternhaus verlassen hat.«

»Wie alt war sie da?«

»Zwanzig.«

»Und wie lange sind Sie in diesem Haus?«

»Vier Jahre. Arno hat jemand gebraucht, der Verständnis für seine Situation aufbringt.«

»Wann ist seine Frau gestorben?«

Rebecca blickte sich unruhig um, als fürchte sie einen Feind. »Soviel ich weiß, ist sie nicht tot. Sie soll Arno verlassen haben, als Jennifer wegen eines jungen Mannes diesen Krach mit ihrem Vater hatte, der mißfiel.«

»Wie ist sein Name?«

»Das weiß ich nicht, das müssen Sie Jennifer fragen. Manchmal denke ich, ein Fluch ruht auf dieser Familie, zu der ich ja auch gehöre.«

Sie konnte sehr beeindruckend sein, und dieser Kommissar gefiel ihr, so ungern sie auch sonst mit der Polizei zu tun haben wollte. Bisher war es ihr auch immer gelungen, eine Konfrontation mit dem Gesetz zu vermeiden, aber irgendwie brachten diese Ereignisse wieder Leben in ihre recht eintönige Gegenwart.

Arno war es gar nicht recht, mit so unangenehmen Dingen zu tun zu haben. Ihm war schon lange nicht mehr so elend gewesen, und er sah jetzt noch große Schwierigkeiten auf sich zukommen, da die Ermittlungen sich anscheinend auch auf seine Vergangenheit erstreckten. Darin war man sehr gründlich, wenn man erst mal einen dunklen Punkt gefunden hatte.

Endlich läutete das Telefon, und diesmal hörte er die verstellte Männerstimme nicht allein. Aber jetzt klang auch seine Stimme nicht so markig wie sonst, und da fragte der andere: »Sind Sie etwa nicht allein?«

»Natürlich bin ich allein, und nun bringen Sie schon den Jungen ans Telefon.«

Es war Tim eingebleut worden, was er sagen sollte, aber der dachte nicht daran, sich an die Befehle zu halten. Als Arno sagte, er sei sein Großvater, erwiderte Tim: »Ich habe keinen Großvater, ich will zu meiner Mami.«

Da sagte Sascha mit seiner normalen Stimme: »Verflucht«, und legte den Hörer auf.

»O Gott, was werden sie dem Kind jetzt tun?« entfuhr es Arno, und er zitterte wie nie zuvor in seinem Leben.

*

»Du elender Bastard, das wirst du mir büßen!« schrie Sascha den Jungen an und schlug ihm ins Gesicht.

Tim verlor den Halt, fiel rückwärts und schlug mit dem Kopf auf dem harten Boden auf. Bewegungslos blieb er liegen.

Jackie starrte den Mann entsetzt an. »Und wenn er nun tot ist«, stammelte sie.

»Dann sind wir ihn los«, stieß er wutentbrannt hervor. »Ich habe es satt, mich mit dem Bengel herumzuärgern.«

»Bisher hast du dich doch überhaupt nicht um ihn gekümmert. Jetzt weiß ich es sicher, daß du nicht sein Vater bist, so was kann man seinem Kind nicht antun.«

»Jetzt spiel du mir die Heilige, aber du sitzt genauso drin wie ich. Das war unsere letzte Chance, jetzt können wir sehen, wie es weitergeht.«

Jackie kniete neben dem Jungen. »Ich spüre seinen Puls, er ist nicht tot«, flüsterte sie. »Wir müssen etwas tun. Ich kann ihn ins Krankenhaus bringen und sagen, daß ich ihn gefunden habe.«

»Und das wird man dir glauben!« höhnte er. »Der Bengel kennt dich doch genau.«

»Er ist bewußtlos«, sagte Jackie.

»Und du wirst den Paß auf den Namen Rebecca Trebnitz vorzeigen?« fragte er zynisch. »Wo hast du ihn überhaupt?« Sein Gesicht verzerrte sich. »Und wo ist Jennifers Paß?«

»Woher soll ich das wissen? Du hast sie doch verwahrt. Du hast alle Papiere, damit ich ja nicht weg kann. Hier brauchst du gar nicht zu suchen. Ich weiß, daß hier nichts zu finden ist. Wo sollte man auch etwas verstecken? Du wirst sie schon im Auto haben.«

Sein Gesicht wurde fahl. »Ich habe das Auto mit Mirko getauscht. Verdammt noch mal, wo steckt der Kerl, warum läßt er sich nicht blicken?«

Jackies Atem ging schwer. »Wenn er nun Jennifer abkassiert und sie dann irgendwo vergraben hat?« ächzte sie.

Familie Dr. Norden Classic 36 – Arztroman

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