Читать книгу Im Sonnenwinkel Classic 40 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Wo ist meine liebe Granny, Tante Margret?«, fragte der kleine Eddy Landell mit heiserem Stimmchen. »Warum kommt sie mich gar nicht besuchen?«

Margret Pahl war auf diese Frage gefasst. Einmal musste sie ja kommen, denn Eddy war jetzt schon eine Woche im Margaretenheim, das eigentlich ein Töchterheim war. Doch Margret hatte ihrer guten alten Freundin Emy Landell gern den Gefallen getan, den Sechsjährigen in ihre Obhut zu nehmen. Was sonst hätte mit Eddy geschehen sollen?

»Komm, setz dich zu mir, Eddy«, sagte sie sanft.

Der Junge, rötlich-blond, mit großen braunen Augen und zierlich wie ein Mädchen, kam zögernd näher.

»Du willst mir nichts Schönes sagen«, meinte er, Margret forschend anblickend.

Er war sehr sensibel und sah es wohl ihrer ernsten Miene an, dass ihn nichts Gutes erwartete.

Es fiel Margret unsagbar schwer, diesem kleinen Jungen mitzuteilen, dass seine Granny gestorben war, der einzige Mensch, der ganz zu ihm gehört hatte.

Eddy schloss die Augen. Margret hatte den Jungen an sich gezogen und streichelte sein Köpfchen.

»Sie war krank, sehr krank, Eddy«, flüsterte sie.

»Und immer sehr müde«, wisperte Eddy mit erstickter Stimme. »Meine allerliebste Granny!« Er schluchzte auf und barg sein Köpfchen an Margrets Brust. »Ist sie nun im Himmel, Tante Margret?«

»Ja, Eddy, und sie kann auf dich herabschauen. Sie will nicht, dass du traurig bist. Du sollst ein fröhliches Kind sein.«

»Kann sie im Himmel auch richtig schlafen?«, fragte Eddy nach einer gedankenvollen Pause.

Emy Landell ruhte unter einem Hügel, auf dem das erste Grün zu sprießen begann. Sie war hinübergeschlummert in eine andere Welt, zerbrochen an quälendem Kummer. Nur Margret Pahl wusste, was sie in ihren letzten Lebensjahren gelitten hatte.

»Kann ich nun wenigstens bei dir bleiben?«, fragte Eddy.

»Ja, mein Kleiner«, erwiderte Margret zärtlich.

»Warum habe ich keine Eltern wie andere Kinder?«, fragte er nachdenklich. »Warum habe ich niemanden?«

»Jetzt hast du mich, Eddy, und die Mädchen hier haben dich auch lieb. Es gibt viele Kinder, die keine Eltern haben.«

Aber wohl selten gab es eine Mutter wie Florence Landell, die sich nie um das Kind gekümmert hatte, das sie vor sechs Jahren zur Welt brachte. Ohne zu zögern, hätte sie es fremden Menschen überlassen, wenn ihre Mutter nicht energisch eingeschritten wäre.

Margret küsste Eddy auf die Stirn. Sie war selbst zweifache Großmutter, und sie begriff nicht, dass man ein so entzückendes Kind wie Eddy verleugnen konnte. Aber Florence, die jetzt mit dem Fabrikanten Frank Boyd verheiratet war, hatte Eddy nie gesehen. Ob sie sich jetzt doch noch zu ihm bekennen würde?

Margret packten Zweifel, als sie in das stille Gesicht des Jungen blickte.

Er brauchte Liebe, viel Liebe, und Florence war nicht geneigt gewesen, ihm Liebe entgegenzubringen. Wahrscheinlich war sie auch jetzt nicht dazu bereit.

Margret Pahl wollte sich heute mit dem Rechtsanwalt Dr. Rückert beraten, was man nun tun könnte, um Eddys Zukunft zu sichern.

Viel hatte Emy Landell nicht hinterlassen, und Margret fand, dass er ein Anrecht auf ein Elternhaus hatte.

Sie nahm den dicken Umschlag, in dem Emy ihr den schriftlichen Nachlass übergeben hatte, und steckte ihn in ihre Tasche.

»Wir fahren heute nach Hohenborn, Eddy«, sagte sie. »Da wirst du ein nettes kleines Mädchen kennenlernen, das mit dir spielen wird.«

»Ich möchte aber nicht spielen, ich möchte bei dir bleiben, Tante Margret.«

»Du bleibst ja bei mir, aber Spielkameraden brauchst du auch.«

Margret hatte mit Inge Auerbach verabredet, dass sie mit Bambi, ihrer Jüngsten, auch zu Dr. Rückert kommen sollte, mit denen die Auerbachs verschwägert waren.

Sie hätte Eddy auch gleich im Sonnenwinkel lassen können, aber sie fürchtete mit Recht, dass Eddy noch zu scheu war, um allein bei Fremden zu bleiben. Er klammerte sich jetzt an sie mit der Verzweiflung eines verlassenen Kindes, das allein auf der Welt stand, ahnungslos, dass seine Mutter in Glanz und Reichtum lebte.

*

»Warum kommt Eddy nicht zu uns, Mami?«, fragte Bambi Auerbach. »Hier könnten wir doch viel besser spielen als in Hohenborn bei Tante Rosmarie.«

»Eddy kennt uns noch nicht, Bambi«, sagte Inge Auerbach. »Tante Margret meint, dass er zu schüchtern ist, um allein bei uns zu bleiben.«

»Na ja, aber wir könnten uns doch ganz rasch kennenlernen. Was für Spielzeug soll ich denn alles mitnehmen?«

»Tante Rosemarie hat doch von Stella noch genügend da«, entgegnete Inge Auerbach.

»Ist es ein lieber Junge?«, fragte Bambi.

»Tante Margret sagt, dass er sehr lieb ist. Seine Granny ist erst kürzlich gestorben. Das ist sehr schlimm für ihn.«

Bambi war sogleich voll des tiefsten Mitgefühls.

»Der arme kleine Junge.«

Inge konnte versichert sein, dass Bambi sich alle Mühe geben würde, sich mit Eddy schnell anzufreunden.

Sie waren vor Margret und Eddy bei den Rückerts. Rosmarie Rückert hatte schon das ehemalige Kinderzimmer ihrer Tochter Stella, die mit dem ältesten Sohn der Auerbachs, Jörg, verheiratet war und mit ihm in Kanada lebte, hergerichtet, damit die beiden Kinder ungestört sein konnten. Auch Stellas Spielsachen hatte sie aus dem Schrank genommen, und Bambi war damit beschäftigt, sich alles genau anzusehen.

»Margret scheint sich da ein Päckchen aufgeladen zu haben«, meinte Rosmarie Rückert zu Inge Auerbach. »Sie gehört auch zu denen, die nie nein sagen können.«

»Hättest du denn nein gesagt?«, fragte Inge lächelnd.

»Nein, natürlich nicht, aber Margret hat doch mit diesen Mädchen schon genügend um die Ohren. Gerade jetzt hat sie doch ein paar ganz schwierige.«

»Sie wird damit fertig. Schau, sie will es doch gar nicht anders. Ich finde es nur gut, wenn man sich auch im Alter Ablenkung verschafft.«

»Du hast dich über zu wenig Abwechslung ja nicht zu beklagen«, bemerkte Rosmarie. Und da läutete es schon.

*

Bambi und Eddy musterten sich eingehend, aber diese Musterung schien auf beiden Seiten zur Zufriedenheit auszufallen, denn Eddy erhob keinen Widerspruch, als Bambi seine Hand ergriff und ihn in das Kinderzimmer zog.

Margret Pahl konnte ungestört mit Dr. Heinz Rückert sprechen, der ihr längst wohlbekannt war und mit dem sie auch dieses komplizierte Thema ohne Scheu erörtern konnte.

»Wie Emy mir erzählte, hat Florence ihr schon als junges Mädchen große Sorgen bereitet«, begann sie. »Sie hat immer ihren Kopf durchgesetzt und war auch ihrer Mutter gegenüber nicht gerade pingelig. Deswegen ist es mir doppelt lieb, wenn wir Emys schriftlichen Nachlass gemeinsam sichten, damit es später nicht heißt, ich hätte mich in Privatangelegenheiten gemischt, die mich nichts angingen.«

»Sie haben die Fürsorge für den Jungen übernommen, und es wäre schon sehr unkorrekt, wenn Sie dafür auch noch Vorschriften gemacht bekämen, Frau Pahl«, entgegnete Dr. Rückert. »Aber es wird ja wohl einiges zu klären sein. Frau Landell stand mit ihrer Tochter nicht mehr in Verbindung?«

»Sie hat ihr ein paarmal geschrieben, aber nie Antwort bekommen.«

»Schlimm für eine Mutter«, meinte Dr. Rückert.

»Das kann man wohl sagen. Sie hat sehr darunter gelitten. Dabei hat sie rührend für den kleinen Eddy gesorgt.«

»Er ist ein uneheliches Kind?«

»Ja. Wer sein Vater ist, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht finden wir es heraus, wenn wir die Papiere gesichtet haben. War das für Emy schon ein harter Schlag, so traf sie es doch noch umso mehr, als Florence das Kind zur Adoption freigeben wollte. Emy war zu schwach, um mir alles zu erzählen, als ich Eddy holte. Sie wollte, dass das Kind aus dem Haus kam, bevor sie starb. Er hat mit abgöttischer Liebe an seiner Granny gehangen und ist ein ungewöhnlich liebes Kind.«

Dr. Rückert schaltete das Tonband ein und sprach einleitende Worte, die darüber aussagten, dass Frau Margret Pahl bei ihm erschienen sei, um mit ihm gemeinsam den schriftlichen Nachlass der verstorbenen Emily Landell zu sichten. Darauf öffnete er den versiegelten Umschlag.

Mit einer feinen, gestochen wirkenden Handschrift hatte Emy einige Bogen beschrieben, und nun erfuhr auch Margret Pahl die Geschichte der Geburt des kleinen Eddy.

Florence war mit dem Rennfahrer Daniel Batton befreundet gewesen, den sie auch heiraten wollte. Doch kurz vor dem Hochzeitstermin verunglückte er bei einem Rennen schwer, und es wurde vermutet, dass er gelähmt bleiben würde.

Das war nichts für Florence. Mit einem kranken Mann und vielleicht unter misslichen finanziellen Verhältnissen zu leben brachte sie nicht fertig. Da ergriff sie lieber die Flucht. Doch sie erwartete ein Kind und hatte nicht das Geld, es sich nehmen zu lassen. Ihre Mutter gab es ihr nicht, weil sie von vornherein dagegen war.

Es musste zu schlimmen Auseinandersetzungen gekommen sein, die Emy aber nur andeutete.

Florence brachte den Jungen zur Welt und wollte ihn sofort zur Adoption freigeben. Aber da schaltete sich ihre Mutter ein und nahm das Baby zu sich.

Florence verschwand wieder. Nach einem Jahr erst bekam ihre Mutter Nachricht von ihr. Der Brief, den Florence ihr geschrieben hatte, konnte Margret nun lesen.

Es war ein böser Brief. Florence hatte Frank Boyd kennengelernt, ihm aber nicht gesagt, dass sie ein Kind hätte. Er wollte sie heiraten.

Du wolltest das Kind behalten, Mutter, schrieb Florence, nun muss ich Dich dringend ersuchen, keine Verbindung mehr zu mir aufzunehmen. Du würdest alles zunichte machen, wenn Frank durch Dich erfahren würde, dass ich das Kind zur Welt gebracht habe.

Er hatte es nicht erfahren. Emy hatte geschwiegen. Was es sie an Herzleid gekostet hatte, konnte man nur ahnen. Sie schrieb nichts darüber.

Sie hatte wohl auch gedacht, so lange zu leben, bis Eddy auf eigenen Füßen würde stehen können. Das Schicksal hatte es anders gewollt. Eddy hatte eine Mutter und hatte doch keine. Aber irgendwo musste doch sein Vater leben, und wenn er auch nicht gesund war, vielleicht dachte er doch anders als Florence.

Aus Emys Schreiben ging jedoch hervor, dass er nichts von der Geburt des Kindes erfahren hatte.

Es muss ihn hart getroffen haben, dass Florence ihn verließ, schrieb Emy, so sollte er nicht auch noch erfahren, wie hartherzig sie auch als Mutter war.

Das war die Geschichte des kleinen Eddy, der nun sechs Jahre geworden war und auch noch seine Granny verloren hatte. In dem Umschlag befanden sich seine Geburtsurkunde und ein paar Bilder, die ihn als Baby und Kleinkind zeigten. Auch einige Bilder von Florence waren dabei. Ein bildhübsches Mädchen mit lachendem Gesicht, dem man nicht ansah, dass es so grausam sein konnte. Sonst noch Familienfotos und Familienpapiere und die Heiratsanzeige von Florence Landell und Frank Boyd aus Michigan.

Von Daniel Batton fand sich eine Karte, deren Umschlag den Poststempel von London aufwies.

Warum schreibst Du nicht wenigstens, wie es Dir geht, Florie? Es wäre eine Beruhigung für mich, wenn es wenigstens Dir gut ginge.

Diese Karte war vor mehr als sechs Jahren geschrieben worden, noch vor Eddys Geburt.

*

»Es wird wohl sinnlos sein, an die Muttergefühle dieser seltsamen Frau zu appelieren«, erklärte Dr. Rückert. »Sie hat sechs Jahre geschwiegen, dann wird sie jetzt nicht den Jungen aufnehmen. Aber sein Vater müsste doch zu finden sein.«

»Wenn er noch lebt«, erwiderte Margret. »Aber versuchen können wir es ja. Wo aber sollen wir ansetzen?«

»In London. Ich werde mich darum bemühen, Frau Pahl.«

Eddy wusste nicht, welch ernstes Gespräch über ihn geführt wurde. Er hatte mit Bambi gespielt und war richtig lebhaft geworden.

Bambi verstand es meisterhaft, das Herz des Jungen zu gewinnen. Sie war hinreißend. Man konnte sich nicht vorstellen, dass sich ein anderes Kind nicht mit ihr verstand.

Die Zeit war schnell vergangen, und er war richtig enttäuscht, dass er sich von Bambi trennen sollte.

»Wir wohnen doch im Sonnenwinkel«, sagte Bambi. »Du kannst oft zu uns kommen, Eddy.«

Da trat Margret Pahl ein. Eddy sah sie bittend an.

»Darf ich, Tante Margret?«, fragte er.

»Freilich darfst du.«

Eddys Augen leuchteten auf.

»Tante Margret ist sehr lieb, nicht wahr, Bambi?«

»Genauso lieb wie meine Omi«, versicherte Bambi, um ihm das Gefühl zu geben, dass er nicht einsam ist.

*

Für Eddy begann nun eine schöne Zeit. Er durfte mit Bambi zur Schule gehen und auch mit ihr spielen.

Er lernte die anderen Kinder kennen und freundete sich mit ihnen an, aber er blieb ihnen gegenüber doch zurückhaltend, was bei Bambi nicht der Fall war. Mit ihr saß er manchmal lange am See, und er führte ernsthafte Gespräche mit ihr. Mit Bambi konnte man das. So übermütig sie sein konnte, so besinnlich war sie andererseits.

»Warum haben die meisten Kinder einen Papi und eine Mami, und ich habe gar keinen?«, fragte Eddy einmal wehmütig.

Solchen Fragen fühlte sich auch Bambi nicht gewachsen.

»Das ist öfter so«, erwiderte sie ausweichend. »Manche Kinder kriegen erst später Eltern, aber das ist auch schön.«

»Ich kriege aber wohl keine«, sagte Eddy bekümmert. »Ich bin gern bei Tante Margret, aber sie muss ja auch noch für die großen Mädchen dasein.«

Sein Kummer war verständlich, und Bambi war sehr traurig, weil sie auch nicht wusste, wie man ihm helfen könnte.

Manchmal hatte sie ja sehr gute

Ideen, aber in Bezug auf Eddy fiel ihr gar nichts ein, denn von ihm wusste sie ganz wenig. Über seine Herkunft sprach auch Inge Auerbach nicht, nachdem Margret Pahl sie eingeweiht hatte. Das alles war ein wenig zu problematisch.

Eine Woche war ins Land gegangen, als Margret Pahl von Dr. Rückert angerufen wurde.

Er hatte den Aufenthaltsort von Daniel Batton ziemlich schnell herausgefunden. Zur allgemeinen Überraschung lebte er in Deutschland.

Dr. Rückert fragte Margret, ob sie ihm schreiben wolle oder ob er dies für sie tun solle.

Sie entschied sich für das letztere. Sie wusste einfach nicht, was sie diesem Mann schreiben sollte, und sie fürchtete auch eine negative Antwort. Ja, sie hatte Angst davor, dass Daniel Batton nicht anders reagieren würde als Florence. Er war ahnungslos, dass er der Vater eines Sohnes war, dessen Mutter ihn in einer schlimmen Zeit verlassen hatte.

Schlecht könne es ihm jetzt nicht mehr gehen, hatte Dr. Rückert gesagt. Er wäre als Chefkonstrukteur in einer großen Autofabrik tätig. Viel mehr wusste er allerdings nicht, und so brachen für Margret unruhevolle Tage an, bis eine Antwort von Daniel Batton kam.

*

Daniel Batton bewohnte ein Zweizimmerappartement in einer modernen Wohnsiedlung. Seit drei Jahren lebte er in der westdeutschen Großstadt, für sich allein und nur für seinen Beruf, der ihn restlos ausfüllte.

Es hatte viel gegeben, womit er fertig werden musste. Seine schwere Verletzung nach dem Unfall hatte ihn Monate ans Bett gefesselt.

Mit äußerster Energie, die ihn immer ausgezeichnet hatte, und einem zähen Lebenswillen hatte er die Folgen nach mehreren Operationen überstanden. Nur ein paar Narben in seinem schmalen Gesicht, an den Armen, am Körper und an den Beinen erinnerten noch daran.

Er war ziemlich groß, schlank, hatte mittelblondes Haar, das schon von vielen silbergrauen Fäden durchzogen war, ein sehr herbes, kühnes Gesicht mit tiefliegenden dunklen Augen, einer schmalen, leicht gebogenen Nase und einem gut geschnittenen Mund.

An diesem Morgen war er länger daheim, weil er eine Geschäftsreise antreten musste. Deshalb traf ihn der Postbote an, der ihm einen Einschreibebrief brachte.

»Dr. Heinz Rückert, Rechtsanwalt und Notar, Hohenborn«, lautete der Absender. Er hatte diesen Namen nie gehört und konnte sich auch keine Vorstellung machen, wo dieses Hohenborn lag.

Geschäftlich gab es bei ihm niemals Schwierigkeiten, dazu war er viel zu korrekt, und ein Privatleben hatte er schon lange nicht mehr.

Langsam öffnete er den Umschlag. Sein Gesicht wurde blass, als er diesen Brief las. Seine schmalen Hände zitterten leicht. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, weil er nicht begreifen konnte, was da stand.

Er hatte einen Sohn! Florence hatte ihn zur Welt gebracht, und mit vorsichtigen Worten teilte ihm dieser Dr. Rückert mit, dass sie das Kind seit der Geburt nicht mehr gesehen hätte. Emy Landell hatte es aufgezogen.

Er konnte sich gut an Emy Landell erinnern, obgleich er sie nur zweimal flüchtig gesehen hatte. Florence war bezüglich ihrer Familie immer eigenartig gewesen, deren Lebensstil sie spießig und überholt fand. Aber Florence war damals für ihn über jede Kritik erhaben gewesen. Er hatte sie geliebt und mit allen Fehlern und Schwächen, blind und taub gegen jede Mahnung seiner Freunde. Jetzt hatte er weder Freunde noch eine gute Erinnerung an Florence, aber vergessen hatte er sie nie.

»Ich habe einen sechsjährigen Sohn und wusste nichts von ihm«, sagte er laut vor sich hin, als müsse er es sich erst einprägen. Dann schlug die Biedermeieruhr, die ein liebes Erinnerungsstück an seine Mutter war.

Guter Gott, er musste ja Patricia Rendek abholen, seine Sekretärin, die ihn auf der Geschäftsreise begleiten sollte. Er hatte gesagt, dass er um zehn Uhr bei ihr sein wollte, und jetzt war es schon zehn Uhr.

Das Telefon läutete. Es war Patricia. Ihre weiche dunkle Stimme tönte an sein Ohr. Sie fragte besorgt, ob etwas dazwischengekommen sei.

Ja, es war etwas dazwischengekommen, was ihn Zeit und Pflichten vergessen ließ, aber den Grund konnte er ihr nicht sagen.

Er nahm zu der lahmen Ausrede Zuflucht, dass seine Uhr stehen geblieben sei. Er würde jetzt sofort kommen.

Patricia behielt den Hörer noch ein paar Sekunden in der Hand. Daniel Batton war die Zuverlässigkeit in Person. Sie glaubte ihn genau zu kennen, auch den Tonfall seiner Stimme, und ihr ging es durch den Sinn, dass nicht eine stehen gebliebene Uhr an seiner Verspätung schuld sei.

Eine Viertelstunde später stand er mit seinem Wagen vor ihrer Tür. Auch jetzt noch bevorzugte er rassige Sportwagen. Er fuhr keine Rennen mehr, aber wenn es darum ging, etwas zu verbessern und es dann selbst zu erproben, scheute er nicht zurück.

Patricia setzte sich nach einem kurzen kollegialen Händedruck neben ihn. Ihr Koffer wurde auf dem schmalen Rücksitz verstaut. Daniel wollte jetzt keine Zeit mehr verstreichen lassen, denn eine ziemlich weite Strecke lag vor ihnen.

Sie sah, dass er beunruhigt war. Dazu brauchte er gar nichts zu sagen. Seine Stimme klang heiser, als er sich bei ihr entschuldigte.

»Ist doch nicht der Rede wert«, sagte Patricia. Aber sie wunderte sich doch, dass er nicht wie sonst mit ihr über die bevorstehenden Verhandlungen sprach. Er hatte immer ein ganz genaues Konzept, auf das sie sich einstellen musste.

Heute dachte er an andere Dinge und immer wieder: Ich habe einen Sohn! Ihm wurde heiß und kalt dabei.

»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Patricia nun doch besorgt.

»Es ist alles okay«, erwiderte er.

Aber nichts war okay. Ihm war es, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren. Vier Tage würden sie abwesend sein, und Dr. Rückert wartete bestimmt auf eine umgehende Antwort.

Was ist das für ein Kind, dachte Daniel. Ob es Florence ähnlich sieht? Das könnte ich nicht ertragen. Natürlich werde ich für den Jungen sorgen, wenn sie sich davor drückt.

Doch dann kam ihm jäh ein anderer Gedanke. Florence hatte ihm das Kind vorenthalten. Es hatte ein Anrecht auf Eltern. Sechs Jahre war er darum betrogen worden. Darüber konnte er nicht einfach hinweggehen.

Florence würde ihm erklären müssen, warum sie das getan hatte. Solche Geschehnisse konnte man nicht mit einer Handbewegung oder ein paar Worten aus der Welt schaffen.

Sie waren schon drei Stunden unterwegs, als Daniel fragte: »Machen wir eine Pause?«

»Wie Sie wollen«, erwiderte Patricia ruhig.

Sie hatten eine kleine Stadt erreicht, und er hielt vor einem Restaurant, das ganz einladend aussah.

Sie gaben eine Bestellung auf, und dann fragte Daniel plötzlich: »Wissen Sie, wo Hohenborn liegt?«

Patricia kannte Hohenborn zufällig. »Ein kleiner Ort in Süddeutschland am Sternsee«, sagte sie. »Dort sind die Münster-Werke. Ich weiß es, weil ich in meiner vorigen Stellung manchmal mit ihnen korrespondiert habe. Haben wir jetzt auch Verbindung mit den Münster-Werken?«

»Nein«, entgegnete er lakonisch und zwang sich, wieder von der Arbeit zu sprechen.

»Es wird ziemlich anstrengend werden«, sagte er, »aber vielleicht werden wir doch früher fertig. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Fräulein Rendek, wenn wir dann über Hohenborn fahren würden? Ich habe dort eine Privatangelegenheit zu erledigen.«

»Mir macht es nichts aus«, antwortete Patricia. »Sie sind der Chef.«

Ihm fiel auf, dass sie dies von Zeit zu Zeit immer wieder betonte.

»Den Chef wollen wir doch nicht so sehr betonen«, sagte Daniel ruhig. »Ich denke, dass man uns als ein recht gut eingespieltes Team bezeichnen kann. Was würde ich ohne Sie machen, Fräulein Rendek?«

»Oh, ich bin bestimmt zu ersetzen«, entgegnete Patricia leichthin.

»Eines nicht zu fernen Tages wird man Sie mir doch wegheiraten«, stellte Daniel fest.

»Das glaube ich weniger. Mir gefällt meine Freiheit!«

Da hatten sie sich wieder festgefahren.

Sie fanden es beide recht schwierig, ein privates Gespräch miteinander zu führen.

Auch die Weiterfahrt verlief wortkarg. Am späten Abend erreichten sie Salzburg, wo sich Daniel am nächsten Morgen mit ausländischen Gesprächspartnern treffen wollte.

Die Hotelzimmer waren reserviert. Sie aßen noch eine Kleinigkeit. Dann zogen sie sich bald zurück, um für den nächsten Tag fit zu sein.

Daniel dachte noch lange Zeit an das Kind, das sein Sohn sein sollte, und plötzlich kamen ihm Zweifel. Es passte eigentlich nicht zu Florence, dass sie sich wortlos aus seinem Leben fortgestohlen hatte, ohne einmal davon zu reden, dass sie ein Kind erwartete.

Er wusste nicht, wie wenig er sie gekannt hatte, dass ihr das nicht zuzutrauen war. Eher glaubte er, dass es doch noch einen anderen Mann in ihrem Leben gab, als er selbst verunglückte.

Er gestand sich in diesen Minuten nicht ein, dass er zu solchen Gedanken nur Zuflucht nahm, weil es ihn fast erdrückte, ein Kind zu haben, von dem er nichts wusste, er, der Kinder über alles liebte und sich einmal so heiß ein Kind von Florence gewünscht hatte.

*

Florence Boyd hatte an diesem Tag die amtliche Nachricht bekommen, dass ihre Mutter verstorben sei. Sie hatte vor allem ein unbehagliches Gefühl dabei, weil sie den kleinen Eddy doch nicht ganz aus ihrer Erinnerung auslöschen konnte. Aber jetzt hatte sie einen Sohn, drei Jahre alt, der sie rasch auf andere Gedanken brachte.

Kim war ein maßlos verwöhntes Kind, der Abgott seines Vaters und vergöttert von seiner noch immer schönen Mutter, die alle Schuldkomplexe, die unbewusst in ihr schwelten, damit zum Schweigen bringen wollte, dass sie stets für ihn da war.

»Daddy kommt«, rief er lauthals. »Will jetzt baden.«

Natürlich erhob auch sein stolzer Vater keine Einwände. Was Kim bestimmte, wurde gemacht.

Frank Boyd kam zunächst gar nicht auf den Gedanken, dass seine Frau heute deprimiert wirkte. Seiner Ansicht nach gab es dafür auch nicht den geringsten Grund. Wie sollte er da auf solche Gedanken kommen, denn Florence hatte alles und bekam alles, was sie sich nur wünschte. Was Frank Boyd für seine Frau und sein Kind nicht an Zeit erübrigen konnte, machte er durch Geschenke wett.

Da Mutter und Sohn sich nicht nur äußerlich, sondern auch charakterlich ähnlich waren, gaben sie sich damit auch zufrieden.

Erst als sie zu Bett gingen, sagte Florence ihrem Mann, dass sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter bekommen hätte.

»So«, meinte er. »Wir müssen doch nicht etwa zur Beerdigung fahren?«

»Sie ist schon beerdigt«, erwiderte Florence.

»Was für Differenzen hat es zwischen euch eigentlich gegeben, dass ihr keinen Kontakt hattet?«, fragte er gleichmütig.

»Wahrscheinlich hat Mutter es nicht verziehen, dass ich sie erst vor unserer Heirat in Kenntnis setzte, als diese bereits vollzogen war.«

»Schwiegermütter waren mir immer ein Gräuel«, sagte Frank. »Ich bin froh, Darling, dass du alle Brücken hinter dir abgebrochen hast. Trag Sorge dafür, dass ihr Grab anständig gepflegt wird, das sind wir wohl der Öffentlichkeit schuldig.«

Damit war der Fall für ihn erledigt. Er ahnte nicht, mit welchen Sorgen seine Frau heute einschlief. Florence hatte eine höllische Angst, dass man nun doch wegen des Kindes an sie herantreten würde, und sie fürchtete um ihr sorgloses Leben, denn Frank war in einer Beziehung unberechenbar, nämlich dann, wenn es um sie ging.

*

In einer Arbeitspause sagte Daniel am nächsten Tag zu Patricia: »Bitte, geben Sie ein Telegramm an diese Adresse auf.«

Er reichte ihr die Anschrift von Dr. Rückert. Patricia sah sie sich jetzt gar nicht an.

»Welchen Text?«, fragte sie sachlich.

»Brief erhalten, komme persönlich Donnerstag.«

Erst jetzt schaute Patricia auf die Adresse, denn sie erinnerte sich an das Gespräch vom Vortag.

Ein Anwalt! Hatte der Chef einen Todesfall in der Familie? War er deshalb so zerstreut?

Sie hatte ihm ein paarmal gewaltig Hilfestellung bei der Verhandlung leisten müssen, aber dies so geschickt getan, dass niemand es merkte. Jetzt schien ihm dies bewusst zu werden, denn er sagte: »Übrigens vielen Dank, dass Sie immer so bei der Sache waren, Fräulein Rendek. Ich bin zurzeit etwas durcheinander.«

Es wunderte sie, dass er dies so schlichtweg zugab. Sie sollte sich noch über manches wundern.

Sie waren noch früher fertig geworden, als Daniel sich vorgenommen hatte.

Alles hatte bestens geklappt, was wiederum ihn in Erstaunen setzte, denn diesmal war er nur mit halbem Herzen dabei gewesen. Allerdings war er recht strapaziert und Patricia auch. Dennoch fragte er sie höflich, ob sie an diesem Abend wenigstens noch den halben Weg nach Hohenborn zurücklegen wollten. Er hatte die Autokarte bereits studiert.

Also starteten sie. An der Grenze war keine Wartezeit. Der Abend war mild und klar und die Fahrt durch die bayerischen Berge sehr romantisch.

»Sie haben eine schöne Heimat«, bemerkte Daniel.

»Wahlheimat«, berichtigte Patricia. »Eigentlich bin ich ja Dänin.«

»Aber Sie fühlen sich wohl hier?«

»Ja, sehr. Ich lebe jetzt schon acht Jahre in Deutschland.«

»Und Ihre Angehörigen?«

»Sind in Dänemark geblieben.«

»Sie sprechen sehr gut Deutsch. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Ausländerin sind.«

Er war schon ein seltsamer Chef. Nicht mal für ihre Personalpapiere hatte er sich interessiert.

»Meine Mutter war Deutsche, und ich bin zeitweise hier in Bayern in einem Internat gewesen«, erzählte Patricia.

»Warum leben Sie hier?«, fragte er. »Verzeihung, neugierig will ich nicht sein, aber ich stelle fest, dass ich sehr wenig über Sie weiß. Wenn man schon so lange zusammenarbeitet, sollte das eigentlich anders sein.«

Patricia warf ihm einen forschenden Blick zu.

»Ich wollte selbstständig sein«, erwiderte sie offen. »Meine Eltern hatten andere Pläne mit mir, und da hielt ich es für besser, möglichst weit vom Schuss zu sein.«

Sie weiß, was sie will, dachte er. Florence hat das nie gewusst. Oder doch? Es war seltsam, dass er sich Florence gar nicht mehr so richtig vorstellen konnte, und dabei hatte er doch gemeint, sie nie vergessen zu können.

Und wie war Patricia Rendek wirklich? Er kannte sie als sehr zurückhaltende junge Dame. Sie war keines von jenen Mädchen, die auf Männerfang ausgingen. Selbst wenn sie mit ihm allein auf Reisen war, blieb sie reserviert. Sie ging auch nicht aus sich heraus, wenn sie von sich sprach.

Sie gab wohl keinem Mann eine Chance, sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Und ganz gewiss kam sie auch keinem entgegen.

Er rief sich zur Ordnung, denn es erschien ihm doch merkwürdig, dass er jetzt über sie statt über seine Probleme nachdachte.

Daniel verspürte das Verlangen, mit einem Menschen reden zu können. Aber würde Patricia Rendek überhaupt Verständnis für ihn aufbringen, wenn er über den kleinen Eddy sprach? Nein, der Gedanke war absurd. Er schob ihn von sich.

Sie fuhren jetzt durch ein hübsches Gebirgsdorf, und da es nun schon recht dunkel wurde, machte er kurz entschlossen den Vorschlag, sich hier ein Quartier zu suchen.

»Es ist schöner als in einer Stadt«, sagte er.

Das fand Patricia auch. Sie war gern in den Bergen, und sie erklärte ihm auch, dass das Internat, in dem sie zwei Jahre verbracht hatte, nicht weit entfernt von diesem Ort läge.

»Die Gegend ist mir sehr vertraut. Im Winter fahre ich gern zum Skilaufen her.«

»So sportlich?«, fragte er kurz.

Sie lachte leise. »Man braucht einen Ausgleich.«

»Treiben Sie sonst noch Sport?«, erkundigte er sich.

»Schwimmen, Reiten, Tennis«, erwiderte sie zögernd.

»Und Auto fahren?«, fragte Daniel.

»Dient für mich nur zur schnelleren Fortbewegung.«

»Ich war früher Rennfahrer«, bemerkte er beiläufig. »Bis zu einem schweren Unfall. Aber da sehe ich eine Pension, die recht hübsch aussieht.«

Er hielt an, und Patricia hatte das Gefühl, dass es ihm nicht behagte, überhaupt etwas über sich gesagt zu haben.

Sie bekamen zwei hübsche Zimmer mit Blick zum Wendelstein. Das Essen war sehr schmackhaft und so reichhaltig, dass Patricia danach nicht gleich schlafen gehen wollte.

Sie machte sich auf den Weg, um noch frische Luft zu schöpfen. Weit war sie nicht gekommen, als Daniel auf anderem Weg mit ihr zusammentraf.

»Es ist gut, sich ein bisschen die Füße zu vertreten«, bemerkte er. »Die Luft ist herrlich.«

»Und laufen ist gesünder als Auto fahren«, sagte Patricia lächelnd.

Sie gingen nebeneinander weiter und wunderten sich beide, wie leicht sie miteinander reden konnten. Eines ergab das andere.

Plötzlich sagte Daniel: »Darf ich Sie etwas fragen, Fräulein Rendek?«

»Bitte, wenn Sie glauben, dass ich eine Antwort darauf weiß?«

»Es ist eine sehr komplizierte Angelegenheit, die mich sehr beschäftigt. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.«

Guter Gott, war es nicht zu gewagt, davon anzufangen? Das war doch nun wirklich eine Angelegenheit, mit der er allein fertig werden musste.

»Nein, es ist besser, wenn ich Sie mit meinen Privatangelegenheiten nicht belästige«, bemerkte er leise.

Patricia spürte, wie er mit sich rang, wie etwas ihn quälte.

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen könnte, würde ich es gern tun«, sagte sie. »Sie brauchen nicht zu fürchten, dass ich indiskret sein werde.«

»Das weiß ich. So weit kenne ich Sie doch schon«, entgegnete Daniel. »Ich werde sehen, was sich in Hohenborn ergibt.«

Jedenfalls ist es etwas, was nicht abgeschlossen ist, sondern noch eine Entscheidung verlangt, dachte Patricia. Eine sehr schwere Entscheidung, wie es scheint.

*

Sie waren dann zurückgegangen, und am nächsten Morgen, als sie aufbrachen, war Daniel ziemlich verlegen.

»Bitte, seien Sie mir nicht böse, dass ich gestern so redete«, sagte er.

»Warum sollte ich das? Es gibt Situationen, in denen man ein Gespräch braucht.«

»Wenn man etwas aber selbst nicht begreift, wie sollte es dann ein anderer Mensch begreifen.«

»Vielleicht deshalb, weil er objektiver urteilen kann«, erwiderte Patricia.

Sie erfuhr jedoch nichts. Sie waren gegen elf Uhr in Hohenborn. Daniel war sichtlich nervös.

»Brauchen Sie mich?«, fragte Patricia.

Er schüttelte geistesabwesend den Kopf.

»Dann werde ich mir die Stadt ansehen«, sagte sie.

»Sie können meinen Wagen nehmen, wenn Sie wollen«, schlug er vor.

Patricia lächelte. »Nein, lieber nicht. Ich bummele ein bisschen herum. Wie lange werden Sie brauchen?«

»Das lässt sich noch nicht sagen. Verbleiben wir so, dass wir uns gegen ein Uhr zum Mittagessen treffen, dort in diesem Restaurant.«

Er deutete auf die »Tessiner Stuben«, in denen schon manche schicksalhafte Entscheidung getroffen worden war. Doch das wusste Daniel Batton nicht.

*

Dr. Rückert hatte das Telegramm bekommen und sich den Donnerstag für Daniel Batton reserviert.

Als ihm Daniel Batton gemeldet wurde, atmete er erleichtert auf. Dieser Mann wich wenigstens den Problemen, die auf ihn zukamen, nicht aus. Es beruhigte Dr. Rückert, dass Daniel Batton anders geartet schien als Eddys Mutter.

Sie begrüßten sich knapp und formell. Es gab ein gegenseitiges Abtasten.

»Ihr Schreiben hat mich in Bestürzung versetzt«, begann Daniel stockend. »Ich wäre sofort gekommen, hatte aber eine dringende Geschäftsreise. Missverstehen Sie mich bitte nicht, aber ich möchte doch fragen, ob kein Zweifel besteht, dass dieser Junge mein Sohn ist.«

»Nach den Unterlagen, die Frau Landell bei ihrem Tod hinterließ, bestehen kaum Zweifel«, erwiderte Dr. Rückert, »es sei denn, dass Florence Landell ihrer Mutter nicht die Wahrheit sagte. Ich verstehe Sie sehr gut, Herr Batton. Es ist eine Überraschung, wenn man plötzlich erfährt, dass man einen sechsjährigen Sohn hat. Eine Verantwortung für Eddy brauchen Sie sich unter den gegebenen Umständen nicht aufzwingen zu lassen.«

»Selbstverständlich werde ich die Verantwortung für dieses Kind übernehmen, wenn es mein Sohn ist«, sagte Daniel rasch. »Es ist mir jedoch unbegreiflich, dass Florence sich so verhalten hat.«

»Es wird am besten sein, wenn Sie die Aufzeichnung von Frau Landell lesen«, meinte Dr. Rückert nach kurzem Überlegen.

Er fühlte sich außerstande, diesem gradlinigen Mann davon zu sprechen, was Florence Landell tatsächlich zu ihrer Trennung veranlasst hatte.

Daniel brauchte einige Zeit, bis er alles gelesen hatte. Es ging ihm arg zu Herzen. Dr. Rückert hatte ihn glücklicherweise allein gelassen, sodass er seinen Empfindungen mit einem Stöhnen freien Lauf lassen konnte.

Diese Frau, diese Florence, hatte er geliebt? Herrgott, konnte es denn möglich sein, dass man sich so sehr in einem Menschen täuschte? Dass sie ihn im Stich gelassen hatte, gut! Er hatte sich hundertmal gesagt, dass sie zu jung gewesen sei, um eine solche Bürde mit ihm zu tragen. Er hatte ihr Verhalten immer zu entschuldigen versucht. Dass sie aber diesem Kind gegenüber so hartherzig sein konnte, wollte ihm nicht in den Sinn.

Es war schon kurz vor ein Uhr, als er sich so weit wieder gefasst hatte, dass er noch ein paar Worte mit Dr. Rückert wechseln konnte.

Er wollte Eddy sehen, und dann musste er Pläne machen für eine Zukunft mit dem Kind. Die Zweifel mussten schweigen. Eddy musste wenigstens einen Vater haben.

*

Er kam mit einer Viertelstunde Verspätung in den »Tessiner Stuben« an. Fast hätte er die Verabredung mit Patricia ganz vergessen, doch sie wartete geduldig und winkte lächelnd ab, als er sich überstürzt entschuldigte. Dass er dann aber keinerlei Appetit zeigte, befremdete sie doch.

»Sorgen?«, fragte sie spontan.

»Mächtige Sorgen«, erwiderte er. »Ich werde meinen Sohn zu mir nehmen müssen, weiß aber nicht, wie ich das bewerkstelligen soll und mit meinem Beruf in Einklang bringen kann.«

Er hatte einen Sohn! Patricia war verblüfft, hatte sich aber so unter Kontrolle, dass sie ihr Befremden nicht zeigte.

»Wie alt ist er denn?«, fragte sie beiläufig.

»Sechs Jahre«, antwortete Daniel gedankenverloren. »Ich werde ihn heute Nachmittag besuchen.«

Patricias Gedanken überstürzten sich.

Daniel Batton hatte sich erkundigt, wo Hohenborn liegt.

Also hatte er bis zu diesem Tag keine Ahnung gehabt, in welcher Gegend sein Sohn sich aufhielt.

Es war alles ein bisschen merkwürdig, aber schließlich war das nicht ihre Angelegenheit.

»Ich habe bis vor ein paar Tagen nicht gewusst, dass ich einen Sohn habe«, erklärte Daniel nun, die Serviette in seiner Hand zerknüllend »Verzeihen Sie mein merkwürdiges Benehmen, Fräulein Rendek.«

»Sie brauchen sich nicht dauernd zu entschuldigen«, sagte Patricia verständnisvoll.

»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Mein Gott, welche Vorstellung muss dieses Kind von seinem Vater haben.«

Es war wohl mehr ein Selbstgespräch, das er führte, und er sah so hilflos aus, dass ein warmes Mitgefühl Patricia ergriff.

»Ich kenne die Zusammenhänge nicht«, bemerkte sie, »aber nun wird Ihr Sohn sich ja bald eine Vorstellung von Ihnen machen können.«

»Ich habe nichts von ihm gewusst«, äußerte er wieder geistesabwesend. »Ich habe ihn nie gesehen. Was sagt man zu einem Kind, das allein ist auf der Welt? Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme und mich um dich kümmere, aber man hat mir gerade erst mitgeteilt, dass es dich gibt?«

»Nein, das werden Sie gewiss nicht sagen«, meinte Patricia.

»Aber wie soll man es ihm denn erklären? Liebe Güte, wieso sage ich Ihnen dies alles?«

Ernsthaft sah Patricia ihn an.

»Wollten Sie nicht schon gestern Abend darüber sprechen? Dann hat Sie wohl der Mut verlassen. Ich kann mir vorstellen, dass man sich nicht gleich in eine solche Situation hineinfinden kann, aber die erste Überlegung sollte doch dahin gehen, ob Sie das Kind überhaupt mögen?«

»Ob es mich mögen wird?«, fragte Daniel heiser.

»Zumindest kann er doch mit seinem Vater ganz zufrieden sein«, sagte Patricia aufmunternd.

Daniel starrte sie an.

»Meinen Sie das ehrlich?«

Sie errötete unwillkürlich. »Aber gewiss.«

»Ich bin für ihn ein Fremder«, fuhr Daniel mit schwerer Stimme fort. »Er hat keine Ahnung, wer seine Eltern sind. Ich werde Ihnen das später vielleicht doch erklären. Ich muss einfach mit einem Menschen darüber sprechen, der mich kennt. Sie halten mich doch wohl nicht für einen gewissenlosen Lumpen?«

»Nein«, erwiderte Patricia mit fester Stimme. »Wenn Sie es unbedingt hören wollen, Herr Batton, ich halte Sie für einen Gentleman.«

Er ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen.

»Danke«, sagte er rau.

*

Dr. Rückert hatte Margret Pahl angerufen und sie verständigt, dass Daniel Batton am frühen Nachmittag kommen würde. Er hatte ihr gesagt, dass er einen guten Eindruck von ihm hätte, Batton aber ziemlich mitgenommen sei. Es wäre vielleicht doch besser, Eddy auf seinen Vater vorzubereiten.

Das war für Margret nun auch nicht so einfach. Eigentlich hatte sie nicht viel Hoffnung gehabt, dass Daniel Batton Interesse für das Kind zeigen würde. Bestenfalls, so hatte sie gemeint, würde er sich zu Unterhaltszahlungen bereit erklären. Nun kam er höchstpersönlich und schon so bald.

Eddy war im Garten und spielte mit den beiden kleinen Kätzchen, die Astrid ihm vom Gut herübergebracht hatte. Margret hörte, wie er zärtlich mit ihnen sprach, und es tat ihr leid, ihn nun aus diesem besinnlichen Spiel herausreißen zu müssen.

»Bin ich zu laut, Tante Margret, oder stören die Kätzlein?«, fragte er sofort.

»Beides nicht, Eddy. Ich muss etwas mit dir besprechen. Das heißt, ich muss dir etwas erzählen«, berichtigte sie sich rasch.

»Etwas Schönes?«, fragte er erwartungsvoll. »Darf ich Bambi besuchen?«

»Nein, es ist etwas anderes. Du bekommst Besuch.«

Seine Augen weiteten sich staunend.

»Ich bekomme Besuch? Von wem denn?«

Sie legte ihren Arm um die schmalen Kinderschultern. Was sollte sie lange herumreden. Auch Umschreibungen konnten die Tatsachen nicht verändern oder abschwächen. Es würde so oder so ein einschneidender Augenblick in seinem Leben sein, der Freude oder Widerstand herausforderte.

»Dein Vater kommt«, sagte sie leise.

Eddy hielt den Atem an. Man spürte es. Er machte sich ganz steif.

»Habe ich denn einen Vater?«, fragte er nach endlos scheinenden Sekunden.

»Einen Vater hat jedes Kind, Eddy«, erwiderte Margret gepresst.

»Und eine Mutter auch. Kommt meine Mutter nicht?«

»Ich weiß es nicht, Eddy. Dein Vater wird dir alles erklären, denke ich.«

Eddy blickte sie mit großen Augen an.

»Warum hat mein Vater mich nicht früher besucht? Wollte Granny das nicht?« Er suchte sich schon selbst Erklärungen. »Aber Granny hat mir nie von ihm erzählt. Auch von meiner Mutter nicht. War Granny die Mutter von meinem Vater oder von meiner Mutter, Tante Margret? Bambis Omi ist die Mutter von ihrer Mami, das weiß ich nämlich schon.«

Es war für Margret Pahl eine willkommene Unterbrechung, als sie ans Telefon gerufen wurde. Eddy blieb seinen Gedanken überlassen. Seine runde Kinderstirn hatte sich in Falten gelegt. Es war ihm anzusehen, wie angestrengt er nachdachte.

Tante Margret telefonierte immer noch, als Eddy ein Auto nahen hörte. Sein kleines Herz begann wild zu klopfen, und er lief zur Tür.

Sonst war er scheu und ging jedem Besucher aus dem Weg, aber an diesem Tag war er von einer unheimlichen Spannung erfüllt. Es war keine Freude, aber auch keine Angst. Er war nur von dem Gefühl bewegt, dass er auch einen Vater hatte.

Endlich, endlich würde er vielleicht Antwort bekommen auf all diese Fragen, die ihn mehr und mehr bewegten, seit er mit den Kindern in Erlenried beisammen war.

Das Auto hielt. Eddy lugte durch den Türspalt. Es war ein schönes Auto. Es beeindruckte ihn schon ein bisschen, als der große blonde Mann ausstieg und sich suchend umblickte. Eddy hörte Tante Margrets Stimme.

»Ich glaube, es kommt jemand«, sagte sie. »Ich muss jetzt Schluss machen. Bleibt gesund, Tessa. Auf baldiges Wiedersehen!«

Eddy wusste, dass Tante Margret mit ihrer Tochter telefoniert hatte, die mit ihrer Familie auf Schloss Mardersteg wohnte. Auf einem richtigen Schloss. Tante Margret hatte ihm versprochen, dass sie bald einmal dorthin fahren würden, aber jetzt dachte er nicht daran. Er starrte nur den Mann an. Und dann schob er sich durch die Tür.

Im Sonnenwinkel Classic 40 – Familienroman

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