Читать книгу Dr. Norden Classic 43 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Haben Sie einen Termin?« Wendys Stimme war freundlich wie immer, und ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie die Frau aufmerksam musterte, die eben an den Tresen der Praxis Dr. Norden getreten war. An diesem Nachmittag erwartete die langjährige Assistentin keine Patientin mehr. Deshalb war sie umso neugieriger, welches Anliegen die hübsche junge Frau mit der braunen Kurzhaarfrisur und der Stupsnase in die Praxis führte. »Wenn Sie mir bitte Ihren Namen sagen …«

»Ich glaube kaum, dass Dr. Norden mich in den normalen Kalender eingetragen hat«, gab Brigitte Beer belustigt zurück, als Danny Norden durch den Flur ging.

Er begleitete einen Patienten zur Tür, und sein Blick streifte die Besucherin am Tresen. Als er zurückkehrte, leuchteten seine Augen erwartungsvoll.

»Bitsi, bist du das?«, fragte er sichtlich überrascht.

Die Besucherin maß den jungen Arzt einen Moment lang ungläubig, ehe sie laut auflachte.

»Mensch, Danny, das gibt’s ja nicht! Was machst du denn hier?«

Dr. Nordens treue Assistentin Wendy und ihre Freundin und Kollegin Janine tauschten vielsagende Blicke, während auch Danny lachte.

»Na, arbeiten. Ich bin Arzt wie mein Vater. Wusstest du das nicht?« Im selben Moment bereute er seine Frage und er schüttelte den Kopf über seine eigene Gedankenlosigkeit. »Wie dumm von mir. Wir haben uns seit bestimmt zehn Jahren nicht gesehen. Woher solltest du auch wissen, was ich jetzt mache?«

»Stimmt auffallend«, gab Brigitte vergnügt zurück. »Zumal du offenbar auch keine Ahnung davon hast, dass ich in das Geschäft meines Vaters eingestiegen bin.«

»Lass mich raten!« Danny musste nur einen kurzen Moment nachdenken. Ein spitzbübisches Lächeln auf dem Gesicht deutete er mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze seiner ehemaligen Mitschülerin. »Du hast eine Ausbildung zur Malerin und Lackiererin gemacht.«

»Hey, das weißt du noch?« Bitsi freute sich sichtlich darüber, dass der gutaussehende Arztsohn sie nicht vergessen hatte.

»Warum auch nicht?«, fragte er überrascht. »Schließlich warst du der Schwarm aller Jungs in der Klasse. Abgesehen davon, dass du schon immer wahnsinnig hübsch warst, hat dich jeder für deinen Mut und deine Abenteuerlust bewundert. Einfach das Gymnasium zu schmeißen, um eine Lehre zu machen, noch dazu in einem Männerberuf … eine richtige Amazone … das war schon was …«

Bescheiden und ein bisschen verlegen angesichts der schmeichelhaften Komplimente winkte Brigitte ab.

»Ach was! Ich finde es viel toller, dass du auch Arzt geworden bist.« Sie musterte Dannys weißen Kittel mit offenkundiger Bewunderung. »Steht dir gut, deine Uniform.«

»Vielen Dank. Aber du siehst auch toll aus«, gab der junge Arzt das Kompliment postwendend zurück und meinte es auch so. Tatsächlich war aus der burschikosen Bitsi eine regelrechte Augenweide geworden. Die harte Arbeit hatte ihren Körper trainiert wie den einer Sportlerin, und ihre schön geschwungenen Lippen strahlten mit ihren grünen Augen um die Wette. »Und gar nicht krank!«, entfuhr es ihm, als er am Ende seiner Betrachtung angelangt war.

»Das bin ich auch nicht.« Mit einer lässigen Handbewegung fuhr sich Brigitte durchs braune Haar. Ganz offensichtlich machte sie nicht viel Aufhebens um ihr Aussehen. Ihre Natürlichkeit wirkte sehr anziehend. »Dein Vater hat mich angerufen. Es geht um einen Auftrag.« Ihr prüfender Blick wanderte durch den Flur und an den Wänden entlang. »Ich soll die Praxisräume streichen.«

»Ach, wirklich?« Diese Nachricht war in der Tat überraschend für Danny. »Das wusste ich gar nicht.« Er wandte sich an Wendy und Janine, die sich beide den Anschein gaben, in ihre Arbeit vertieft zu sein. Tatsächlich lauschten sie dem Gespräch aufmerksam.

»Wussten Sie davon?«, fragte er aufs Geratewohl.

»Also, ich hatte keine Ahnung«, erwiderte Janine wahrheitsgemäß, doch Wendy erinnerte sich tatsächlich, dass Daniel Norden zwischen Tür und Angel den Besuch der Malerin angekündigt hatte.

»Ich glaube, der Chef wollte es noch nicht an die große Glocke hängen, weil es zunächst um ein Angebot geht«, sagte sie und hob den Telefonhörer, um Brigitte Beer anzukündigen.

Während sie Dr. Norden Bescheid gab, lächelte Danny seine Jugendfreundin versonnen an.

»Das ist ja wirklich lustig, dass du ausgerechnet jetzt auftauchst. Ich bin nämlich auch gerade beim Renovieren.«

»Ach, wirklich? Vielleicht hast du deinen Vater ja auf die Idee gebracht.« Bitsi betrachtete ihn mit unverhohlenem Interesse. Es war nicht zu übersehen, dass ihr gefiel, was sie sah. »Wenn du Hilfe brauchst, musst du es nur sagen.«

»Das ist echt nett von dir. Aber ich glaube, das bekommen meine Freundin und ich schon allein hin.«

Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Schatten über Brigittes Gesicht. Während sich Danny noch fragte, ob er richtig gesehen hatte, strahlte sie aber schon wieder.

»Wie du willst. Aber falls du doch fachmännische … ich meine fachfrauliche Unterstützung brauchst … hier ist meine Nummer.«

Bitsi zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Danny. Als sich ihre Fingerspitzen berührten, zuckten sie beide zusammen. Sie lachten gleichzeitig.

»Danke. Aber ich glaube wirklich, dass wir das allein schaffen«, wiederholte Danny sichtlich verlegen, als Wendy auflegte und der Malerin mitteilte, dass sie von Dr. Norden Senior erwartet wurde.

Bitsi bedankte sich, blinzelte Danny verschwörerisch zu und folgte dann Janine, die bereitwillig aufgestanden war, um ihr den Weg zu weisen.

Einen Moment lang stand der junge Arzt in Gedanken versunken da und sah seiner Jugendfreundin nach. Ganz kurz schien es ihm, als wäre er immer noch der Zehntklässler, der er damals gewesen war, blind vor Liebe zu dem frechen, selbstbewussten Mädchen, das schon so früh gewusst hatte, welchen Weg es einschlagen wollte. Doch dieses Gefühl verflog so schnell wieder, wie es gekommen war, und als das Telefon klingelte und Wendy einen Anruf von Tatjana ankündigte, kehrte er schlagartig in die glückliche Gegenwart zurück. Erfreut eilte Danny Norden in sein Zimmer, um mit der großen Liebe seines noch so jungen Lebens zu sprechen.

*

Doch wie so oft in letzter Zeit war das Telefonat mit Tatjana alles andere als eine Freude. Die Ausbildung zur Bäckerin und Konditorin, die sie nach ihrem Studium begonnen hatte, machte ihr zwar viel Spaß. Doch seit Danny an seiner Doktorarbeit saß und zu allem Überfluss auch noch Tatjanas Chefin Hilde Bärwald für unbestimmte Zeit ausfiel, ging alles drunter und drüber. Zu allem Überfluss hatte Frau Bärwald eine Vertretung besorgt, die nicht gut auf Tatjana zu sprechen war.

»Diese Schnepfe treibt mich noch in den Wahnsinn«, beschwerte sie sich bei ihrem Freund. »Mir fehlen noch so viele Sachen für meine Abschlussprüfung. Ich muss ja nicht nur Sauerteigbrot herstellen können, sondern auch Kleingebäck unterschiedlicher Teige und Formen, Backwarensnacks, Partykleingebäck oder kleine Gerichte, feine Backwaren aus verschiedenen Teigen und Cremes oder eine Torte. Aber davon will diese Dorothee nichts wissen. Stell dir vor, sie hat unser gesamtes Sortiment umgestellt und die Hälfte meiner Kreationen einfach rausgenommen.« Tatjana war so wütend, dass sie trotz ihrer Erschöpfung keine Ruhe fand. Während sie mit Danny telefonierte, wanderte sie rastlos in ihrer kleinen Studentenbude auf und ab. Dabei musste sie aufpassen, dass sie sich nirgendwo anstieß. Überall standen halb gepackte Kisten, und das Chaos angesichts des demnächst geplanten Umzugs war riesig. »Jetzt darf ich nur noch einfache Brötchen backen und Teigrohlinge und Fertigblätterteig in den Ofen schieben.«

»Das wird Hilde aber gar nicht gern hören.« Danny konnte den Ärger seiner Freundin nur zu gut verstehen. Schließlich war es ihr und ihrer Kreativität zu verdanken, dass die kleine Bäckerei mit dem angeschlossenem Café eine neue Blüte erlebte.

Unwillig schnaubte Tatjana in den Hörer.

»Nicht nur Hilde. Ich mache die Ausbildung, damit ich das Geschäft demnächst übernehmen kann. Was, wenn am Ende nichts mehr davon übrig ist, weil Dorothee die Kunden vergrault hat?«, stellte sie eine berechtigte Frage.

»Glaubst du wirklich, dass es so schlimm kommt?«, versuchte Danny, seine Freundin ein wenig zu beruhigen.

»Wenn Hilde … ich meine Frau Bärwald nicht bald zurückkommt, können wir bald dicht machen«, prophezeite Tatjana düster. »Die Kunden beschweren sich schon jetzt, dass die Vanille-Schnecken fad schmecken und die Brötchen schon nach ein paar Stunden nicht mehr frisch sind.«

Danny saß an seinem Schreibtisch und betrachtete nachdenklich das Foto seiner Freundin. Es zeigte eine außergewöhnliche, fröhliche junge Frau mit blondem Haarschopf und dunkelblauen, geheimnisvollen Augen, die jeden betörten, der ihren Blick einfing. Während Tatjana ihm ihr Leid klagte, hatte Danny einen kurzen Augenblick lang den Eindruck, als lägen diese Zeiten lange zurück. Dabei war das Foto gerade erst ein paar Monate alt, aufgenommen bei einer Familienfeier auf der Insel der Hoffnung. Seither hatte sich vieles verändert und nicht gerade zum Besten, wie er unwillig feststellte.

»Und was, wenn du dich auf das konzentrierst, was für dich im Augenblick wichtig ist?«, machte er einen behutsamen Vorschlag.

»Das würde ich ja gerne.« Tatjana, die sich einen Moment lang auf die äußerste Kante ihres kleinen Sofas gesetzt hatte, sprang wieder auf und setzte ihren rastlosen Marsch fort. »Vor allen Dingen muss ich mich mit meinen Gesellenstücken beschäftigen. Leider funkt mir diese Dorothee ständig dazwischen. Außerdem findet sie meine Idee total bescheuert.«

Obwohl Danny die Stellvertreterin nicht persönlich kannte und es vorzog, sich ein eigenes Urteil zu bilden, wurde ihm Dorothee immer unsympathischer. Vor allen Dingen auch deshalb, weil sie dafür verantwortlich war, dass seine Freundin die Abende statt bei ihm in ihrer Küche verbringen musste, um dort ihre Versuche zu machen.

»Deine Idee mit dem essbaren Schmuck ist toll!«, unterstützte er Tatjana nach Leibeskräften. »Offenbar hat diese Dorothee wirklich keine Ahnung.«

»Sag ich doch!« Dass ihr Freund zu ihr hielt, stimmte die sehbehinderte junge Frau etwas milder. »Übrigens musst du dir unbedingt meine gebackenen Ohrringe ansehen. Ich glaube, sie sind ganz gut geworden.«

»Mit Sicherheit sind sie einzigartig.« Wenn Danny an die Kreationen dachte, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte, stieg seine Bewunderung für Tatjana ins Grenzenlose. Die Kunstwerke aus Teig, die sie trotz ihrer Sehbehinderung schuf, grenzten an kleine Wunderwerke, die ein Sehender nicht schöner hätte herstellen können. Kunstvoll verzierte, filigrane Kettenanhänger aus Baiser waren ebenso Teil ihrer Kollektion wie die dünnen Ringe aus Keksteig, die – geschmückt mit Edelsteinen aus Zuckerkristallen – täuschend echt aussahen. Und nun offenbar noch Ohrringe. Obwohl die Ergebnisse schon jetzt perfekt waren, probierte Tatjana immer weiter, vervollkommnete ihre Fähigkeiten, war nie zufrieden mit dem Resultat. »Am besten zeigst du sie meiner Familie. Wie ich meine Lieben kenne, werden sie vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen sein«, prophezeite Danny.

Doch Dorothee hatte ganze Arbeit geleistet, und das Selbstbewusstsein der jungen Bäckerin war ordentlich angekratzt.

»Meinst du wirklich?«, zweifelte Tatjana ihr eigenes Talent an. »Na ja, ich hab ein paar Fotos gemacht und entwickeln lassen. Die kannst du ja mal mit in die Praxis nehmen.«

Inzwischen stand sie in der Küche und ließ die Fingerspitzen über das zarte, aber dennoch stabile Gebäck gleiten, aus dem sie die Ohrringe herstellen wollte. Allein die Entwicklung des Teiges und der silbernen und goldfarbenen Versiegelung hatte Tage in Anspruch genommen.

»Warum zeigst du sie nicht persönlich her?«, blieb Danny aber trotz allem Verständnis hartnäckig. Allmählich wurde er ungeduldig. Es gab noch andere Dinge, die er mit seiner Freundin besprechen wollte. »Übrigens lässt Mum ohnehin anfragen, ob wir heute Abend mal wieder vorbeikommen. Wir waren ja schon länger nicht mehr zum Abendessen da«, wechselte er kurzentschlossen das Thema.

Doch der Plan missglückte. Sensibel, wie sie war, hatte Tatjana den feinen ungeduldigen Unterton in seiner Stimme bemerkt.

»Ich langweile dich mit meinen Problemen, stimmt’s?«, sagte sie Danny auf den Kopf zu.

»Nein, natürlich nicht«, wehrte sich der junge Arzt entschieden und setzte sich kerzengerade am Schreibtisch auf. Das, was er im Augenblick am wenigsten brauchen konnte, war Ärger mit Tatjana. Vielmehr brauchte er ihre Unterstützung und Liebe, um mit der Doppelbelastung, die Arbeit und Doktorarbeit mit sich brachte, zurechtzukommen. »Mum hat mich nur gebeten …«

»Schieb bitte nicht deine Mutter vor«, erklärte Tatjana in einem Tonfall, den Danny nie zuvor an ihr gehört hatte.

Offenbar hatte ihre Reizbarkeit eine neue Dimension erreicht, und er konnte sich nur wundern. Im ersten Augenblick hatte er einen entsprechenden Kommentar auf den Lippen. Doch dann hielt er sich zurück.

»Jana, bitte. Was ist denn los mit dir?«, fragte er stattdessen mit einem Anflug von Verzweiflung. Eine Ahnung überkam ihn und ließ sein Herz schwer werden. »Ist es wegen dem geplanten Umzug? Willst du deine Studentenbude doch nicht aufgeben, um zu mir zu kommen?«, hielt er mit seiner Sorge nicht hinter dem Berg.

Inzwischen hatte Tatjana ihren rastlosen Marsch wieder aufgenommen.

»Doch, natürlich. Im Gegensatz zu dir halte ich mich nämlich an meine Zusagen«, erinnerte sie ihren Freund schnippisch daran, dass er jetzt schon mit seiner Dissertation begonnen und nicht wie besprochen bis zum Ende ihrer Ausbildung damit gewartet hatte. »Ich komme morgen pünktlich um sechs zu dir. Dann fangen wir an zu streichen.«

Obwohl sich Danny trotz oder gerade wegen der Unstimmigkeiten danach sehnte, sie in die Arme zu schließen, beharrte er nicht auf einem Treffen.

»In Ordnung«, gab er sich geschlagen, als er Bitsis ansteckendes Lachen auf dem Flur hörte. Offenbar war die Malerin im Begriff zu gehen und einen kurzen, heißen Moment lang bedauerte Danny es, nicht gemeinsam mit seiner Jugendfreundin dort draußen zu stehen und zu scherzen. »Dann bis morgen«, verabschiedete er sich knapp von Tatjana, um wenigstens noch den Nachhall von Bitsis Lachen zu hören.

*

Fee Norden saß am Schreibtisch in ihrem Büro in der Behnisch-Klinik und fuhr sich über die müden Augen. Ein langer, anstrengender Arbeitstag lag bereits hinter ihr, und noch war er nicht zu Ende. Deshalb beschloss sie, sich eine kurze Pause zu gönnen. Sie stand auf, streckte den schmerzenden Rücken durch und verließ ihr Büro in Richtung Schwesternzimmer. Drei Kinder kamen ihr lachend und kreischend entgegen.

»Hoppla, nicht so hastig!« Um ein Haar wäre ihr kleiner Patient Benjamin mit ihr zusammengestoßen und es war nur Fees Geistesgegenwärtigkeit zu verdanken, dass nichts passierte. Sie hielt ihn an den Schultern fest und sah in die erhitzten Kindergesichter. »Ich freu mich sehr, dass es euch schon wieder so gut geht«, sagte sie lächelnd. »Trotzdem muss ich euch bitten, dass ihr zum Toben ins Turnzimmer geht. Ihr wollt doch eure Freunde hier nicht stören, oder?«

Schuldbewusst senkten die Kinder den Blick.

»Nö. Tut uns leid!« Benjamin war der Anführer der Gruppe und übernahm auch die Antwort. »Kommt nicht wieder vor, Frau Dr. Fee!« Er wusste um seinen Charme und nutzte dieses Wissen erbarmungslos aus, indem er auch noch Fees Spitznamen benutzte, der sich bei den kleinen Patienten eingebürgert hatte.

Er verfehlte sein Ziel nicht, und Felicitas Norden lachte belustigt auf.

»Schon gut, du kleiner Racker!« Die Ärztin gab ihm einen liebevollen Klaps und schickte die Kinder weiter.

Sie sah ihnen nach, wie sie tuschelnd und kichernd und mühsam beherrscht weitergingen. Kaum hatten sie die Ecke erreicht, als sie auch schon wieder in Laufschritt verfielen.

Kopfschüttelnd und lächelnd ging auch Fee weiter und gesellte sich schließlich zu den beiden Kollegen, die bei Kaffee und Gebäck über einen Dienstplan gebeugt an einem Tisch des Schwesternzimmers saßen. Einer von ihnen war Dr. Mario Cornelius, Fees Bruder und Chef der Pädiatrie.

»Ich bin schon so oft für dich eingesprungen«, wandte sich Dr. Kohler wieder an seinen Gesprächspartner, nachdem er die allseits beliebte Kollegin mit einem Lächeln begrüßt hatte.

»Was kann ich denn dafür, dass Schwester Carina nur an diesem einen Abend Zeit hat?«, fragte Mario Cornelius unwillig. Nach monatelangem Zögern hatte er sich einen Ruck gegeben und die hübsche Lernschwester endlich um eine Verabredung gebeten. Seither wunderte sich der Chef der Pädiatrie über sich selbst. Obwohl er durchaus erfahren im Umgang mit Frauen war, blickte er dem Ereignis mit einer gewissen Nervosität entgegen. »Komm schon, hab Mitleid mit deinem armen Chef und lass ihn auch mal sein Glück versuchen.« Er schnitt eine Grimasse, und Peter Kohler musste lachen. Die beiden arbeiteten seit ein paar Jahren zusammen, und im Laufe der Zeit war eine echte Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Da Mario auch vor Fee nichts zu verbergen hatte, konnte er offen sprechen. »Du willst doch sicher nicht, dass ich als einsamer Junggeselle ende, oder?«

»Diese Verabredung scheint dir ja viel zu bedeuten«, mutmaßte Peter belustigt.

»Viel bedeuten?«, witzelte Mario. »Bist du verrückt geworden? Sie ist lebenswichtig.«

Dr. Kohler wandte sich mit fragendem Blick an Fee.

»Muss ich das verstehen? Dieser Mann ist der begehrteste Junggeselle an der Klinik und macht so ein Wesen um eine Verabredung?«

Sie zuckte mit den Schultern, als Mario sagte: »Du hast gut reden. Schließlich bist du seit Menschengedenken glücklich verheiratet und hast drei zuckersüße Kinder. selbst wenn es mir ein Rätsel ist, wie du das hinbekommen hast.« In gespieltem Unglauben schüttelte er den Kopf. »Mir dagegen ist es bis jetzt nicht gelungen, eine tolle Frau kennenzulernen, die obendrein auch noch Verständnis für meinen Job hat. Für die Nacht- und Wochenendschichten, die Überstunden, die Noteinsätze, wenn es mal wieder brennt«, zählte er die Probleme auf, mit denen ein engagierter Arzt zu kämpfen hatte. »Carina hat all diese Eigenschaften, die für eine ideale Partnerin wichtig sind. Mal abgesehen davon, dass sie auch noch lustig, hübsch und intelligent ist.«

»Oh, je, da hat es aber einen erwischt.« Grinsend verdrehte Peter die Augen, und auch Fee konnte sich angesichts der romantischen Verliebtheit ihres Bruders nur mit Mühe ein Lachen verkneifen.

Sie verfolgte die Romanze schon seit einer Weile aufmerksam und ein wenig skeptisch. Schließlich kannte sie ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass er das Leben ebenso liebte wie die Liebe und kein Kostverächter war. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht vorhatte, das Herz der süßen und allseits beliebten Lernschwester zu brechen. Oder aber, dass Carina tatsächlich klug und gewitzt genug war, um die richtigen Knöpfe bei dem begehrten Junggesellen zu drücken.

Inzwischen hatte Peter Kohler sich noch einmal über den Dienstplan gebeugt und nachgedacht.

»Wann wollt ihr euch nochmal treffen?«, fragte er und seufzte demonstrativ.

»In vier Tagen.«

»Dann schau mal zu, dass du sie rumkriegst, damit ich nicht umsonst den Dienst für dich schiebe. Und denk dran: Nur der Mann, der eine Frau wie eine Prinzessin behandelt, ist gut genug für sie.«

»Falsch!«, erntete er überraschend Widerspruch von seinem Chef. »Ich werde sie wie eine Königin behandeln.« Mario grinste frech, und augenblicklich schwiegen Fees Sorgen.

»Das war die richtige Antwort«, gab sie ihrem Bruder zufrieden recht.

Erfreut über dieses unverhoffte Lob drehte sich Mario zu Felicitas um, die am Kühlschrank lehnte und ihren Kaffee trank.

»Dann kannst du mir bestimmt auch sagen, was ich Carina zu unserer Verabredung mitbringen soll.« Seine Augen waren schmal geworden. »Ich würde ihr gern eine Freude machen. Nur eine Kleinigkeit. Aber ausgefallen muss sie sein. So ausgefallen wie sie.«

»Musst du sie etwa bestechen, damit sie mit dir ausgeht?«, platzte Peter spöttisch dazwischen.

»Nur kein Neid, mein Freund, nur kein Neid«, ließ sich Mario nicht aus der Ruhe bringen. »Ich weiß eben, wie man eine Frau beeindruckt. Also, Frau Dr. Fee? Ich warte auf Vorschläge.« Mario benutzte Felicitas Nordens Spitznamen mit voller Absicht und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Ich könnte mir schon vorstellen, dass eine kleine Aufmerksamkeit Eindruck schinden würde«, gab sie nach kurzem Nachdenken zu.

»Siehst du!« Mario schnitt eine Grimasse in Peters Richtung.

Doch der war weit davon entfernt, sich überzeugen zu lassen.

»Ein Geschenk bei der ersten Verabredung? Das finde ich übertrieben.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Aber bitte, wem’s gefällt. Schenk ihr doch einen Ring, dann weiß sie gleich, woran sie ist.« Er leerte seine Kaffeetasse und stand auf, um sie aufzuräumen. Es wurde höchste Zeit, an die Arbeit zurückzukehren.

Auch Mario stand auf.

»Ich seh schon, von dir ist keine Hilfe zu erwarten. Gleich Schmuck verschenken …« Er schüttelte den Kopf, und Peter lachte. Den beiden machte das Gespräch ebenso viel Spaß wie Fee, die dankbar war für die willkommene Ablenkung.

Keiner der drei hatte Carina bemerkt, die im Begriff war, das Schwesternzimmer zu betreten. Eigentlich war es nicht ihre Art zu lauschen. Trotzdem hielt sie inne. »Carina ist glücklicherweise nicht der Typ Frau, der gesteigerten Wert auf Schmuck legt«, erklärte Dr. Cornelius entschieden. »Schon gar nicht bei einem ersten Date. Das ist ja auch so eine Sache, die mir an ihr gut gefällt.« Er folgte dem guten Beispiel des Kollegen und räumte seine Tasse ebenfalls in die Spülmaschine.

Diesen Moment nutzte die Lernschwester, um auf sich aufmerksam zu machen.

»Da bin ich aber froh, dass ich Ihren Ansprüchen genüge«, erklärte Carina keck und blinzelte Mario zu.

Schlagartig wurde er verlegen und wendete sich schnell ab. Doch Peter Kohler ritt der Teufel. Wenn er schon Mario Cornelius‘ Schicht übernehmen sollte, wollte er wenigstens seinen Spaß haben.

»Sie sind nur zu schüchtern, um ihm zu widersprechen«, sagte er der Lernschwester auf den Kopf zu. »Jede Frau liebt Schmuck.«

»So ein Quatsch!«, setzte sich Carina so energisch zur Wehr, dass sie Fee fast leid tat. Glücklicherweise war die Lernschwester nicht ohne Grund gekommen und wechselte schnell das Thema. »Juwelen hin oder her: Die Oberschwester schickt mich. Wir bekommen gleich einen kleinen Patienten aus der Notaufnahme und brauchen einen Arzt. Wenn sich einer der Herren dazu aufraffen könnte …«

Bevor sich eine der beiden Ärzte zu Wort melden konnte, traf Fee die Entscheidung.

»Ich bräuchte Dr. Kohler noch wegen eines Falles, der mich sehr beschäftigt«, erklärte sie aufreizend lächelnd.

Mario wusste sofort, dass er seine Schwester richtig verstanden hatte.

»Natürlich!« Als er an Peter vorbei ging, raunte er ihm zu: »Du bist absolut unmöglich.«

Sein Freund lachte nur gutmütig. »Und du humorlos!«, konterte er unerbittlich.

Doch das hörte Mario Cornelius schon gar nicht mehr. Der kleine Patient war schon aus der Notaufnahme angekommen und brauchte dringend Hilfe. Für Scherze war jetzt keine Zeit mehr.

*

Schließlich und endlich hatte Tatjana Bohde auch Sehnsucht nach ihrem Freund bekommen und war am Abend doch noch zu ihm in die Wohnung gefahren. Gemeinsam hatten sie die Fotos ihres Schmucks bewundert und Danny hatte versprochen, sie am nächsten Morgen mit in die Praxis zu nehmen. Viel mehr hatte das Paar aber nicht voneinander gehabt. Danny hatte noch über seinen Unterlagen gebrütet und seine Freundin war früh ins Bett gegangen.

Wie jeden Morgen, seit ihre Chefin fort war, klingelte ihr Wecker auch am nächsten Morgen lange vor Morgengrauen. Meistens hörte Danny, wenn seine Freundin aufstand. Doch diesmal schlief er tief und fest. So kam es, dass die sehbehinderte Tatjana nur eine halbe Stunde später hinaus in den noch kühlen Morgen trat.

»Brrr, ganz schön frisch!«, murmelte sie und zog die Jacke enger um sich, ehe sie sich auf den Fußmarsch machte.

Bei einem Unfall hatte sie ihr Augenlicht verloren, konnte dank einer Operation aber wieder schemenhaft sehen. Trotzdem verließ sie sich auf ihre anderen, hypersensiblen Sinne, während sie vom Lichtkegel einer Straßenlaterne zum nächsten huschte. Eine Sirene ließ sie kurz innehalten und aufhorchen. Ein einsames Auto fuhr an ihr vorbei, und sie eilte weiter in Richtung der Bäckerei, die sie nach Ende ihrer Ausbildung als Teilhaberin übernehmen sollte. Zumindest war das der Plan gewesen, bis ihre Chefin Hilde Bärwald zu ihrer Mutter in eine andere Stadt gerufen worden war. Die alte Dame hatte einen Schlaganfall erlitten und war auf Hilfe angewiesen. Noch wusste die Chefin nicht, wann sie zurückkommen würde, und hatte Tatjana eine Stellvertreterin an die Seite gestellt. Sehr zum Leidwesen ihrer Auszubildenden, die sich gar nicht mit der mürrischen Dorothee anfreunden konnte.

»Nützt ja alles nichts«, sprach Tatjana sich selbst Mut zu. Sie stand an der rückwärtigen Tür der Bäckerei und klopfte kräftig an. Es war nicht ihre Art zu kneifen. Schon immer hatte sie sich den Herausforderungen des Lebens tapfer gestellt, auch wenn sie sich im Augenblick nicht wirklich so stark und unabhängig fühlte wie sonst. Als Dorothee öffnete, setzte sie ein Lächeln auf. »Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte sie ihre Interims-Chefin.

»Hm!« Mehr sagte Dorothee nicht. Unwillig brummend ließ sie Tatjana einfach stehen und kehrte in die Backstube zurück.

Seufzend zog die junge Frau die Tür hinter sich ins Schloss und folgte ihrer Lehrmeisterin. In der Backstube angekommen, tauschte sie die Jacke gegen eine weiße Schürze, die sie sich um die schmalen Hüften band. Sie stellte sich an ihren Arbeitsplatz und bückte sich nach dem Eimer mit Mehl. Doch ihr Griff ging ins Leere.

»Wo ist das Mehl hin?«, wandte sich Tatjana sichtlich verwirrt an Dorothee, die vor dem Eisfach stand und eine Packung tiefgefrorener Teigrohlinge herausholte.

»Da, wo es nicht ständig im Weg rumsteht.«

»Und wo ist das?«

Dorothee drehte sich um und starrte Tatjana an, als käme sie direkt von der Venus.

»Hast du keine Augen im Kopf?«, fragte sie barsch und deutete in eine Ecke.

»Keine, die so gut sehen wie Ihre.« Ärgerlich wandte sich Tatjana in die Richtung, in die Dorothee gezeigt hatte. »Für mich ist es praktischer, wenn der Eimer wieder bei mir steht.«

»Und ich habe meine Gründe, warum er das nicht mehr tut. Und wenn ich mich nicht irre, bin ich hier der Boss.« Dorothees knurrende Stimme war ärgerlich. »Übrigens kann ich Besserwisser nicht leiden.«

Tatjana biss sich auf die Lippe. Ohne weiter auf Dorothee zu achten, griff sie nach dem Eimer und zerrte ihn zurück an seinen Platz. Sie nahm eine Chromschüssel und tauchte sie in das dunkle, kräftige Mehl.

»Was machst du da?« Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten.

»Ich messe Mehl für die Walnussbrötchen ab. Wie jeden Morgen.«

»Es gibt keine Walnussbrötchen mehr. Ich hab diesen Vollkorn-Unsinn von der Liste gestrichen. Wir machen jetzt andere Sachen.« Eine Packung Teigrohlinge knallte neben dem Mehlhaufen auf die Arbeitsplatte und wirbelte eine Wolke auf.

Tatjana hustete und wedelte mit den Händen vor dem Gesicht, bis sich der feine Nebel wieder gelegt hatte.

»Aber die Walnussbrötchen verkaufen sich wie von selbst«, verteidigte sie ihre Kreation.

Doch davon wollte Dorothee nichts hören.

»Hilde hat schon gesagt, dass du deinen eigenen Kopf hast. Aber die Flausen werd ich dir ein für alle Mal austreiben«, prophezeite sie, ehe sie sich dem Blech zuwandte, auf dem sie die Tiefkühlware verteilte. »Ich bin nicht so gefühlsduselig wie Hilde und lass mich von einem Gör wie dir um den Finger wickeln.«

Seufzend fügte sich Tatjana in ihr Schicksal und atmete erleichtert auf, als es Zeit wurde, die Bäckerei für die Kunden aufzuschließen.

*

Wie fast jeden Morgen war Danny ihr erster Besucher. Lächelnd und mit den besten Vorsätzen trat er zu Tatjana an den Tresen. Diesmal sollte kein Ärger ihr Treffen trüben.

»Guten Morgen, schöne Frau, wenn ich dich sehe, geht die Sonne auf!«, begrüßte er seine Freundin mit einem ehrlich gemeinten Kompliment.

Doch nach Dorothees bitterböser Bemerkung stand es um Tatjanas Laune nicht zum Besten.

»Falls du es nicht bemerkt haben solltest: Die Sonne ist schon so lange aufgegangen, dass ich wieder müde bin«, fauchte sie wie eine Wildkatze.

Schlagartig verschwand das Lächeln aus Dannys Gesicht. Obwohl er bemerkte, dass Tatjana anders aussah als sonst – ihr sonst so schmales Gesicht wirkte auf seltsame Art und Weise füllig, fast wie angeschwollen – sprach er sie nicht darauf an, sondern machte seinem Ärger Luft.

»O Mann, da hat ja jemand mal wieder glänzende Laune«, gab er unwirsch zurück. »Sag’s doch gleich, wenn du mich nicht mehr sehen willst morgens. Dann muss ich den Umweg über die Bäckerei nicht mehr machen und kann im Geschäft neben der Praxis einkaufen.«

Wenn er gehofft hatte, seine Freundin damit nachdenklich zu stimmen, so hatte sich Danny getäuscht. Tatjana stand hinter dem Tresen, eine Papiertüte in der Hand, in die sie wahllos Vanille-Schnecken, Quarkbällchen, Plunder und andere Süßigkeiten steckte. Als die Tüte voll war, knallte sie sie auf die Theke.

»Bitte, tu dir keinen Zwang an. Dann ist das hier eben die Henkersmahlzeit. Macht sieben Euro neunzig. Auf Wiedersehen.« Ohne darauf zu warten, dass ihr Freund bezahlte, fuhr sie herum und verschwand wieder in der Backstube.

Wie vom Donner gerührt stand der junge Arzt in der Bäckerei und starrte seiner Freundin nach. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass es um ihre Liebe nicht mehr allzu gut bestellt war – ein Umstand, an dem er sich nicht ganz unschuldig fühlte. Er überlegte noch, wie er den angerichteten Schaden wieder gut machen konnte, als ein Schrei aus dem hinteren Teil des Gebäudes tönte, gefolgt von einem wütenden Kommentar.

»Meine Güte, du bist ja noch dümmer, als ich dachte!« Das war unverkennbar Dorothees schrille Hexenstimme.

Wie angewurzelt stand Danny in der Bäckerei und lauschte in die folgende ohrenbetäubende Stille.

»Tatjana?«, fragte Dorothee endlich.

Diesmal klang sie ganz anders, und das Herz des jungen Arztes begann, vor Angst schneller zu schlagen.

»Hallo? Ist alles in Ordnung?«, rief er laut.

Wieder verging ein Moment. Schließlich erschien ein Kopf in dem Rundbogen, der zur Backstube führte.

Die Bulldogge!, schoss es Danny durch den Sinn. Unwillkürlich musste er an Tatjanas Beschreibung ihrer neuen Chefin denken. Im Normalfall hätte er gelächelt; wie gut das Bild passte, das seine Freundin mit Worten gezeichnet hatte. Doch der Ausdruck auf Dorothees Gesicht war alles andere als beruhigend.

»Wer sind Sie?«, herrschte sie Danny an.

»Ich bin Daniel Norden junior. Tatjanas Freund. Stimmt was nicht mit ihr?« Vor Aufregung saß ihm ein Kloß im Hals, und seine Stimme war heiser.

»Kann man wohl sagen.« Dorothee maß ihn mit einem prüfenden Blick aus schmalen Augen. Dann winkte sie ihn plötzlich mit sich. »Kommen Sie!« Ohne auf Danny zu warten, ging sie voraus. Der junge Arzt folgte ihr mit schnellen Schritten.

»Allmählich reicht’s mir mit dieser ungeschickten Göre. Jetzt ist sie mir auch noch vor dem offenen Ofen zusammengeklappt.« Dorothee stand neben einem der großen Öfen im hinteren Teil der Backstube und blickte abfällig auf Tatjana hinab.

Die junge Frau saß auf dem Boden. Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand und war auf den ersten Blick kalkweiß im Gesicht. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Danny, dass es sich um weiße, angeschwollene Flecken handelte, die ihre Haut auch an Händen und Armen bedeckten. Tatjana atmete schwer, fast verzweifelt sog sie die Luft ein. Mit ein paar großen Schritten war Danny bei ihr.

»Um Gottes willen, Jana, was ist los mit dir?« Er kniete neben ihr nieder. Um ihr das Atmen zu erleichtern, öffnete er die oberen Knöpfe ihrer Bluse.

Feine Schweißperlen standen auf Tatjanas Stirn.

»Ich … ich krieg keine Luft«, keuchte sie und riss Mund und Augen auf.

Die Luft in der Backstube war heiß und stickig. Danny überlegte nicht lange. Er packte seine Freundin und hob sie mit einem entschiedenen Ruck hoch. Das war nicht weiter schwer, denn Tatjana war ohnehin ein Fliegengewicht. Dennoch gestaltete sich der Transport nach draußen schwieriger als gedacht. Und Dorothee dachte gar nicht daran zu helfen. Mit verschränkten Armen stand sie an die Tür gelehnt da und sah Danny dabei zu, wie er Tatjana durch die Backstube und zur Hintertür hinaus an die frische Luft zerrte. Dort angekommen, überstreckte er ihren Kopf, sodass die Luftröhre frei lag. Als Tatjana etwas leichter atmen konnte, zog er das Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer der Behnisch-Klinik.

»Bitte einen Wagen zur Bäckerei Bärwald«, sagte er erstaunlich ruhig in den Apparat und gab die Adresse durch. »Schnell!«, wies er die Kollegen noch an, als er bemerkte, wie Tatjana in seinen Armen zusammensackte. Obwohl er alle Maßnahmen ergriffen hatte, die in der Kürze der Zeit möglich gewesen waren, war sie ohnmächtig geworden.

*

»Wo bin ich?« Sichtlich verwirrt versuchte Tatjana Bohde, sich wenig später ein klares Bild von dem zu machen, was um sie herum passierte.

Sie war gerade in dem Moment wieder erwacht, als sie in die Notaufnahme der Behnisch-Klinik geschoben wurde und es herrschte ein für sie kaum entwirrbares Durcheinander an Ärzten und Schwestern. Nur eine Stimme konnte sie klar identifizieren.

»Wir sind in der Behnisch-Klinik«, erklärte Danny sanft und drückte erleichtert ihre Hand. »Wie geht es dir?« Er lief neben der Liege her, die in aller Eile in einen Behandlungsraum geschoben wurde.

Dr. Norden Classic 43 – Arztroman

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