Читать книгу Familie Dr. Norden 732 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

Оглавление

Ein herrlicher Abend neigte sich seinem Ende entgegen. Erschöpft aber glücklich blickte Camilla Rosen auf die Uhr.

»Du liebe Zeit, schon wieder beinahe Mitternacht. Es wird Zeit, daß ich ins Bett komme.«

»Du willst schon gehen?« Alice warf ihrer Tochter einen unwilligen Blick zu. Schließlich war die Premierenfeier nur zu ihren Ehren ausgerichtet worden.

»Aber, Mutti, denk doch mal dran, daß ich ab morgen jeden Abend auf der Bühne stehe. Da muß ich gut ausgeruht sein«, verteidigte sich Camilla. Fee Norden, die mit ihrem Mann Daniel bei Mutter und Tochter stand, warf ihr einen verständnisvollen Blick zu.

»Siehst du, Daniel, so ändern sich die Zeiten«, wandte sie sich dann an ihren Mann. »Heute müssen wir unsere Kinder noch ins Bett schicken. Aber in ein paar Jahren wird sich das Blatt gewendet haben.«

»Da bin ich mir doch nicht so sicher«, entgegnete Daniel zweifelnd und dachte dabei an die beiden Nesthäkchen Désirée und Christian, die ihre Eltern noch einige Zeit auf Trab halten würden. »Deshalb sollten wir uns jetzt auch auf den Nachhauseweg machen. Die Nacht wird schneller zu Ende sein, als uns lieb ist.«

»Tja, dann muß ich mich wohl fügen«, seufzte Alice ergeben lächelnd. »Auf jeden Fall war es mir eine Freude, daß Sie heute abend unsere Gäste waren. So hatten wir endlich einmal die Gelegenheit, uns für Ihre jahrelange Fürsorge zu bedanken.« Sie schenkte ihrem Hausarzt Daniel Norden einen warmen Blick aus strahlenden Augen.

»Wir müssen uns bedanken«, erklärte Fee begeistert. Sie stand noch ganz unter dem Eindruck der großartigen Theatervorstellung, bei der Camilla Rosen die weibliche Hauptrolle gespielt hatte. »Es war einfach wundervoll. Ich wünsche Ihnen mit Ihrem Stück viel Erfolg.« Fee reichte Camilla beide Hände und verabschiedete sich herzlich. Daniel tat es ihr nach, ehe er seine Frau am Arm aus dem Foyer führte. Mutter und Tochter blickten ihnen versonnen nach.

»Was für ein schönes Ehepaar«, seufzte Alice verzückt. »Ich wünschte, Brian und mir wäre ein ähnliches Glück vergönnt gewesen.«

»Man kann eben nicht alles im Leben haben. Liebe paßt nicht zu Glamour, Geld und Glanz.«

»Du bist so herzlich sachlich, Millie.« Alice bedachte ihre Tochter mit einem amüsierten Blick. »Aber warte, eines Tages wird auch dir die große Liebe begegnen. Und wie ich dich kenne, wirst auch du versuchen, beides zu vereinen, beruflichen Erfolg und Glück in der Liebe.«

»Trotzdem muß ich jetzt ins Bett, Mutti«, machte Camilla der leidigen Diskussion ein Ende. Sie küßte ihre Mutter auf beide Wangen, sah sich um, ob jemand sie beobachtete und machte sich dann heimlich aus dem Staub. Wenn sie erst anfing, sich groß zu verabschieden, würde die Nacht schnell zu Ende sein.

Zu dieser späten Stunde waren die Straßen nur noch wenig befahren. Camilla mußte ihre ganze Aufmerksamkeit aufbringen, um nicht unkonzentriert zu sein. Das gelang ihr noch gut, während sie durch die hellerleuchtete Innenstadt fuhr. Doch schließlich lichteten sich die Häuser, die Straßenlaternen streuten nur noch mattes Licht auf die Fahrbahn, bis sie schließlich ganz verschwanden und Bäume die Landstraße säumten. Camilla liebte ihr Haus auf dem Land über alles, aber an solchen Abenden wie diesem wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine ruhige Innenhofwohnung mitten in der Stadt. Angesichts der Dunkelheit, die sie umgab, wurden ihre Lider immer schwerer. Sie öffnete das Fenster einen Spalt, um frische Luft hereinzulassen und biß sich auf die Lippe, um die Lebensgeister zu wecken. Doch es nützte alles nichts. Der Schlaf ließ sich nicht aufhalten, und noch ehe Camilla darauf reagieren konnte, fielen ihr die Augen zu.

Auch der Unternehmer Stephan Humbolt befand sich auf dem Heimweg. In seiner Freizeit spielte er in einer Band, die gern für private Feste gebucht wurde. Er summte leise vor sich hin und dachte an die fröhliche Gesellschaft, die er mit seinen Freunden so richtig in Stimmung gebracht hatte, als er bemerkte, wie der Wagen, der in einiger Entfernung vor ihm fuhr, bedrohlich ins Schlingern geriet.

Befremdet schüttelte er den Kopf. Was mochte mit dem Fahrer des schnittigen Wagens los sein? Mehrere Möglichkeiten taten sich vor ihm auf, und noch während er überlegte, ob er die Polizei über Handy informieren sollte, geschah das Unvermeidliche. Das Auto von Camilla Rosen, die über dem Lenkrad eingenickt war, streifte die Leitplanke und geriet ins Schleudern. Durch den heftigen Ruck erwachte sie. Schatten und Umrisse von Bäumen jagten an ihren weit aufgerissenen Augen vorbei. Ohne zu wissen, was sie tat, riß sie das Lenkrad herum, doch das war genau die falsche Entscheidung. Mit einem ohrenbetäubenden Knall durchbrach der Wagen die Leitplanke und stürzte eine Böschung hinab.

Schlagartig war es totenstill. Ein Reifen drehte sich gespenstisch in der Luft, und das Licht eines Scheinwerfers leuchtete ins Nichts, als Stephan seinen Wagen auf dem Seitenstreifen zum Stehen brachte. Mit zitternden Knien stieg er aus und versuchte, im Abgrund etwas zu erkennen.

»Hallo!« rief er, heiser vor Erregung. »Können Sie mich hören? Sind Sie verletzt?« Noch während er dieses Wort rief, wußte er, wie lächerlich er sich machte. Kein Mensch konnte diesem Schrotthaufen, der sich schemenhaft unter ihm abzeichnete, unverletzt entsteigen. Überrascht hielt er deshalb die Luft an, als er eine Antwort bekam.

»Ich kann mich nicht bewegen. Gott, meine Beine!« weinte Camilla vor Schreck und Schmerzen. Der Wagen lag auf dem Dach, und den Oberkörper konnte sie frei bewegen. Doch von den Beinen abwärts ging nichts mehr.

»Warten Sie. Ich rufe die Polizei und den Notarzt. Dann komme ich sofort zurück.«

Für Camilla schienen Stunden vergangen zu sein, bis sie endlich ein Rascheln im Gras hören konnte.

»Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr wieder«, stöhnte sie, als sich Stehpan über das Wrack beugte, eine Stabtaschenlampe in der Hand.

»Sie bluten am Kopf!« Er nahm die Lampe zwischen die Zähne und ließ sich vorsichtig auf die Knie sinken. Dann legte er sich flach auf den Bauch, um näher zu Camilla zu rutschen. »Der Rettungswagen wird gleich hier sein. Haben Sie große Schmerzen?«

»Meine Beine. Und der Kopf. Es brennt wie die Hölle.« Tastend fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn.

»Sie haben eine Platzwunde. Aber das ist nicht so schlimm. Mehr Sorgen machen mir Ihre Beine. Können Sie sie bewegen?«

Camilla machte einen halbherzigen Versuch, die Angst vor weiteren Schmerzen saß zu tief.

»Es geht nicht. Die Füße sind verklemmt.« Sie stöhnte verzweifelt. »Mir ist so schwindlig.«

»Geben Sie mir Ihre Hand. Dann fühlen Sie sich nicht so allein.« Blitzartig durchzuckte Stephan der Gedanke, daß die Verletzte nicht ohnmächtig werden durfte. An den Grund konnte er sich nicht mehr erinnern, doch instinktiv begann er, auf Camilla einzureden.

»Was ist denn überhaupt passiert?«

»Ich war so müde und muß eingeschlafen sein«, entgegnete Camilla schwach.

»Haben Sie getrunken?«

»Gott sei Dank nicht. Obwohl es auf der Premierenfeier viele verführerische Cocktails gegeben hat.«

»Sie waren eingeladen?« Stephan nahm den Hinweis dankbar auf.

»So ähnlich«, trotz ihrer Qualen hauchte Millie. »Ich bin die Hauptdarstellerin.« Gleich darauf seufzte sie wieder. »Das heißt, ich war es. Die Theatersaison ist für mich vermutlich beendet.«

»Vielleicht haben Sie sich gar nicht so schwer verletzt«, versuchte Stephan, ihr Mut zu machen.

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Wenn Sie recht haben, reserviere ich Ihnen den besten Platz für alle Vorstellungen. Vorausgesetzt natürlich, Sie mögen Theater.«

»Ich liebe das Schauspiel«, gab Stephan unumwunden zu. »Meine Verlobte leider nicht. Sie langweilt sich jedes Mal zu Tode.«

»Sie sind verlobt?« Camillas Blicke suchten das Gesicht ihres Gegenübers.

»Ja, wir wollen in ein paar Wochen heiraten.«

»Wie schön für Sie. Ich finde es immer bewundernswert, den Bund der Ehe zu schließen. Immerhin sollte es eine Entscheidung fürs Leben sein.«

Obwohl es ihr schwerfiel, bemühte sich Camilla, eine interessierte Gesprächspartnerin zu sein.

»Ehrlich gesagt war es Arianes Wunsch«, gestand Stephan und fröstelte. Er lag immer noch auf dem Bauch vor dem Wagen und spürte, wie die Kälte durch sein dünnes Hemd kroch. »Schon immer träumte sie von einer Hochzeit in Weiß mit allem drum und dran. Mir ist das alles eigentlich ein bißchen zuviel. Trotzdem fange ich langsam an, mich auf den Tag zu freuen.«

»Das sollten Sie auch.« Camilla drückte Stephans Hand herzlich. »Bitte, erzählen Sie mir...« Sie stockte. Von Ferne erklang das Geräusch des Martinshorns. Die ersehnte Rettung nahte. Trotz der kurzweiligen Unterhaltung hatte sie von Minute zu Minute gespürt, wie ihre Kräfte schwanden.

»Gleich sind Sie in Sicherheit«, las Stephan ihre Gedanken. »Obwohl ich unser Gespräch gern fortgesetzt hätte.«

»Aber Sie besuchen mich doch in der Klinik, nicht wahr? Schließlich möchte ich mich gebührend für Ihre Hilfe bedanken«, erklärte Camilla schwach. »Nicht auszudenken, was aus mir geworden wären, wenn Sie nicht gewesen wäre.« Sie schauderte. Aber Stephan hatte keine Gelegenheit mehr, auf diese Feststellung zu antworten. In diesem Augenblick kamen zwei Sanitäter die abfallende Böschung hinuntergeklettert. In weiser Voraussicht hatte Stephan seinen Wagen gut sichtbar und beleuchtet am Straßenrand zurückgelassen.

»Da sind wir. Wie geht es der Verletzten?« erkundigte sich Kai Fürmann, einer der beiden Retter.

»Sie ist bei Bewußtsein. Aber ihre Beine sind eingeklemmt«, erklärte Stephan Humbolt bereitwillig und stand ächzend auf, um den Sanitätern Platz zu machen. Kai kniete nieder und leuchtete mit seiner Taschenlampe ins Innere des Wagens.

»Aber Sie sind ja Camilla Rosen, die Schauspielerin«, rief er überrascht aus. »Ich bin ein großer Fan von Ihnen.«

»Das freut mich!« stöhnte Millie auf. »Bitte, helfen Sie mir. Ich kann mich nicht bewegen.«

Kai war ein vernünftiger Mensch, der mit großer Konzentration bei der Arbeit war.

»Einen Augenblick, ich sehe mal nach, ob ich Sie befreien kann.« Wagemutig fuhr er mit dem ausgestreckten Arm ins Wageninnere, hinab an Camillas Beinen, bis er endlich ihre Füße ertasten konnte, die zwischen den Pedalen steckten. »Jetzt könnte es ein bißchen weh tun. Ich versuche, Sie freizubekommen. Achtung!« warnte er, als er das linke Bein zu fassen bekam. Vorsichtig versuchte er, es zu bewegen. Camilla stöhnte auf vor Schmerz.

»Das bringt doch nichts«, quetschte sie heraus. »Holen Sie lieber die Feuerwehr.«

»Wie lange wollen Sie noch hier liegen?« schalt Kai und arbeitete weiter.

Millie schrie auf, aber endlich war der Fuß frei. Danach ging alles ganz schnell. Auch das zweite Bein war gleich befreit, und mit vereinten Kräften hoben Kai und sein Kollege die verletzte Schauspielerin aus dem Wrack. Stephan konnte nicht mehr tun als tatenlos danebenzustehen und zuzuschauen, doch die Erleichterung über den Erfolg der Bemühungen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Wollen Sie mitkommen in die Klinik?« erkundigte sich Kai Fürmann, als Camilla endlich im Rettungswagen lag und ihre Wunden versorgt werden konnten.

»Nein, nein, für mich wird es höchste Zeit, nach Hause zu kommen. Meine Verlobte wird sich schon ängstigen.« Stephan warf einen Blick in den Rettungswagen. »Alles Gute, und gute Besserung.« rief er Camilla zu, die bleich und erschöpft auf der Liege lag. »Wir sehen uns dann in der Behnisch-Klinik. Ich habe die schönste im ganzen Umkreis für Sie ausgesucht. War selbst schon einmal Patient und sehr zufrieden mit der Betreuung.«

»Vielen Dank. Das müssen Sie mir unbedingt erzählen, wenn Sie mich besuchen kommen.« Trotz der Schmerzen gelang Camilla ein dankbares Lächeln. Dann warf Kai die Türen des Krankenwagens zu. Es wurde Zeit, daß die Verletzte in der Klinik gründlich untersucht wurde.

Nachdenklich blieb Stephan Humbolt noch kurz am Straßenrand stehen und blickte den kleiner werdenden Rücklichtern des Rettungswagens nach. Inzwischen hatte es leicht zu regnen begonnen, und ein plötzliches Zittern schüttelte ihn. Auch für ihn wurde es Zeit, nach Hause zu fahren und seine durchgefrorenen Glieder mit einem anständigen Drink wieder auf die richtige Temperatur zu bringen, ehe er zu Ariane ins warme Bett schlüpfte. Bei dem Gedanken an seine Verlobte wurde ihm ganz warm ums Herz, und er brannte darauf, ihr von seinem Erlebnis zu erzählen. Frierend, aber zufrieden, stieg er in seinen Wagen und machte sich endgültig auf den Heimweg. Als er in die Straße einbog, in der die gemeinsame Wohnung im ersten Stock eines modernen Mehrfamilienhauses lag, stellte Stephan überrascht fest, daß noch Licht brannte. Das verhieß nichts Gutes.

»Schön, daß du dich auch mal wieder blicken läßt, Steve. Ich dachte schon, du übernachtest heute auswärts.« Eingehüllt in ihren seidenen Morgenmantel saß Ariane auf der Couch und warf ihrem Verlobten einen herausfordernden Blick zu.

»Warum bist du denn noch wach, Ria? Du weißt doch ganz genau, daß es spät wird, wenn ich auftrete«, versuchte er, die Brisanz aus der Situation zu nehmen. Doch Ariane hatte den ganzen Abend Zeit gehabt, ihre Eifersucht zu schüren.

»Spät nennst du das also!« funkelte sie ihn böse an. »Halb drei Uhr morgens nenne ich früh. Sieht ganz danach aus, als ob du viel Spaß hattest.«

»Nicht mehr als sonst auch«, seufzte Stephan ergeben. Da war sie wieder, ihre grenzenlose Eifersucht, die ihm das Leben mitunter zur Hölle machte. »Wenn ich mir zuerst einen Drink machen darf, erkläre ich dir alles. Mir ist nämlich höllisch kalt, und ich brauche dringend eine Stärkung.« Erst jetzt fiel Arianes Blick auf sein völlig verschmutztes Hemd.

»Was hast du denn angestellt?«

»Das will ich dir ja erklären, aber du läßt mich nicht zu Wort kommen, du kleine Furie.« Steve schenkte ihr einen nachdenklichen Blick. Er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, wie er sie beruhigen konnte. »Aber ich liebe es, wenn deine Augen Funken sprühen vor Eifersucht. Das zeigt mir immerhin, wie lieb du mich hast. Und außerdem bin ich sehr froh, daß du noch wach bist. Dann kann ich dir nämlich alles erzählen.« Damit war Ria aller Wind aus den Segeln genommen. Sie schluckte und setzte eine schuldbewußte Miene auf.

»Es tut mir leid, Steve, ich wollte mich nicht so aufregen.« Sie wußte genau, wie sehr er unter ihrer krankhaften Eifersucht litt und wollte den Schaden begrenzen. »Es ist nur so, daß der Wirt vom Hotel angerufen hat. Die Hochzeitsgäste passen nicht alle in die Stube, die wir uns ausgesucht haben. Er schlägt den großen Saal vor, aber das wollte ich nicht allein entscheiden.« Sie warf ihm einen treuherzigen Blick zu.

»Du bist so lange aufgeblieben, um mir das zu sagen?«

»Du weißt doch, wie wichtig mir die Hochzeit ist.«

»Allerdings. Und du weißt, wie gern ich darauf verzichten würde. Wozu brauchen wir einen Trauschein, wo wir uns doch auch so lieben?« Stephan nahm einen ganz tiefen Schluck von seinem Whiskey, der ihm sofort Magen und Glieder wärmte.

»Darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Schon als Kind träumte ich von einer Hochzeit in Weiß, mit Kutsche und Brautjungfern und allem, was dazugehört. Und du bist mein Märchenprinz, der mich in sein Schloß entführt«, seufzte Ariane verzückt und schmiegte sich eng an ihren Steve.

»Das ehrt mich ja sehr, aber erstens ist diese Wohnung kein Schloß und zweitens...«

»Psst! Ich weiß, was du sagen willst.« Ria legte ihm lächelnd einen Finger auf die Lippen. »Tu es einfach mir zuliebe. Das ist der Beweis, den ich von dir brauche. Wenn du erst ganz mir gehörst, bin ich zufrieden und werde nie mehr eifersüchtig sein. Ich schwöre!«

Mit einer theatralischen Geste hob sie die Hand und lächelte ihn schmelzend an. Stephan schluckte den Kommentar, der ihm auf den Lippen lag, hinunter. Er wußte, daß es sinnlos war, ihr zu widersprechen und erhob sich mißmutig, um ins Bett zu gehen. »Aber was ist denn, Schatz? Du wolltest mir doch etwas erzählen!« rief sie ihm erstaunt hinterher.

»Das hat wirklich noch Zeit bis morgen.« Mit diesen Worten verschwand er im Schlafzimmer, und Ariane blieb nichts anderes übrig, als ihm nach kurzer Bedenkzeit zu folgen.

*

Wie eh und je begann der Samstagmorgen im Hause Norden mit hektischer Betriebsamkeit. Fee nutzte diesen Wochentag gern, um zumindest einmal in der Woche gemeinsam mit ihrem Mann Besorgungen zu machen. Diesmal stand ein ganz besonderer Einkauf bevor, denn die Zwillinge waren kurz vor ihrer Einschulung und durften sich ihre Ranzen selbst aussuchen. Dementsprechend aufgeregt waren sie und ließen ihren Eltern schon beim Frühstück keine Ruhe.

»Wann seid ihr denn endlich fertig?« fragte Dési und beobachtete mit vorwurfsvollem Blick, wie sich Daniel eine weitere Tasse Kaffee einschenkte.

»Da habe ich gerade zwei Mal die Woche Zeit, in aller Ruhe zu frühstücken, aber selbst dieses Vergnügen wird mir mißgönnt«, entgegnete er säuerlich, doch Dési kannte kein Erbarmen mit ihrem Vater.

»Wieso?« fragte sie jetzt keck. »Wir sitzen doch jeden Morgen gemütlich zusammen, oder etwa nicht?«

»Unter gemütlich verstehe ich etwas anderes.«

»Dann liegt es vielleicht an dir«, mischte sich Felix grinsend in das Gespräch. Er kam erst jetzt verschlafen die Treppe herunter und hatte die Unterhaltung amüsiert von oben mitgehört. »Du solltest deine Einstellung ändern.«

»Das hat mir gerade noch gefehlt. Warum ist eigentlich keiner auf meiner Seite?« Daniel blickte sich in gespielter Verzweiflung um, und Fee lachte laut auf.

»Ich halte doch zu dir! Oder habe ich das in all den Jahren nicht zur Genüge bewiesen?«

»Doch, schon. Sprich doch bitte ein Machtwort, damit ich wenigstens meinen Kaffee austrinken kann.«

»Na ja, Dési hat schon recht. Ich finde auch, wir sollten langsam aufbrechen«, wagte sie einen leisen Einspruch und warf ihrer kleinen Tochter einen verschmitzten Blick zu.

»Warum müßt ihr Frauen denn immer zusammenhalten? Wie sieht es aus, Janni, wir Männer verstehen uns doch?« versuchte er es bei seinem Sohn.

»Ja schon, Papi«, stieß der ängstlich hervor. »Aber was machen wir denn, wenn mein Piratenschulranzen ausverkauft ist, bis wir kommen?«

»Gut, ich habe verstanden.« Daniel gab seinen Widerstand lachend auf und erhob sich von seinem Stuhl. Im Stehen trank er den letzten Schluck Kaffee. »Heute stehe ich auf verlorenem Posten. Dafür darf ich später kurz in der Behnisch-Klinik vorbeischauen. Frau Berger ist gestern operiert worden, und ich habe ihr versprochen, vorbeizuschauen.« Mit diesem Kompromiß waren alle einverstanden. Unter dem Jubel der Zwillinge verließ das Ehepaar Norden kurz darauf das Haus, während es die drei großen Kinder vorzogen, die Ruhe zu Hause zu genießen und Lenni Gesellschaft zu leisten.

Als Camilla Rosen an diesem Morgen erwachte, schmerzte ihr gehörig der Kopf. Noch in der Nacht war sie am Knöchel operiert worden, und die pochende Wunde erinnerte sie an das Unglück, das ihr widerfahren war. Glücklicherweise war sie mit einem Schleudertrauma, einer Platzwunde an der Stirn und einem mehrfach gebrochenen Knöchel davongekommen. Sie hatte Glück im Unglück gehabt, ihr Wagen, der inzwischen geborgen war, hatte nur noch Schrottwert. Dennoch war an Schauspielerei zunächst nicht zu denken. Millie seufzte betrübt. Jetzt, nachdem sie die nervenaufreibende Premiere so glänzend über die Bühne gebracht hatte, schmerzte sie der Verzicht auf die Rolle um so mehr. Mindestens drei Monate würde sie nicht auf den sprichwörtlichen Brettern stehen können, die für sie als Vollblutschauspielerin die Welt bedeuteten. Schon wollte sich Camilla ihrem Kummer hingeben, als es leise an die Tür klopfte.

»Herein«, rief sie heiser und schluckte die Tränen tapfer hinunter.

»Störe ich?« Es war Kai Fürmann, der den dunklen Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Sie sind noch da? Ich dachte, Sie würden längst in Ihrem Bett liegen und die wohlverdiente Ruhe genießen.«

»Leider nein. Heute nacht war noch mächtig was los, aber jetzt ist endlich Schluß. Ich wollte nur noch mal vorbeikommen und nach Ihnen sehen.«

»Wie lieb von Ihnen.« Camilla zwang sich zu einem Lächeln, blieb aber zurückhaltend. Gleich will er ein Autogramm, dachte sie bei sich und schämte sich gleichzeitig für ihre Gedanken. Kai ließ sie nicht aus den Augen, ja, er schien sie zu durchschauen.

»Keine Sorge, auch wenn ich ein glühender Verehrer Ihrer Kunst bin, ein Autogramm schwatze ich Ihnen nicht ab. Ich weiß doch, was sich gehört.« Seine unglaublich blauen Augen, die in einem merkwürdigen Kontrast zu seinem dunklen Haar standen, waren ernst, doch sein voller Mund lächelte.

»Ich habe nichts dagegen, Ihnen eine Autogrammkarte zu geben«, hörte sich Camilla zu ihrer eigenen Überraschung sagen. »Meine Mutter wird sicher welche mitbringen.«

»Zu einem Foto von Ihnen sage ich nicht nein.« Er bemerkte ihren suchenden Blick. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Brauchen Sie etwas?«

»Gibt es hier kein Telefon? Ich muß dringend mit meiner Mutter sprechen. Sie ahnt ja noch gar nichts von meinem Unfall.«

»Die Schwester meldet den Apparat gern für Sie an. Bis es soweit ist, kann ich ja mit Ihrer Frau Mama sprechen, vorausgesetzt natürlich, Sie geben mir die Nummer«, schlug Kai liebenswürdig vor.

Camilla schwankte ein wenig. Irgend etwas an Kai Fürmann war ihr unheimlich, doch sofort beschlich sie das schlechte Gewissen. Schließlich war er sehr freundlich und überhaupt nicht aufdringlich, wie sie es sonst von ihren Fans gewohnt war.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. In meiner Handtasche ist eine Karte.« Sie griff nach ihrer Tasche, die eine fürsorgliche Schwester in das Nachtkästchen neben dem Bett gestellt hatte, und holte ihre Visitenkarte heraus. Kai reichte ihr einen Kugelschreiber, und sie notierte die Nummer ihrer Mutter auf die Rückseite. »Hier, bitte. Könnten Sie gleich anrufen, damit sie sich nicht sorgt?«

»Das ist doch selbstverständlich.« Kai erhob sich freundlich lächelnd, und Millie fühlte sich beruhigt. »Darf ich heute abend wiederkommen?«

»Ich würde mich freuen«, entgegnete Camilla, und diesmal meinte sie es ernst.

Überraschenderweise gestaltete sich der Einkauf der Schultaschen einfacher als erwartet. Sowohl Désirée als auch ihr Bruder Christian hatten sich vorher schon mit ihren Freunden aus der Vorschule abgesprochen und genaue Vorstellungen von den Motiven, die die Ranzen schmücken sollten. Die Verkäuferin, Frau Grahnert, die gewohnt war, mit quengelnden Kindern und entnervten Eltern fertig zu werden, atmete erleichtert auf.

»Ich möchte Sie zu diesen wundervollen Kindern beglückwünschen«, erklärte sie herzlich, als Jan und Dési ihre Taschen voller Stolz zur Kasse trugen.

»Ehrlich gesagt bin ich genauso überrascht wie Sie, daß dieser Einkauf so schnell über die Bühne gegangen ist«, erklärte Fee, die sofort ahnte, auf was die Verkäuferin hinauswollte.

»Sie hätten die Gespräche am Frühstückstisch mithören sollen«, warf Daniel lächelnd ein. »Unsere Engelchen wären vor Ungeduld beinahe geplatzt.«

»Mag schon sein«, gab Frau Grahnert zu. »Aber Hauptsache ist doch, die Kinder können sich außerhalb des Elternhauses gut benehmen. Sie glauben ja gar nicht, was für Sachen ich Tag für Tag erlebe. Manchmal muß ich mich schon zurückhalten, um einem unverschämten Bengel nicht den Kopf zu waschen.«

»Das kann ich gut verstehen.« Fee nickte gedankenvoll. »Wenn ich an machen Schulkameraden unserer Kinder denke, ist mir gar nicht wohl. Dabei ist es doch so wichtig, den Kindern Anstand und Manieren beizubringen.«

»Viele Eltern sehen das heutzutage anders. Vor lauter Arbeit bleibt keine Zeit, sich vernünftig um den Nachwuchs zu kümmern«, seufzte Frau Grahnert bekümmert. »Dabei sind gute Manieren die halbe Miete im Leben.« Sie warf einen gerührten Blick auf die Zwillinge, die geduldig neben ihrem Vater an der Kasse standen und mit glänzenden Augen beobachteten, wie er bezahlte.

Fee wollte gerade antworten, als Jan und Dési nacheinander auf sie zugestürmt kamen und auch ihr um den Hals fielen.

»Danke, Mami, für die schöne Schultasche!« rief Jan begeistert und strich beinahe zärtlich über das bunte Piratenmuster.

»War die auch nicht zu teuer?« Besorgt musterte Dési ihre Tasche, auf der viele Delphine ihr ausgelassenes Spiel trieben.

»Wenn euch die Schule nur halb so viel Freude macht wie die Ranzen, dann hat sich die Investition gelohnt«, stellte Daniel fest, der hinterherkam, während er seine Bankkarte und den Beleg in seinem Geldbeutel verstaute. Zufrieden beobachtete er, wie sich die Kinder artig von der Verkäuferin verabschiedeten und dann fröhlich auf die Fußgängerzone hinausstürmten.

»Sind sie nicht lieb, unsere Kleinen?« fragte Fee und hängte sich zufrieden bei ihrem Mann ein. »In solchen Momenten möchte ich wirklich mit keinem Menschen der Welt tauschen.«

»Ich auch nicht«, gab er innig zurück. »Kommt mal her, ihr beide. Als Belohnung dafür, daß ihr euch so gut benommen habt, müßt ihr nicht mit in die Behnisch-Klinik. Mami soll mit euch in ein schönes Café gehen und ein Eis spendieren. Ich fahre schnell allein rüber. Was haltet ihr davon?«

Wie erwartet war diese Frage reichlich überflüssig. Begeistert stoben die Kinder davon auf der Suche nach einer geeigneten Lokalität.

»Das ist aber ein feiner Zug

von dir, daß wir heute keine Klinikluft schnuppern müssen«, freute

sich auch Fee. Selten genug kam

sie dazu, in aller Ruhe und mit gutem Gewissen in einem Café zu sitzen.

»In einer Stunde bin ich wieder da. Genießt es, meine drei Schätze.« Er küßte seine Frau zärtlich auf die Nasenspitze, ehe er sich auf den Weg machte. Manchmal gab es eben doch noch etwas Wichtigeres als die Arbeit, aber er war verantwortungsbewußt genug, der Versuchung zu widerstehen und es bei dem Gedanken zu belassen.

Völlig aufgelöst saß Alice Rosen am Bett ihrer Tochter und streichelte unablässig deren Hand.

»Mein armer, kleiner Darling. Wie konnte das nur passieren?«

»Ich war völlig übermüdet. Die Proben in den letzten Tagen haben mich mehr Kräfte gekostet, als ich dachte.«

»Und jetzt war alles umsonst«, jammerte Alice verzweifelt.

»Du solltest froh sein, daß mir nicht mehr passiert ist«, konterte Camilla aufgebracht. »Wer weiß, was geschehen wäre, wenn mir nicht der freundliche Autofahrer geholfen hätte.« Ein dankbarer Ausdruck streifte ihr zerschundenes Gesicht, als sie an Stephans selbstlose Hilfe dachte.

»Natürlich, Kindchen, so habe ich das doch nicht gemeint. Wer war denn der nette Mensch?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Er hat sich mir nicht vorgestellt«, fiel Millie plötzlich ein, doch schnell entspannte sich ihre Miene wieder. »Aber er hat versprochen, mich zu besuchen. Hoffentlich läßt er sich damit noch Zeit, bis ich ein bißchen besser aussehe.«

»Seit wann ist es dir wichtig, einem Mann zu gefallen?« Wenn es um Männer ging, wurde Alice stets hellhörig. »Das bin ich gar nicht gewohnt von dir.«

»Ach, das habe ich doch nur so dahingesagt«, redete sich Camilla verlegen heraus. »Ich würde mich einfach nur gern bei ihm bedanken.«

»Wer war eigentlich der freundliche Herr am Telefon, der mich über deinen Unfall informiert hat? Kai Fürmann, diesen Namen habe ich noch nie zuvor gehört.«

»Er ist Sanitäter und hatte heute nacht Schicht. Ihm und seinem Kollegen habe ich die gute Erstversorgung zu verdanken.«

»Wirklich ausgesucht höflich«, lobte Alice zufrieden.

»Das ist er tatsächlich«, erklärte Camilla nachdenklich. »Obwohl er sich gleich als glühender Verehrer geoutet hat. Ich hatte schon Sorgen, er würde noch am Unfallort ein Autogramm einfordern, aber er hat gute Manieren. Zumindest hat er mich bis jetzt verschont.«

»Du solltest ihm als Dank eine Autogrammkarte mit einer persönlichen Widmung zukommen lassen.« Alice nestelte in ihrer Tasche. »Ich habe immer ein paar Exemplare dabei.«

»Ich wußte doch, daß ich mich auf dich verlassen kann.« Camilla konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Obwohl es noch früh am Morgen war, überfiel sie plötzlich eine bleierne Müdigkeit.

»Dann werde ich mal nach Hause gehen und mit deinem Regisseur sprechen. Er wird nicht gerade begeistert über deinen Ausfall sein.«

»Man muß das positiv sehen. Schließlich ist das eine einmalige Chance für meine Vertreterin, sich zu profilieren«, erklärte Millie leise. Nur mit Mühe konnte sie die Augen noch offen halten.

»Jetzt schlaf du dich erst mal aus. Um alles andere kümmere ich mich schon.« Alice drückte tröstend die Hand ihrer Tochter, die mit einem beruhigten Nicken die Augen schloß. Alles, wonach sich Camilla jetzt sehnte, war Ruhe und nochmals Ruhe.

Seufzend trat Alice auf den Krankenhausflur hinaus. Sie war sehr besorgt um den Gesundheitszustand ihrer Tochter und wollte sich mit dem behandelnden Arzt unterhalten, als sie eine bekannte Stimme hinter sich hörte.

»Herr Dr. Norden, so eine Überraschung!« rief sie erfreut aus, als sie sich umdrehte und ihren Hausarzt im Gespräch mit einer Frau erkannte. »Was machen Sie denn hier?«

»Dasselbe könnte ich sie fragen«, entgegnete Daniel überrascht. »Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«

»Leider doch. Camilla hatte gestern abend einen Autounfall.«

Sofort wandte sich Daniel Norden wieder an Jenny Behnisch, die der Unterhaltung aufmerksam gefolgt war.

»Weißt du etwas über diese Sache?«

»Es kann sich nur um Camilla Rosen handeln, das war der einzige Autounfall heute nacht. Michael hat mich informiert. Frau Rosen wurde weit nach Mitternacht mit mittelschweren Verletzungen eingeliefert und sofort am Knöchel operiert. Laut meinen Informationen geht es ihr den Umständen entsprechend gut.«

»Das ist ja ein sehr glücklicher Zufall, daß sie ausgerechnet hier gelandet ist«, stellte Daniel beruhigt fest.

»Das war wohl kein Zufall«, konnte Jenny auch dazu etwas sagen. »Der Mann, der den Unfallhergang beobachtet hat, war selbst einmal Patient und hat direkt hier angerufen.«

»Da siehst du mal, was gute Erfahrungen ausmachen.«

»Ich habe nie daran gezweifelt«, gab Jenny zufrieden zurück.

Daniel warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Sein Besuch bei Frau Bergmann war kürzer ausgefallen als gedacht, und so blieb ihm noch Zeit, bis er zu Fee und den Zwillingen zurückkehren würde.

»Dann werde ich die Gelegenheit gleich nutzen und nach Camilla schauen«, erklärte er zu Alice Rosen gewandt. »Schließlich werde ich sicher die Nachbehandlung übernehmen, wenn der stationäre Aufenthalt beendet ist.«

»Millie ist gerade eingeschlafen. Der Streß der vergangenen Wochen und der Unfall haben sie sehr mitgenommen«, erklärte Alice entschuldigend.

»Ich werde trotzdem mal nach ihr sehen. Natürlich, ohne sie zu wecken«, versprach Dr. Norden lächelnd und verließ die beiden Frauen, die zurückblieben, um sich noch einen Augenblick über Camillas Verletzungen zu unterhalten, mit einem kurzen Gruß. Er fand Camilla unterdessen, wie ihre Mutter vorhergesagt hatte, tief schlafend. Zufrieden stellte er fest, daß es ein erholsamer Genesungsschlaf war. Ihr Atem ging ruhig, und ihr verletztes Gesicht war entspannt. Ja, sie lächelte sogar im Schlaf. Daniel betrachtete die Züge der jungen Schauspielerin eingehend. Sie war eine hübsche Frau, die trotz ihres großen Erfolges auf dem Boden der Tatsachen geblieben war, ohne Allüren und mit einer gesunden Portion Realitätssinn. Auch mit diesem unwillkommenen Ereignis würde sie problemlos fertig werden und weiterhin unbeirrt ihren Weg gehen. Mit dieser beruhigenden Gewißheit zupfte Daniel Norden die Bettdecke zurecht, um danach endlich in das wohlverdiente Wochenende mit seiner Familie zu starten.

Wider Erwarten konnte Camilla die ungewohnte Ruhe tatsächlich genießen. Sie hatte kaum Schmerzen, und nachdem sie lange und ausgiebig geschlafen hatte, fühlte sie sich viel besser. Mit Hilfe einer Schwester wagte sie sogar einige Schritte mit Stütze. Doch der Anfang war schwierig, und nach einer Runde im Krankenzimmer war sie so außer Atem, daß sie gern wieder ins Bett zurückkehrte. Dort saß sie und schmökerte, ganz gegen ihre Gewohnheit, in einer Zeitschrift, als sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Erwartungsvoll schaute Camilla auf, und ihr Herz machte einen unvermuteten Satz. Konnte das ihr unbekannter Retter sein?

»Hallo, schöne Frau. Darf ich Ihnen meine Aufwartung machen?« Es war Kai Fürmann, den nach seiner wohlverdienten Ruhepause keine zehn Pferde mehr zu Hause gehalten hätten.

»Na, von schön kann ja wohl im Moment keine Rede sein.« Camilla hatte alle Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber sie war nicht umsonst Schauspielerin. »Trotzdem nett, daß Sie mich besuchen.« Lächelnd legte sie die Zeitschrift beiseite und musterte ihren Besucher kritisch. Statt der weißen Klinikkleidung trug er jetzt Jeans und ein schlichtes T-Shirt, unter dem sich seine trainierten Muskeln abzeichneten. »Gut schauen Sie aus.«

»Ein Lob aus Ihrem Munde? Das ist mehr, als ich mir je erhofft hatte«, entgegnete Kai und verdrehte die Augen schwärmerisch zum Himmel.

»Sie sind wohl ein Charmeur der alten Schule«, lachte Millie belustigt.

Diese Bemerkung sollte fröhlich klingen, doch Kai verstand sie offensichtlich falsch. Mit einem Schlag wurde er ernst. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten, und ein gefährlicher Ausdruck blitzte in seinen Augen auf.

»Machen Sie sich bitte nicht lustig über mich«, entfuhr es ihm etwas herrisch.

»Aber das tue ich doch gar nicht. Es war nur so originell gerade. Sie haben Talent zur Komödie«, wollte sie ihn beschwichtigen, doch das waren wiederum genau die falschen Worte.

»Sie halten die Gefühle anderer Menschen also für komisch? Eine interessante Einstellung«, erklärte er mit eisiger Stimme, ohne Camilla aus den Augen zu lassen. Plötzlich schien er ein anderer Mensch zu sein, grausam und kalt. Unter seinem Blick fühlte sie sich eingeschüchtert und ängstlich.

»Aber das stimmt doch gar nicht«, flüsterte sie und drängte sich schutzsuchend in die Ecke ihres Bettes. »Ganz im Gegenteil. Ich freue mich darüber, daß Ihnen meine Arbeit gefällt. Außerdem wollte ich mich dafür bedanken daß Sie meine Mutter sofort angerufen haben«, beeilte sich Camilla zu versichern. Kai musterte sein Gegenüber. Langsam entspannten sich seine Züge wieder. Der Respekt, den Camilla ihm ganz offensichtlich entgegenbrachte, stimmte ihn versöhnlich. Seine Miene wurde weich, die vollen Lippen lächelten spöttisch.

»Sie wissen doch, daß ich Ihnen jeden Wunsch erfülle.« Er zog ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen vollendeten Kuß darauf.

Camilla beobachtete ihn verdutzt dabei. Jetzt war er wieder ganz der freundliche junge Mann, der sich auf Frauen verstand. Litt sie unter Wahnvorstellungen, oder hatten sie diese eindrucksvollen blauen Augen noch vor Sekunden eisig und bedrohlich angestarrt?

»Woran denken Sie denn?« fragte er jetzt beinahe liebevoll und holte sie mit seiner Frage in die Wirklichkeit zurück

»Ach, nichts.« Camilla zog ihre Hand zurück, um sich über die Augen zu fahren. Der Unfall war vermutlich doch nicht ganz spurlos an ihr vorbeigegangen.

»Sie können mir alles anvertrauen. Ich habe immer ein offenes Ohr für Ihre Probleme«, erklärte er herzlich, doch seine warmen Worte klangen wie eine Drohung in ihren Ohren. »Als Schauspielerin sind Sie doch sicher oft sehr einsam.«

»Eigentlich nicht.« Camilla wußte nicht, wie sie sich Kai gegenüber verhalten sollte. »Meine Mutter begleitet mich fast immer«, erklärte sie vorsichtig.

»Aber Freunde? Haben Sie Freunde?«

»Ein paar Jugendfreunde, aber die habe ich lange nicht mehr gesehen. Es fällt eben schwer, Kontakte zu pflegen, wenn man soviel unterwegs ist.«

»Fehlt Ihnen nicht manchmal jemand, dem Sie Ihr Herz aussschütten können. Jemand, mit dem Sie Erfolge und manchmal auch vernichtend Kritiken teilen können?« forschte Kai ungewöhnlich feinfühlig weiter. Der Ausdruck in seinen Augen war jetzt unglaublich zärtlich. Noch nie zuvor hatte ein Mann Camilla so angeschaut. Ein Schauer rann ihr über den Rücken.

»Manchmal schon. Aber warum fragen Sie?«

»Weil ich dieser Freund sein möchte.« Er lächelte sie mit seinen vollen Lippen gewinnend an. »Darf ich?«

»Aber wir kennen uns doch kaum«, wagte sie einen leisen Einspruch, was für ein widersprüchlicher Mann, dachte sie bei sich.

»Wir können uns kennenlernen. Denken Sie doch daran, wie allein Sie in der nächsten Zeit sein werden. Die Genesung wird Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch nehmen, in denen Sie nicht arbeiten können. Was für eine Gelegenheit, um Freundschaft zu schließen!«

Dem konnte Camilla nichts entgegensetzen. Abgesehen von dem kurzen Moment, in dem sie sich von ihm auf subtile Art und Weise bedroht gefühlt hatte, war ihr seine Gegenwart recht angenehm. Er schien kultiviert und gebildet und verstand es, ihr die Zeit zu vertreiben. Meine lebhafte Phantasie hat mir sicher nur einen Streich gespielt, beruhigte sich Camilla in Gedanken und lächelte plötzlich. Sie war einfach zu mißtrauisch.

»Warum denn eigentlich nicht? Dann hat sich die Sache mit der Autogrammkarte wohl wieder erübrigt.«

»Keineswegs«, Kai lächelte. »Ich bin froh, wenn ich dich immer bei mir haben kann.« Sorgfältig verstaute er das Foto, das Millie ihm daraufhin reichte, in der Innentasche seiner Jacke. Dann setzte er sich wieder ans Bett und begann eine interessante Unterhaltung, die Camilla ganz in ihren Bann zog. Scheinbar zufällig teilten sie viele Interessen, Kai verstand es, lebhaft und mitreißend von seinen Vorlieben zu erzählen. Klassische Musik und das Theater waren seine Leidenschaften, die auch Camilla über alles liebte. Aber er verstand sich genausogut auf so weltliche Dinge wie das Kochen. Eifrig tauschten sie Rezepte aus und gaben sich auch Tips. Als Millie schließlich etwas müde wurde und sich in die Kissen zurücklegte, hielt er sofort in seiner Erzählung inne und betrachtete sie aufmerksam.

»Du brauchst jetzt Ruhe, Millie. Schlaf dich aus, und träum was Schönes. Morgen komme ich wieder.« Nur für eine Sekunde wunderte sie sich darüber, daß er ihren Spitznamen kannte, den nur ihre Mutter benutzte. Doch sie war zu müde, um sich über diese Kleinigkeit Gedanken zu machen. Vielmehr spürte sie ein leises Bedauern darüber, daß Kai gehen wollte. Schon wollte sie widersprechen, doch er legte bestimmt einen Finger auf ihre Lippen, auf den er zuvor einen Kuß gehaucht hatte. Mehr geschah nicht zwischen ihnen, und doch war alles anders als zuvor. Als die Tür hinter Kai zufiel, schloß Camilla leise seufzend die Augen. Sie war von den widersprüchlichsten Gefühlen erfüllt, hatte aber keine Kraft mehr, sich damit auseinanderzusetzen. Sanft hüllte sie der Schlaf ein, und sie ließ sich einfach fallen, um Ruhe und Erholung zu finden.

*

Bleich und von Schweißausbrüchen geplagt saß Stephan Humbolt an seinem Schreibtisch und versuchte, sich auf die Unterlagen zu konzentrieren, die vor ihm lagen.

»Du siehst aber gar nicht gut aus heute morgen«, erklärte sein Kollege und guter Freund Ulrich Herbst, als er ihm eine Akte brachte.

»Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich wie eine leere Flasche Scotch«, versuchte Steve zu scherzen.

»Aha, einen über den Durst getrunken?« grinste Uli schadenfroh. »War wohl recht lustig am Wochenende.« Das Hobby des Chefs war in der Firma kein Geheimnis und gab Anlaß für manch gutmütigen Spott.

»Nein und ja. Auf jeden Fall scheine ich mir eine saftige Erkältung geholt zu haben.«

»Habt ihr draußen gespielt?« Ulrich warf einen zweifelnden Blick aus dem Fenster und in den wolkenverhangenen Himmel.

»Nein, das war ja das Pech. Ich war ganz schön verschwitzt. Auf dem Nachhauseweg am Freitag wurde ich dann Zeuge eines Unfalls und mußte bis zum Eintreffen des Notarztes draußen warten. Das scheint mich umgeworfen zu haben.«

»Du meine Güte. Was ist denn passiert?«

»Eine junge Schauspielerin ist nach der Premierenfeier am Steuer eingenickt. Ihr Wagen durchbrach eine Leitplanke und stürzte eine Böschung hinab«, erzählte Steve bereitwillig. »Schwer verletzt ist sie Gott sei Dank nicht, aber sie hatte sich die Beine verklemmt. Ich leistete ihr Gesellschaft, bis der Notarzt kam.«

»Du hast Camilla Rosen gerettet?« Uli starrte seinen Freund mit großen Augen an. »Ich habe von dem Unfall in der Zeitung gelesen. Der Name des Retters ist unbekannt.«

»Ist mir auch lieber so«, erklärte Steve lakonisch. »Berühmt oder nicht, was macht das schon? Ich habe ihr geholfen, wie ich jedem geholfen hätte.«

»Wie ist sie denn so?«

»Hm...«, Stephan dachte einen Augenblick nach. »Dafür, daß sie so bekannt ist, eigentlich sehr nett. Wenn ich nicht schon verlobt wäre, würde sie mir gut gefallen«, gestand er zögernd. »Man kann sich prima mit ihr unterhalten.«

»Kein bißchen zickig?« Uli neugierig weiter.

»Nein, überhaupt nicht. Eher einsam. Ich glaube, sie ist viel allein.« Ein Hustenanfall von Stephan unterbrach die Unterhaltung der beiden Freunde, und Uli warf ihm einen besorgten Blick zu.

»Warst du schon beim Arzt?«

»Keine Zeit.« Stephan putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ariane reißt mir den Kopf ab, wenn ich nicht kräftig bei den Hochzeitsvorbereitungen mitmische.«

»Aber das hat doch keinen Sinn«, widersprach Uli kopfschüttelnd. »Was hat sie schließlich davon, wenn du mit einer verschleppten Grippe vor den Traualtar trittst?«

»Vermutlich so wenig wie ich. Aber heute kann ich wirklich nicht. Die Arbeit drängt, und am Abend muß ich unbedingt mit ins Hotel, die Tischordnung besprechen.« Ulrich überlegte einen Augenblick. Als Jugendfreund von Steve kannte er auch Ariane schon lange. Inzwischen verband ihn auch mit ihr eine Freundschaft. Ja, wenn Stephan nicht gewesen wäre, hätte mehr daraus werden können.

Familie Dr. Norden 732 – Arztroman

Подняться наверх