Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 46 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Martina betrachtete sich im Spiegel. Sie war ein hübsches Mädchen und fand sich bildschön und unwiderstehlich in dem neuen bunten Sommerkleid, für das sie viel mehr Geld ausgegeben hatte, als sie sich eigentlich leisten konnte, aber Jürgen Lichtenberg dachte ja, daß sie zu der reichen Familie Burgmüller gehörte und sie wollte ihn auch noch in dem Glauben lassen, bis sie seiner Liebe ganz sicher sein konnte.

Eigentlich glaubte sie ganz fest daran, daß er sie liebte, warum sonst hätte er sie dann mit zu sich genommen in seine Wohnung. Es war eine schöne Wohnung, so eine, wie sie auch gern eine hätte, aber sie verriet auch, daß er ein typischer Junggeselle war, der alles herumliegen ließ.

Sie hatte erst einmal Ordnung geschaffen, und das hatte ihm anscheinend gefallen. Er brauchte solche Frau, die sich um alles kümmerte. Sie war diese Frau, und bestimmt würde er ihr bald sagen, wie wichtig sie für ihn sei. Es war gut, daß er keine Eltern mehr hatte, wie sie auch, die konnten ihm wenigstens nicht dreinreden. Immerhin hatten sie ihm genügend Geld hinterlassen, daß er neben seinem Beruf als Testfahrer in einem großen Autokonzern, der ebenfalls sehr hoch dotiert war, noch seinen kostspieligen Hobbys wie Tennis, Reiten und Golfen nachgehen konnte.

Martina fand das alles wunderbar und träumte schon davon, daß sie das bald auch tun würde. Jetzt reichte ihr Verdienst kaum für ein Auto, das sie ratenweise abstotterte und manchmal mit den Raten in Verzug geriet. Natürlich sagte sie das ihrem Traummann nicht, sondern tat so, als lege sie keinen Wert auf Äußerlichkeiten, und als ob ein Auto für sie nur ein Fortbewegungsmittel sei.

Es war schon immer so gewesen, daß sie ungeniert log, wenn es darum ging, sich beliebt zu machen. Das war überhaupt ihr Bestreben, bei allem und überall beliebt zu sein. Sie merkte dabei gar nicht, daß sie sich damit eher lächerlich machte. Sie wollte ja nur anerkannt werden, zu den besseren Kreisen dazugehören. Ihre Eltern hatte sie schon verleugnet, als sie noch lebten, weil sie es zu nichts gebracht hatten, anders als die reichen Burgmüllers, zu denen Martina lieber gehören wollte. Sie hatte sich in eine Märchenwelt hineingesteigert und sich so in Szene gesetzt, als wäre sie da hineingeboren. Manche konnte sie damit sogar überzeugen, aber die Männer, denen ihr Interesse galt, konnten sie richtig einschätzen, denn sie hatten meistens bereits Erfahrungen mit Frauen gesammelt. Sie war schon manches Mal in ihrem erst zweiundzwanzigjährigen Leben enttäuscht worden, lebte aber weiterhin in ihrer Scheinwelt.

Jetzt fuhr sie jedenfalls hoffnungsvoll und zuversichtlich zu Jürgen Lichtenbergs Wohnung. Es war die Gartenwohnung in einem Zweifamilienhaus mit einer großen Terrasse zur Südseite, eine Traumwohnung für ihren Traummann. Es war alles geboten, was sie sich selbst wünschte. Sein Auto, eines jener teuren Cabrios, die sich wirklich nur wenige leisten konnten, war vor der Garage geparkt, die Gartentür stand offen. Martina war überzeugt, daß Jürgen schon auf sie wartete, aber sie vernahm zwei verschiedene Männerstimmen und konnte deutlich hören, was sie sagten, da das Fenster offen war.

»Was soll das eigentlich mit dieser Tussi, Jürgen?« sagte die ihr fremde Stimme. »Die klebt ja an dir wie eine Klette.«

»Eine kostenlose Putzfrau, nichts weiter. Man ist ein bißchen nett, und schon fressen einem diese einfältigen Dinger aus der Hand. Sie würde alles für mich tun, warum soll ich das nicht annehmen?«

Martina wurde es schwarz vor Augen, und ihre Knie begannen zu zittern, aber sie harrte neben dem Fenster aus.

»Sie macht das doch nicht ohne Erwartung, Jürgen. Sei vernünftig. Wenn Katja das erfährt, kannst du dir deine tolle Partie in den Wind schreiben. Das wirst du doch hoffentlich nicht riskieren?«

»Katja kommt erst nächsten Monat wieder, und bis dahin ist Martina abserviert. Ich kann nichts dafür, daß sie so anhänglich ist. Manche Frauen kannst du vorn rauswerfen, und sie kommen durch den Garten wieder rein. Das hast du doch auch schon mitgemacht. Aber jetzt kannst du verschwinden, sie wird nämlich bald kommen.«

Nun hatte Martina doch genug. Es war einfach zuviel gewesen, und sie meinte, der Erdboden müsse sich auftun und sie verschlingen. Aber sie brachte doch noch die Kraft auf, zu ihrem Wagen zu wanken, sich hinters Steuer zu setzen und Gas zu geben. Blindlings fuhr sie los, ohne ein Ziel zu haben. Sie konnte nichts denken, eine erdrückende Leere war in ihr und es war, als wäre sie schlagartig aus allen Träumen gerissen, aller Illusionen beraubt.

Ein schwerer Wagen wollte sie überholen, sie merkte es nicht, aber ihm kam ein anderer Wagen auf der Gegenfahrbahn entgegen, er wollte ausweichen, streifte Martinas Auto, drückte sie von der Fahrbahn und landete an einem Baum. Der schwere Wagen fuhr auf einen Begrenzungsstein auf und kam zum Stehen. Was dann geschah, erfuhr Martina erst Tage später, als sie aus tiefer Bewußtlosigkeit erwachte.

*

»Sie wacht auf«, sagte eine Frauenstimme, die wie aus weiter Ferne an Martinas Ohr drang. »Sag’ Dr. Graef Bescheid, Anni.«

Ich bin nicht tot, dachte Martina, aber wo bin ich? Kühle Finger hatten nach ihrem Handgelenk gegriffen, und gleich darauf hörte sie eine tiefe Männerstimme. »Ich kümmere mich jetzt selbst um die Patientin.«

Eine Männerstimme, und obgleich sie sympathisch war, regte sich Abwehr in Martina, ohne daß sie hätte sagen können, warum sie so voller Abwehr reagierte.

»Was ist passiert?« fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.

»Sie hatten einen Unfall und befinden sich jetzt in der Behnisch-Klinik. Ich bin Dr. Graef, können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Martina Burgmüller«, erwiderte sie schleppend. »Meine Papiere befinden sich in meiner Handtasche.«

»Ich wollte nur prüfen, ob Sie sich erinnern können«, sagte Michael Graef.

»Warum sollte ich es nicht, ich lebe doch.«

Nun schlug sie doch die Augen auf und sah das Lächeln in dem schmalen Männergesicht.

»Gott sei Dank, daß Sie leben. Herr Mettin wird aufatmen.«

»Wer ist Herr Mettin?«

»Der Unfallverursacher. Er bedauert zutiefst, daß er Sie da hineingerissen hat.«

»Ich kenne keinen Mann dieses Namens, und ich weiß gar nicht, was passiert ist. Was ist mit meinem Auto? Es ist noch nicht mal bezahlt.«

»Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, das alles übernimmt Herr Mettin.«

Ich werde doch nicht einmal Glück haben in diesem Leben? Und dazu Glück im Unglück, ging es Martina durch den Sinn.

»Wieso tut dieser Herr Mettin das?« fragte sie.

»Weil er den Unfall verursacht hat und glimpflich davongekommen ist. Er war mit seinen Gedanken nicht richtig bei der Sache. So geschah es, daß er den Gegenverkehr übersah.«

»Ich war anscheinend auch ziemlich abwesend, denn ich habe gar nichts gemerkt. Was habe ich für Verletzungen?«

»Da war zuerst eine schwere Gehirnerschütterung, mehrere Rippenbrüche, eine Lungenprellung, Unterarmfraktur und innere Blutungen, die wir zum Glück schnell in den Griff bekamen.«

»Sind die Beine okay? In Zukunft werde ich ja wohl laufen müssen.«

Von Galgenhumor konnte man bei ihr nicht sprechen, sie sagte es fast gleichmütig.

»Herr Mettin wird Sie für alles entschädigen, Sie bekommen auch ein neues Auto.«

»Gibt es soviel Großzügigkeit?«

»Na, hören Sie mal, Sie hätten tot sein können! Was meinen Sie, was das für ihn bedeutet hätte! Er hat einen Fehler gemacht und will dafür bezahlen, vor allem, daß Sie wieder ganz gesund werden. Wenn Sie es gestatten, wird er Sie auch besuchen.«

»Ich muß mich erst wieder zurechtfinden und meine Gedanken ordnen. Ich kann mich nämlich noch nicht wieder erinnern, was vor dem Unfall gewesen ist.«

»Es war ein Samstag, der Unfall geschah drei Uhr nachmittags, im Mühltal. Hilft Ihnen das weiter?«

»Ich muß nachdenken, mein Kopf tut weh.«

»Sie bekommen gleich eine Infusion. Sie sollen sich noch nicht anstrengen. Ihr Arbeitgeber ist verständigt.«

»Wie lange liege ich denn schon hier?«

»Neun Tage.«

»Neun Tage«, wiederholte sie, »dann werde ich bestimmt gefeuert.«

»Herr Mettin wird Ihnen eine bessere Stellung bieten«, sagte Dr. Graef.

»Ist er ein Wohltäter?« fragte Martina spöttisch.

»Er ist heilfroh, daß Sie über den Berg sind. Er hatte noch nie einen Unfall, und dann gleich einen, den er verschuldet hat.«

Martina dachte nicht einen Augenblick daran, das zu ihrem Vorteil auszunutzen. Vor dem Unfall hätte sie das bestimmt getan, aber irgend etwas hatte sich in ihr verändert.

Schwester Hanna hängte die Infusion an, und dann kam Dr. Jenny Behnisch und machte sich mit ihr bekannt, aber Martina war schon wieder so schläfrig, daß sie nicht mehr denken konnte.

Jenny Behnisch unterhielt sich draußen mit Michael Graef. »Sie hat gefragt, welche Verletzungen sie hätte, aber sie hat nicht gefragt, wie sie aussieht«, sagte er.

»Die Wunden heilen, es sieht gut aus«, meinte Jenny zuversichtlich.

»Sie wird Narben behalten«, sagte er nachdenklich.

»Die werden nicht schlimm sein. Außerdem kann sie froh sein, daß sie lebt, und Herr Mettin auch.«

»Aber ihn läßt es wenigstens nicht unberührt wie so manchen anderen. Er ist ehrlich bemüht. Was man sonst so hört und liest über Unfallverursacher ist übel genug.«

»Er kann es sich auch leisten, großzügig zu sein«, meinte Jenny. »Bei manchen anderen hängt von einem Augenblick Unachtsamkeit oft die ganze Existenz ab. Ich will doch mal Frau Burgmüller anrufen, ob sie irgendwie mit Martina verwandt sind. Es hat sich ja noch immer niemand gemeldet, obgleich ihr Name doch in dem Zeitungsbericht erwähnt wird.«

»Viele lesen die Meldungen über Unfälle gar nicht«, sagte Michael.

*

Jürgen Lichtenberg hatte den Bericht gelesen, nachdem er vergeblich auf Martina oder eine Nachricht von ihr gewartet hatte. Man konnte nicht sagen, daß es ihm naheging, dazu war er viel zu oberflächlich, aber es war doch ganz angenehm für ihn gewesen, jemand zu haben, der Ordnung bei ihm machte. Von Katja Doermer konnte er das nicht erwarten. Aber er dachte auch nicht daran, sich einmal nach Martinas Befinden zu erkundigen. Er mußte jetzt ohnehin wieder für ein paar Tage zu Testfahrten nach England fliegen, und das kam ihm ganz gelegen.

Heidelinde Burgmüller war gerade erst von einem Besuch bei ihrem Sohn und seiner jungen Familie zurückgekommen, denn sie hatten vor drei Wochen Familienzuwachs bekommen. Die frischgebackene jugendliche Großmama hatte ihren Enkel bewundern wollen. Tobias war Hotelmanager in der Schweiz und lebte mit seiner Frau Susi und dem Baby Julian in der Nähe von Zürich. Heidelinde hatte die zwei Wochen genossen, aber nun wollte sie sich doch wieder um ihr schönes Haus kümmern.

Sie war ahnungslos, daß eine Martina Burgmüller verunglückt war.

Als Dr. Jenny Behnisch sie anrief, fiel sie aus allen Wolken.

»Martina Burgmüller, Alter zweiundzwanzig«, wiederholte sie Jenny Behnischs Frage. »Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, ob das Verwandtschaft sein könnte. Mein Mann hatte einen Cousin, der meines Wissens eine Tochter hatte, aber wir hatten gar keinen Kontakt und ich glaube, dieser Cousin ist schon lange vor meinem Mann gestorben. Ich komme aber gern in die Klinik und spreche mal mit Ihrer Patientin. Ich bin immer gern bereit, Menschen in Not zu helfen.«

Jenny Behnisch fand das sehr entgegenkommend. Sie sagte aber Martina nichts von ihrem Anruf.

Heidelinde rief nach längerem Nachdenken ihren Sohn an. »Bist du gut gelandet, Mutsch?« fragte der arglos. »Lieb, daß du gleich anrufst.«

»Ich muß dir was erzählen und dich was fragen, Tobias. Kaum war ich zu Hause, rief Frau Dr. Behnisch an, du weißt doch, von der Behnisch-Klinik. Sie fragte mich, ob ich eine Martina Burgmüller kenne. Du hast dich doch mit Vaters Familie mehr befaßt. Hat es da eine Martina gegeben, die jetzt zweiundzwanzig ist?«

»Laß mich mal nachdenken, worum geht es denn eigentlich?«

»Diese Martina wurde bei einem Autounfall schwer verletzt und liegt seit zehn Tagen in der Klinik. Sie kann anscheinend nichts über sich sagen. Sie ist übrigens nicht schuld an dem Unfall. Hatte der Cousin von Herbert nicht eine Tochter?«

»Du meinst Ludwig? Ja, das könnte sein. Der ist mit seiner Frau bei einer Gasexplosion in ihrem Haus ums Leben gekommen. Aber von einer Tochter war da nicht die Rede. Vater wollte sich darum kümmern, aber dann wurde er krank und es geriet wohl in Vergessenheit. Es hat sich ja auch niemand bei uns gemeldet. Du bist natürlich gleich wieder voller Mitgefühl, aber du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, Mutsch. Es war schön, daß du bei uns warst. Du kannst ruhig öfter kommen.«

»Das ist gut gemeint, aber ich kann mich noch erinnern, daß ich auch nicht gerade begeistert war, wenn meine Schwiegermutter dauernd bei uns rumhing.«

»Von dauernd kann bei dir keine Rede sein, und Susi mag dich auch, aber wahrscheinlich hast du so viele Freunde, daß du nichts vermißt.«

So war es wirklich nicht, aber Heidelinde war auch gern wieder allein in ihrem schönen Haus. Es genügte ihr, wenn sie telefonierten und ab und zu mal Besuch kam. Jetzt aber wollte sie doch wissen, ob es verwandtschaftliche Bande zu jener Martina gab.

Sie meldete sich erst einmal bei Dr. Norden an, den sie immer gern um einen Rat bat, wenn sie sich einer Sache nicht sicher war, auch wenn es sich nicht um gesundheitliche Beschwerden handelte.

Wendy sagte, daß sie gern nachmittags gegen sechzehn Uhr dreißig kommen könne.

»Gibt es noch was?« fragte Dr. Norden, bevor er zum Mittagessen heimging.

»Frau Burgmüller ist wieder im Lande. Sie kommt nachmittags. Kann ich heute ein bißchen später kommen, ich möchte noch nach Schorsch sehen, sonst ißt er wieder nicht richtig.«

»Bemuttern Sie ihn ruhig, Wendy«, meinte Dr. Norden schmunzelnd. Sie waren alle froh, daß sich die Freundschaft zwischen Wendy und Dr. Leitner so positiv entwickelt hatte.

Schorsch war ein schwieriger Mensch. Erst hatte er jahrelang unter dem Einfluß seiner Mutter gestanden, dann hatte er endlich eine Frau gefunden, die ihn zu verstehen schien. Es ging lange gut, bis sie sich dann einer Sekte anschloß und ihn verließ. Da drohte er völlig zu resignieren, aber Wendy hatte ihn schließlich wieder seiner Isolation entrissen. Gerade ihre Art, ihn nie unter Druck zu setzen, gestaltete diese Freundschaft so harmonisch. Sie verbrachten ihre Freizeit oft zusammen. Wenn es in der Frauenklinik, die sich großer Beliebtheit bei werdenden Müttern erfreute, mal Not am Mann war, half Wendy auch abends oder am Wochenende aus. An Heirat dachten sie beide nicht. Wendy liebte ihre Arbeit bei Daniel Norden und wollte auch ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.

Fee billigte das natürlich auch. Ihr war es schon ein bißchen bange geworden, daß Wendy lieber zu Schorsch ziehen wollte und Daniel dann wieder eine neue Hilfe suchen mußte, aber diese Sorgen brauchten sie nicht zu haben.

»Fein, daß du schon da bist«, begrüßte Fee ihren Mann.

»Heute war es mal nicht so wild. Wendy ist jetzt zu Schorsch gefahren. Sie kümmert sich rührend um ihn.«

»Er weiß es auch zu würdigen. Er hat mich gerade vorhin angerufen und gefragt, womit er wohl Wendy mal eine besondere Freude bereiten könnte. Du weißt ja, wie schwerfällig er ist.«

»Und was hast du gesagt?«

Fee lachte. »Ich besorge die Lederjacke, die ihr so gut gefallen hat. Sie schleicht schon tagelang wie die Katze um den heißen Brei herum.«

»Hoffentlich ist es ihr dann nicht wieder peinlich, weil sie teuer ist.«

»Das rede ich ihr schon aus. Sie tut soviel für Schorsch, da braucht sie keine Hemmungen zu haben.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, lachte er.

»Gibt es sonst noch was Neues?«

»Frau Burgmüller ist wieder im Lande. Sie kommt heute nachmittag.«

»Sie muß von ihrem ersten Enkel erzählen.« Fee hob die Augenbrauen. »Mir geht es immer wieder durch den Kopf, ob Martina Burgmüller mit ihr verwandt ist.«

»Ich meine, daß die junge Dame das gewußt hätte.«

»Weißt du, arme Verwandte haben manchmal einen besonderen Stolz.«

»Wie kommst du darauf, daß es eine arme Verwandte sein könnte?«

»Reiche Verwandte pflegen Kontakte, allein schon aus dem Grunde, damit jeder über den anderen genau informiert ist.«

In Daniels Augen blitzte es. »Woher hast du diese weisen Kenntnisse? Aus dem Fernsehen?« fragte er neckend.

»Meistens vom Friseur. Da schnappt man das meiste auf«, erklärte Fee ohne Verlegenheit. »Und ich lese viel. Die feinen Leute sind oft gar nicht fein, da brauchst du nur mal in die Fürstenhäuser zu gucken, was da so alles gespielt wird. Manchmal meine ich, daß die Worte Ehre, Treue und Moral, die so oft in den Chroniken zitiert werden, überhaupt keine Geltung mehr haben.«

»Im Zeitalter turbulent fortschreitender Technik ist sowieso alles im Handumdrehen überholt.« Er seufzte. »Und auch in der Medizin steht man manchmal wie dumm da, weil so vieles, was lange Geltung hatte, heute fast verdammt wird.«

»Es gibt halt viele Wunderheiler und Wundermittelchen, mein Schatz. Wenn die lieben Leute sich lieber aus der Werbung beraten lassen, wie man diesem oder jenem Übel beikommt, dann werden sie eine Menge Geld los, aber weder überflüssige Pfunde, noch irgendwelche chronischen Beschwerden.«

»Aber von einer beträchtlichen Anzahl Medikamente, die man nur in der Apotheke bekommt, wird man auch getäuscht. Wo sind die Kinder?« wechselte er das Thema.

»Heute ist Wandertag, da sind sie unterwegs. Hast du wohl schon wieder vergessen?«

»Habe ich tatsächlich, aber man wird mir verzeihen, denn die Zwillinge haben doch noch keinen Wandertag.«

»Die sind länger im Kindergarten, basteln für das Frühlingsfest, zu dem natürlich alle Eltern eingeladen werden.«

»Ach, du liebe Güte, erwartest du etwa, daß ich mitkomme? Soll ich ein paar Dutzend von den kleinen Wildfängen über mich ergehen lassen?«

»Du mußt sie nicht über dich ergehen lassen, du sollst nur staunen, was sie sich alles einfallen lassen. Sie nehmen es so wichtig. Du wirst sie nicht enttäuschen.«

»Den Ton kenne ich. Ich würde nicht wagen, dir zu widersprechen, allerliebste Fee. Mußt du die Kleinen jetzt nicht abholen?«

Fee gestattete sich ein verstecktes Lächeln. Es fehlte ihm einfach etwas, wenn es so still war.

»Frau Schröder bringt sie. Wir wechseln uns jetzt ab, dann brauchen wir nicht immer zu fahren.«

»Hat sie auch genügend Kindersitze?«

»Einen ganzen Kleinbus voll. Du brauchst nicht besorgt zu sein. Ich gehe auch immer auf Nummer sicher.«

Schon kurze Zeit später hörten sie das Gejauchze von mehreren Kindern, und als Fee hinausging, kamen die Zwillinge schon angesprungen. Fee winkte Frau Schröder zu, und alle Kinder im Bus winkten zurück.

»Es war ganz toll heute«, erzählte Dési. »Ist Papi schon da?«

»Schon eine ganze Zeit.«

Gleich rannten beide los, und Daniel hatte wenigstens seine zwei Kleinen wieder.

»Ihr seid ja gut drauf«, stellte er fest.

»Es war lustig«, sagte Jan.

»Wir haben viel gelernt«, sagte Dési mit wichtiger Miene. »Du wirst beim Frühlingsfest schon sehen, was wir alles können.«

»Wie war es eigentlich in deinem Kindergarten, Papi?«

»Ich war überhaupt nicht im Kindergarten. Es gab gar keinen bei uns im Ort.«

»Und wo habt ihr gespielt?«

»Auf der Wiese.«

»Wer hat denn auf euch aufgepaßt?« wollte Jan wissen.

»Niemand. Manchmal kam der Bauer und hat mächtig geschimpft, daß wir die Wiese kaputt machen.«

»Bei uns schimpfen bloß die Nachbarn, daß wir zu laut sind, aber wir sind gar nicht laut. Manche Leute mögen keine Kinder«, sagte Dési. »Warum eigentlich nicht, Mami?«

»Das frage ich mich manchmal auch«, gab Fee zu, »aber bei manchen ist es auch gut, wenn sie keine Kinder haben, weil diese zu bedauern wären.«

»Aber wenn sie zu Hunden nett sind, können sie doch auch nett zu Kindern sein.«

»Ja, dann haben sie wohl auch mal Kinder haben wollen, keine bekommen und waren sehr enttäuscht. Deshalb haben sie sich dann Hunde angeschafft. Man muß immer erst wissen, warum solche Leute keine Kinder mögen.«

»Menschen sind halt verschieden«, sagte Daniel. »Habt ihr gar keinen Hunger?«

»Wir haben Grießbrei bekommen, der war ganz gut«, sagte Jan. »Gehen wir auch noch wandern, Mami?«

»Ihr könntet heute nachmittag mit zum Gärtner kommen, wir brauchen noch ein paar Pflanzen.«

»Das ist toll«, freuten sie sich, »dann können wir beim Reiten zugucken, das ist ganz nahe.«

Es sollte ein aufregender Ausflug werden, und Fee wäre es dann lieber gewesen, sie hätten nicht bei den Reitern zugesehen, die für ein Turnier trainierten. Aber man konnte ja nicht vorher wissen, was auch da so alles passieren konnte.

*

Sie fuhren los, als Daniel wieder in die Praxis mußte. Lenni hatte den Zwillingen noch eine Nudelsuppe gemacht, denn plötzlich hatten sie doch wieder Hunger gehabt. Nun waren sie satt und zufrieden.

Sie fuhren zuerst zum Gärtner, denn Fee war sicher, daß sie dann nicht mehr hinkommen würden, wenn sie erst zum Gestüt fuhren, wo trainiert wurde.

Beim Gärtner waren sie immer willkommen. Sie bekamen auch jedesmal etwas zum Einpflanzen geschenkt und ließen sich genau erklären, was sie dabei beachten mußten.

Sie waren zu putzig, wer hätte ihnen widerstehen können? Und Fee hörte es ganz gern, daß man die Kleinen goldig fand.

So war es dann auch beim Gestüt, da waren einige Bekannte zum Schauen gekommen, denn es waren auch ein paar prominente Reiter dabei. Auch Katja Doermer kam im Reitdress von den Ställen her und begrüßte Fee gleich so, als wären sie die allerbesten Freundinnen. Fee war die junge Dame etwas zu exaltiert und in ihrem Benehmen zu auffallend, aber sie war sehr attraktiv und erregte Aufsehen.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Frau Norden«, sagte Katja. »Kommen Sie auch nicht mehr zum Tennis?«

»Zuwenig Zeit, jetzt spielen die Buben«, erwiderte Fee.

»Danny ist klasse«, meinte Katja, »und die Mädchen sind auch schon hinter ihm her.«

Das war Fee allerdings bekannt, und Danny mußte deshalb schon genug Neckerei ertragen.

»Nehmen Sie auch am Turnier teil?« fragte Fee mehr höflichkeitshalber.

»Nein, aber mein Verlobter. Da kommt er ja gerade. Darf ich Sie mit Jürgen Lichtenberg bekannt machen, Frau Norden?«

Jürgen Lichtenberg begrüßte Fee höflich. »Wir sind uns schon begegnet«, sagte er mit einem charmanten Lächeln. »Ich gehöre zu Ihren Bewunderern, gnädige Frau.«

Jan schubste Dési an. »Er meint Mami«, raunte er, aber immerhin so laut, daß man es hören konnte.

»Meine Zwillinge«, sagte Fee, die sich ein Lachen kaum noch verkneifen konnte. »Unsere Jüngsten.«

»Ich muß jetzt leider in den Sattel«, sagte Jürgen Lichtenberg. »Vielleicht sehen wir uns bei der Siegesfeier, gnädige Frau.«

Fee kam gar nicht dazu, ihm zu erklären, daß sie diese Anrede nicht mochte. Unter ihren Bekannten wurde sie auch gar nicht mehr gebraucht. Ein alter Zopf war das, der abgeschnitten wurde, hatte sogar ihr Vater gesagt. Wer war denn schon gnädig? Die Zwillinge beschäftigte das noch lange, aber es sollte etwas geschehen, das sie alles andere vorerst vergessen ließ, denn die Reiter versammelten sich und die Kleinen bewunderten die schönen Pferde.

»Wie heißt das Pferd, das Ihr Verlobter reitet?« fragte Fee.

Katja sah sie irritiert an. »Ich glaube, es ist Zorro. Jürgen hat zwei Pferde zur Auswahl, sie ähneln sich.«

»Es scheint sehr nervös zu sein«, bemerkte Fee.

»Jürgen aber nicht, er hat es schon im Griff. Er ist ein sehr guter Reiter. Ich setze auf Sieg.«

Aber kaum hatte sie es ausgesprochen, bockte der Hengst und brach aus. In wildem Speed raste er los, und Fee stieß einen leisen Schreckensschrei aus.

»Der ist aber wild«, sagte Jan.

»Ich habe richtig Angst, Mami«, flüsterte Dési.

Fee erging es nicht anders, während Katja mehrmals sagte: »Jürgen schafft das schon.«

Aber er schaffte es nicht.

Der Hengst setzte über einen Oxer, rannte dann eine Hürde um und schon da konnte sich der Reiter kaum noch halten.

Dann ging alles blitzschnell. Im hohen Bogen flog Jürgen Lichtenberg durch die Luft, und der Hengst stürzte auf ihn, als er am Boden lag.

Ein Aufschrei aus mehreren Kehlen war zu vernehmen, dann herrschte plötzlich Totenstille. Obgleich Fee starr vor Entsetzen war, reagierte sie rein mechanisch, griff zu ihrem Handy und verständigte den Notarzt und auch die Behnisch-Klinik, die am nächsten lag. Sie ahnte, daß schnelle Hilfe nötig war, denn weder Reiter noch Pferd regten sich. Jetzt waren ein paar andere Reiter und Helfer bei ihnen.

»Ich kann das nicht sehen«, jammerte Katja, »wie können Sie nur so ruhig sein!« Das war vorwurfsvoll an Fee gerichtet, die aber keine Notiz davon nahm.

»Bleibt mal schön stehen«, sagte sie zu den Kindern, »ich sage den Leuten nur Bescheid, daß ich den Notarzt schon verständigt habe.

Der Tierarzt war aber auch gefragt, und der war in der Nähe. Er konnte nur den Tod des Pferdes feststellen und sagte, daß das sehr merkwürdig sei. Gestern noch sei der Hengst völlig gesund gewesen und in gewohnter Verfassung. Dieser Ausbruch sei völlig unbegreiflich.

Zum Glück nahte schon der Notarzt und auch ein Polizeiwagen.

»Wir wurden von Frau Dr.

Norden verständigt«, sagte Dr. Brechtl, der Fee sehr gut bekannt war.

Jürgen Lichtenberg lag immer noch halb unter dem toten Pferd, das nun gewaltsam entfernt werden mußte, was bei dem Gewicht nicht einfach war.

Die Polizisten wollten den genauen Vorgang geschildert haben. Fee ging es mehr darum, daß der Schwerverletzte versorgt wurde, der nur schwache Lebenszeichen von sich gab.

Jan tröstete indessen die weinende Dési, die auf das böse Pferd schimpfte.

Katja Doermer war verschwunden, was Fee dann verwundert zur Kenntnis nahm. Sie hatte sich nicht eine Minute um ihren Verlobten gekümmert.

Darüber dachte Fee allerdings erst später nach, nachdem Jürgen Lichtenberg mehr tot als lebendig zur Behnisch-Klinik transportiert wurde. Sie mußte die aufgeregten Zwillinge beruhigen und machte sich gleich mit ihnen auf den Heimweg.

Ihr Weg führte an der Behnisch-Klinik vorbei, und Jan sagte sofort, daß da jetzt der Reiter hingebracht worden war.

»Ist er vielleicht tot, Mami?« fragte er.

»I wo«, beruhigte sie die beiden, da Dési gleich wieder zu weinen begann, »wie kommst du denn darauf?«

»Weil die Dame, die mit dir geredet hat, geschrien hat: ›Er ist tot, er ist tot!‹ Und dann hat ein Herr sie weggebracht.«

»Ich habe nichts gehört«, sagte Fee nachdenklich, »ich habe mich nur gewundert, daß sie nicht bei ihrem Verlobten war.«

»Sie hat auch nicht laut geschrien«, sagte Dési, »sie wollte bloß schnell weg.«

Wie scharf Kinder doch beobachten konnten, im Verlauf des Abends sollte Fee noch mehr von den Zwillingen erfahren.

Zu Hause angekommen, mußten sie aber zuerst Lenni erzählen, was sie erlebt hatten. Dann kamen nacheinander die großen Geschwister von ihren Wandertagen nach Hause, müde und hungrig und wenig begeistert. Fee brauchte gar nicht zu fragen, wie es gewesen sei. Wie immer, bekam sie zu hören. Man läuft wie in einer Herde, und wehe, wenn man mal zurückbleibt. Man kommt sich richtig doof vor, war die Meinung von Felix.

Anneka war so müde, daß sie fast am Küchentisch einschlief, obgleich ihr Lenni den geliebten Kaiserschmarrn zubereitet hatte.

Die Buben wollten was Deftiges und bekamen es auch, nämlich Schweinebraten. Sie wollten allerdings auch hören, was die Zwillinge erlebt hatten.

»Der Lichtenberg«, staunte Danny, »der ist doch bei uns im Tennisclub. Er sollte lieber beim Tennis bleiben, wenn er nicht reiten kann.«

Das klang hart, aber so waren die Buben nun mal. Felix setzte noch eins drauf, indem er erklärte, daß Jürgen Lichtenberg ein Angeber sei.

»Aber die Weiber fliegen auf ihn«, sagte Danny, ohne die verweisenden Blicke seiner Mutter zu beachten.

»Die Dame Katja ist aber mit einem anderen Mann weggegangen«, sagte Jan.

»Sie hat ihn auch ganz doll umarmt«, schloß sich Dési an. »Der ist aber erst gekommen, als Mami zu dem armen Reiter gelaufen ist.«

Was sie plötzlich alles beobachten und wissen, dachte Fee. Gerade waren sie noch Babys gewesen, die von den Größeren dauernd berichtigt wurden. Die Zeit enteilt uns, dachte sie wehmütig.

Endlich kam Daniel heim. Fee hatte völlig vergessen, daß sie auch etwas von Frau Burgmüller und ihrem Enkel erfahren wollte. Daniel wunderte sich, daß sie nicht gleich danach fragte. Aber er mußte auch erst von dem wichtigen Ereignis erfahren, darauf bestanden die Zwillinge.

»Und stell dir vor, Papi, grad noch hatte der Mann zu Mami ›gnädige Frau‹ gesagt. Wie findest du denn das?«

Daniel warf Fee einen schrägen Blick zu. »Ein alter Verehrer von dir?« fragte er anzüglich.

»Der Verlobte von Katja Doermer«, erwiderte sie.

»Der wievielte Verlobte ist es?« meinte Daniel spöttisch.

»Eine große Liebe wird es nicht sein, sie hat sich überhaupt nicht um ihn gekümmert.«

»Und Jenny wird nicht erbaut sein, wenn sie schon wieder einen so schweren Fall versorgen muß.«

Sie sprachen über Jürgen Lichtenberg und dann auch über Martina Burgmüller.

*

Martina ahnte nicht, daß Jürgen Lichtenberg, an den sie nur mit Verachtung und Verbitterung denken konnte, in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden war. Sein Zustand war noch bedenklicher als der ihre nach dem Autounfall.

Sie schlief nicht mehr ganz tief, dämmerte mehr vor sich hin und hörte ungewohnte Geräusche, lauter als sonst. Sie hörte auch, daß schnell hin- und hergelaufen wurde.

Sicher wieder ein Unfall, ging es ihr durch den Sinn, und unwillkürlich formten sich Bilder jenes für sie schicksalhaften Tages zu einem Film, der vor ihren Augen abrollte.

Sie sah sich in ihrem neuen Kleid vor dem Spiegel, schon ganz in der Vorfreude auf ihr Treffen mit Jürgen und spürte die Hoffnung, daß er ihr sagen würde, daß er sie liebe und heiraten wolle.

Immer hatte sie nur dies eine gewünscht und erhofft: Geliebt zu werden, endlich einen Menschen zu haben, zu dem sie und der zu ihr gehörte.

Und dann dieses Gespräch! Sie überlegte, wer der andere Mann gewesen sein konnte. Dabei fiel ihr ein, daß Jürgen sie nie mit seinen Freunden zusammengebracht hatte, obgleich er doch bestimmt sehr viele hatte. Er hatte sie nicht mit in den Club genommen und sie waren nur in Restaurants gewesen, wo sie niemals Bekannte getroffen hatten.

Sie hatte sich so gewünscht, daß man sie mit diesem attraktiven Mann sehen würde, aber gleichzeitig hatte sie auch Angst gehabt, daß es dann bekannt werden könnte, daß sie Telefonistin in einem großen Kaufhaus war, bei der unzufriedene Kunden ihren Ärger entluden. Was mußte sie Tag für Tag alles einstecken, aber sie war froh, überhaupt etwas zu verdienen und ihre bescheidene kleine Wohnung bezahlen zu können. Es war ja nur ein Einzimmerappartement mit einer winzigen Küche und einem ebenso winzigen Bad. Da hatte sie Jürgen auch nicht mitnehmen können und sich damit herausgeredet, daß ihr Vermieter keine Herrenbesuche dulde.

Sie hatte immer wieder gelogen, nicht nur Jürgen gegenüber. Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie sich in eine Scheinwelt hineingelogen hatte. Wie hätte sie ihm erklären wollen, daß sie Telefonistin war und nicht eine vermögende Erbin, die allerdings noch nicht ganz über ihr Erbe verfügen könne. Durfte man einen Menschen, an dem einem viel lag, überhaupt so belügen? War es nicht die gerechte Strafe, daß er auch nicht ehrlich zu ihr gewesen war und sie nur als eine kostenlose Putzfrau betrachtete?

Sie zuckte zusammen, als die Tür geöffnet wurde.

Schwester Klara kam herein. »Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen«, sagte sie, »wir haben nämlich einen Notfall. Brauchen Sie etwas?«

»Nein, ich brauche nichts. Sie haben sicher genug zu tun.«

»Das kann man sagen. Ein schwerer Reitunfall. Ich sage es ja immer, daß Sport auch Mord ist.«

»Manchmal kann man aber auch nichts dafür.«

»Sie konnten nichts dafür, aber es zwingt einen doch niemand, sich auf einen wilden Gaul zu setzen.«

Martina wollte nichts dazu sagen, aber sie hatte sich immer gewünscht, auch reiten zu können. Sie liebte Pferde und fand, daß es ein schöner Sport war. Sie liebte Tiere überhaupt, auch einen Hund hätte sie gern gehabt. Ja, Wünsche hatte sie genug, aber erfüllt hatte sich bisher nur der eine, daß sie sich ein gebrauchtes Auto kaufen konnte und das war nun auch völlig kaputt.

Wie hieß doch der Mann, der den Unfall verursacht hatte und alles regeln wollte? Sie kam nicht auf den Namen, und sie glaubte auch nicht daran. Das waren bestimmt wieder solche Versprechungen, die nicht gehalten wurden.

Ein eigenartiges Gefühl nahm sie gefangen, verursachte ihr Unbehagen, weil ihr immer deutlicher bewußt wurde, wie oft sie gelogen und andere getäuscht hatte. Da konnte es auch keine Rechtfertigung sein, daß sie sich damit nicht etwa finanzielle Vorteile verschaffen wollte, sondern eben nur Beachtung erhoffte. So gern wollte sie einflußreiche Freunde haben, schön und elegant sein und bewundert werden, aber es war so gewesen, daß man sie meistens durchschaut hatte, über sie lächelte oder ihr gar aus dem Wege ging. Es hatte überhaupt keinen Sinn, da etwas zu beschönigen zu wollen. Es mußte erst dieser Unfall geschehen, damit sie zu der Erkenntnis kam, daß man ein Leben nicht auf Lügen aufbauen konnte.

Ich werde nie mehr lügen, dachte sie.

Später schaute Schwester Anni herein.

»Sind Sie wach, Martina?« fragte sie.

Martina hatte darum gebeten, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Nicht alle hielten sich daran, aber Anni war im gleichen Alter wie sie, unbefangen und meist gut gelaunt.

»Ich würde gern ein bißchen Musik hören oder etwas lesen«, erwiderte sie.

»Wie wäre es mit einem Besuch? Frau Burgmüller fragt, ob sie mal guten Tag sagen dürfe. Sie möchte gern herausfinden, ob Sie verwandt sind.«

Martinas Herz tat einen schnellen Schlag. Niemand konnte ihr nachsagen, daß sie diejenige gewesen sei, die sich bei den reichen Burgmüllers einschmeicheln wollte. Eigentlich wußte sie gar nicht genau, ob sie wirklich Verwandte waren. Gewünscht hatte sie sich das auch, aber nie den Mut gehabt, sich mit ihnen bekannt zu machen.

»Ich würde mich freuen«, sagte sie jetzt stockend.

Als Heidelinde Burgmüller das Krankenzimmer betrat, begann Martinas Herz schneller zu schlagen. Freudiges Staunen bewegte sie. Heidelinde gefiel ihr sofort, und ihr freundliches Lächeln machte Martina Mut.

»Ich bin Heidelinde Burgmüller, geborene Marein, zweiundfünfzig Jahre. Mein Mann hieß Herbert. Das möchte ich vorausschicken, da wir ja erst einmal feststellen müssen, wie wir verwandt sind. Als ich von Ihrem Unfall hörte und auch, daß Sie in München leben, war ich bestürzt, daß wir nichts voneinander wußten, wenn Sie die Tochter von meines Mannes Cousin Ludwig Burgmüller sind. Erzählen Sie mir bitte etwas über Ihr Leben, Martina. Ich weiß kaum etwas von Ludwig Burgmüller und seiner Familie.«

Familie Dr. Norden Classic 46 – Arztroman

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