Читать книгу Familie Dr. Norden 733 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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»Hübsche Aufnahmen!« Wohlwollend blätterte Miriam Wolters von der Agentur Wolters & Partner die Fotografien durch, die vor ihr lagen.

Ein Hoffnungsschimmer glomm in Rominas Augen auf.

»Natürliche Ausstrahlung, hübsche Figur, sehr mädchenhaft.« Miriam Wolters klappte die Mappe zu und musterte die Achtzehnjährige mitleidig, die vor ihr nervös auf dem Stuhl saß. »Aber leider nicht das, wonach wir momentan suchen. Im Augenblick haben wir nur Anfragen für knabenhafte Typen. Scheint der Trend fürs nächste Jahr zu sein. Tut mir leid.« Freundlich aber bestimmt schob sie die Mappe über den Tisch.

Ernüchternd griff Romina danach und seufzte. »Immer wieder bekomme ich das gleiche zu hören«, erklärte sie deprimiert. »Dabei hat mir der Fotograf, bei dem ich die Aufnahmen gemacht habe, wirklich große Hoffnungen gemacht. Er hat meine Professionalität und die Natürlichkeit gelobt, mit der ich mich vor der Kamera bewege.«

»Mag schon sein, Kind. Aber ich sagte doch schon, im Moment bist du einfach der falsche Typ.« Eine Spur Ungeduld schwang in Miriam Wolters’ Stimme, Romy bemerkte es und erhob sich schnell.

»Da kann man wohl nichts machen.« Ein Schatten fiel über ihr hübsches Gesicht. Ohne es zu wollen, bekam Miriam Mitleid mit dem zierlichen Mädchen, das sie, wäre die Nachfrage eine andere gewesen, sofort unter Vertrag genommen hätte.

»Paß mal auf, Mädchen.« Sie erhob sich und kam um den Tisch herum, bis sie Romina Gnade Auge in Auge gegenüberstand. Tapfer hielt sie ihrem Blick stand. »Ich kann dich in meine Kartei aufnehmen. Wer weiß, manchmal hat ein Designer entgegen aller Trends eigene Vorstellungen von dem Model, das seine Kollektion präsentieren soll. Wenn sich wider Erwarten was ergeben sollte, hörst du von mir. Aber mach dir keine zu große Hoffnung«, schränkte sie sofort ein, als sie das Leuchten in Romys Augen bemerkte.

»Natürlich nicht. Aber immerhin ist das ein Anfang. Die anderen Agenturen haben mich rundweg abgelehnt«, entfuhr es Romina spontan. Erschrocken schlug sie sich mit der Hand auf den Mund, doch Miriam lachte nur über soviel Spontanität.

»Man sieht, daß du noch jung und unverdorben bist. Bewahre dir deine Natürlichkeit.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Und jetzt muß ich zum Casting. Geh nur rüber zu Nancy, die nimmt deine Daten auf und scannt deine Fotos ein. Mit etwas Glück sehen wir uns wieder.«

Ein warmer Händedruck, und schon eilte Miriam Wolters aus dem Zimmer. Sie war beständig unter Zeitdruck, jagte von einem Termin zum anderen, castete junge Mädchen, die von einer Modelkarriere träumten und zerstörte andererseits ebenso viele Hoffnungen mit nur einem Satz. Romina ahnte in diesem Augenblick nicht, wie groß der Eindruck gewesen war, den sie in ihrer Natürlichkeit auf Miriam Wolters gemacht hatte und wie glücklich sie sich schätzen konnte, überhaupt in die Kartei aufgenommen zu werden.

Es war bereits dunkel, als sich Romina Gnade endlich auf den Nachhauseweg machen konnte. Mit klopfendem Herzen schwang sie sich auf ihr klappriges Herrenfahrrad, zog die Ärmel ihres Pullovers über die Hände, denn um diese Jahreszeit begann es am Abend empfindlich kalt zu werden, und trat in die Pedale. Schon bald glühte ihr Gesicht vor Anstrengung. Was mochte ihr Adoptivvater Julius, von Romy liebevoll Papsi genannt, zu der erneuten Verspätung sagen? Ihr Puls raste nicht nur vor Anstrengung, als sie endlich vor der beeindruckenden Villa vom Fahrrad stieg und einen ängstlichen Blick hinauf warf. Die meisten der dunkel gestrichenen Holzfensterläden waren noch geöffnet. Das war ungewöhnlich. Normalerweise war ihre Adoptivmutter Erika sehr darauf bedacht, alle Fenster ordentlich zu schließen. Nur im Erker, auf der rechten Seite des verschachtelten Hauses, waren sie tatsächlich geschlossen. Durch die Ritzen fielen Lichtstrahlen auf den grob gepflasterten Weg.

»Papsi, du bist schon zu Hause?« Rominas Atem ging inzwischen ruhiger, als sie die Tür zum Erkerzimmer öffnete, die leise in den Angeln quietschte.

»Romy, Kind, wo kommst du denn um diese Zeit her?« Die helle Aufregung stand Julius ins Gesicht geschrieben, als er seine Tochter begrüßte. »Ich habe mir schon große Sorgen gemacht.«

»Aber Papsi, darf ich dich daran erinnern, daß ich inzwischen erwachsen bin?«

»Und darf ich dir meinerseits ins Gedächtnis rufen, daß meine Sorge um dich nicht mit dem achtzehnten Geburtstag endet?« konterte er aufgebracht. »Wo treibst du dich um diese Uhrzeit herum? Der Nachmittagsunterricht ist doch bestimmt seit Stunden vorbei.«

»Ich war bei Benedikt, Hausaufgaben machen«, redete sich Romy verlegen heraus und vermied es, ihrem Ziehvater ins Gesicht zu sehen. Die Lüge brannte wie ein Mal auf ihren erhitzten Wangen. Unter gar keinen Umständen durfte ihr Papsi von ihren heimlichen Modelplänen erfahren. Doch Julius schien mit den Gedanken ohnehin schon ganz woanders zu sein.

»Na schön«, antwortete er zerstreut. »Das nächste Mal rufst du mich bitte an, wenn du am Abend noch was vorhast. Im übrigen hatte ich gehofft, du wüßtest etwas von

Erika.«

»Mutter ist noch nicht zu Hause?« Überrascht blickte Romina auf. Das sah ihrer Adoptivmutter gar nicht ähnlich, die ihre Tage gewöhnlich damit verbrachte, das große Anwesen in Ordnung zu halten. »Vielleicht ist sie ja beim Einkaufen.«

»Um diese Zeit? Mach dich nicht lächerlich, Romina.« Julius schien ehrlich besorgt zu sein. Der strenge Tonfall verriet seine angespannte Stimmung. »Ich weiß ja, daß du deine Ziehmutter nicht besonders gut leiden kannst, aber du könntest dir zumindest ein bißchen Mühe geben. Wo könnte sie nur sein?«

»Wirklich, Papsi, ich habe keine Ahnung. Heute morgen war sie noch da, wie immer. Sie trug ihren Hauskittel und hatte ein Kopftuch um die Haare gebunden. Alles war ganz normal. Aber vielleicht hat sie endlich eingesehen, wie langweilig ihr Leben ist und gönnt sich einen ausgiebigen Besuch beim Friseur oder bei der Kosmetikerin.«

»Erika? Das kann ich nicht glauben.« Unwillig schüttelte Julius den Kopf, während er an seine Ehefrau dachte. Seit vielen Jahren waren sie nun schon ein Paar. Zuerst ein attraktives, unterhaltsames Paar, das viele Freundschaften pflegte und häufig zu Empfängen aller Art gebeten wurde. Doch in dem Maß, in dem Julius an seiner Karriere als Anwalt gefeilt hatte, war Erika zunächst in der Versorgung der Adoptivtochter Romina aufgegangen. Mit den Jahren hatte sich jedoch herausgestellt, daß die beiden keinen Draht zueinander fanden.

Erika empfand die Kleine als Eindringling in ihre ordentliche Welt, und mit der Zeit wurde klar, daß die Vorstellungen der beiden vom Leben einfach zu unterschiedlich waren. Immer mehr widmete sich Erika daher der Pflege ihres imposanten Hauses und dem großen Garten. Die Einladungen wurden seltener und blieben schließlich ganz aus. Wer wollte schon eine nachlässig gekleidete, schlecht frisierte Hausfrau seinen Gast nennen, deren einziges Thema das richtige Schneiden von Sträuchern und die neuesten Marken an Möbelpolitur waren?

Während Julius seinen wenig erfreulichen Gedanken nachhing, beobachtete Romina ihren geliebten Papsi eingehend.

»Mutter und du, ihr führt schon lange keine gute Ehe mehr, hm?« riß sie ihn schließlich aus seinen Gedanken.

Unwillkürlich zuckte er zusammen und haderte einen Augenblick mit sich.

»Warum soll ich dich belügen?« seufzte Julius schließlich. »Erika und ich, wir haben uns schon seit Jahren nichts mehr zu sagen. Im Grunde genommen weiß ich gar nichts von ihr. Manchmal kommt es mir so vor, als lebte ich mit einer Fremden unter einem Dach.«

»Warum hast du nie versucht, daran etwas zu ändern?«

»Tja, warum nur? Die Arbeit, meine Karriere als Anwalt. Schließlich muß das alles hier unterhalten werden.« Er machte eine ausladende Bewegung mit beiden Armen. »Das ist nicht gerade wenig.«

»Und warum habt ihr nicht verkauft? Das Haus war schließlich immer schon viel zu groß für uns.«

»Erstens ist es seit Generationen in Familienbesitz, zweitens konnte ich doch Erika nicht ihre Aufgabe wegnehmen. Sie liebt es, hier zu putzen und zu werkeln. Du weißt das so gut wie ich.«

»Trotzdem frage ich mich, ob wir sie nicht beide verkannt haben.« Unschlüssig sah sich Romina um. »Es erscheint mir seltsam leer hier. Als wäre ihr ordnungsliebender Geist auf einmal verschwunden.« Ein plötzliches Frösteln schüttelte ihre schmalen Schultern. »Sieh mal, fehlt da drüben nicht eine kleine Skulptur?« Romina deutete auf den Kaminsims, wo mehrere kostbare Kleinkunstschätze gesammelt waren.

»Tatsächlich.« Mit wenigen Schritten war Julius am Kamin. »Der Engel, den ich Erika vor Jahren zum Geburtstag geschenkt habe. Vielleicht hat sie ihn aus Versehen zerbrochen.«

»Das glaube ich nicht.« Während ihr Papsi die Augen noch vor der offensichtlichen Tatsache verschloß, hatte sich Romy bereits mit detektivischem Gespür auf die Suche gemacht. »Und da fehlt ein Bild. Man sieht deutlich den dunklen Rand um den hellen Fleck.«

»Macke, dort hing ein echter Macke, ein Erbstück meines Großvaters.« Julius schnappte nach Luft. »Ist er schon länger weg?«

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, gestand Romina kleinlaut. Mit einem Mal drückte das schlechte Gewissen auf ihre Seele. Was wußte sie überhaupt von diesem Haus, von den Personen, die darin lebten? Was für ein Mensch war ihre Adoptivmutter? Hatte sie sich je die Mühe gemacht, die Frau wirklich kennenzulernen, die seit achtzehn Jahren für sie sorgte? Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Aber was noch viel schlimmer ist, ich glaube, Erika ist wirklich weg«, meinte sie auf einmal, während sie den Blick nicht von dem erschreckenden Fleck an der Wand wenden konnte.

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage«, schluchzte Romy ungehalten. »Wir haben sie vertrieben mit unserer Ignoranz. Schließlich hat sich keiner wirklich um sie gekümmert. Immerzu gestritten habe ich mit ihr und ihr vorgeworfen, wie furchtbar langweilig sie ist.«

»Komm her, Kleines. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.« Voller Sorge nahm Julius seine Romina in den Arm und wiegte sie sanft. Unwillkürlich erinnerte er sich an die Zeit, als sie noch ein Baby gewesen war. Aus Furcht vor einer Schwangerschaft hatte Erika ihm den Wunsch nach einem eigenen Kind verwehrt und endlich in eine Adoption eingewilligt. Vom ersten Tag an hatte er seine Kleine wie sein eigen Fleisch und Blut geliebt, doch Erika konnte sich nie wirklich mit dem kleinen Eindringling anfreunden. »Es ist nicht deine Schuld. Erika hat einen Schutzwall um sich herum aufgebaut.«

»Aber warum denn nur?« Inzwischen schluchzte Romy wie ein kleines Kind in den Armen ihres Papsis. »Welchen Grund hatte sie dafür?«

»Sie war schon immer ein sehr verschlossener Mensch«, erklärte Julius nachdenklich. »In der ersten Verliebtheit übersieht man solche Eigenheiten leicht. Und später war keine Zeit mehr, über solche Dinge nachzudenken. Anfangs habe ich ja versucht, Erika aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken. Immer ohne Erfolg.« Er seufzte. »Wir haben wohl alle Fehler gemacht. Das Wichtigste ist aber jetzt, daß wir sie finden, um zu retten, was zu retten ist.« Sein Körper straffte sich während dieser Entscheidung.

»Glaubst du, sie ist fortgegangen?«

»Es sieht ganz danach aus. Offenbar hat sie alles ganz genau geplant. Sonst hätte sie nicht ausgerechnet die wertvollsten Kunstschätze mitgenommen.« Forschend sah sich Julius um und machte sich dann gemeinsam mit Romina auf die Suche nach weiteren Zeichen. Tatsächlich fanden sie die Befürchtung des Anwalts bestätigt. Erika hatte sich offenbar nicht davor gescheut, die kostbarsten Gegenstände aus den Zimmern zu entfernen. Wann genau das geschehen war, vermochten weder Julius noch Romy zu sagen. Zu sehr waren sie mit sich und ihren Problemen und Sorgen beschäftigt gewesen.

Lange suchten sie nach einem Hinweis darauf, wo Erika stecken mochte, als Romina endlich fündig wurde. Im Schlafzimmer von Erika fand sich mitten auf dem gewaltigen Messingbett ein einfacher Briefumschlag, versehen mit dem Namen von Tochter und Mann.

Romy stieß einen entsetzten Schrei aus.

»Um Himmels willen, was ist denn passiert?« Alarmiert stürmte Julius in das Zimmer in der Erwartung, etwas Schreckliches vorzufinden. Doch da stand nur seine Tochter, zitternd am ganzen Leib und deutete auf den Umschlag.

»Da sieh nur. Ein Brief.«

»Und deswegen schreist du so?« Julius atmete tief durch. Die ganze Sache zerrte an seinen Nerven. »Laß mal sehen.« Vorsichtig griff er nach dem Umschlag. Er war zugeklebt, deshalb riß er ihn an der Seite auf und überflog die wenigen Zeilen, geschrieben in ungelenker, beinahe kindlicher Handschrift.

»Das darf doch nicht wahr sein!« stöhnte er dann auf.

»Was ist denn? Nun sag doch schon, Papsi!« Aufgeregt zerrte Romy an Julius’ Hand.

»Sie ist fortgegangen und hat mitgenommen, was ihr ihrer Ansicht nach zusteht. Dazu gehören neben all den Kunstschätzen auch ein Gutteil unserer Bankkonten.«

»Sie hatte eine Vollmacht?«

»Natürlich, das ist doch selbstverständlich unter Eheleuten.«

»Na ja, ihr beide wart ja wohl eher eine Zweckgemeinschaft«, erklärte Romy etwas gallig und handelte sich dafür einen Stüber ihres Adoptivvaters ein.

»Sprich nicht so respektlos von uns«, wehrte er sich schwach. Der Schock über die unerwartete Flucht seiner Frau saß zu tief. »Ich fasse das alles gar nicht.«

»Glaubst du, sie hat einen anderen?«

»Wenn du mich das heute morgen gefragt hättest, hätte ich dich ausgelacht. Inzwischen schließe ich nichts mehr aus.«

»Schreibt sie, was sie vorhat?« forschte Romina weiter, die sich nicht an die Zeilen heranwagte. Noch nicht.

»Nein, kein Wort.«

»Willst du die Polizei rufen?«

»Wozu? Erika ist aus freien Stücken gegangen. Warum sollte ich versuchen, sie zurückzuholen? Schließlich ist sie eine selbständige Frau. Viel eigenständiger, als ich bisher angenommen habe.«

»Wer weiß, was sie damit angefangen hat. Wahrscheinlich sind sie längst verkauft, zu Bargeld gemacht. Ich wüßte noch nicht mal, wo ich zu suchen anfangen sollte.«

»Aber was sollen wir denn jetzt tun?« Wieder stiegen die Tränen in Romys Augen.

»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Julius schulterzuckend. Seine leichenblasse Miene verriet, wie sehr ihn diese Neuigkeit mitnahm. Kraftlos ließ er sich in seinen Sessel fallen, der vor dem offenen Kamin stand. Romina kam zu ihm und kuschelte sich auf seinen Schoß wie ein kleines Mädchen, starrte in die schwarzen Reste des Feuers vom Vortag. Diesmal hatte Erika den Kamin nicht ausgeräumt. Sie würde es nie mehr tun.

*

Ohne sie wirklich anzusehen, ließ die Fotografin Franziska Engel den Blick über den Tisch gleiten, auf dem sie ihre neuesten Fotografien ausgebreitet hatte. Hübsche Mädchen waren darauf in allen möglichen Posen abgebildet. Da die Bilder auf Mallorca entstanden waren, waren im Hintergrund traumhafte Buchten, blauschillerndes Meer und feiner Sandstrand zu sehen. Doch Zissa hatte dafür keinen Blick. Immer wieder forschte sie in den Gesichtern der Mädchen nach bekannten Zügen, suchte die Ähnlichkeit, obschon sie wußte, wie absurd diese fixe Idee war. Jedes Mädchen, das ihr auf der Straße begegnete und auch jedes Model konnte schließlich ihre leibliche Tochter sein, die sie vor achtzehn Jahren, beinahe selbst noch ein Kind, zur Adoption freigegeben hatte.

»Woran denkst du denn schon wieder?« Eine braungebrannte Männerhand legte sich sanft auf Zissas Schulter, die unter dieser unerwarteten Berührung zusammenzuckte.

»Ach, du bist es, Carlos«, erwiderte sie unwillig und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Igitt, schon wieder kalt.«

»Du sitzt ja auch inzwischen eine halbe Stunde hier und grübelst. Ich habe dich durch die Glastür beobachtet.« In Carlos’ Stimme schwang leiser Unwillen, den Franziska geflissentlich überging.

»Meine Tochter geht mir nicht aus dem Sinn«, seufzte sie statt dessen und starrte aus dem Fenster in den dichten Frankfurter Nebel. »Wenn ich nur wüßte, wo sie steckt und was sie tut.«

»Das wirst du nie erfahren«, tat Carlos ihre Gedanken mit einer Handbewegung ab. »Schließlich war sie erst ein paar Tage alt, als du sie ohne Angaben weggegeben hast. Wie willst du sie also finden?«

»Ich glaube eben noch an die Stimme des Blutes«, ließ sich Zissa nicht beirren. »Irgendwann sehe ich eine junge Frau und werde wissen, daß sie das ist, meine Tochter.«

»Wenn du willst, kannst du eine Tochter von mir haben«, schmeichelte Carlos, und sein glutäugiges Gesicht nahm einen zärtlichen Ausdruck an. »Ich weiß gar nicht, warum du dich so in diese Idee hineinsteigerst. Stell dir vor, ein Kind von uns! Wäre das nicht ein Traum?«

»Darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Jetzt, wo ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere bin, will ich kein Kind. Ich möchte meine Kleine wiedersehen, wissen, daß es ihr gutgeht. Sehen, ob sie etwas von mir geerbt hat.« Ihre Stimme versagte. »Wenn ich geahnt hätte, wie schwer mir diese Geschichte eines Tages im Magen liegt, hätte ich sie nicht weggegeben«, seufzte sie endlich schwer.

»Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern.« Offensichtlich erbost über die kleine Absage, die ihm seine Lebensgefährtin zum wiederholten Male erteilte, ließ Carlos die Hand von Zissas Schulter fallen. »Du solltest dich jetzt auf deine Arbeit konzentrieren. Alexa will die Fotos sehen. Die Zeit drängt.«

»Schon gut, ich komme gleich.« Widerwillig erhob sich Franziska und sammelte die Aufnahmen zusammen. Ein letzter Blick aus dem Fenster, ein letzter wehmütiger Gedanke an die verlorene Tochter, dann straffte sich ihre schlanke Gestalt. Sie war wieder ganz die professionelle Fotografin, angelangt auf dem Zenit ihres Erfolgs, den sie sich ehrlich verdient hatte. Alexa Zahn würde zufrieden sein und Carlos sich wieder beruhigen. So war es in letzter Zeit immer gewesen, so würde es immer sein.

In dieser Nacht schlief Julius Gnade schlecht. Doch diesmal war daran nicht ein schwieriger Prozeß schuld, den zu gewinnen er sich in den Kopf gesetzt hatte. Vielmehr kreisten seine Gedanken um seine Frau Erika, das unbekannte Wesen, das so viele Jahre Tisch und Bett mit ihm geteilt hatte und trotzdem eine Fremde geblieben war. Hätte er ihre Flucht verhindern können? Als erfolgverwöhnter Anwalt konnte er mit Niederlagen nicht umgehen, er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Was hatte er nur falsch gemacht? Endlich sah Julius ein, daß er ohne Hilfe nicht einschlafen würde und stand kurz entschlossen auf, um sich im Bad ein Schlafmittel zu holen. Auf dem Treppenabsatz machte er halt. Ein schmaler Lichtschein fiel durch den Spalt der angelehnten Küchentür auf die Holzstufen. Offenbar war Romina auch noch wach.

»Romy, kannst du auch nicht schlafen?« Leise schloß Julius die Tür auf, doch seine Adoptivtochter erwartete ihn bereits. Sie hatte das Geräusch nackter Füße auf den knarrenden Stufen gehört.

»Keine Spur, Papsi. Wie es Mutter wohl geht?«

»Wahrscheinlich besser als uns. Schließlich hatte sie mehr Zeit als wir, sich an den Gedanken zu gewöhnen.« Leiser Groll schwang in seiner Stimme. »Was trinkst du denn da?«

»Heiße Milch mit Honig. Ein altes Hausrezept gegen Schlaflosigkeit.«

»Und du meinst, das hilft?« Julius blickte skeptisch drein.

»Dir würde ich eher ein Glas Rotwein empfehlen«, schlug Romy vor und deutete auf eine halb geleerte Flasche, die in einer dunklen Nische stand.

»Diese Idee gefällt mir deutlich besser. Ist bestimmt gesünder als eine Schlaftablette.«

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, jeder nippte an seinem Getränk. Der Alkohol entspannte Julius zusehends, zufrieden beobachtete Romy, wie sich die Falte auf seiner Stirn glättete.

»Tja, jetzt sind wir beiden Hübschen also allein.« Mit einem nachdenklichen Blick ließ Julius den rubinroten Wein in seinem Glas kreisen. »Wer hätte das gedacht. Was machen wir denn jetzt?«

»Du glaubst also nicht, daß Mutter wieder zurückkommt?« fragte Romy, obschon sie die Antwort erahnte.

»Wenn ein Mensch eine Tat so gründlich plant, dann gehe ich davon aus, daß er weiß, was er tut.« Er seufzte.

»Nein, ich denke nicht, daß sie zurückkommen wird. Zumindest nicht in naher Zukunft.«

»Willst du sie suchen?«

»Ich bin mir nicht sicher. Wenn, dann nur, um zu sehen, wie es ihr geht, was sie mit ihrem Leben vorhat. Schließlich sind wir seit über zwanzig Jahren verheiratet.«

Romy bemerkte die leise Wehmut in seinen Augen. Wie beinahe jeder Teenager fürchtete sie sich vor der Verzweiflung Erwachsener. Deshalb verlegte sie sich auf die praktischen Fragen.»Was stellen wir mit dem großen Haus an?«

»Hm, wir könnten eine Haushälterin suchen. Schließlich sollst du deine Schule nicht vernachlässigen. Dein Abitur steht an, und du brauchst ordentliche Noten, wenn du dich zu einem Jurastudium entschließt.« Julius bedachte Romy mit einem stolzen Blick. Schon immer hatte er nur das Beste für sie ausgesucht. Das engagierteste Kindermädchen, den angesehensten Kindergarten, die Privatschule mit dem besten Ruf. Mit keinem Gedanken dachte er daran, Romina könnte anderes im Sinn haben, als ihm nachzustreben.

Romy biß sich auf die Lippen.

»Muß es ausgerechnet Jura sein?« Das war die Gelegenheit, ihrem Adoptivvater von ihren Plänen zu erzählen. Doch sie wußte, was er von ihr erwartete und widerstand der Versuchung. »Ich könnte auch Modedesign studieren oder Fotografie«, wagte sie einen vorsichtigen Vorstoß.

»Ach Unsinn, brotlose Kunst ist das! Eigentlich hatte ich dir mehr Realitätssinn zugetraut.«

»Schon gut, ich meine ja bloß«, lenkte Romina schnell ein, um eine Diskussion zu vermeiden. »Jetzt mach’ ich erst mal das Abi, dann sehen wir weiter.«

»Einverstanden.« Julius seufzte. »Was soll also mit dem Haus geschehen?« kehrte er zu seinem ursprünglichen Anliegen zurück.

»Eine Haushälterin finde ich Quatsch. Die kostet Geld, und wenn ich nicht irre, hat Erika eine ganze Menge von deiner Kohle mitgehen lassen.«

»Red nicht so über deine Mutter.« Die steile Falte kehrte auf seine Stirn zurück. Der Gedanke an sein Vermögen machte ihn unruhiger, als er zeigen wollte. Gleich morgen mußte er zur Bank. »Was schlägst du also vor?«

»Wenn du mich fragst, sollten wir das Haus teilen und eine Hälfte vermieten. Das ist allemal besser als verkaufen, und wir verdienen auch noch ein hübsches Sümmchen.«

»Gar keine schlechte Idee«, stellte Julius überrascht fest. »Wann hast du dir das denn ausgedacht?«

»Ist mir gerade eingefallen. Immerhin haben wir Zimmer genug, und Bäder sind auch drei da. Wenn wir den Hauseingang benützen, genügt es, ein paar Türen im Haus zuzumauern.«

»Du hättest tagsüber deine Ruhe und wärst trotzdem nicht mutterseelenallein«, führte Julius die Gedanken seiner Tochter weiter. »Gut, sehr gut.« Ein drängendes Problem schien gelöst, und beinahe augenblicklich stellte sich die Müdigkeit ein. »Und jetzt sollten wir ins Bett gehen.«

»Geh du schon mal vor.« Romy drückte ihm einen halbherzigen Kuß auf die stoppelige Wange. »Ich trink’ noch meine Milch aus.«

Weit entfernt davon, ebenso zufrieden wie ihr Vater zu sein, blieb Romina allein in der kalten Küche zurück. Der Traum ihrer Modelkarriere mußte also ihr Geheimnis bleiben. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, Julius noch einen Schock zu bereiten. Zumal er, abgesehen von seinem gelegentlich ausufernden Ehrgeiz, der beste Vater war, den sich ein achtzehnjähriges Mädchen wünschen konnte. Betrübt leerte sie ihre Tasse und stellte sie in die Spüle, ehe auch sie in ihr warmes Bett zurückkehrte.

Da sie selbst keine eigenen Kinder hatte, mußte sich Miriam Wolters nicht mit solchen Problemen wie Julius herumschlagen. Doch ihre Agentur war ihr im Laufe der Jahre so sehr ans Herz gewachsen, daß sie sich manchmal durchaus wie die Mutter eines Kindes fühlte. So auch an diesem Morgen, als ihr Simon Verheyen, der Fotograf eines exclusiven Hochglanzmagazins, gegenübersaß und sie scharf musterte.

»Ist das alles, was Sie mir zu bieten haben?« fragte er in schneidendem Ton, unter dem selbst eine erfahrene Frau wie Miriam zusammenzuckte.

»Ich bitte Sie, Herr Verheyen«, verteidigte sie ihre Agentur leidenschaftlich. »In meiner Kartei sind die besten Models versammelt, die der Umkreis zu bieten hat. Nirgendwo sonst finden Sie Mädchen, die dem Zeitgeist so sehr entsprechen.«

»Sie kennen unser Magazin, wir legen Wert auf Individualität. Mein Verlag hat kein Interesse an irgendwelchen Trends. Er sucht Models, die aus dem Rahmen fallen. Keine solchen Einheitstypen, die Sie mir gerade vorgeführt haben.« Er verzog spöttisch den Mund. »Wenn ich einen knabenhaften Typ brauche, dann suche ich mir Jungs dafür. Das, was wir suchen, sind echte Mädchen. Junge Frauen mit hübschen Gesichtern und Figur. Keine Bretter.«

»Schon gut, schon gut, ich habe verstanden. Aber das ist momentan nicht so einfach.«

»Wenn es einfach wäre, bräuchte ich dafür keine Agentur«, konterte Verheyen gnadenlos. »Also, wie sieht es aus? Können Sie mir noch ein paar richtige Mädchen anbieten, oder muß ich meine bisher so erfolgreiche Zusammenarbeit mit Ihnen beenden?«

Miriam Wolters schwieg einen Augenblick und dachte angestrengt nach. Viele Gesichter bekam sie Tag für Tag zu sehen, viele Mädchen castete sie, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Oder doch nicht? War da nicht eine junge Frau bei ihr gewesen, die eine ganz besondere Ausstrahlung gehabt hatte?

»Einen Augenblick, Herr Verheyen. Vielleicht habe ich da doch noch was für Sie.« Miriam hob den Telefonhörer, um mit ihrer Sekretärin Nancy zu sprechen. Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie auflegte. »Alles klar. Nancy druckt die Bilder schnell aus. Sie ist gleich bei uns. Kann ich Ihnen inzwischen eine Tasse Kaffee anbieten?«

»Sie meinen, damit mein Besuch bei Ihnen nicht reine Zeitverschwendung ist.« Simon Verheyen lächelte kühl und strich sich das dunkle halblange Haar aus der Stirn. »Also gut, einverstanden.« Der Espresso war noch nicht ganz durch die hochmoderne Maschine gelaufen, als Nancy das Büro betrat und mit einer leisen Entschuldigung auf den Lippen eine Mappe auf den Tisch legte.

Hastig griff Verheyen danach.

»Ich darf doch, oder?« Noch ehe Miriam etwas erwidern konnte, blätterte er durch die Bilder. Eine Weile sagte er gar nichts, doch als sie ihm den Kaffee servierte, bemerkte sie das zufriedene Lächeln, das seine Augen umspielte. »Na also, es geht doch«, bemerkte er trocken. »Ein außergewöhnliches Mädchen. Wer ist sie?«

»Ein Neuling im Geschäft, aber zweifellos sehr talentiert. Romina Gnade ist ihr Name. Sie hat sich erst vor ein paar Tagen hier vorgestellt.«

»Sehr schön. Ich denke, sie ist es. Wir brauchen sie für ungefähr drei Tage. Modeaufnahmen vor verschiedenen Kulissen der Innenstadt, Honorar wie üblich. Bitte veranlassen Sie alles nötige.« Zufrieden leerte er seine Tasse und stand dann auf. »Ich freue mich, daß es doch noch klappt. Die Zusammenarbeit mit Ihrer Agentur verläuft immer sehr zufriedenstellend.« Zum ersten Mal während der Dauer seines Besuchs machte er einen zufriedenen Eindruck. Miriam seufzte erleichtert. Der Verlag, für den Simon Verheyen fotografierte, war ein wichtiger Kunde, der zuverlässig und gut bezahlte. Und in diesen schwierigen Zeiten konnte es sich selbst eine Agentur wie Wolters & Partner nicht leisten, einen solchen Klienten zu verlieren.

Als das Telefon im Hause Gnade zum wiederholten Male ins Leere läutete, saß Romina in der Schule und hatte ganz anderes im Sinn als ihre Modelkarriere. Mit strenger Miene marschierte ihr Englisch-Lehrer vor seinem Leistungskurs auf und ab, ohne seine Schüler aus dem Blick zu lassen.

»Bei manchen von Ihnen wundere ich mich ehrlich, wie um alles in der Welt sie auf die Idee gekommen sind, ausgerechnet den Leistungskurs Englisch zu belegen«, schnarrte er in einem Tonfall, der seinen Schülern durch Mark und Bein ging. »Ein Kurs in Deutscher Grammatik wäre vorteilhafter gewesen. Zumindest lassen Ihre Übersetzungen darauf schließen.«

»Ach du meine Güte, das klingt nicht gerade vielversprechend«, flüsterte Romy ihrem Freund Benedikt zu, mit dem sie die Bank teilte.

»Das gilt besonders für Sie, Romina«, knallte es wie ein Peitschenhieb durch die Klasse. Romy wurde feuerrot und sank in sich zusammen. »Wenn das so weitergeht, fallen Sie mit Pauken und Trompeten durch das Abitur. Hier ist das, was von Ihrer Arbeit übrig ist.« Ein Blatt Papier, auf dem Romys Schrift vor lauter roter Tinte kaum mehr zu erkennen war, flatterte auf ihren Schreibtisch, ehe sich Lee seinen anderen Schülern zuwandte. Sie seufzte bedrückt.

»Wenn das mein Vater zu sehen bekommt, ist alles aus«, seufzte sie und steckte die Arbeit, ohne sie eines Blickes zu würdigen, in ihre Mappe.

»Ich verstehe das gar nicht. Du warst doch früher nicht so schlecht«, gab Benni flüsternd zurück. »Woran liegt’s denn?«

»Akuter Zeitmangel. Ich hab’ dir doch von meinen Aufnahmen erzählt. Seit ich sie in der Tasche habe, tingele ich jeden Nachmittag von Agentur zu Agentur. Da bleibt einfach keine Zeit zum Lernen.«

»Jetzt weiß ich endlich, warum du keine Zeit mehr für mich hast.« Benedikt grinste anzüglich. »Und ich dachte schon, du hättest einen anderen.«

»Unsinn. Es gibt keinen besseren Kumpel als dich. Das weißt du genau.«

»Manchmal wäre ich gern mehr als das«, gab Benni leise zurück und mied Romys Blick. Vor Verlegenheit brannten seine Wangen.

»Wenn ich mich in dich verlieben würde, würde ich glatt meinen besten Freund verlieren.« Sie stieß ihm freundschaftlich mit dem Ellbogen in die Seite. »Und das will ich nicht. Außerdem habe ich im Moment genug Probleme an der Hacke.« Benedikt erwiderte nichts, denn der Englischlehrer ging gerade an der Bank der beiden vorbei, ohne seine Moralpredigt zu unterbrechen. Wie nebenbei legte er Bennis Arbeit auf den Tisch. Wieder die volle Punktzahl.

Romina bedachte das Blatt mit einem neidischen Blick. »Du Glücklicher.«

»Bei mir zu Hause schert sich kein Mensch um meine Noten«, gab er trocken zurück. »Hast du schon was von deiner Mutter gehört?«

»Nein, nichts. Aber gestern kam ein merkwürdiger Brief von einem Notar. Es sieht ganz danach aus, als hätte sie sich irgendwo ein kleines Haus gekauft.«

»Heimlich und mit der Kohle deines Vaters?« Benni schnappte vor Überraschung nach Luft. Fast beneidete er seine Freundin um ihr aufregendes Leben. »Ich wette, damit hättest du nie gerechnet.«

»Nein, wirklich nicht.« Müde strich sich Romina über die Augen. Ganz anders als Benedikt dachte, fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt und sehnte sich insgeheim nach ihrem früheren Leben, nach Ruhe und Ordnung.Nach der Zeit, in der es noch keine Heimlichkeiten gegeben hatte. Als ihr Leben wie ein kleiner, munterer Bach vor sich hingeplätschert war.

Unsanft wurde Romina vom Schulgong aus ihren Träumen gerissen. »Jetzt muß ich mir aber erst mal Gedanken darüber machen, wie ich das hier«, sie deutete auf ihre Mappe, »meinem Vater beibringe.«

»Da wünsche ich dir schon mal viel Glück.« Benedikt lächelte aufmunternd. »Wie sieht’s aus, hast du heute nachmittag Zeit?«

»Wir könnten uns zum Lernen treffen«, schlug Romy vor, um ihren Jugendfreund nicht zu verprellen. »Vielleicht kapier ich die Grammatik endlich, wenn du sie mir erklärst.«

»Also abgemacht. Bis später dann!«

Auf ihrem alten Herrenfahrrad fuhr Romina langsam nach Hause. Eine leere, viel zu große Villa erwartete sie, mit vereinsamten Räumen und kalten Kaminen, die vergeblich auf ein munteres Feuer warteten. Unwillkürlich fröstelte Romina und meinte, ein Stechen im Hals zu spüren. Hypochonder, schalt sie sich selbst. Inzwischen war sie zu Hause angekommen und schloß die Tür auf. Kein warmes Mittagessen wartete auf sie, keine angenehmen Düfte zogen durchs Haus. Zum ersten Mal in ihrem Leben vermißte Romy die ungeliebte Adoptivmutter. Aber noch ehe sich Tränen des Selbstmitleids einen Weg über ihre Wangen bahnen konnten, klingelte das Telefon im Arbeitszimmer ihres Vaters. Wenigstens ein Zeichen, daß sie nicht ganz vergessen war! Mit wenigen Schritten war Romy am Apparat und zog erschrocken die Luft durch die Zähne, als sich Miriam Wolters meldete.

»Hier ist die Agentur Wolters & Partner. Spreche ich mit Romina Gnade?«

»Ja klar. Sind Sie es, Frau Wolters?«

»Ganz recht. Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt? Ich wollte schon aufgeben.«

»In der Schule, das wissen Sie doch. Ich habe es auf dem Personalbogen eingetragen.«

»So? Dann muß ich das übersehen haben.« Miriam überging ihre Nachlässigkeit geflissentlich. »Also, ich habe einen Auftrag für Sie. Was sagen Sie dazu?«

»Einen Auftrag?« japste Romy ungläubig. »Einen richtigen Auftrag?«

»Aber ja doch, wir sind hier nicht im Kindergarten.«

»Entschuldigung, aber ich bin so aufgeregt.« Romina zog sich einen Stuhl heran, ihre Beine drohten den Dienst zu versagen. »Der Tag war nämlich bisher alles andere als erfreulich.«

»Dann kommt mein Anruf ja gerade richtig«, erklärte Miriam selbstgefällig. »Ein exklusives Magazin hat Sie für drei Tage gebucht, es handelt sich um seriöse Modeaufnahmen. Viel Geld gibt es nicht, aber das spielt ja auch keine große Rolle. Schließlich müssen Sie froh sei, in der Branche bekannt zu werden.«

»Natürlich, kein Problem«, stotterte Romina nervös. »Wann soll’s denn losgehen?«

»Anfang nächster Woche, pünktlich um sechs Uhr.«

»Sechs Uhr abends?«

»Morgens, du Schäfchen«, Miriam Wolters lachte belustigt und ging automatisch zu der vertrauten Anrede über. »Dieser Job ist kein Spaziergang, sondern Knochenarbeit.«

»Das ist mir schon klar. Aber ich muß doch zur Schule.«

»Darüber hättest du vorher nachdenken müssen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Eine unserer Angestellten begleitet dich zum Set und betreut dich dort.«

»Okay, vielen Dank.« Noch immer war Romina völlig verwirrt von der überraschenden Nachricht. Die Ereignisse schienen sich zu überschlagen. »Ich komme dann zur Agentur.«

»Wir können dich zu Hause abholen.«

»Nein, nein, lieber nicht«, wehrte Romy erschrocken ab. »Ich werde pünktlich sein.«

»Wie du willst.« Miriam Wolters verabschiedete sich knapp. Auch Romina ließ den Hörer sinken. Eine ganze Weile saß sie regungslos auf dem Bürostuhl ihres Vaters und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Ein Auftrag, ihr erstes Fotoshooting für eine Zeitschrift! Das war sensationell, und Romy wunderte sich, warum sich ihre Begeisterung darüber in Grenzen hielt. Vielleicht lag es an den Halsschmerzen, die sie sich doch nicht eingebildet hatte. An der Müdigkeit, die unbarmherzig an ihren Augenlidern zerrte. Mühsam erhob sie sich und schlich durch das stille Haus, die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Dort ließ sie sich kraftlos aufs Bett fallen, und ehe sie es sich versah, wurde sie von weicher Dunkelheit umhüllt.

Auch Julius Gnade sehnte sich nach wohltuendem Schlaf, nach einer Möglichkeit, das Unfaßbare wenigstens für eine Weile zu vergessen. Aber die Wirklichkeit hatte kein Einsehen. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag die Rechnung eines Notars, Gebühren für die Beurkundung eines Hauskaufs. Nicht nur, daß Erika tatsächlich einen Großteil des Familienvermögens unbemerkt an sich gebracht hatte, sie hatte auch nicht gezögert, das Geld umgehend auszugeben für ein altes, renovierungsbedürftiges Haus. Weit weg und mitten auf dem Land gelegen. Zumindest das hatte Julius inzwischen nach einem Telefonat mit dem Notar herausgefunden. Jetzt haderte er mit sich. Sollte er hinausfahren und versuchen, Erika zur Rückkehr zu bewegen? Immerhin war sie über zwanzig Jahre lang seine Ehefrau gewesen, hatte ihn umsorgt und bekocht, das Haus gepflegt und sich um den Garten gekümmert. Wenigstens einen Besuch war er ihr schuldig. Womöglich erwartete sie sein Kommen sogar. Müde vom vielen Grübeln stand Julius auf und starrte blicklos aus dem Fenster, unfähig, eine Entscheidung zu treffen.

Julius war nicht der Einzige, der einen Entschluß fassen mußte. Auch Franziska Engel haderte irgendwie mit sich.

»Schon wieder ein Auslandsprojekt!« seufzte sie, als sie die Anfrage überflog, die gerade mit der Post gekommen war. »Dabei habe ich die Nase doch gründlich voll vom Reisen. Ich will endlich irgendwo ankommen.«

»Du klingst wie eine alte Frau«, bemerkte Carlos ungnädig und machte es sich in einem Designersessel bequem, dem Schmuckstück in Zissas Frankfurter Studio, das Teil ihrer Wohnung in einem großzügigen Loft war.

»Vielen Dank für die Blumen«, schnappte sie gereizt zurück. »Du bist reizend zur Zeit.«

»Dieses Kompliment kann ich uneingeschränkt zurückgeben. Seit du deine Muttergefühle entdeckt hast, spiele ich in deinem Leben wohl nur noch eine untergeordnete Rolle.«

»Eifersüchtig?«

»So ein Unsinn. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Du verrennst dich da in eine fixe Idee und vergißt selbst deine ehrgeizigsten Pläne über dieser Tochter-Geschichte.« Carlos legte einen weichen Ausdruck in seine glühenden Augen, von dem er wußte, wie wehrlos Zissa dagegen war. »Du bist drauf und dran, deine Karriere zu verspielen.«

»Wahrscheinlich hast du recht, mein Lieber.« Seufzend erhob sich Franziska von ihrem Schreibtisch und sank vor ihrem Lebensgefährten, mit dem sie seit einem Jahr ihre Wohnung teilte, auf den weichen Teppichboden. »Du meinst also, ich soll die Aufnahmen in Madrid machen?« Nachdenklich zog sie die Nase kraus, und Carlos mußte unwillkürlich lächeln. Dieses krause Näschen war einmalig süß.

»Aber natürlich! Was für eine Chance.«

»Diesmal kannst du aber nicht mit. Es ist eindeutig nur ein Fotograf gefragt, nicht auch noch ein Reporter.«

»Du weißt, wie schwer es mir fällt, dich allein ziehen zu lassen.« Sanft streichelte er über ihr weiches blondes Haar. »Aber ich hoffe immer, daß du zu mir zurückkommst.« Mit einem Finger hob er ihr Gesicht zu sich und küßte sie zärtlich.

»Hab’ ich dich je enttäuscht?« Zissa stützte die Ellbogen auf seine Knie und betrachtete ihn wohlwollend.

»Nicht daß ich wüßte. Und ich hoffe, das bleibt so. Du nimmst also an?«

Franziska seufzte aus tiefstem Herzen.

»Ungern, aber was bleibt mir anderes übrig? Wenn mir meine Tochter bis jetzt nicht über den Weg gelaufen ist, wird sie auch nicht ausgerechnet dann in Frankfurt auftauchen, wenn ich gerade nicht da bin.«

»Aha, daher weht also der Wind.« Carlos Miene verzog sich säuerlich. »Dachte ich es mir doch. Es geht nicht darum, daß ich allein bin. Es geht um dieses Phantom.«

»Jetzt sei doch nicht schon wieder beleidigt.« Abrupt zog sich Franziska zurück und stand auf. Barfuß ging sie wieder zum Schreibtisch. »Allmählich geht mir dein eifersüchtiges Gehabe auf die Nerven. Schließlich bin ich auf der Suche nach meinem Kind und nicht nach einem anderen Mann. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu arbeiten.«

Einen Augenblick starrte Carlos seine Lebensgefährtin fassungslos an, dann zog er sich beleidigt zurück. Sollte sie doch sehen, was sie von ihrem Tochter-Getue hatte!

Benedikt Bogner fühlte sich ähnlich, als er Stunden später wie verabredet an der Haustür der Villa Gnade klingelte. Aber obwohl Rominas klappriges Herrenfahrrad an der Wand gelehnt stand, öffnete niemand. Seine Freundin schien die Verabredung vergessen zu haben. Schon wollte er sich verletzt zurückziehen, als sich doch noch ein Fenster in dem kleinen Turm öffnete, in dem Romys Zimmer lag.

»Ach, du bist es, Benni«, rief sie krächzend herunter und rieb sich, offensichtlich verschlafen, die Augen. »Ich hab’ dich gar nicht klingeln hören. Warte, ich mach’ dir auf.«

Kurz darauf öffnete sich die schwere Haustür knarrend.

»Du meine Güte, was ist denn mit dir passiert?« entfuhr es Benedikt erschrocken. »Du bist ja ganz blaß und verquollen.«

»Oh, gut, genauso fühle ich mich«, gab Romy trocken zurück und führte Benni in die Küche. »Mein Hals kratzt ganz fürchterlich, und ich war schrecklich müde, als ich heimgekommen bin. Ich hab’ mich ein bißchen aufs Bett gelegt und muß eingeschlafen sein.«

Nachdenklich zog sie ihre Nase kraus.

»Du bist süß!« stellte Benni spontan fest. »Aber du machst keinen gesunden Eindruck. Sollen wir wirklich lernen?«

»Hm, das ist vielleicht gar nicht mehr so wichtig.«

»Wie meinst du das?«

»Als ich heute mittag heimgekommen bin, hat mich die Dame von der Agentur angerufen, bei der ich vor ein paar Tagen vorgesprochen hab’. Sie hat einen Auftrag für mich. Nächste Woche, drei Tage Modeaufnahmen für ein ganz exklusives Magazin.«

»Und was wird aus der Schule? Schließlich werden die Herrschaften keine Rücksicht auf deine Nebenbeschäftigung als Schülerin nehmen«, stellte Benni fest.,

»Ich fürchte, ich muß schwänzen«, gab Romina geknickt zu.

»Das kannst du dir im Moment nicht leisten, wenn du dein Abi nächstes Jahr bestehen willst.«

Familie Dr. Norden 733 – Arztroman

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