Читать книгу Sophienlust Classic 50 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 3
Оглавление»Interessante Post?«, fragte Alexander von Schoenecker seine geliebte Denise, als diese einen geöffneten Brief besonders lange in der Hand behielt. Das Ehepaar hatte gerade auf der Terrasse des Gutshauses von Schoeneich gefrühstückt. Es war
ein strahlender Frühsommermorgen. Alexander hatte bereits eine Fahrt über die Felder hinter sich, seine Frau ein erstes Telefongespräch mit dem unweit gelegenen Kinderheim Sophienlust, dessen Leitung nach wie vor in ihren Händen lag.
»Traurige Post, Alexander«, erwiderte Denise bedrückt. »Es klingt so, als wären die Sattlers vom Pech verfolgt.«
»Wer schreibt denn, Angela oder Klaus?«, erkundigte sich Alexander.
»Klaus. Er hat jetzt einen ausführlichen Bericht über Angelas Erkrankung erhalten. Sie muss operiert werden. Aber die Erfolgsaussichten sind nicht günstig. Ein Segen, dass die kleine Bettina von all dem nichts ahnt.« Denise seufzte.
»Du hast für die Sattlers getan, was in deiner Macht stand, Liebes«, tröstete Alexander seine Frau.
»Sie sind unverschuldet in diese Situation geraten«, erinnerte Denise betrübt. Das kleine Kapital, das Klaus von seiner Mutter geerbt hat, hätte wahrscheinlich für seinen Start als selbstständiger Architekt ausgereicht, wenn Angelas schwere Erkrankung nicht gekommen wäre. Jetzt hat er natürlich hart zu kämpfen. Aber er ist beruflich außerordentlich tüchtig, wie du weißt.«
»Davon bin ich überzeugt, Denise«, pflichtete Alexander ihr bei. »Wie hat sich die kleine Bettina denn eingelebt?«
Denise lächelte versonnen. »Bettina ist das einzige Familienmitglied der Sattlers, über das man sagen kann, dass es vollkommen glücklich ist.«
»Sophienlust, das Haus der glücklichen Kinder«, sagte Alexander schmunzelnd. »Nick hat schon recht.«
»Mein Sohn Dominik schreibt heute eine Lateinarbeit und ist ziemlich sorgenvoll in den Schulbus eingestiegen«, widersprach Denise, von Angela und Klaus Sattler nun ein wenig abgelenkt.
»Unser Sohn, Liebste«, verbesserte Alexander sanft.
»Natürlich, Alexander. Er betrachtet sich längst als dein Kind. Er hat ja seinen Vater nie gekannt.«
»Und Sascha und Andrea betrachten dich als ihre Mutter, obwohl sie sich an ihre wirkliche Mutter noch gut erinnern können«, wandte Alexander ein. »Wir bilden alle zusammen eine Familie. Das ist das Geheimnis unseres großen Glücks. Dass nur Henrik unser beider leiblicher Sohn ist, muss ich mir manchmal recht mühselig klarmachen, so komisch das auch klingen mag.«
Der Gutsherr von Schoeneich, der auch den zu Sophienlust gehörigen landwirtschaftlichen Betrieb leitete, legte die sonnengebräunte Hand auf die seiner schönen Lebensgefährtin, die ihren ersten Mann, Dominiks Vater, nach sehr kurzer Ehe verloren hatte. Nach dem Tod von Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, war dem damals fünfjährigen Jungen nicht nur Sophienlust, sondern auch ein Millionenvermögen als Erbe zugefallen. Nur zu gern hatte seine Mutter das Vermächtnis der alten Dame, Sophienlust zur Heimstatt für in Not geratene Kinder oder auch Erwachsene zu machen, erfüllt. Später hatte Denise in der Ehe mit dem verwitweten Gutsherrn von Schoeneich ein zweites erfülltes Glück gefunden.
»Ich liebe dich, Alexander«, flüsterte Denise mit bebenden Lippen. »Ohne dich wäre mein Leben leer und arm.«
Er zog ihre Hand an die Lippen. »Ich liebe dich ebenfalls, Denise«, gab er zurück. »Was ich ohne dich beginnen sollte, wüsste ich nicht.«
Denise holte tief Atem, die Luft roch nach Gras und Blüten. Es war Frühsommer, eine der schönsten Zeiten des Jahres.
In diesem Augenblick erschien Marie und meldete, dass die gnädige Frau am Telefon verlangt werde.
»Sophienlust?«, fragte Denise. »Es wird doch nichts passiert sein drüben?«
»Nein, der Anruf kam von außerhalb«, antwortete Marie.
Denise eilte ins Haus. Langsam folgte ihr Alexander. Wenig später berichtete ihm seine Frau.
»Es war Klaus Sattler, Alexander. Er hat gestern zwei große Aufträge zugeteilt bekommen. Der erste Durchbruch ist ihm gelungen, wie er selbst sagt. Nun wird es aufwärts gehen. Selbst in seinen kühnsten Träumen hat er nicht zu hoffen gewagt, dass er beide Bauaufträge erhalten könnte. Doch seine Entwürfe waren die besten.«
»Damit ist er wohl auch finanziell über den Berg?«
»Das möchte ich annehmen.«
»Du hast viel für die Sattlers getan, Denise. Du hast Bettina kostenlos
aufgenommen, Angelas Krankenhausaufenthalt in der Schweiz finanziert…«
»Für solche Fälle ist das Sophienluster Vermögen doch da, Alexander. Außerdem bin ich sicher, dass Klaus Sattler uns unsere Auslagen später zurückerstatten wird. Leider hat er im Augenblick wenig Zeit, sich über seinen Erfolg zu freuen, denn seiner Frau geht es weiterhin schlecht. Er hatte gerade mit dem Krankenhaus in Zürich telefoniert.«
»Schrecklich«, murmelte Alexander. »Das Leben ist oft grausam.«
»Er sagte mir, dass er seine Frau über das verlängerte Wochenende besuchen möchte. Vielleicht gibt es ihr Auftrieb, dass er beruflich über den Berg ist. Ich glaube, es ist ein guter Gedanke, dass er ihr diese gute Nachricht selbst überbringen will.«
Alexander nickte. »Natürlich. Ich würde an seiner Stelle wohl auch sofort losfahren.«
Denise wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. »Sie sind ein so glückliches Paar, Alexander. Gebe der Himmel, dass Angela gesund wird und wieder mit ihrem Mann und der kleinen Bettina vereint sein kann.«
Wenig später stieg Denise in ihren Wagen um, wie fast jeden Vormittag – in Sophienlust nach dem rechten zu sehen. Die Fahrt führte sie über die Straße, die Hubert von Wellentin, Nicks Großvater, gebaut hatte, damit die beiden Güter eine direkte Verbindung hatten. Im See, an dem die Straße vorüberführte, spiegelte sich der klarblaue Himmel. Dann tauchte das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust auf, das fast wie ein kleines Schloss wirkte – Sophienlust, das einmal in die Verantwortung und in den Besitz ihres Sohnes Nick übergehen würde, sobald er erwachsen sein würde. Wie schnell die Zeit verging! Als sie in Sophienlust Einzug gehalten hatten, war Nick fünf Jahre alt gewesen. Heute war er bereits fünfzehn, und doch kam es Denise manchmal vor, als wären sie erst vor ein paar Wochen zur Testamentseröffnung nach Sophienlust gekommen.
Mehr Zeit zum Grübeln blieb Denise nicht, denn sie hatte nun ihr Ziel erreicht und hielt an. Frau Rennert, von den Heimkindern zärtlich Tante Ma genannt und für die reibungslose Führung des großen Kinderheimes zuständig, kam ihr sofort entgegen.
»Guten Morgen, Frau von Schoenecker.«
Herzlich erwiderte Denise die Begrüßung. Sie erkundigte sich nach Vickys Befinden, die am Abend zuvor erhöhte Temperatur gehabt hatte.
»Die Temperatur war heute früh siebenunddreißigneun. Man kann nichts rechtes sagen. Vicky klagt über keinerlei Beschwerden und hatte sogar Appetit beim Frühstück«, berichtete Frau Rennert.
»Hoffentlich bleibt die Sache harmlos. Eine ansteckende Krankheit hätte uns gerade noch gefehlt.« Denise schaute zum Himmel empor. »Bei diesem Wetter kann man eigentlich gar nicht krank werden.«
»Vicky schmökert und findet es ganz interessant, dass sie die Schule versäumen muss«, fuhr Frau Rennert lächelnd fort. »Natürlich wird sie sich über Ihren Besuch schrecklich freuen.«
»Ich werde sie bestimmt besuchen«, versprach Denise. »Michael, Angelika und Vicky Langenbach sind mir besonders ans Herz gewachsen, wie Sie wissen. Dass Michael jetzt schon mit unserem Sascha in Heidelberg studiert, ging viel zu schnell.«
Gemeinsam betraten die beiden Frauen das Haus und gingen in Rennerts Büro, wo einige Abrechnungen zur Unterschrift für Denise bereitlagen. Danach sollte Denise den Küchenzettel für die nächste Woche prüfen, den Magda, die Köchin von Sophienlust, zusammengestellt hatte. Noch nie hatte Denise an Magdas Vorschlägen etwas zu ändern gehabt. Aber Magda wäre untröstlich gewesen, wenn sie den Zettel ohne die ausdrückliche Billigung der Herrin von Sophienlust in der großen Küche hätte anhängen müssen.
Erst ganz zuletzt, nachdem sie noch eine halbe Stunde bei Vicky Langenbach gesessen und sich mit dem aufgeweckten Mädchen unterhalten hatte, suchte Denise Schwester Gretli auf, die für die Kleinsten in Sophienlust verantwortlich war. Sie fand die Schwester sowie die dreijährige Bettina Sattler und andere Kinder im Spielzimmer.
Bettina war ein hübsches Kind, pausbäckig und kerngesund. Da sie sich nun schon fast zwei Monate in Sophienlust befand, hatte sie ihre Eltern fast vergessen. Unter den anderen Kindern und bei der liebevollen Pflege, die Schwester Gretli ihr angedeihen ließ, fühlte sich die Kleine restlos glücklich und entbehrte nichts. Von der gefährlichen Erkrankung der Mutter und den schweren Sorgen, die der Vater sich um die geliebte Frau machte, ahnte sie nichts. Bettina lebte fröhlich in den sonnigen Tag hinein.
*
Angela Sattler lag in einem schönen Einzelzimmer der Züricher Privatklinik. Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass Denise von Schoenecker für alle Kosten aufkam und ihre kleine Bettina in Sophienlust unentgeltlich eine vorläufige Zuflucht gefunden hatte. Angela war zu schwach, um bedrückt zu sein. Sie fühlte nichts als tiefe Dankbarkeit gegenüber Denise von Schoenecker, die ihr und ihrer Familie in der Stunde bitterster Not beigestanden hatte.
Eben war die Visite vorüber. Es war jeden Tag das gleiche, die Ärzte und Schwestern kamen zu ihr, der Chefarzt stellte ein paar freundliche und scheinbar belanglose Fragen. Dann nickte man ihr zu und ließ sie wieder allein. Angela hatte längst gelernt, aus den Mienen und Augen der Ärzte einiges abzulesen. Was sie dabei erfuhr, war nicht gerade tröstlich. Angela wusste, sie fanden keinen anderen Ausweg als den der Operation, deren Erfolg jedoch fraglich blieb.
Manchmal fragte sich Angela Sattler, ob sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren denn wirklich schon sterben müsse. Klaus und Bettina allein zurücklassen – nein! Alles in ihr wehrte sich gegen diese Vorstellung. Sie liebte ihren Mann und ihr süßes kleines Mädchen. Sie wollte den beruflichen Erfolg ihres Mannes miterleben, an den sie fest glaubte. Außerdem hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als Bettina zu einem hübschen Mädchen heranwachsen zu sehen, ihr den Weg ins Leben soweit wie möglich zu ebnen und ihr jeden Tag mütterliche Liebe zu schenken.
Manchmal empfand Angela die Trennung von ihrem Kind fast schwerer als die von ihrem Mann. Mit Klaus konnte sie Briefe wechseln oder telefonieren, sodass eine ständige Bindung und Verbindung bestand, während Bettina die Mutter vielleicht kaum noch wiedererkennen würde, wenn sie plötzlich vor ihr stehen würde.
Eine Träne rann der kranken Frau über die schmale Wange. Ein stummes Gebet wurde zum tausendstenmal zum Himmel gesandt, dass ein Wunder geschehen und sie gesund werden möge.
Angela Sattler wusste nicht, dass um diese Stunde Klaus bereits in seinem Wagen saß und die Fahrt in den Süden angetreten hatte. Ihr Mann wollte sie überraschen – nicht nur mit seinem unangemeldeten Besuch, sondern auch mit der wunderbaren Mitteilung über die beiden großen Aufträge, die ihm erteilt worden waren.
Gegen Mittag brachte eine Schwester der Patientin einen Brief von Denise von Schoenecker, die regelmäßig über Bettinas Ergehen berichtete. Diesmal hatte Denise ihrem Brief sogar eine kleine Fotografie des Kindes beigelegt, die Nick auf ihren Wunsch hin geschossen hatte. Wie Bettina sich verändert hatte! Sie schien gewachsen zu sein. Auch das Kleidchen, das sie auf dem Bild trug, kannte Angela nicht. Für alles, alles sorgte im Augenblick Denise von Schoenecker. Das war tröstlich und bitter zugleich für die Kranke.
Das Foto war vor genau einer Woche aufgenommen worden. Nick hatte das Datum sorgsam auf der Rückseite vermerkt.
Angela nahm sich vor, Denise in einem kurzen Brief zu danken und einige Zeilen für Nick beizufügen, damit er erfuhr, wie sehr sie sich über die Aufnahme ihres Töchterchens freute.
Als das Essen gebracht wurde, musste die Schwester das Bildchen selbstverständlich gebührend bewundern.
»Nun sollten Sie wenigstens heute ein paar Löffel voll versuchen, Frau Sattler«, ermunterte die Pflegerin die Kranke im schönsten Schwyzerdütsch.
Angela schüttelte mutlos den Kopf. Sie konnte kaum noch etwas zu sich nehmen, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass sie auf diese Weise immer mehr von Kräften kam. Es war ein Teufelskreis, und niemand wusste, ob die Operation die Rettung sein würde.
Nach Tisch zog die Schwester wie immer die Vorhänge vor, damit die Patientin ruhen konnte. Doch Angela konnte nicht schlafen. Sie war plötzlich von einer ihr selbst unbegreiflichen Unruhe erfüllt. Es wunderte sie kaum, dass der Chefarzt gegen drei Uhr nach kurzem Anklopfen ihr Zimmer betrat und sich zu einer ausführlichen Besprechung an ihr Bett setzte.
»Sie wollen mir mitteilen, dass Sie operieren müssen, nicht wahr?«, fragte Angela tonlos.
»Ja, Frau Sattler. Wir haben Ihre Befunde eingehend geprüft. Ohne Operation kommen wir nicht weiter. Das steht fest. Wir möchten aber auch nicht warten, bis Ihr Allgemeinzustand sozusagen auf dem Nullpunkt angelangt ist. Wären Sie mit Montag einverstanden?«
»Ja«, flüsterte Angela. »Ich wünschte nur, Sie könnten mir versprechen, dass ich danach gesund werde.«
»Wir hoffen es, Frau Sattler. Sonst würden wir die Operation nicht vornehmen. Das sollten Sie wissen.«
»Natürlich, Doktor. Ich vertraue Ihnen. Sie sind immer vollkommen aufrichtig zu mir gewesen. Deshalb weiß ich auch, dass die Operation möglicherweise vergeblich sein wird.«
»Im Grunde ist das bei jeder Operation der Fall, Frau Sattler. Wer nicht wagt, gewinnt nicht. Wir wollen nicht länger zögern. Wenn Sie also derselben Meinung sind wie wir …?«
»Ich muss mich auf Sie verlassen, Doktor.«
»Nicht auch ein wenig auf den, der unsere Geschicke lenkt und über uns allen steht?«, fragte der Arzt voller Ernst.
»Doch, auch auf Gott vertraue ich«, gab Angela ruhig zurück. »Er wird meinem kleinen Mädchen die Mutter nicht nehmen. Sie ist doch noch so klein. Sehen Sie nur …« Sie reichte ihm das Foto, das der Arzt gerührt betrachtete. Er war selbst glücklich verheiratet und hatte drei Kinder. Deshalb verstand er, was im Herzen der jungen Frau vor sich ging. Worte wären da sinnlos gewesen. So drückte er nur ihre schmal gewordene Hand und sah ihr ruhig ins Gesicht, bevor er wieder ging.
Montag, dachte Angela. Heute ist Freitag. Noch das Wochenende. Ich werde an Klaus schreiben. Vielleicht ist es besser, wenn er erst erfährt, nachdem es vorüber ist. Er hat bestimmt viel zu tun. Damit, dass er sich entsetzlich um mich sorgt, ist mir nicht geholfen. Vielleicht würde er den ganzen Montag über nichts Rechtes tun können. Ja, es ist richtiger, wenn ich es ihm schreibe. Den Brief wird er dann am Dienstag bekommen, wenn das Schlimmste vorüber ist. Natürlich ist es denkbar, dass er mich noch anruft vorher. Aber ich werde auf der Hut sein und nichts sagen.
Auf einmal lächelte Angela. Wäre es nicht eine wunderbare Überraschung für Klaus? Die Operation musste ganz einfach gelingen! Sie glaubte plötzlich mit unwandelbarer Zuversicht daran, dass sie durch die Kunst des berühmten Schweizer Arztes gerettet werden könne.
Genau zwei Stunden später geriet der Wagen von Klaus Sattler auf einer unübersichtlichen Alpenstraße ins Schleudern, weil ein entgegenkommender Fahrer unvorschriftsmäßig die Kurve schnitt und nicht mehr auszuweichen vermochte.
Als der Anruf kam, schlief Angela Sattler schon. Klaus Sattler lebte nicht mehr. Durch die Rücksichtslosigkeit und Fahrlässigkeit eines Fremden war sein junges Leben ausgelöscht worden. Die Ärzte beschlossen, es Angela zu verheimlichen, um den Erfolg der riskanten Operation nicht zu gefährden. Niemand vermochte es, die Sinnlosigkeit dieses unerwarteten Schicksalsschlages zu begreifen. Würde Angela Sattler ihrem Mann ins Reich der Ewigkeit folgen, ohne von seinem tragischen Ende etwas erfahren zu haben?
*
Denise weinte bitterlich, als sie die Nachricht erhielt. Henrik, der seine Mutter in ihrem Zimmer hatte aufsuchen wollen, schlich sich lautlos wieder fort. Glücklicherweise fand er Nick in dessen Klause vor.
»Du, Nick, Mutti weint«, stotterte Henrik unsicher. »Ob was passiert ist?«
Nick, braunäugig und dunkelhaarig, ganz das Ebenbild seiner schönen Mutter, vergaß seine eigenen Sorgen. Bei einem Vergleich mit dem Text hatte sich leider herausgestellt, dass er bei der Lateinarbeit mindestens sieben Kardinalfehler gemacht hatte. Er konnte sich leicht ausrechnen, dass sich daraus eine schlechte Note ergab.
»Mutti weint?«, fragte er betroffen. »Dann ist bestimmt etwas passiert. Meinst du, ich sollte zu ihr gehen und sie fragen? Vati ist natürlich ausgerechnet heute nicht hier.«
Eben war Nick darüber noch froh gewesen, weil er dadurch die Beichte über die zu erwartende schlechte Note aufschieben konnte. Doch jetzt wünschte er seinen Stiefvater aus ganzem Herzen herbei, weil er wusste, dass kein anderer seine geliebte Mutti so zu trösten verstand, wie Alexander von Schoenecker.
»Geh lieber«, meinte Henrik mit großen Augen. »Sie hat gar nicht gemerkt, dass ich in ihrem Zimmer war. Dabei hatte ich sogar angeklopft.«
»Na gut.« Nick seufzte und begab sich auf den Weg. Mutti in Tränen – das war ungewöhnlich und beunruhigend. Er durfte jetzt ganz einfach nicht kneifen, sondern musste versuchen, ihr zu helfen. Das war seine Pflicht.
Während Henrik sich ängstlich im Hintergrund hielt, klopfte Nick an Denises Tür und trat ein, ohne auf ihren Ruf zu warten. Es stimmte, seine Mutti weinte. Henrik hatte sich nicht geirrt.
»Mutti …«
Denise hob den Kopf und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus.
»Mutti, was ist denn?« Wie als kleiner Bub setzte Nick sich seiner Mutter zu Füßen und schaute zu ihr auf. »Sag’s mir, Mutti.«
»Es ist etwas sehr Trauriges geschehen, Nick. Bettinas Vater ist mit dem Wagen tödlich verunglückt, als er seine Frau in der Schweiz besuchen wollte.«
»Das ist schrecklich«, flüsterte Nick. Er war blass geworden. »Bettinas Mutter ist doch so schwer krank…«
Denise neigte den Kopf. »Das ist es ja, was mich so bedrückt, mein Junge. Angela Sattler ist operiert worden. Noch kann man nicht sagen, ob sie den Eingriff überlebt und ob sie dadurch geheilt sein wird.«
»Dann …, dann würde Bettina vielleicht beide Eltern verlieren?« Des großen Jungen Lippen zitterten.
»Man muss mit dieser Möglichkeit rechnen, Nick, so bitter es sein mag.«
»Dann bleibt die kleine Bettina eben für immer in Sophienlust, Mutti. Denk’ doch an die Geschwister Langenbach. Sie haben damals die Eltern durch das schlimme Lawinenunglück verloren. Natürlich war das furchtbar. Aber heute gehören sie ganz zu uns und sind nicht mehr unglücklich. Bettina ist doch noch so klein. Sie würde sich an ihre Eltern bald nicht mehr erinnern. Es wäre für sie also sogar leichter als für Michael, Angelika und Vicky. Wie geht’s Vicky übrigens?«
Gerührt strich Denise über das dunkle Haar ihres Jungen, das immer etwas strubbelig wirkte.
»Vicky darf heute Nachmittag wieder aufstehen. Es war nur ein leichter Infekt. Übermorgen geht sie wieder in die Schule.«
»Na siehst du, das ist eine gute Nachricht!« Nick bemühte sich, etwas Positives zu äußern. »Vielleicht schafft es Bettinas Mutter auch und übersteht die Operation. Sie ist doch von einem weltberühmten Arzt operiert worden.«
»Ja, aber sie hat auch eine schwere Krankheit, Nick«, wandte Denis sorgenvoll ein.
»Du darfst nicht weinen, Mutti. Sophienlust soll denen helfen, die in Not geraten. Bettina kann bei uns bleiben. Darauf kommt es an. Ob ihre Mutti gesund wird, das weiß man eben jetzt noch nicht. Du kannst nichts daran ändern, denn zum besten Arzt habt ihr sie ja bringen lassen.«
Denise konnte plötzlich unter Tränen lachen. »Du hast recht, Nick. Mit Weinen bessert man gar nichts.«
Nick zog ein Taschentuch hervor, das nicht sehr sauber war, und reichte es seiner Mutter. »Da, Mutti! Nicht mehr weinen.«
Da umschloss Denise von Schoenecker den Kopf ihres Jungen mit beiden Händen und küsste ihn auf die Stirn. »Danke dir, Nick. Jetzt hast du mich wirklich getröstet. Übrigens wäre es nicht schlecht, wenn du dir ein frisches Taschentuch einstecktest.«
»Okay, Mutti.« Nick war zufrieden, dass seine Mutter nicht mehr weinte. Er trollte sich nun wortlos.
Im Treppenhaus trat ihm sein kleiner blonder Bruder in den Weg. »Na?«, fragte Henrik.
»Nun fang’ du nicht auch noch zu heulen an«, schalt Nick gutmütig. »Es ist alles in Ordnung. Sie weint schon nicht mehr.«
»Kann ich rein zu ihr?«
»Klar, geh nur!«
Henrik stürmte zu seiner Mutti, wobei er natürlich das Anklopfen vergaß, und überzeugte sich mit eigenen Augen, dass sie wieder lächelte.
*
Es zeigte sich, dass Denises Angst um Angela Sattler ihre Berechtigung gehabt hatte. Die Operation hatte keine Besserung gebracht. Die Kranke dämmerte nun dahin und wusste nichts mehr von sich selbst und ihrer Umwelt.
Nach reiflicher Überlegung entschloss sich der Arzt im Spätsommer zu einer zweiten Operation. Da Angela Sattler keine weiteren Angehörigen hatte, reiste Denise persönlich in die Schweiz, um während der entscheidenden Stunden und Tage in der Nähe zu sein. Und nun geschah das große Wunder. Angela konnte durch die zweite Operation gerettet werden. Bettina würde ihre Mutter nun doch nicht verlieren.
»Warum sind Sie hier?«, fragte die Patientin, als sie zum erstenmal bei vollem Bewusstsein die Augen aufschlug und Denise an ihrem Bett fand.
»Ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass es Ihnen besser geht, Angela.« Denise brachte die Kraft auf, zuversichtlich zu lächeln und nicht an Klaus Sattler zu denken, der nun schon seit Wochen unter der Erde ruhte.
»Bettina lässt ihre Mutti grüßen. Wir hoffen, dass Sie nachher zu uns nach Sophienlust kommen, um sich zu erholen. Vorerst wird man Sie allerdings noch eine Weile hier in Zürich behalten, denke ich.«
»Bettina geht es gut? Ich … ja, ich wollte Nick für das Foto danken. Ich bin nicht mehr dazu gekommen. Am Montag haben sie mich operiert, nicht wahr?«
Denise senkte den Blick. Angela konnte sich an die lange Zeitspanne zwischen der ersten und der zweiten Operation nicht erinnern. Für sie war es das Erwachen aus der Narkose nach der ersten Operation am Montag.
»Die Operation ist gelungen, Angela. Jetzt dürfen wir endlich hoffen«, brachte Denise schließlich leise hervor.
»Ich habe immer daran geglaubt«, antwortete die Kranke mit einem matten Lächeln. »Doch jetzt möchte ich schlafen.«
Das Lächeln stand noch um ihre Lippen, als Angela den Kopf zur Seite legte und einschlief wie ein Kind.
Erst zwei Tage später erfuhr die Kranke von der zweiten Operation und vom tragischen Tod ihres Mannes. Denise hielt ihre Hand, als der Chefarzt ihr das mitteilte, was man ihr nun nicht länger verheimlichen durfte.
Die Kranke weinte nicht. Ihr Gesicht wurde noch blasser, als es nach den unendlichen Wochen des Leidens schon war, und erstarrte zu einer Maske.
»Er hatte zwei schöne Erfolge zuletzt«, erklang Denise Stimme tröstend. »Das wollte er Ihnen mitteilen, um Ihnen eine Freude zu machen.«
»So war Klaus«, antwortete Angela tonlos. »Jetzt verstehe ich, warum Sie mich nach Sophienlust eingeladen haben, Frau von Schoenecker.«
»Werden Sie gesund, liebe Angela. Dann kommen Sie zu Bettina nach Sophienlust. Das Kind braucht seine Mutti. Meinen Sie nicht?«
»Vielleicht hat sie mich schon vergessen«, antwortete Angela Sattler traurig.
»Es ist ja schon unendlich viel Zeit vergangen. Bis ich reisen kann, ist es Winter. Ein kleines Kind vergisst schnell.«
»Trotzdem braucht Bettina Sie«, wiederholte Denise geduldig. »Wir freuen uns schon auf Ihre Ankunft.«
»Wie lieb Sie zu uns sind. Natürlich werde ich kommen, weil ich gar nicht weiß, wohin ich soll, wenn ich hier entlassen werde. Was ist aus dem Büro meines Mannes geworden? Wissen Sie etwas darüber?«
»Das ist alles geregelt worden. Sie dürfen sich jetzt keine Gedanken darüber machen. Ihres Mannes Freund Alf Denninger hat das Büro vorläufig übernommen und die Arbeiten weitergeführt.«
Angela schloss die Augen. »Ja, auf Alf kann ich mich verlassen. Es ist nun so lange ohne mein Wissen gegangen, dass es dumm von mir wäre, wenn ich mir jetzt nachträglich Sorgen machen wollte. Nicht wahr?«
»Natürlich, Angela. Später wird Herr Denninger Ihnen sicherlich eine Abrechnung vorlegen und Bericht erstatten. Im Moment ist es dazu noch zu früh.«
Erst als der Chefarzt das Zimmer verlassen hatte, weinte Angela sich aus. Denise schlang die Arme um die Kranke und ließ sie weinen, weil sie wusste, dass Tränen heilsam sein können.
Am folgenden Wochenende reiste Denise nach Sophienlust zurück. Es stand nun fest, dass Angela etwa zum Jahresende dort eintreffen würde. Denise war entschlossen, der jungen Witwe in Sophienlust mehr als eine zeitweilige Zuflucht zu bieten. Angela sollte eine Heimat finden – wenn sie wollte, für immer. Denn der Nachlass von Klaus Sattler hatte nur aus Schulden bestanden. Angela Sattler war bettelarm geworden. Sie wusste es nur noch nicht.
*
Es gab in diesem Jahr bereits im Oktober den ersten Frost, und die Bauern sagten einen kalten langen Winter voraus. Auch die Huber-Mutter, die mit dem Wetter und mit Krankheiten Bescheid wusste und nach Nicks felsenfester Überzeugung sogar in die Zukunft sehen konnte, rechnete mit strenger Kälte.
Angela Sattler traf im November bei klirrender Kälte ein. Es war der Tag, an dem ihr Töchterchen seinen vierten Geburtstag feiern sollte. Vielleicht war es der Wunsch der jungen Mutter gewesen, das Kind an diesem Tag wiederzusehen, der die Genesung beschleunigt hatte. Zwar wirkte die blonde Frau noch zart und schwach, doch die Krankheit war endgültig besiegt. Der berühmte Arzt hatte wieder einmal eine Patientin als geheilt entlassen können, bei der zuvor schon jede Hoffnung aufgegeben worden war.
Magda hatte sich selbst übertroffen und eine Torte gebacken, die einem Konditormeister alle Ehre gemacht hätte. Vier rosa Kerzen waren kunstvoll in die Verzierung der Torte gesteckt worden. Niemand anders als Bettinas Mutter sollte die Kerzen anzünden. Das verstand sich von selbst.
Wolfgang Rennert, der Hauslehrer von Sophienlust, war zusammen mit seiner jungen Frau Carola nach Frankfurt zum Flughafen gefahren, um Angela abzuholen. Nun warteten die Bewohner von Sophienlust gespannt auf die Rückkehr des Wagens.
Bettina, die kleine Hauptperson dieses wichtigen Tages, trippelte in einem neuen hellblauen Kleidchen umher. Sie hatte noch keine Ahnung davon, dass sie an diesem Tag endlich ihre Mutter wiedersehen sollte.
»Hurra – sie kommen!« Nick stürmte mit rotgefrorener Nase von draußen herein, wo er unverdrossen Ausschau gehalten hatte.
»Kein Gebrüll zum Empfang, Nick«, erinnerte die besonnene Malu, die in Carola Rennerts Abwesenheit auf deren Zwillinge achtgegeben hatte. »Vergiss nicht, dass Bettinas Vater gestorben ist.«
»Aber es ist Bettinas Geburtstag«, wandte Pünktchen ein, Nicks besondere Freundin. Sie verdankte ihren Namen den lustigen Sommersprossen auf ihrer kecken Nase, hieß aber eigentlich Angelina Dommin. »Wir wollen sie fröhlich empfangen. Tränen mögen wir nicht.«
»Wir singen das Geburtstagslied«, schlug Isabel Weyde vor. Sie besaß eine wunderbare Stimme und war schon als Kind eine kleine Sängerin gewesen.
So erklangen reine, klare Kinderstimmen, als Angela ihren Fuß über die Schwelle von Sophienlust setzte. Jemand nahm die Hand der jungen Frau und führte sie zu dem kleinen blonden Mädchen, das ihr mit seligem Lächeln entgegentrippelte.
»Mama!«
Es war wie ein Wunder. Nach so unendlich langer Zeit erkannte das kleine Ding die Mutter doch wieder. Das war für Angela Sattler das schönste Geschenk. Sie beugte sich nieder und hob Bettina auf die Arme.
Das Lied verklang.
»Sie müssen die Kerzen anzünden«, raunte jemand Angela ins Ohr. Sogleich waren auch Zündhölzer zur Hand.
Dann schauten Mutter und Kind in die vier Flammen. Die Welt versank für Angela Sattler, doch dem Schmerz um ihren Mann war die erste Bitterkeit genommen, weil sie wieder bei Bettina war und das Kind sie noch kannte und liebte.
Frau Rennert drängte die Kinder für ein Weilchen aus dem Biedermeierzimmer, in dem der Geburtstagstisch aufgebaut worden war. Die erfahrene Heimleiterin erkannte, dass man Angela und ihr Kind jetzt für ein Weilchen sich selbst überlassen musste. Sogar die Begegnung mit Denise von Schoenecker war erst für den Abend geplant. Bettina war die wichtigste Person für die vom Schicksal so hart getroffene junge Frau. In den winzigen Händen des Kindes lag die geheimnisvolle Macht des Trostes.
*
Die kleine Bettina wich keinen Augenblick von der Seite der wiedergefundenen Mutter. Immer wieder zwitscherte ihre helle Stimme selig: »Mama, Mama!«
Angela musste sie füttern, ausziehen, baden und zu Bett bringen. Selbst dann ließ die Kleine sie nicht weg. Die junge Mutter stimmte leise das Schlaflied an, das sie früher Abend für Abend für ihr Kind gesungen hatte. Da lächelte Bettina sie an.
»Papa?«
Tränen schossen Angela in die Augen. Doch sie sang zu Ende. Ruhig schlief das kleine Mädchen ein.
Ich darf nicht mehr traurig sein, sagte sich Angela tapfer. Bettina soll eine glückliche Kindheit haben und eine Mutter, die mit ihr lachen kann.
Zum Abendessen holte Alexander von Schoenecker die neue Bewohnerin von Sophienlust persönlich mit dem Wagen nach Schoeneich, wo ein festlicher Tisch gedeckt war.
»Willkommen, liebe Angela.« Denise umarmte die Besucherin. »Wir sind glücklich, dass Sie nun bei uns sind und hoffentlich auch bleiben werden.«
»Wenn ich bleiben darf?«, stammelte Angela scheu.
»Das wissen Sie doch«, fiel Nick etwas vorlaut ein. »In Sophienlust darf jeder bleiben.«
»Er war zwar nicht um seine Meinung gefragt«, sagte Alexander mit Herzlichkeit, »aber Nick hat vollkommen recht. Sie sind nun in Sophienlust zu Hause, liebe Frau Angela.«
»Wenn es mir bessergeht, werde ich versuchen, mich nützlich zu machen«, versprach Angela mit zitternder Stimme.
»Zunächst werden wir das nicht erlauben«, wandte Denise energisch ein. »Und jetzt wollen wir erst einmal gemütlich essen. Ich habe Hunger.«
Auf dem Tisch brannten Kerzen in schönen alten Silberleuchtern.
»Zu Ehren von Bettinas Geburtstag«, verkündete Henrik, der stolz war, dass er an der festlichen Runde ebenfalls teilnehmen durfte.
Ein ruhiges Gespräch ergab sich erst dann, als Nick und Henrik sich verabschiedet hatten. Die Erwachsenen saßen nun vor dem flackernden Kaminfeuer, wo es richtig gemütlich war.
»Uns Landwirte hat der frühe Winter zwar in Bedrängnis gebracht, aber hier im Haus, am warmen Kamin, finde ich es ausgesprochen schön, wenn es draußen stürmt und schneit«, meinte Alexander. »Glauben Sie, dass Sie sich in Sophienlust einleben können, liebe Frau Angela?«
Zuversichtlich nickte die junge Frau.
»Bettina ist da. Ich fühle mich bereits heute, am ersten Abend, drüben ganz daheim. Nur sorge ich mich ein bisschen, ob meine Kleine auch ruhig schläft.«
»Darum kümmert sich Schwester Gretli oder eines der jungen Mädchen«, tröstete Denise.
»Wenn wir Sie nachher heimbringen, können Sie gern noch ein letztes Mal zu Bettina hineinschauen. Welche Mutter täte das nicht vor dem Schlafengehen?«
»Man ist wirklich zu Hause bei Ihnen.« Angela seufzte dankbar auf. »Ich habe mich vor diesem Tag gefürchtet. Im Krankenhaus in Zürich war zwischen mir und der Wirklichkeit immer so etwas wie eine Wand aus Glas. Der Entschluss, ins Leben zurückzukehren – in ein Leben ohne Klaus –, ist für mich nicht leicht gewesen.«
»Haben Sie Ihre Sachen gefunden?«, fragte Denise ablenkend.
»Ja, es war für mich recht wunderlich, alles bereits in den Schränken vorzufinden, in dem schönen Gästezimmer in Sophienlust.«
»Der Freund Ihres Mannes hat mehrere Koffer und Kisten geschickt. Einige stehen noch auf dem Speicher. Herr Denninger hat alles verpackt, was von persönlichem Wert für Sie ist. Die Wohnung hat er an ein ihm bekanntes Ehepaar vermietet, damit auf diese Weise wenigstens etwas Geld hereinkommt. Die beiden Aufträge, die Ihr Mann vor seinem Tod erhielt, hat er durchgeführt. Das Büro läuft noch immer unter dem Namen Ihres Mannes. Denn Herr Denninger fand, er sei nicht berechtigt, das ohne Ihr Einverständnis zu ändern. Dr. Brachmann, der uns juristisch betreut, hat sich mit Herrn Denninger in Verbindung gesetzt und festgestellt, dass sich Ihre Angelegenheiten bei ihm in den allerbesten Händen befinden.«
»Sie haben so vieles getan, wovon ich keine Ahnung hatte«, stellte Angela beschämt fest. »Ich habe bisher von Alf Denninger nur ein paar sehr allgemein gehaltene Briefe bekommen, in denen er jedesmal schrieb, ich möge mir keine Sorgen machen. Im letzten Brief erwähnte er sogar, dass unsere Schulden jetzt abgezahlt seien. Wieso, das erklärte er mir bisher nicht. Ist das auch wieder Ihnen zu verdanken?« Groß und fragend schaute Angela abwechselnd auf Alexander und Denise.
»Diesmal nicht«, erwiderte Denise lächelnd. »Wahrscheinlich wirft das Büro Ihres Mannes inzwischen allerlei ab.«
»Aber es ist nicht mehr Klaus, der dort arbeitet, sondern Alf Denninger«, wandte Angela ein.
»Die großen Aufträge, über die Ihr Mann so glücklich war, hätte Denninger allein keinesfalls erhalten. Er wird es schon richtig gemacht haben und es Ihnen auch zu gegebener Zeit erklären. Gewiss lag ihm daran, dass Sie sich wegen der Schulden nicht mehr den Kopf zerbrechen.«
»Nun ja – ich hatte eigentlich daran gedacht, unsere Möbel und das Silber zu veräußern, damit wir wenigstens einen Teil der Kredite abdecken können. Alfs Idee, die Wohnung zu vermieten, war sicherlich besser.«
»Hauptsache, Sie grübeln nicht, liebe Frau Angela. Ehe Sie nicht wieder voll leistungsfähig sind, darf Herr Denninger hier keinesfalls mit Abrechnungen und Papieren aufkreuzen. Glücklicherweise hat er dazu auch gar keine Zeit, weil die Bauvorhaben seine ständige Anwesenheit und Aufsicht erfordern.« Alexander rieb sich die Hände. »Er scheint für drei schuften zu können, dieser junge Mann.«
Nach und nach rundete sich für Angela das Bild. Sie erkannte, dass sie nicht nur den Schoeneckers, sondern auch dem Studienfreund ihres Mannes viel zu verdanken hatte.
»Werde ich das je gutmachen können?«, flüsterte sie überwältigt.
»Niemand erwartet das, liebe Angela.« Denise nahm ihre Hände. »Sie waren in großer Not. Wer die Möglichkeit hatte, war bereit, Ihnen zu helfen. Wie das Leben einmal weitergeht, weiß niemand. Bewahren Sie sich ein offenes Herz für die Schicksalsschläge, die anderen widerfahren. Es wird sich oft genug eine Gelegenheit ergeben, helfend einzugreifen. Dabei kommt es durchaus nicht darauf an, an wen Sie das weitergeben, was Sie selbst empfangen haben.«
»So könnte unsere hastige, materialistisch gesinnte Welt besser werden«, erwiderte Angela und schaute in das verglimmende Feuer.
Denise erinnerte sich, dass sie Henrik noch hatte gute Nacht sagen wollen.
»Die Zeit ist so schnell vergangen«, gestand sie erschrocken. »Es ist viel zu spät geworden.«
»Sicher schläft er längst«, mutmaßte Alexander.
»Da kennst du unseren Henrik schlecht. Bis gleich.« Leichtfüßig ging Denise davon. Mit zärtlichem Blick verfolgte sie ihr Mann.
»Sie ist eine wunderbare Frau!« Angela sprach das aus, was Alexander dachte.
Der Gutsherr stand auf und küsste der jungen Witwe die Hand. »Wir werden uns gut verstehen, Frau Angela. Sie haben mir gerade aus der Seele gesprochen.«
Wenig später kam Denise zurück. »Henrik las eine Abenteuergeschichte und hatte die Zeit vollkommen vergessen. Wahrscheinlich wäre er bis Mitternacht wach geblieben, obwohl er todmüde war.«
»Und Nick?«, fragte Angela.
»Der sitzt noch über seinen Schulbüchern. Leider hat er sich angewöhnt, fast jeden Nachmittag in Sophienlust zu verbringen, wo er sich mit den Kindern beschäftigt. Schulaufgaben werden erst nach dem Abendbrot erledigt, obwohl das nicht ganz in unserem Sinne ist«, berichtete Alexander. »Nick argumentiert, dass Sophienlust ihm gehöre und er sich schon jetzt ständig um alles kümmern müsse.« Alexander sprach so stolz von Nick, als wäre er tatsächlich sein eigener Sohn.
»Er ist ein ungewöhnlicher Junge«, stellte Angela fest.
»Gut, dass er das nicht hört«, meinte Denise.
Sie lachten alle drei. Die Stimmung war nun gelöst und heiter.
Gegen elf Uhr brachte das Ehepaar den Gast gemeinsam nach Sophienlust zurück.
»Schlafen Sie gut in der ersten Nacht«, wünschte Denise der jungen Frau, als sie ihr Ziel erreicht hatten. »Merken Sie sich Ihren Traum. Vielleicht geht er in Erfüllung. Nick kann ihn auch der Huber-Mutter erzählen, damit sie ihn deuten kann.«
Angela betrat auf Zehenspitzen das kleine Zimmer, in dem Bettinas Bettchen stand. Das Kind rührte sich nicht. Es schlief tief und atmete ruhig und gleichmäßig wie alle gesunden Kinder.
Die Mutter verließ das Zimmer leise wieder und schloss behutsam die Tür hinter sich. Wenig später legte sie sich in das einladend aufgedeckte Bett des gemütlichen Zimmers, das ihr
für unbegrenzte Zeit zur Verfügung stand, und schloss die Augen. Sie war entspannt und fast glücklich. Für das Leid schien in Sophienlust kein Raum zu bleiben.
*
Angela erholte sich durch den Luftwechsel und die schöne, friedvolle Umgebung zusehends. Selbstverständlich trug auch Magdas Kochkunst dazu bei, dass ihre schmalen Wangen sich wieder ein wenig rundeten.
Bei den Sophienluster Kindern war »Tante Angela« rasch beliebt geworden. Sie nähte abgerissene Knöpfe an und half bei den Schulaufgaben, wenn sich eine kniffelige Sache nicht lösen lassen wollte. Sie las den Kleinen vor und spielte mit endloser Geduld mit den Allerkleinsten, zu denen ja auch noch ihre eigene Tochter gehörte. Bettina hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass ihre Mutter nun immer anwesend war, und hing ihr nicht mehr ständig am Rockzipfel.
Abends half Angela gelegentlich auch Frau Rennert im Büro aus, wenn viele Schreibarbeiten zu erledigen waren. Das bedeutete für die Heimleiterin eine willkommene Entlastung. Bald gab es nichts mehr in Sophienlust, Schoeneich, Bachenau oder der Kreisstadt, was Angela nicht bekannt und vertraut gewesen wäre.
Denise machte Angela auch mit ihrer Stieftochter Andrea bekannt, die mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war, den sie schon als Schulmädchen glühend verehrt und geliebt hatte. Selbstverständlich musste Angela bei den von Lehns das Tierheim bewundern, das von Andrea gegründet worden war und das den Namen eines Dackels trug: »Tierheim Waldi & Co. – Das Heim der glücklichen Tiere«. Es gab viele ständige Gäste in diesem Heim. Aber auch heimatlos gewordene Tiere fanden hier immer wieder so lange Unterkunft, bis sich ein neuer Besitzer oder Liebhaber fand.
Immer mehr gewann Angela den Eindruck, dass die Menschen um Denise von Schoenecker ihre Zufriedenheit und ihr Glück daraus schöpften, anderen zu helfen und die lebendige Kreatur – Mensch und Tier – zu lieben und zu beschützen. War es ihr anfänglich hin und wieder schwergefallen, die gern gebotene Hilfe anzunehmen, so begriff sie allmählich, dass sie kein Einzelfall war und dass Sophienlust schon viele Menschen vor ihr Trost und Rat erhalten hatten. So begann Angela nun auch selbst zu helfen, wo immer sich eine Gelegenheit dazu ergab.
Dr. Baumgarten hatte Angelas weitere ärztliche Betreuung übernommen und verordnete ihr schon bald ausgedehnte Spaziergänge. Auf diesen Wegen nahm Angela gern einige Kinder mit, doch ergab es sich natürlich auch gelegentlich, dass nur Bettina mit von der Partie war.
Nach einem besonders kalten Tag hatte es in der Nacht viele, viele Stunden lang lautlos geschneit. Die Kinder begrüßten am Morgen die weiße Pracht mit Jubel.
Sofort wurden die Schlitten hervorgeholt, und die Schulkinder beneideten die Kleinen glühend, weil diese bereits am Vormittag Gelegenheit hatten, sich gründlich im Schnee zu tummeln.
Am Nachmittag dachte Nick sich dann etwas Besonderes aus. Die Ponys, auf denen die Kinder so gern ritten, wurden vor die Kinderschlitten gespannt. Das gab eine herrliche Ausfahrt durch den verschneiten Wald.
Bettina war dafür noch zu klein, so packte Angela ihr Töchterchen warm in Decken ein und zog es auf dem Schlitten hinter sich her. Auch sie schlug den Weg zum Wald ein, weil die frisch beschneiten Bäume so wundervoll aussahen. Vielleicht begegneten sie ja auch den anderen Kindern.
Angela schritt in ihren hohen Stiefeln munter drauflos. Manchmal hielt sie inne, um zu lauschen. Doch von den Sophienlust-Kindern war nichts zu hören.
Angela fiel ein, dass um diese Nachmittagsstunde vielleicht schon die ersten Rehe an der Wildfütterstelle sein könnten. Die Tiere zu beobachten würde Bettina gewiss Freude machen.
Ein paarmal musste Angela überlegen, um die Stelle zu finden. Endlich tauchte die überdachte Futterraufe auf. Zwar waren deutlich Wildspuren im Schnee zu erkennen, doch ließ sich vorerst kein Reh erblicken.
Neben den Tierspuren entdeckte Angela auch Schuhabdrücke, die nicht von des Oberförsters großen Stiefeln stammen konnten. Es musste ein Frauenschuh gewesen sein, vielleicht sogar der eines halben Kindes. Hatte vor ihr schon jemand die Rehe beobachten wollen? Neugierig geworden folgte Angela den Tritten im Schnee, die bis zur Fütterungsstelle führten, wo frisches Heu, Kastanien und anderes Futter bereitlag.
Es war Bettinas Händchen im roten Fausthandschuh, das plötzlich aufgeregt ins Heu wies. »Da, Mama!«
Nun sah es auch Angela. Im Heu
lag ein Bündelchen, unverkennbar … Nein, sie konnte es nicht glauben! Hatte ein Kind seine Puppe hier im weichen Heu versteckt?
Angela trat näher und schaute genauer hin. Keine Puppe lag da warm eingehüllt im Heu – es war ein Kind, sicherlich erst wenige Tage alt. Ein Blatt Papier war mit einer Sicherheitsnadel an der Wolldecke befestigt: Herrn Oberförster Bullinger: Bitte bringen Sie meinen Sohn nach Sophienlust ins Kinderheim. Er heißt Wolfi (Wolfgang).
»Bettina, das ist ein kleiner Junge«, rief Angela. »Wir werden ihn gleich mitnehmen nach Sophienlust, damit er in ein richtiges Bettchen kommt.«
Bettinas Mund stand vor Überraschung offen.
»Kleiner Junge«, echote sie.
Es war ein bisschen mühsam, das Bündelchen aus dem Heu zu ziehen, denn wer immer das Kind dort niedergelegt haben mochte, er hatte es tief ins wärmende Heu gesteckt. Angela bekam heiße Wangen, bis sie das Kind endlich im Arm hielt.
»Tina will mal gucken«, bettelte Bettina.
Angela beugte sich nieder und zeigte ihr das Baby. »Jetzt müssen wir euch zusammen auf den Schlitten packen, Tinchen«, überlegte sie laut. »Hoffentlich fällt uns der kleine Kerl nicht herunter.«
»Tina hält ihn fest«, beteuerte Bettina.
Während Angela noch überlegte, wie sie beide Kinder sicher auf dem kleinen Schlitten unterbringen könnte, wurde das Geräusch eines Autos hörbar. Ein wenig erschrocken wandte sich Angela in die Richtung, aus der der Wagen kam. Zu ihrer Freude und Erleichterung erkannte sie den wei-ßen Bart des Oberförsters hinter der Windschutzscheibe. Sofort winkte sie ihn heran und berichtete ihm von ihrer Entdeckung.
Oberförster Bullinger schüttelte den Kopf. »Das hätte ein schlechtes Ende nehmen können«, meinte er. »Beinahe wäre ich heute nicht mehr hierhergekommen, weil uns die Kinder im Forsthaus mit den Ponys und ihren Schlitten besucht haben. Natürlich musste Kakao getrunken werden. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Sache einigermaßen organisiert war. Da wollte ich schon die Futterstelle heute nicht mehr kontrollieren. Ich habe ja gestern genug Futter ausgelegt. Dann dachte ich aber, dass ich beim Kakaotrinken nicht zuschauen müsste, und so bin ich eben noch losgefahren. Jetzt packen wir Sie, den Schlitten und die Kinder in den Wagen und fahren schnurstracks zum Gutshaus. Nein, so was! Es ist nicht das erste Mal, dass ein Kind in der Nähe von Sophienlust ausgesetzt worden ist. Natürlich spricht es sich herum, dass die Kinder es dort gut haben und niemand fragt, woher das Baby kommt. Verstehen kann ich es trotzdem nicht, dass eine Mutter so etwas tut.«