Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 48 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3
Оглавление»Hallo, Wendy!«
Franziska Morris betrat die Praxis von Dr. Norden. Es sollte fröhlich klingen, aber Wendy blickte in ein blasses, erschöpftes Gesicht.
»Setzen Sie sich, Frau Morris«, sagte sie besorgt.
Man konnte sie nicht nur als Patientin betrachten, denn sie war schon ein halbes Leben mit Dr. Norden befreundet und auch von dessen Frau Fee akzeptiert worden, die sonst andere Frauen ziemlich skeptisch betrachtete, die sich als alte Freundinnen von Daniel bezeichneten. So einige wären das liebend gern gewesen und hätten Fee aus seinem Leben verdrängt.
Bei Franziska war das nicht so, denn sie selbst war eine sehr glücklich verheiratete Frau gewesen. Leider nur für zwanzig Jahre, denn vor zwei Jahren war Joe Morris plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Das wußte Wendy, die Franziska sehr mochte, natürlich auch.
Franziska gehörte nicht zu den Frauen, die dauernd irgendwelche Wehwehchen hatten. Sie kam nur in die Praxis, wenn ihr wirklich etwas fehlte, aber jetzt ahnte Wendy schon, daß es diesmal die Psyche war, die Franziska einen Streich spielte.
»Wo fehlt es denn, Frau Morris?« fragte Wendy dennoch.
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, erwiderte Franziska seufzend. »Ich bin dauernd müde, nervös und gereizt. Die Kinder meckern, daß mit mir nichts mehr anzufangen sei und ich habe das Gefühl, daß ich alles falsch mache.«
Wendy sah sie forschend an. »Das reden Sie sich nur ein«, meinte Wendy. »Sie richten Ihr Leben nach den Kindern, die aber inzwischen erwachsen sind. An sich selbst denken Sie nicht. Meinen Sie nicht, daß die drei zumindest manches selbst tun könnten?«
»Sie können sich noch immer nicht daran gewöhnen, daß sich nach dem Tod meines Mannes manches geändert hat. Ein Hausmädchen kann ich mir nicht mehr leisten, die Putzhilfe kommt einmal die Woche und ist auch teuer genug. Ich will Ihnen aber nicht die Ohren volljammern, Wendy.«
»Das tun Sie doch nicht. Ich habe Zeit, der letzte Patient ist drin, und bei dem dauert es immer ziemlich lange. Es hilft vielleicht, wenn Sie sich etwas von der Seele reden. Bei mir ist es gut aufgehoben.«
»Das weiß ich, Wendy, aber Sie müssen sich so viele Wehklagen anhören.«
»Manche Menschen jammern nur, ohne Grund dazu zu haben. Da geht es zu einem Ohr rein und zum andern raus, aber wir kennen uns schon gut genug, um zu verstehen, wenn den anderen wirklich etwas bedrückt. Sie haben auch mal sofort bemerkt, daß ich Kummer habe.«
»Als eine liebe alte Patientin gestorben war. Ich weiß«, nickte Franziska.
»Dann nehmen Sie mir auch nicht übel, wenn ich sage, daß Sie zuviel Rücksicht auf Ihre Kinder nehmen.«
»Sie haben ja recht. Ich weiß es, aber ich bringe es nicht über mich, mal ein Machtwort zu sprechen. Sie tanzen mir auf der Nase herum. Einmal sind sie so erwachsen, daß sie alles selbst bestimmen können, aber wenn es um häusliche Pflichten geht, halten sie sich nicht für zuständig. Wenn ich mich nur durchsetzen könnte!«
Gerade jetzt wurde das Gespräch unterbrochen, denn Dr. Norden verabschiedete seinen Patienten mit guten Wünschen für die Kur und wandte sich dann gleich Franziska zu.
Wendy wußte, daß Franziska bei ihm auch ein geneigtes Ohr finden würde, er wußte auch um ihre wirklichen Sorgen.
Sie waren gleichaltrig und ein paar Jahre in derselben Schulklasse auf dem Gymnasium gewesen. Damals hieß Franziska noch Berry und wurde als Tochter eines Oberstudienrates nur mit Vorsicht behandelt.
Nur Daniel Norden hatte diesbezüglich wirklich keine Berührungsängste, da sie zu den wenigen Mädchen gehörte, die ihm nicht auf Schritt und Tritt nachliefen. Außerdem war sie eine sehr gute Schülerin und wollte nicht dauernd etwas von ihm.
Wie es dann aber meist war, hatten sie nach der Schulzeit den Kontakt verloren. Franziska fing beim Rundfunk als Sprecherin an und lernte dort Joe Morris kennen, der ein höchst talentierter Nachwuchsregisseur war. Es war Liebe auf den ersten Blick und wurde für beide die große Liebe. Franziska war nicht nur eine sehr aparte junge Frau, sie war auch klug und vielseitig und machte schnell Karriere als Moderatorin beim Fernsehen.
Auch Joe machte sehr schnell Karriere. Er war acht Jahre älter als Franziska und drängte bald zur Heirat. Natürlich sagte sie nicht nein. Joe war froh, daß sich bald das erste Kind anmeldete, denn er war eifersüchtig, wenn andere Männer seine Franzi nur anschauten. Er war auch der Meinung, daß er genug Geld verdiene und sie nicht arbeiten müsse. Sie wollte immer Zeit für ihn haben, wenn er heimkam. Er war aber sehr gefragt und gar nicht so oft zu Hause, wie Franzi es sich wünschte. Als Jannick zur Welt kam, war sie voll beschäftigt, denn er war ein sehr lebhaftes Kind und behauptete sich vom ersten Tag an sehr energisch.
Das Glück des Ehepaares Morris war vollkommen, als zwei Jahre später Bibiane geboren wurde und ein Jahr danach Ruben. Joe war ein liebevoller Vater. Ihm machte es auch nichts aus, nachts aufzustehen, wenn ein Kind unruhig war, aber alles in allem hatten sie auch da Glück, denn die Kinder waren gesund und keine Plagegeister.
Dr. Norden wußte das alles. Als er mit Fee verheiratet war, trafen sie sich manchmal mit dem Ehepaar Morris und blieben seither immer in Kontakt, wenigstens telefonisch.
Daniel und Fee waren erschüttert gewesen, als Joe so plötzlich starb und voller Mitgefühl für Franziska, die nun allein mit drei fast erwachsenen Kindern fertig werden mußte, und eigentlich war es nur der damals fast sechzehnjährige Ruben, der sie noch um ihre Meinung fragte. Solange Joe lebte, war ihr gar nicht bewußt geworden, wie selbständig Jannick und Bibiane schon waren und wie selbstbewußt.
Daniel Norden ahnte, wo bei Franzi der Schuh drückte, als sie ihn mit ihren großen topasfarbenen Augen so flehend anblickte.
»Was ist los bei euch, Franzi?« fragte er auch ganz direkt.
»Sehe ich mies aus?« fragte sie.
»Unglücklich«, erwiderte er. »Du kannst mir alles sagen.«
»Den Kindern fällt es schwer, ihre Ansprüche herunterzuschrauben. Bibi hat zudem einen Freund, der mir gar nicht gefällt, und Ruben will vor dem Abi die Schule schmeißen. Und da ich Joe nicht mehr habe, komme ich zu dir, um Rat einzuholen.«
Ihre Stimme bebte, und ihre Augen wurden feucht. Daniel griff nach ihrer Hand.
»Das ist richtig so, Franzi. Wir haben dir gesagt, daß wir immer Zeit für dich haben. Ich finde, daß es an der Zeit ist, daß die Kinder den Ernst der Situation begreifen, aber du selbst mußt es ihnen sagen. Wenn ich es tue, werfen sie dir schließlich vor, daß es eine Familienangelegenheit ist, in die sich niemand einzumischen habe.«
»Wie soll ich es anfangen?«
»Eine Rechnung aufmachen, ihnen erklären, wieviel Kosten du hast. Du mußt ihnen zeigen, daß sie nicht mit dir machen können, was sie wollen.«
»Ich wäre gern wieder in meinen Beruf zurück, aber dazu bin ich zu alt und nicht mehr attraktiv genug. Da sind junge, knackige Blondinen gefragt. Ich verstehe es ja auch, daß Männer lieber solche sehen. Aber ich kann sonst nichts anderes.«
»Sag das nicht. Du bist eine kluge, belesene Frau! Ich würde es auch für das Beste halten, wenn du dich irgendwie betätigst, dann hast du eben keine Zeit, dich um alles zu kümmern und die verwöhnten Kinder müssen selbst was tun. Du bist keine Glucke und immer noch eine attraktive Frau, wenn du dich mal wieder lächelnd zeigst. Dein Lächeln war immer umwerfend, und deine Zähne können mit jeder jungen Blondine konkurrieren. Überhaupt kommt es auf die Ausstrahlung an.«
»Die ich nicht mehr habe.«
»Die du nur eingefroren hast, meine liebe Franzi. Ich weiß, wie sehr du Joe vermißt, aber das solltest du den Kindern auch mal sagen und nicht ewig die Tapfere spielen. Ich will, daß du dich auf dich selbst besinnst, und du mußt das auch wollen. Deine Sorgen sind die Sorgen vieler Eltern. Heranwachsende Teenager fühlen sich kollossal stark und wissen alles besser. Das höre ich jeden Tag.«
»Aber eure Kinder sind nicht so.«
»Danny und Felix versuchen es schon, aber da kann Fee die Zähne zeigen und das mußt du auch. Du wirst dich nicht geschlagen geben. Du wirst die Frau sein, die Joe geliebt und bewundert hat und wirst daran denken, wie er dich sehen wollte. Triff dich mit Hartmut oder Konni, die würden sich bestimmt freuen, mal wieder mit dir zu reden.«
»Das kann ich doch den Kindern nicht antun. Wir waren immer nur mit Joe zusammen.«
Daniel seufzte. »Wenn du immer nur daran denkst, was du den Kindern nicht antun möchtest, kriegst du dein Leben nie mehr auf die Reihe. Denk lieber daran, was sie dir antun, indem sie dir keine Freiheit gönnen. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, daß du dich immer nur um sie kümmerst und sie sich nie um dich.«
Franziska versuchte ein Lächeln.
»Du hast gesprochen! Ich werde mir Mühe geben, deinen Rat zu befolgen.«
»Du wirst sehen, es geht. Und schau mal in die Zeitung mit den Stellenangeboten. Es wäre gelacht, wenn nicht auch etwas für dich dabei wäre und wenn es nur vorübergehend sein sollte, damit deine Trabanten mal merken, daß die Mutter nicht kuscht. Was treiben sie denn zur Zeit überhaupt?«
»Jannick hat für September einen Studienplatz für Informatik. Er jobbt und scheint ganz gut zu verdienen. Jedenfalls hat er sich ein Auto gekauft. Bibi weiß noch nicht recht, was sie werden will. Fotografin oder vorerst mal Modell. Sie ist ständig auf Castings, aber sie braucht eben viel Zeit für ihren Freund Alex, und dem traue ich manches zu, aber nichts Gutes.«
»Sie muß ihre Erfahrungen auch selbst machen, Franzi. Und warum will Ruben mit der Schule aufhören?«
»Weil er keinen Bock mehr hat. Er will auch jobben und ein Auto haben. Studieren will er schon gar nicht, weil man dann doch keine Stellung bekommt. Am liebsten würde er wohl auch Regisseur werden. Daß einem das nicht zufliegt, scheint er nicht zu begreifen. Ich habe damals gelacht, wenn Joe gesagt hat, daß die schwierigen Jahre erst kommen. Er hatte nicht vergessen, wie er gewesen war. Aber er hat nicht gedacht, daß ich dann allein sein würde.«
»Es ist hart, ich verstehe das, Franzi, aber denk jetzt wirklich mal an dich, daß du ein Recht auf ein eigenes Leben hast und die Kinder dir das zubilligen müssen, da sie von dir auch Toleranz erwarten.«
»Aber wenn sie nun den falschen Weg einschlagen? Ich habe solche Angst davor, Daniel.«
»Wenn du alles hinnimmst, kannst du das auch nicht verhindern. Du kannst ihnen zu verstehen geben, daß immer eine Tür für sie offen ist, aber wenn sie eigene Wege gehen wollen, kannst du sie nicht festbinden, mit aller Liebe nicht. Sie werden erst einsehen, was sie an ihrer Mutter haben, wenn du nicht mehr für alles sorgst. Du findest bestimmt die richtigen Worte, um ihnen zu erklären, worum es dir geht. Nur fest mußt du bleiben und dich nicht durch Schmeicheleien umstimmen lassen.«
»Ich werde es beherzigen.«
»Dann möchte ich dir noch einen Spruch mit auf diesen Weg geben, Franzi: Wenn du nicht an dir Freude hast, die Welt wird dir nicht Freude machen. Und du kannst noch viel aus deinem Leben machen.«
»Ich danke dir, Daniel. Du bist ein guter Freund.«
»Und du bist ein guter Mensch, Franzi, und wirst auch immer eine gute Mutter sein, wenn du jetzt auch mal mit der Faust auf den Tisch schlägst.«
»Mal sehen, was sie dann sagen.«
Jetzt lächelte sie wirklich und sah gleich viel jünger und zuversichtlicher aus.
Sie tat noch ein übriges, bevor sie heimfuhr. Sie ging zum Friseur und ließ sich einen neuen Haarschnitt verpassen. Sie beschloß auch, wieder einmal zur Kosmetikerin zu gehen. Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan, hatte nur immer gedacht, was die Kinder alles brauchten, denn die Rente, die sie für diese bekam, hatte sie auf deren Konten eingezahlt.
Als sie zu Hause ankam und aus ihrem Wagen stieg, kam Bibis Freund Alex aus dem Haus gestürzt. Er sah wütend aus, rannte an Franziska vorbei, ohne zu grüßen, sprang in sein Cabrio und fuhr mit aufheulendem Motor davon. Vielleicht ist das der richtige Tag, um reinen Tisch zu machen, dachte Franziska.
Mit betont gleichmütiger Miene betrat sie das Haus. Bibiane kam aus dem Bad. Sie sah verheult aus. Franziska tat, als bemerke sie das nicht.
»Wo kommst du denn jetzt erst her?« fragte das Mädchen gereizt.
»Bin ich dir Rechenschaft schuldig? Was sagst du, wenn ich dir solche Frage stelle?«
Bibiane starrte sie sprachlos an. »Das ist doch was anderes«, sagte sie trotzig. »Du fragst ja auch nicht, was los ist. Du hast doch sicher gesehen, wie Alex rausgerast ist.«
»Mir ist dein Freund gleichgültig. Ich habe dir schon mal gesagt, daß ich ihn nicht mag. Es ist deine Angelegenheit, wie er sich benimmt.«
»Du bist vielleicht komisch«, murrte Bibiane. »Ich habe eine Rolle in einer Daily-soap bekommen, und das paßt ihm nicht.«
Sonst hätte Franziska gefragt, was das denn für eine Rolle sei, aber diesmal fragte sie nicht.
»Wie schön für dich, das wolltest du doch schon lange.«
»Es ist aber nicht das, was ich mir vorgestellt habe.«
»Dann ist es wohl keine Hauptrolle«, sagte Franziska und konnte nicht verhindern, daß es spöttisch klang.
»Nörgelst du auch an mir rum?«
In Bibianes Augen blitzte es zornig.
»Ich nörgle nicht. Ich finde es gut, daß du mal beweisen kannst, ob du Talent hast.«
»Wenn ich kein Talent hätte, hätten sie mich nicht genommen. Alex ist wütend, weil ich nicht nach Jamaica fliegen kann.«
»Hatte er dich dazu eingeladen?«
Bibiane war irritiert. »Das natürlich nicht. So viel Geld hat er auch nicht, aber ich habe mir schon gedacht, daß du dann wieder Theater machst und sagst, daß du dafür kein Geld hast.«
»Ich habe tatsächlich nicht so viel Geld.«
»Aber zum Friseur gehen kannst du! Meinst du, ich sehe das nicht?«
»Seit einem Vierteljahr mal wieder. Wie oft gehst du?«
»Liebe Güte, du bist aber nicht gut drauf«, sagte Bibiane und verschwand in ihrem Zimmer.
Franziska atmete tief durch. Die erste Klippe hatte sie überstanden. Eigentlich war es gar nicht so schwer gewesen. Sie wusch sich im Bad die Hände und betrachtete sich prüfend im Spiegel.
Ich muß an mir Freude haben! dachte sie.
In der Küche bereitete sie das Abendessen vor. Sie wußte nicht, wer kommen würde, aber sie wollte jedenfalls noch einmal ein Essen auf den Tisch bringen, bevor sie dann die Rechnung aufmachte, wie Daniel ihr geraten hatte.
*
Ruben kam kurz nach achtzehn Uhr.
»Hallo, Mami, wann gibt’s Essen?« war seine Begrüßung.
»Wenn Jannick da ist.«
»Und wenn er wieder spät kommt? Ich habe Mordshunger.«
Sie wurde schon wieder weich, als sie ihn ansah. Er war ein hübscher Junge, einen halben Kopf größer als sie.
»Ich habe ein tolles Match gehabt mit Piet Danegger und gewonnen.«
»Gratuliere«, sagte sie.
»Und was gibt es zu essen?«
»Kalbsgeschnetzeltes und Rösti.«
Das aßen alle drei am liebsten.
Bibiane hatte anscheinend Rubens Stimme vernommen. Sie kam jetzt herunter.
»Laß Ma in Ruhe, sie ist nicht gut drauf«, sagte sie anzüglich.
»Wieso? War dein dämlicher Axel hier?« fragte Ruben, worauf ein mit Spitzen gespickter Dialog folgte.
Franziska machte die Küchentür mit einem Knall zu.
Glücklicherweise kam Jannick jetzt auch heim und brüllte seine Geschwister an: »Müßt ihr denn immer streiten? Das nervt langsam. Wo ist Mutsch?«
Jeder hatte eine andere Anrede für Franziska, und so verschieden waren sie auch. Franziska holte tief Luft, bis sie die Küche verließ. Sofort verstummten alle, und Jannick vergaß sogar die Begrüßung.
»Es könnte gegessen werden«, sagte Franziska gleichmütig. »Nett, daß du auch schon zu Hause bist. Ich habe etwas mit euch zu besprechen, aber erst nach dem Essen.«
Ruben war gleich dabei, den Tisch zu decken, Jannick erklärte, er müsse sich erst noch waschen, und Bibiane fragte, ob sie etwas helfen könne, aber ihr Tonfall verriet, daß sie ein Nein erwartete. Das kam auch knapp und deutlich.
Franziska brachte den Servierwagen ins Eßzimmer, und schon erschien auch Jannick.
»Riecht ja lecker«, meinte er. »Ist ein ganz besonderer Tag? Habe ich mal wieder etwas vergessen?«
»Du hast einen Gutenabendgruß vergessen«, sagte Ruben.
»Tatsächlich, aber nur, weil ihr gestritten habt. Pardon, Mutsch.«
Am Tisch herrschte Schweigen. Das hatten sie beibehalten. Joe hatte es nicht leiden können, wenn bei Tisch viel geredet wurde. Und da es allen schmeckte, gab es nichts zu bemängeln. Selbst Bibiane verhielt sich ganz ruhig.
Vielleicht überlegen sie schon, was ich ihnen mitzuteilen habe, ging es Franziska durch den Sinn. So war es auch, zumindest bei Jannick und Bibiane.
Es gab als Dessert noch Mousse, und da sagte auch niemand nein, aber dann erklärte Bibiane, daß sie eigentlich noch etwas vorhätte. Sie erwartete wohl einen heftigen Widerspruch von Franziska, aber die meinte nur ganz gelassen, daß sie nicht die Absicht hätte, den ganzen Abend zu reden.
»Diskutieren können wir noch, wenn ihr über alles nachgedacht habt«, erklärte sie seelenruhig, und seltsamerweise war sie auch ganz gelassen.
Sie setzten sich vor den Kamin. Franziska rückte das Tischchen zu sich heran und legte einen Ordner vor sich hin.
Erwartungsvoll sahen drei Augenpaare sie an, und sie mußte fast lachen.
»Es geht um unsere Finanzen. Es wird Zeit, daß ihr euch auch mal damit befaßt«, begann sie.
»Bekommen wir denn keine Rente mehr?« fragte Bibiane sofort.
»Doch, die bekommt ihr noch, ich zahle sie weiterhin, wie gehabt, auf eure Konten ein, damit ihr mal eine Starthilfe habt«, erwiderte sie.
»So ist das doch aber nicht gedacht, Mutsch«, sagte Jannick. »Ich war der Meinung, daß das Geld in die Haushaltskasse kommt.«
»Es könnte ja sein, daß ihr bald euren Lebensunterhalt davon bestreiten müßt«, fuhr Franziska fort.
»Du bist doch nicht etwa krank, Mami?« fragte Ruben aufgeregt.
»Nein, ich bin nicht krank, aber ich habe vor, mir eine Stellung zu suchen.«
»Dich nimmt doch keiner mehr, dazu bist du zu alt«, platzte Bibiane heraus.
»Mami ist nicht alt!« empörte sich Ruben sofort.
»Ich werde sehen, wie ich eingeschätzt werde«, konterte Franziska.
»Muß denn das sein, Mutsch?« fragte Jannick.
»Ich möchte euch unsere Situation schildern. Es sind noch hundertzwanzigtausend Mark aus Joes Lebensversicherung vorhanden. Die Rente, die ich bekomme, ist minimal, da Joe so früh gestorben ist und ich auch noch jung war.«
»Das ist aber eine Menge Geld, warum tust du denn so ärmlich, Ma?« meinte Bibiane vorwurfsvoll.
Den Ton beherrschte sie.
»Ich bin dabei, euch zu erklären, was davon bezahlt werden muß, was das Haus und der Lebensunterhalt kosten.«
»Das Haus gehört uns doch«, sagte Bibiane.
»Nicht ganz, die Hypotheken kosten jährlich noch fünfzehntausend Mark und das noch zehn Jahre. Das ergibt eine Summe von einhundertfünfzigtausend Mark. Hinzu kommen Versicherungen für Haus und Autos, Reparaturkosten und so weiter. Also können wir davon nicht ständig nur nehmen, solange ihr gar nichts verdient.«
»Ich werde ja bald etwas verdienen«, trumpfte Bibiane sofort auf. »Mit der Rente dazu kann ich mich selbständig machen.«
»Wenn du regelmäßig verdienst und nicht mehr in der Ausbildung bist, bekommst du keine Rente mehr.«
Darauf erntete Franziska einen Blick, als wäre das ihre Schuld. Bibiane ließ sich anklagend darüber aus, wie unglaublich dumm die Gesetze wären.
»Denk erst mal nach, bevor du dich aufregst«, sagte Jannick.
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Ruben, »aber es gefällt mir nicht, daß Mami arbeiten will.«
»Ich habe es offen gestanden satt, euch alles nachzuräumen, zu kochen, waschen, bügeln, putzen. Ich möchte bezahlt werden für acht Stunden Arbeit pro Tag.«
»Du arbeitest doch keine acht Stunden, da muß ich ja lachen«, sagte Bibiane.
»Was machst du denn den ganzen Tag? Du bist oft mehr als acht Stunden abwesend, also weißt du gar nicht, was Mutsch alles macht«, erklärte Jannick.
Er erntete auch einen giftigen Blick.
Franziska blieb ruhig. »Ich räume euch eine Probezeit ein, in der ihr feststellen könnt, wie gut ihr allein fertig werdet mit allem«, sagte sie gleichbleibend freundlich. »Ihr behauptet immer, wie selbständig ihr seid, aber ihr laßt euch bedienen, als wäre ich eine bezahlte Angestellte. Es muß einmal gesagt werden. Ich habe meine Wünsche immer zurückgestellt. Eurem Vater würde das gar nicht gefallen. Ich höre immer nur, was ihr alles braucht und was ihr machen möchtet. Für euch hat sich seit Joes Tod nichts geändert, aber er ist nicht mehr da und ich vermisse ihn sehr, nicht nur deshalb, weil wir uns viel mehr einschränken müssen.«
»Warum hast du das nicht schon früher gesagt, Mutsch?« fragte Jannick rauh.
»Vielleicht dachte ich, ihr würdet selbst darauf kommen, daß kein Verdiener mehr da ist, aber ich bin fest entschlossen, zumindest meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ihr könnt dann eure Rente für euren Lebensunterhalt nehmen.«
»Wieviel ist das denn überhaupt?« fragte Bibiane.
Sie schauten sich gegenseitig betreten an und machten lange Gesichter, als sie hörten, wie niedrig diese war.
»Ich nehme an, ihr wollt jetzt nachdenken«, sagte Franziska. »Das wär’s für heute.«
»Du hast doch nicht wirklich vor, eine Stellung anzunehmen, Mami?« fragte Ruben kleinlaut.
»Sie will uns nur ärgern«, stieß Bibiane hervor.
Wenn sie das nicht gesagt hätte, wäre Franziska vielleicht doch wieder weich geworden, aber um Bibiane zur Vernunft zu bringen, nahm sie sich vor, streng zu bleiben.
»Müssen wir auch Miete zahlen?« fragte Jannick ironisch.
»Fünfzig Prozent des Hauses gehört euch, also solltet ihr auch zusammen fünfzig Prozent der anfallenden Kosten aufbringen, wenn wir das Haus behalten wollen.«
»Dann ziehe ich lieber aus, und du kannst einen zahlenden Untermieter nehmen. Oder gibt es etwa einen Mann, der sich bei uns einnisten will?« erregte sich Bibiane.
»Schlag einen anderen Ton an!« mahnte Jannick gereizt. »Mutsch hat recht, wir haben alles ihr überlassen, obgleich wir erwachsen sind.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe, Mami«, sagte Ruben.
»Schleimer«, zischte Bibiane.
Das hätte sie auch nicht sagen dürfen. »Dein Umgang macht sich schon bemerkbar«, warf ihr Ruben vor. »Dieser Alex ist doch der letzte Dreck. Du wirst schon sehen, was du davon hast.«
Darauf rauschte Bibiane hinaus, und nach zehn Minuten verließ sie das Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
Franziska zuckte zusammen und sah Jannick hilflos an.
»Spätpubertäre Hysterie«, sagte er spöttisch.
»Sie bildet sich zuviel ein«, meinte Ruben.
»Ich will niemand vertreiben, aber es muß sich etwas ändern. So geht es nicht mehr weiter.«
»Du bräuchtest mal Tapetenwechsel, Mutsch«, sagte Jannick.
»Sag, was ich machen soll, Mami«, sagte Ruben bittend.
»Ich möchte nicht, daß du die Schule verläßt, aber es ist deine Entscheidung.«
»Darf ich mir jetzt das Fußballspiel ansehen?« fragte er.
Sie mußte fast lachen. »Das hast du doch noch nie gefragt? Wozu habt ihr eigene Fernseher?«
»Vielleicht sollten wir die verkaufen.«
»Du lieber Himmel, dafür kriegt man doch nichts mehr«, sagte Jannick. »Wir werden uns sowieso an den Stromkosten beteiligen.«
Na also, dachte Franziska, es scheint Wirkung zu haben. Aber sie wollte lieber noch abwarten, bevor sie sich eines Sieges freuen konnte.
*
Bibiane kam erst nach drei Uhr heim. Natürlich hatte Franziska auch in dieser Nacht nicht schlafen können. Sonst war sie aufgestanden und hatte gefragt, warum es so spät geworden sei, denn immerhin war das Mädchen ja erst neunzehn Jahre. Aber sie tat es nicht.
Bibiane bemühte sich nicht, leise zu sein. Es klirrte, und sie stolperte die Treppe hinauf.
Sie wird doch nicht getrunken oder gar Drogen genommen haben? fragte Franziska sich ängstlich.
Dann herrschte Ruhe.
Sie konnte trotzdem nicht einschlafen. Sie wußte, daß sie sich immer Gedanken machen würde, wenn es ihr nicht gelang, ihren Schatten zu überspringen.
Dann fiel ihr ein, daß Samstag war und sie eigentlich auch mal ausschlafen konnte, aber prompt war sie doch zur gewohnten Zeit munter. Sie dachte ein paar Minuten nach, dann faßte sie einen Entschluß, der ihr früher nicht im Traum eingefallen wäre.
Sie stand auf, ging ins Bad, duschte und machte etwas länger Morgentoilette als sonst. Sie legte sogar ein Make-up auf und Lippenstift.
Sie zog Jeans an, einen leichten blauen Pulli und eine Steppweste, die ihr Joe einmal aus England mitgebracht hatte. Sie hatte sie nicht mehr getragen, seit er tot war, wie auch andere Sachen, die er an ihr gemocht hatte. Jetzt war es so, als wolle sie sich beweisen, daß sie auch mit der schmerzhaften Erinnerung fertig werden konnte.
Sie nahm die Zeitung aus dem Kasten, bevor sie ihren Wagen aus der Garage holte. Dann erst fiel ihr auf, daß Bibianes Wagen nicht da war, aber sie verbot sich, sich darüber Gedanken zu machen.
Sie hatte sich entschlossen, an den Tegernsee zu fahren, sich dort einen ruhigen Platz zu suchen und die Stellenanzeigen zu studieren, ohne dabei gestört zu werden.
Trotz der frühen Stunde war doch schon viel Verkehr. Da der Himmel versprach, daß es ein schöner Tag werden würde, ahnte sie, daß auch am See viel Betrieb herrschte. Vielleicht war es besser, sich einen abgelegenen Platz im Vorgebirge zu suchen und zuerst ein deftiges Frühstück zu sich zu nehmen.
Gedacht, getan. Sie bog in eine Nebenstraße ein und fand schließlich einen Landgasthof, der einladend aussah.
Eine jüngere Frau im Dirndl kam auch gleich aus dem Haus.
»Guten Morgen«, sagte Franziska freundlich, »kann man bei Ihnen frühstücken?«
»Aber freilich, gnä’ Frau, herzlich willkommen im Huber-Himmel.«
Das klingt gut, richtig verheißungsvoll, dachte Franziska.
»Einen hübschen Namen haben Sie sich für Ihren Gasthof ausgesucht«, meinte sie gedankenvoll.
»Das hat sich so ergeben«, lächelte die Wirtin. »Mein Mann heißt Huber, und ich war eine geborene Himmel. Ein bißchen weit ab liegen wir ja, aber wer einmal bei uns war, kommt gern wieder.«
»Das glaube ich gern«, sagte Franziska. Als ihr das Frühstück gebracht wurde, war sie entschlossen, bestimmt wieder hierher zu fahren, vielleicht auch mal für ein paar Tage. Sie konnte später auch die hübschen Gästezimmer anschauen, und als sie die Kathi Huber fragte, ob sie einen ruhigen Platz für sie hätte in der Sonne, damit sie ungestört lesen könne, lachte Kathi wieder.
»Ruhig haben Sie es hier überall am Vormittag. Nur wenn mittags mehr Gäste kommen, wird es ein bißchen lauter.«
Eine bequeme Liege wurde ihr in die Nähe des Teiches gebracht, auf dem sich wunderschöne Seerosen entfalteten.
Franziska atmete tief die würzige Luft ein, lehnte sich zurück und gönnte sich eine halbe Stunde völliger Entspannung. Danach begann sie, sich intensiv mit den Stellenanzeigen zu befassen. Es dauerte gar nicht lange, bis ihr Blick auf eine ganz besondere Anzeige fiel.
Gesucht wird eine Dame mittleren Alters mit universeller Bildung, die sich möglichst in mehreren Sprachen verständigen kann und Lebenserfahrung besitzt, für eine nicht alltägliche Tätigkeit. Sie sollte ein ansprechendes Aussehen haben, gepflegt und natürlich, und auch kontaktfreudig sein. Ein kurzes Handschreiben genügt.
Eigentlich trifft das auf mich zu, dachte Franziska. Kontaktfreudig war ich früher und könnte es wieder werden. Es kommt auf einen Versuch an. Es war auch die einzige Anzeige, die keine Fachkenntnisse für einen bestimmten Beruf voraussetzte, mit denen sie nicht aufwarten konnte. Eine Sprecherin oder Moderatorin wurde nicht gesucht, nur für eine Talkshow Mütter mit heranwachsenden Kindern, alleinerziehende Mütter wohlgemerkt, die gern über ihre Probleme und Konflikte erzählen wollten.
Das fehlte noch, dachte Franziska, dann wäre bei uns erst recht die Hölle los.
Sie fühlte sich plötzlich richtig wohl und schaltete völlig ab. Nur kurz dachte sie daran, was ihre Trabanten wohl sagen mochten, wenn sie keinen gedeckten Frühstückstisch mit frischen Brötchen vorfanden. Dann schlief sie völlig gelöst ein.
*
Ruben stand um neun Uhr auf, nachdem er vergeblich auf wohlbekannte Geräusche aus der Küche gelauscht hatte. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Angst, daß mit seiner Mami etwas sein könnte. Sie war so seltsam gewesen am Abend und so blaß. Er hatte zum ersten Mal richtig gespürt, daß sie Sorgen hatte.
Er ging in die Küche. Die Kaffeemaschine war nicht in Betrieb, und im Bauernzimmer war kein Frühstückstisch gedeckt. Sein Herz klopfte schneller, und seine Kehle wurde trocken, als er zu Franziskas Zimmer ging. Die Tür war geschlossen, er wagte nicht einzutreten, tat es dann aber doch, nachdem er sich einen Ruck gegeben hatte.
Das Zimmer war leer. Er lief in den Garten, keine Mami war zu sehen. Dann stellte er fest, daß ihr Auto fehlte. Er wollte sich mit dem Gedanken beruhigen, daß sie zum Einkaufen gefahren war.
Die Minuten schlichen dahin, dann erschien Jannick.
»Mami ist fort«, sagte Ruben tonlos.
»Das kann doch nicht sein. Sie holt sicher Brötchen oder besorgt sonst noch was.«
»Es ist schon fast halb zehn Uhr und der Frühstückstisch ist auch noch nicht gedeckt.«
»Vielleicht statuiert sie ein Exempel und erwartet, daß wir das mal tun. Gut, machen wir es.«
»Machst du dir denn gar keine Sorgen?« fragte Ruben gepreßt.
»Sie will es uns zeigen, das hat sie uns doch gestern abend deutlich zu verstehen gegeben.«
»Und wenn sie einfach alles satt hat und abgezischt ist?«
»Dazu hat sie zuviel Verantwortungsgefühl. Sie würde uns zumindest informieren, wie lange sie wegbleibt. Ohne Geld würde sie uns auch nicht zurücklassen. Ich habe mir gestern abend alles noch mal durch den Kopf gehen lassen. Wenn Mutsch tatsächlich unsere Rente seit Dads Tod für uns gespart hat, kommt für jeden ein ganz hübsches Sümmchen heraus. Damit kann man was anfangen.«
»Ich kann so was nicht denken. Ich will, daß Mami hier ist.«
»Reg dich nicht auf, sie kommt schon wieder. Ist Bibi zu Hause?«
»Ich habe noch nicht nachgesehen, aber ich habe heute nacht etwas poltern hören.«
»Dann schau ich mal nach.«
Er ging, und Ruben blieb allein zurück. In diesen Minuten war er ein kleiner Junge, für den die Welt aus den Fugen geraten war.
Jannick packte indessen der Zorn, als er Bibiane angekleidet im Bett liegen sah. Als er die Beule an ihrem Kopf und die blauen Flecken in ihrem Gesicht und an den Armen bemerkte, bekam er es jedoch mit der Angst.
Er faßte nach ihrer Hand, aber sie begann gleich zu schreien.
»Was ist los, Bibi? Schau mich an, ich bin es, Jannick.«
Sie verstummte und öffnete mühsam die verquollenen Augen.
»Laß mich schlafen«, murmelte sie.
»Geh erst mal ins Bad und schau in den Spiegel.«
»Das brauche ich nicht. Ich weiß, wie ich aussehe.«
»Wer hat dich so zugerichtet?«
»Ich bin hingefallen.«
»Na schön, ich wollte dir nur sagen, daß Mutsch das Haus verlassen hat.«
»Was sagst du da?«
»Sie ist nicht anwesend, und es wartet kein Frühstück auf uns.«
»Dann kann sie mir wenigstens keine Fragen stellen. Laß mich in Ruhe. Meinst du, ich mache euch Frühstück?«
»Solche Wunder geschehen nicht, aber jemand scheint dir eine ordentliche Abreibung erteilt zu haben. War es der liebe Alex?«
»Raus!« schrie sie. »Ich habe euch alle satt!«
»Vielleicht solltest du lieber einen Arzt aufsuchen, dann kannst du den Täter auf Schmerzensgeld verklagen«, sagte Jannick sarkastisch. »So kannst du dich nicht unter Leute wagen und in deine Daily-soap schon gar nicht. Wann sollte es da losgehen?«
»Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!« stieß sie wütend hervor.
Er ging.
*
»Was ist mit Bibi?« fragte Ruben. »Warum hat sie geschrien?«
»Sie scheint in eine Schlägerei geraten zu sein, sieht jedenfalls so aus.«
»Wundern tut es mich nicht«, meinte Ruben. »Sie steckt mitten drin in der verkorksten Clique. Jonny ist auch dabei, sein Vater hat ihn schon rausgeschmissen.«
»Wer ist Jonny?«
»Janas Bruder.«
»Du meinst Hannes Wilhelm?« fragte Jannick konsterniert.
»Er wird von seinen Freunden Jonny genannt.« Es klang verächtlich. »Ich verstehe, daß Mami Alex nicht ausstehen kann. Jana sagt auch, daß ihr Bruder ganz verändert ist, seit er in der Clique ist. Ich möchte wissen, was die sich beweisen wollen. Janas Eltern haben noch ganz andere Sorgen als Mami.«
»Na, danke, bei uns langt es auch. Verstehen kann ich es sogar, wenn sie mal ihre Ruhe haben will.« Er starrte vor sich hin. »Holst du Brötchen?«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Na schön, dann hole ich welche. Essen müssen wir schließlich etwas. Deck wenigstens den Tisch.«
Ruben tat es mechanisch, und dabei dachte er, daß Franziska nie im Kommandoton mit ihm gesprochen hatte. Ihm wurde auch bewußt, daß sie alles als selbstverständlich hingenommen hatten, auch wenn Franziska ihre herumliegenden Sachen wegräumte. Er wenigstens hatte ein schlechtes Gewissen.
*
Als Franziska aus ihrem kurzen wohltuenden Schlummer erwachte, dachte sie auch zuerst an Ruben. Er wird mich am ehesten vermissen, ging es ihr durch den Sinn.
Nur nicht weich werden, dachte sie jedoch. Nur nicht gleich geschlagen geben. Ruben muß auch mal nachdenken, dann bleibt er vielleicht auf der Schule. So schlecht ist er doch gar nicht. Ich werde ihnen die Hälfte von ihrer Rente geben, mal sehen, was sie damit machen. Wenn alles in die Binsen geht, ist es auch nicht zu ändern, aber dann haben sie hoffentlich ihre Erfahrungen gemacht. Aufhalten kann ich nichts, ich habe es versucht, aber es klappt nicht. Also muß ich abwarten und hoffen, daß sie selbst zur Vernunft kommen.
Ihre Gedanken trugen Früchte, sie war wieder ganz ruhig. Nun war es Zeit für ein gutes Mittagessen, das sie auch bekam.
*
Im Hause Norden ging es auch nicht ganz friedlich zu. Danny wollte zu einem Fußballspiel ins Stadion fahren. Diesmal war es Daniel, der ein energisches Veto einlegte.
»Erstens bekommst du jetzt keine Karte mehr, und zweitens gibt es bestimmt wieder eine Schlägerei.«
»Man kann sich fernhalten«, sagte Danny mit rauher Stimme. Er war im Stimmbruch.
»So ’ne Schnapsidee, da allein hinfahren zu wollen! Das hat ihm bestimmt Sinja eingeredet, weil sie einen Begleiter braucht«, sagte Felix. »Die umgarnt ihn ganz schön.«
»So ein Quatsch«, widersprach Danny zornig. »Sinja ist gar nicht da. Hannes Wilhelm hat noch eine Karte übrig.«
»Ausgerechnet der! Er hat einen schlechten Ruf«, äußerte sich Felix verächtlich.
»Hannes Wilhelm«, sagte Fee erstaunt, »wieso hat er einen schlechten Ruf?«
»Weil er in der Drogen-Clique ist«, trumpfte Felix auf.
»Das ist wirklich alles nur Gerede«, behauptete Danny, aber er war schon ein kleines bißchen unsicher.
»Etwas Wahres muß da schon dran sein«, meinte Daniel nachdenklich. »Man hört so manches. Regen wir uns nicht auf. Du fährst nicht in die Stadt, Danny. Wir spielen nachher zusammen Tennis, okay?«
»Wenn bei dir nichts dazwischenkommt«, sagte Danny zweifelnd.
Fee war überrascht, daß Daniel plötzlich diesen Vorschlag gemacht hatte, denn eigentlich hatte er faulenzen wollen. Sie sah ihn fragend an, und sein Blick verriet ihr, daß er jetzt nichts mehr sagen wollte.
Sie hörte wenig später, wie Danny seinem jüngeren Bruder zuzischte: »Tratsch-Heini!«