Читать книгу Dr. Norden Bestseller Classic 50 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Die drückende Schwüle des Julitages zermürbte selbst Dr. Norden, obgleich es in seiner Praxis noch bedeutend erträglicher war als auf den Straßen, in denen sich die Abgase sammelten. Es war kein Wunder, dass die Patienten, die an diesem Tage zu ihm kamen, völlig erschöpft waren.

Auch die zierliche Viola Röhm, zwar nicht sehr kräftig, aber keineswegs kränklich, fächelte sich immer wieder Luft zu. Sie tat es mit der ihr angeborenen Grazie, sie war damenhaft vom Scheitel bis zur Sohle und wirkte in dem hellen Leinenkleid trotz der Hitze wie aus dem Ei gepellt.

Das Bestechendste an ihr waren die Augen. Ihre Eltern mochten geahnt haben, dass diese eine violette Färbung annehmen würden, als sie ihr den Namen Viola gaben.

Viola war so fotogen, dass sie als Sprecherin beim Fernsehen ebenso eingesetzt wurde wie im Rundfunk, und wer ihre weiche Stimme einmal gehört hatte, vergaß sie so rasch nicht mehr.

Dr. Norden und seine Frau kannten Viola deshalb gut, weil sie in ihrer Nachbarschaft wohnte. Ärztlichen Beistand brauchte sie selten. Diesmal war sie zu Dr. Norden gekommen, um sich gründlich untersuchen zu lassen, da sie eine mehrwöchige Schiffsreise plante.

Mit ihrem bezwingenden Charme erklärte sie Dr. Norden, dass sie wenig Lust hätte, eventuell mit einer Blinddarmentzündung oder sonstigen Schwierigkeiten die Reise zu unterbrechen.

»Eigentlich soll es ja eine vorweggenommene Hochzeitsreise sein«, sagte sie heiter. »Aber das soll nicht publik werden, Herr Dr. Norden.«

»Ich werde es nicht ausposaunen«, erwiderte er lächelnd. Er fragte auch nicht, wer der Glückliche sei. Glücklich musste ein Mann jedenfalls sein, wenn er Viola zur Frau bekam, das war seine Meinung, genauso glücklich, wie er es mit seiner Fee geworden war.

Vielleicht setzte Viola voraus, dass er ihren Zukünftigen kannte, denn sie plauderte munter weiter.

»Ich muss ja meinen Job noch ein paar Jährchen halten. Werner steht erst am Anfang seiner Karriere. Als Schauspieler und auch als Ansagerin ist man weitaus beliebter, wenn man keinen Trauring trägt. Alles hat halt seinen Preis.«

An diese Worte sollte sich Dr. Norden später einmal erinnern, doch jetzt konnte er Viola die beruhigende Kunde mit auf den Weg geben, dass sie kerngesund sei.

»Wohin geht denn die Reise?«, fragte er noch.

»Zu den Bahamas. Ich schreibe Ihnen eine Ansichtskarte.«

»Gute Erholung und schöne Erlebnisse«, sagte er.

»Bahamas«, sagte Loni nachdenklich. »Das Mittelmeer ist schon nicht mehr in. Ich gönn es den Leuten ja von Herzen, aber wozu in die Ferne schweifen, wo das Gute liegt so nah? Wenn ich mir vorstelle, was das kostet und was man mit dem Geld alles anfangen könnte! Und manche machen das ja auf Kredit. Aber die Viola Röhm hat das bestimmt nicht nötig. Und ein goldiger Mensch ist sie auch.«

Ja, goldig war Viola und überall beliebt. Auf Rosen gebettet war sie allerdings bisher nie gewesen, und ein bisschen teuer fand sie diese Reise auch. Aber Werner war so begeistert gewesen, und er hatte auch gesagt, dass sie sich wegen der Kosten keine Sorgen machen müsste.

Viola hatte gespart, allerdings für ihren Hausstand. Zwanzigtausend Euro hatte sie recht mühsam auf die Seite gebracht, denn in ihrem Beruf musste sie auch immer schick gekleidet sein. So großartig, wie manche meinten, war der Verdienst nicht.

Ganz leicht war es ihr auch nicht gefallen, als Werner Kilian vor zwei Tagen darum gebeten hatte, dass sie das Geld für die Reise doch vorschießen möchte, da er die Anzahlung für die Eigentumswohnung leisten musste.

In ihrem Elternhaus hatte man immer rechnen müssen, und so fiel es Viola schwer, sich von ihrem Ersparten zu trennen, aber das wollte sie Werner nicht sagen. Schließlich erklärte er ihr ja auch, dass sein Konto nach ihrer Rückkehr wieder gefüllt sein würde.

»Es soll ja sozusagen unsere Hochzeitsreise sein, Liebling«, sagte er, »und später werde ich für alles sorgen. Wenn du deinen Job behältst, kannst du das Gehalt selbstverständlich als dein Taschengeld betrachten.«

Man sagte Werner Kilian eine große Karriere voraus. Auf der Bühne hatte er Erfolge eingeheimst, sein erster Film war ein Renner, wie man sagte.

Viola gefiel dieser Film zwar nicht, aber auch das behielt sie für sich. Schließlich kam es nur darauf an, dass Werner gute Kritiken bekam. Und jetzt hatte er so viele Eisen im Feuer, dass auch nach der Hochzeit nicht sobald an eine Reise gedacht werden konnte.

Das größte Problem war für Viola gewesen, wo sie ihren Hund Purzel lassen sollte, aber dann hatte sich ihre Freundin Helga bereit erklärt, den hübschen Mischling, den sich Viola vor Weihnachten aus dem Tierheim geholt hatte, weil er sie so erbarmte, in Pflege zu nehmen.

Helga war eine gute Haut, lange nicht so attraktiv wie Viola, wenn auch nicht unansehnlich. Werner Kilian nannte sie nicht gerade freundlich eine »Intelligenzbestie«, mit der er nichts anzufangen wusste. Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit, aber dazu äußerte sich Helga nicht, denn sie wollte nicht in den Verdacht geraten, eifersüchtig zu sein, da es kaum eine Frau gab, die nicht für Werner Kilian schwärmte.

Helga arbeitete als Übersetzerin für einen Verlag, verdiente sich ihr täglich Brot, obwohl sie von Haus aus genügend Vermögen hatte, um sich manches gestatten zu können.

Eine Reise auf die Bahamas fand sie irrsinnig, aber auch darüber schwieg sie sich aus, denn sie hatte Viola viel zu gern, um sie zu kränken, und sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als auch nur ein warnendes Wort verlauten zu lassen.

Helga hatte sich also bereit erklärt, ihre Stadtwohnung während Violas Abwesenheit mit deren Mansardenwohnung im Vorort zu vertauschen, damit Purzel in seiner gewohnten Umgebung blieb.

Es war eine hübsche Wohnung, und Viola hatte auch gemeint, dass sie vorläufig auch für zwei reichen würde, doch Werner war sie nicht repräsentativ genug.

Helga konnte in die Luft gehen, wenn sie hörte, dass Viola sich in allem nach Werner richtete, aber sie verstand auch, sich zu bremsen, weil ja schließlich und endlich des Menschen Wille sein Himmelreich sei.

Aber Helga, drei Jahre älter als Viola, hatte ihre Erfahrungen mit Männern gemacht und auch andere gesammelt. War sie auch nicht kühl bis ins Herz, wie Werner Kilian von ihr behauptete, so wahrte sie doch nach dem ersten Reinfall und einer gelösten Verlobung Distanz, und als Viola dann ihre Koffer packte und Helga den aufgeregten Purzel beruhigen musste, sagte sie doch behutsam warnend: »Ihr habt ja jetzt ein paar Wochen Zeit, euch richtig kennenzulernen, Viola. Wenn es nicht so hinhaut, wie du es dir vorgestellt hast, zieh lieber die Konsequenzen. Wenn du mich brauchst, bin ich immer zur Stelle.«

»Was sollte nicht hinhauen?«, fragte Viola. »Wir verstehen uns doch wunderbar. Wir legen uns nicht gegenseitig an die Kette. Wir wollen Partner sein.«

Sie ist doch sehr naiv, dachte Helga. Sie liegt längst an der Kette, und wenn sie ihren Werner mal nicht mehr anhimmelt, wird sie ihn schon kennenlernen.

Oder täuschte sie sich? Verkannte sie ihn vielleicht doch? Es schien ja wirklich eine ganz romantische Liebe zu sein.

Aber sie musste sich dann Purzels annehmen, der seinem Frauchen eine ganze Nacht und einen langen Tag nachweinte, bis er sich endlich doch damit abfand, dass er es auch bei Helga recht gut hatte. Da schwammen Viola und Werner Kilian schon auf einem Luxusdampfer auf hoher See. Es war allerdings kein vielversprechender Anfang, denn Werner war bald seekrank geworden.

*

»Ich vermisse Viola schon zwei Abende auf dem Bildschirm«, sagte Fee Norden zu ihrem Mann. »Ist sie krank?«

»Habe ich dir nicht gesagt, dass sie mit ihrem Zukünftigen eine Kreuzfahrt macht?«, fragte Daniel.

»Nein, das hast du mir nicht gesagt«, erwiderte Fee. »Wohin geht denn die Reise?«

»Zu den Bahamas.«

»Das ist auch so ein Tick«, sagte Fee kopfschüttelnd, »und eigentlich passt das doch gar nicht zu Viola, so viel Geld auszugeben.«

»Da wird schon der Partner den Ton angeben«, sagte Daniel.

»Wer ist es denn?«

»Das müsstest du doch eigentlich besser wissen, mein Schatz.«

»Etwa Kilian, dieser Schauspieler?«, fragte Fee. »Ich habe sie mal zusammen gesehen. Dieser Herzensbrecher passt doch auch nicht zu ihr.«

»Vielleicht denkt sie anders. Zerbrechen wir uns nicht den Kopf darüber. Ich mache mir Sorgen über Annika.«

»Annika Winkler? Was fehlt ihr denn?«

»Die Mutter, mein Liebes.«

»Es war eine Rabenmutter«, sagte Fee aggressiv. »Annika kann sie nicht vermissen. Herr Winkler ist ein guter Vater.«

»Aber er hat keine Zeit für das Kind, und die schwere Grippe hatte die Kleine sehr mitgenommen. Winkler will sie in ein Kinderheim bringen, aber sie sträubt sich mit Händen und Füßen dagegen. Sie möchte zu ihrer Großi, aber du weißt ja, wie die alte Frau Winkler beisammen ist.«

»Jetzt fängst du auch schon damit an, Frauen um die sechzig als alt zu bezeichnen«, sagte Fee verweisend.

»Das war nur der Vergleich zur jungen Frau Winkler, die ja mit ihrem Liebhaber über alle Berge ist«, erklärte Daniel. »Gerald Winklers Mutter ist durch die Scheidungsgeschichte schrecklich mitgenommen.«

»Sie wollte doch auf die Insel der Hoffnung gehen. Da könnte sie Annika mitnehmen.«

»Das will Herr Winkler anscheinend nicht. Er fühlt sich noch schuldbewusst, weil er die Scheidung eingereicht hat.«

»Du liebe Güte, es gibt schon seltsame Männer. Ihm sind doch wahrhaftig Hörner aufgesetzt worden.«

»Aber er hat gehofft, dass seine Frau Annika zuliebe zur Vernunft kommt. Nun macht er sich Vorwürfe, weil seine Mutter unter all diesem Getratsch so leidet.«

»Sie leidet nur, weil ihr Sohn so betrogen worden ist. Er ist doch wahrhaft ein feiner Mensch.« Sie machte eine kleine Pause und dachte nach. »Könnten wir ihn nicht überzeugen, dass es gut für seine Mutter und auch für Annika ist, wenn sie gemeinsam auf die Insel gehen?«

»Ich möchte mich da nicht einmischen, Feelein«, sagte Daniel.

»Dann werde ich mal mit Frau Winkler sprechen.«

»Du bist ein Schatz.«

»Mein Schatz ist Mami«, meldete sich Danny zu Wort.

»Meine Mami«, rief der kleine Felix weinerlich. Er wollte nicht hintenan gestellt sein, aber das stand auch nicht zu befürchten. Fee und Daniel Norden liebten ihre Kinder über alles, und nun hofften sie darauf, dass sich zu den beiden Buben auch noch ein Schwesterchen gesellen würde. Daniel wünschte sich von ganzem Herzen eine kleine Fee, und er wusste ganz genau, dass es in seiner Ehe niemals solche Probleme geben würde wie bei den Winklers.

Deren Ehe war unter ganz anderen Umständen geschlossen worden. Gerald Winkler, ein bekannter Verleger, hatte die sehr reizvolle Kunststudentin Vera bei einer Vernissage kennengelernt, sich Hals über Kopf in sie verliebt und schon nach wenigen Wochen geheiratet.

Sie hatten ihre Tochter Annika bekommen, aber Vera war das Leben an Geralds Seite bald langweilig geworden. Sie war anspruchsvoll und ebenso exaltiert, und sie fand es äußerst schick, sich mehr in den Kreisen der Nichtstuer zu bewegen, als Ehefrau und Mutter zu sein. Sie hatte ihre Affären, aber einige Jahre verstand sie es doch recht geschickt, diese der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Doch eines Tages ließ sie dann alle Rücksichten fallen, als sie sich in einen bekannten Schlagersänger verliebte, der nicht gerade den besten Ruf genoss. Dies aber brachte für ihren Mann das Fass zum Überlaufen. Lächerlich ließ sich Gerald Winkler dann doch nicht machen. Es war schon ein Schock für Vera gewesen, als er kurzerhand die Scheidung einreichte. Als ihm dann auch Annika zugesprochen wurde, wusste Vera, dass sie zu viel riskiert hatte. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, verloren und dann gemeint, mit Annika einen Trumpf in der Hand zu haben, doch diesmal hatte sich Gerald Winkler von seiner härtesten Seite gezeigt.

Annika vermisste ihre Mutter nicht, aber sie war acht Jahre alt und verstand, was man klatschte. Und es traf sie tief, dass man ihren geliebten Papi so hintergangen hatte. Sie hatte mitbekommen, dass man ihre Mutter als Flittchen bezeichnete. Flittchen war ein schlimmes Wort, das hatte Annika begriffen. Sie wollte nicht mehr zur Schule gehen und wollte auch nicht mehr hören, wenn sich die beiden Hausmädchen unterhielten.

Dr. Nordens Sorge um das Kind war durchaus begründet, denn Annika hatte auch keinen Appetit mehr, und zuzusetzen hatte sie sowieso nichts.

Fee Norden sprach schon am nächsten Tag mit Frau Winkler, und schon wenige Tage später trafen die »Großi« und ihre Enkelin auf der Insel der Hoffnung ein.

Dass es mit ihnen dort wieder aufwärtsgehen würde, davon war Fee Norden überzeugt.

Gerald Winkler stürzte sich noch mehr in die Arbeit, und Helga Merten bekam auch viel zu tun. Jetzt war es ihr ganz angenehm, in dem ruhigen Vorort wohnen zu können. Purzel erwies sich auch als rücksichtsvoller Hund. Ihr taten die Spaziergänge gut, zu denen er sie zwang. In dem Großstadtgetriebe hätte sie sich dazu nicht aufraffen können.

Wenn Viola diesen Schnösel heiratet, werde ich diese Wohnung übernehmen, dachte sie. Gerald Winkler wohnte nur ein paar Straßen weiter. Er war sehr überrascht gewesen, als sie ihm sagte, wo sie die nächsten vier Wochen zu erreichen wäre, und nun brachte er ihr die Arbeiten aus dem Verlag mit.

Gerald Winkler schätzte Helgas Zuverlässigkeit, und er schätzte sie auch deshalb, weil sie sich niemals einzuschmeicheln versuchte, Distanz wahrte und niemals den Versuch machte, einen anderen auszubooten.

Helga schätzte Gerald Winkler als überaus anständigen Chef, und sie hatte Mitgefühl mit ihm wegen dieser hässlichen Scheidungsaffäre. Immer trifft es doch die Anständigen, dachte sie für sich.

Hoffentlich kommt Viola nicht auch mit einem Katzenjammer heim, dachte sie bekümmert. Oder lieber doch, bevor es zu spät ist, überlegte sie weiter. Warum war sie nur so skeptisch? Es schien bei den beiden doch wirklich alles in Ordnung zu sein. Hätte sie Viola jetzt sehen können, wäre sie davon sogar überzeugt gewesen.

Viola war unbefangenen Gemütes und hatte die ersten Tage der Schiffsreise sehr genossen, im Gegensatz zu Werner Kilian, der in der Kabine geblieben war und seine Ruhe haben wollte.

»Ich fühle mich elend, ich bin überarbeitet«, hatte er zu Viola gesagt und sie ziemlich barsch angeredet.

Nun gut, dachte sie, er soll seine Ruhe haben. Ich lasse mir den Urlaub nicht vermiesen.

Viola sah blendend aus und wurde umschwärmt. Und als Werner dann aus der Versenkung auftauchte, gefiel ihm das gar nicht. Es kränkte ihn in seiner Eitelkeit, und er demonstrierte auffällig, wer bei Viola das Sagen hatte.

Aber es gab noch eine ganze Anzahl hübscher Frauen an Bord, und wenn er der Mittelpunkt war, fühlte er sich ganz in seinem Element. Da Viola tolerant und in Urlaubsstimmung war, kam es nicht zu Differenzen. Sie dachte jetzt auch nicht mehr daran, dass ihr Sparkonto durch diese Reise gewaltig reduziert worden war. Sie würde von Werner ja alles zurückbekommen, und schließlich war es gleich, wer die Reise bezahlte und wer die Wohnung.

*

Purzel schien sein Frauchen nicht mehr zu vermissen, und Helga hatte sich so an den lieben kleinen Kerl gewöhnt, dass sie ihn auch nicht mehr missen wollte.

Als er sie jedoch bei einer ganz schwierigen und dazu noch dringenden Arbeit mit einem ungewohnten Jaulen störte, wurde sie ungehalten.

»Beherrsch dich, Purzel, deine Zeit ist noch nicht gekommen«, sagte sie, aber diesmal ließ er sich nicht beruhigen.

»Na, dann, ab durch die Mitte«, sagte sie seufzend. »Was fehlt dir denn nur.«

Das merkte sie dann, als sie aus dem Haus traten, denn auf den Stufen hockte eine zusammengekrümmte Frau.

»Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie, »ich kann nicht mehr weiter. Bitte …« Aber sie konnte nicht mehr sprechen.

Helga überlegte blitzschnell. Sie sah, dass die Frau schwanger war, und ihr Gesicht war fahl und schweißbedeckt.

Wie hieß doch noch mal der Arzt, von dem Viola gesprochen hatte. Norden! Ja, es fiel ihr ein, obgleich sie aufgeregt war.

»Ich rufe einen Arzt«, sagte sie.

Purzel hatte sich auf die Treppe gesetzt, und dort saß er auch noch, als Helga zurückkam.

»Dr. Norden kommt sofort«, sagte sie beruhigend.

Sie wollte der jungen Frau emporhelfen, aber die schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich kann keinen Schritt mehr gehen«, stöhnte sie. »Viola – Viola …« Da wurde sie ohnmächtig.

Helga verlor nicht so leicht die Fassung, aber nun war sie doch maßlos erschrocken. Die Fremde wollte zu Viola. Es war kein Zufall, dass sie hierhergekommen war.

Purzel schien sie zu kennen, deswegen hatte er so gejault, aber Helga hatte diese junge Frau noch nie gesehen.

Dr. Norden kam. »Bitte rufen Sie den Notarztwagen. Es eilt«, sagte er zu Helga. Er sagte ihr die Nummer. Helga rannte die Treppe empor. Es war ein Glück, dass sie ein so gutes Zahlengedächtnis hatte, das auch in der Aufregung nicht versagte.

Der Notarztwagen kam. Auf der Straße hatten sich schon einige Neugierige angesammelt, doch von alldem nahm Helga keine Notiz. Sie hörte nur, wie Dr. Norden sagte: »Zur Frauenklinik Dr. Leitner, schnellstens.«

Purzel begann wieder zu jaulen. Sie kniete nieder und streichelte ihn, und als sie sich aufrichtete, stand ein großer breitschultriger Mann vor ihr.

Die Wagen waren davongefahren, die Neugierigen waren wieder gegangen, nur dieser Mann war da.

»Was ist denn hier los?«, fragte er heiser. »Was machen Sie hier? Ist etwas mit Frau Röhm?«

Helga hatte ihre Fassung zurückgewonnen. Purzel begrüßte den großen Mann nun schwanzwedelnd.

»Wer sind denn Sie?«, fragte Helga tonlos.

»Rodenberg. Mir gehört das Haus, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Viola hatte ihr gesagt, dass der Hausbesitzer einige Monate beruflich abwesend sei. Mehr wusste sie über ihn nicht, aber Helga hatte sich auch nie ­dafür interessiert, wem das Haus gehörte.

»Ich heiße Helga Merten und bin eine Freundin von Viola. Sie hat Urlaub, und ich betreue Purzel«, sagte sie kühl. »Passt Ihnen das nicht?«

In seinen hellen Augen blitzte es auf. »Verzeihung«, sagte er nun höflich. »Ich habe mich nur über den Menschenauflauf gewundert und dachte, dass Viola etwas passiert ist.«

»Es war eine fremde junge Frau, die hier zusammengebrochen ist«, erwiderte Helga zurückhaltend. »Ich habe den Arzt gerufen, und nun ist sie in die Klinik gebracht worden. Und ich werde wieder an die Arbeit gehen, die dringend fertig werden muss. Ich hoffe, dass Sie durch meine Anwesenheit nicht gestört werden.«

»Bitte, nicht so aggressiv«, sagte er. »Ich war erschrocken. Wenn man nach langer Abwesenheit so empfangen wird, ist das doch wohl nicht verwunderlich. Wollen wir nicht einen Beruhigungsschluck nehmen?«

»Nein, danke, ich muss arbeiten«, erwiderte Helga. »Komm, Purzel.«

Er folgte ihr, aber doch etwas widerwillig, und er drehte sich immer wieder zu Herrn Rodenberg um.

»Wir sehen uns schon noch, Purzel«, sagte der. »Ich bitte nochmals um Verzeihung, gnädige Frau.«

Helga warf den Kopf herum. »Ich bin durchaus nicht gnädig«, konterte sie und verschwand schon hinter der Wohnungstür.

»Und du benimmst dich jetzt, Purzel, sonst kannst du meinetwegen zu diesem Tölpel gehen«, sagte sie. Doch dann ebbte ihre Erregung schnell ab, und sie dachte darüber nach, ob dieser Mann für Viola nicht auch sehr viel übrig hatte. Seltsam war es schon, dass sie nie über ihn gesprochen hatte. Seltsam war es aber auch, dass ein anscheinend alleinstehender Mann und Viola unter einem Dach wohnten.

Helga schob alle Gedanken schnell beiseite, um sich der unterbrochenen Arbeit zu widmen. Sie musste sich immer wieder erst gedanklich in diese Übersetzungen hineinfinden, und deswegen mochte sie es gar nicht, wenn sie herausgerissen wurde. Doch Purzel benahm sich nun auch wieder manierlich, und da sie ein sehr pflichtbewusster Mensch war, gelang es ihr, auch das Nachdenken über diesen dramatischen Zwischenfall auszuschalten.

*

Dr. Norden hatte seinen Freund und Kollegen Dr. Leitner schnellstens informiert, und der OP in der Frauenklinik war gleich bereit.

»Name der Patientin?«, fragte Schwester Hilde.

»Vorerst noch unbekannt«, erwiderte Dr. Norden.

»Damit können wir uns nicht aufhalten«, sagte Dr. Hans-Georg Leitner. »Es besteht höchste Lebensgefahr.«

Er sah Daniel an. »Es ist tragisch. Sechster Monat. Ich werde nicht umhinkommen, das Kind mit der Gebärmutter zu entfernen. Sonst hat die Frau keine Überlebenschance, die Blutung kommt nicht zum Stillstand.«

Herr im Himmel, dachte Daniel, und dann wird sie kein Kind mehr bekommen können.

»Du musst es wissen, Schorsch«, sagte er zu seinem Freund.

»Mir graust immer vor solchen Eingriffen«, erwiderte der. »Aber ihre Chancen sind ohnehin minimal.«

Dr. Norden war froh, dass er dieser Operation nicht beiwohnen musste. Auf ihn wartete allerdings ein volles Wartezimmer.

Dr. Leitner operierte. Er wusste, dass er auch für sich ein Risiko einging, denn eine Uterusamputation bedurfte der Einwilligung der Patientin oder ihres Mannes.

Aber die Patientin war bewusstlos, und den Namen des Mannes kannte man so wenig wie den ihren. Und wenn man auf die Einwilligung nicht verzichten wollte, konnte man sie gleich sterben lassen.

Es war eine noch junge Frau, knapp dreißig, schätzte Dr. Leitner. Sie war gut gekleidet und gepflegt. Jetzt sah sie elend aus, aber normalerweise musste man sie wohl schön nennen können.

Dr. Leitner operierte. Er wusste, dass es um Minuten ging, Minuten, die über Leben und Tod entscheiden konnten. Er öffnete die Bauchhöhle mit der traumwandlerischen Sicherheit, die man von ihm gewohnt war. Jeder andere Gedanke war ausgeschaltet, wenn es für ihn darum ging, ein Leben zu retten.

Der Zeiger der Uhr sprang von Minute zu Minute, aber darauf achtete niemand. Jedermann im OP wusste, dass das Kind keinesfalls zu retten war, aber die Patientin überlebte. Zumindest starb sie nicht auf dem Operationstisch, wenn sie jetzt auch aussah, als hätte sie keinen Tropfen Blut mehr in sich. Wächsern war ihr Gesicht, wie eine Maske, aber das Herz schlug noch. Es fragte sich nur, ob es noch genügend Kraft hatte.

»Transfusion wiederholen«, sagte Dr. Leitner erschöpft. Und dann erst kam ihm der Gedanke, welche Probleme ihm durch diese Patientin entstehen könnten.

Helga hatte indessen den schwierigsten Teil ihrer Übersetzung beendet, und als Purzel wieder zu jaulen begann, war sie nicht mehr so ungehalten.

»Du hast es heute aber wichtig«, sagte sie, aber da hörte sie den Türgong. Vielleicht hatte er schon einmal angeschlagen.

»Bist ja ein braver Hund, Purzel«, sagte sie. Als sie die Treppe hinunterging, steckte auch Theo Rodenberg seinen Kopf aus der Wohnungstür. Er sah verschlafen aus, sein Haar war zerrauft.

»Hat es bei Ihnen auch geläutet?«, fragte er mürrisch. »Das wird ein Hausierer sein.«

Helga war nun schon mal unten. Es konnte auch Gerald Winkler sein, der ihr wieder Arbeit brachte.

Doch vor der Tür stand ein Taxichauffeur. Er nahm seine Mütze vom Kopf und sagte höflich: »Ich dachte schon, es wäre niemand zu Hause. Da habe ich heute eine junge Frau hergefahren, und die hat ihre Tasche im Taxi liegen lassen. Es ging ihr anscheinend nicht gut.«

Helga war so bestürzt, dass sie nicht gleich etwas sagen konnte, und da hatte er ihr auch schon die Tasche in die Hand gedrückt.

»Ich muss weiter«, sagte er noch, und schon ging er davon.

»Hallo«, rief Helga ihm nach, und er drehte sich auch um. »Ich will kein Trinkgeld«, sagte er. »Die Dame hat mir genug gegeben.«

Dann saß er schon am Steuer und fuhr davon. Helga betrachtete die Tasche, dann sah sie Theo Rodenberg an.

»Es gibt noch ehrliche Menschen«, sagte er.

»Aber ich kenne diese Frau doch gar nicht«, sagte Helga stockend.

»Vielleicht sind Papiere in der Tasche«, sagte er. »Wenn Sie einen Zeugen haben wollen, ich stehe zur Verfügung. Kommen Sie doch herein.«

Sehr konventionell schien er nicht zu sein, nur ein wenig verlegen war er jetzt.

»Ich muss mich nur schnell ein bisschen zurechtmachen«, sagte er. Purzel folgte ihm zutraulich ins Bad. Sie schienen sich gut zu kennen.

Helga befand sich nun in einer fremden Wohnung, in einer sehr schönen Wohnung, wie sie feststellte.

Daran änderte auch der Staub nichts, der auf allen Möbeln lag. Es waren sehr kostbare alte Möbel. Herrliche Gobelins hingen an den Wänden und auch einige Bilder, deren Wert hoch einzuschätzen war.

Theo Rodenberg kam nach wenigen Minuten zurück. »Es sieht noch mies aus bei mir«, sagte er, »aber da ich ein misstrauischer Mensch bin, lasse ich niemanden in die Wohnung, wenn ich abwesend bin. Anbieten kann ich Ihnen auch nichts, außer Wein oder Schnaps.«

»Ich brauche nichts«, erwiderte Helga. »Ich weiß auch gar nicht, was ich hier soll.«

»Die Tasche«, erinnerte er sie.

»Ach ja, die Tasche. Ich bin ein bisschen durcheinander. Ich habe Dr. Norden gerufen. Er hat die Frau in eine Klinik bringen lassen.«

»Dr. Norden wird uns dann schon weiterhelfen. Ein sehr netter Mensch. Ich mag ihn. Aber erzählen Sie doch erst mal genauer, was passiert ist.«

Da er der Hausherr war, hatte er wohl ein Recht darauf. Helga erzählte. »Ich glaube, sie wollte zu Viola«, sagte sie nachdenklich. »Jedenfalls nannte sie ihren Namen. Ich bin mit Viola schon ziemlich lange befreundet, aber diese Frau habe ich nie kennengelernt.«

»Na, dann schauen wir doch mal nach, ob ein Ausweis in der Tasche ist.«

Es war eine schon etwas abgegriffene Ledertasche, die aber einmal sehr teuer gewesen sein musste. Da kannte sich sogar Helga aus, obgleich sie nicht viel Geld für kostspielige Accessoires ausgab.

Sie überließ es Theo, die Tasche zu öffnen und den Inhalt zu untersuchen. Sie beobachtete ihn dabei nachdenklich. Sein flächiges, sehr markantes Gesicht verdüsterte sich plötzlich.

»Marlen Broda«, sagte er dumpf. »Das ist doch die Schauspielerin, die vor ein paar Monaten den Nervenzusammenbruch hatte.«

»Keine Ahnung«, sagte Helga. »Sie scheinen sich auszukennen.«

»Ich bin aus der Branche, aber mein Name scheint Ihnen auch nicht bekannt zu sein«, sagte er ironisch.

»Müsste ich ihn kennen?«, fragte sie ebenso ironisch zurück. »Ich bin Übersetzerin.«

»Ich bin Kameramann, ich mache Tier- und Landschaftsfilme.«

Helgas Augenbrauen ruckten empor. »Etwa auch diesen Islandfilm?«, fragte sie atemlos.

»Ja, ja«, erwiderte er gleichmütig.

»Er ist wundervoll«, sagte Helga. »Auf Namen achte ich eigentlich nie«, fügte sie dann entschuldigend hinzu.

»Ist auch nicht wichtig. Also Marlen Broda ist das. Und sie wollte zu Viola?«

»Sie nannte ihren Namen«, erwiderte Helga.

»Komisch. Sie war nie hier. Jedenfalls habe ich sie nie gesehen. Wo steckt Viola eigentlich?«

»Wahrscheinlich jetzt schon auf den Bahamas.«

»Allein?«, fragte er.

»Mit Werner Kilian.«

»Das gibt’s doch nicht. Wie ist sie denn an diesen Heini geraten?«, rief er aus.

»Das müssen Sie Viola schon selbst fragen. Sie kennen sie anscheinend recht gut.«

Seine dichten Augenbrauen schoben sich zusammen. »Man begegnet sich, wenn man in einem Haus wohnt«, erklärte er. »Sie habe ich hier auch nie gesehen.«

»Ich war auch erst ein- oder zweimal hier. Ja, zweimal«, sagte Helga. »Viola kam meistens zu mir. Sie wohnt ja noch nicht lange hier.«

»Ein halbes Jahr, und ich war die meiste Zeit unterwegs. Aber wir kommen vom Thema ab. Ich werde mich mal um Marlen kümmern.«

Vielleicht kennt er sie besser, als er zugeben will, dachte Helga. Vielleicht wollte sie gar zu ihm.

»Wollen Sie nicht mitkommen?«, fragte er nun. »Schließlich haben Sie erste Hilfe geleistet.«

»Ich habe nur Dr. Norden angerufen«, erwiderte Helga. »Sein Name ist mir eingefallen, weil Viola mir von ihm erzählt hat. Sonst habe ich nichts getan. Ich kann gar keine erste Hilfe leisten, weil es mir schlecht wird, wenn ich Blut sehe.«

»Endlich eine menschliche Seite«, sagte er rau.

Helga errötete. »Bin ich denn so unmenschlich?«

»So sachlich, so kühl, so steril«, erwiderte er. »Genau das Gegenteil von Viola.«

»Es wäre sehr aufschlussreich, wenn Sie mir sagen würden, wie Sie Viola einstufen«, sagte Helga.

»Sehr wirklichkeitsfremd, sehr ätherisch und gutgläubig. Sonst wäre sie wohl auch nicht mit Kilian auf die Reise gegangen.«

Nun konnte sich Helga ihre Gedanken machen, aber in einem stimmte sie mit diesem Mann ja überein. Sie beide hegten keine Sympathie für Werner Kilian, und außerdem hatte dieser Theo Rodenberg sehr viel für Viola übrig. Darüber hätte sie gern mehr gewusst. Das war allerdings auch eine Entschuldigung für sie, weil sie sich für Theo zu interessieren begann.

»Gut, ich komme mit, aber Purzel muss ich mitnehmen«, sagte sie.

»Er bleibt im Auto. Ich habe mich auch manchmal um ihn gekümmert. Wir verstehen uns, nicht wahr, Purzel?«

Der Hund spitzte die Ohren, als er angeredet wurde, und gab ein freudiges Wau, wau zur Antwort.

»Ich verstehe gar nicht, dass Viola kaum von Ihnen gesprochen hat«, sagte Helga, als sie losfuhren.

»Sie sind misstrauisch«, stellte Theo fest. »Aber das gefällt mir. Viola ist ein richtiges Veilchen, bescheiden, sittsam und rein. Jedenfalls war sie so, wenn sie von Kilian nicht verdorben worden ist. Ihr konnte man alles erzählen, sie glaubte auch alles. Sie war wütend auf mich, weil ich ihr sagte, dass man gerade in ihrem Job nicht jedem trauen dürfe. Sie hatte mal ein Angebot bekommen, in einem Film mitzuspielen, aber ich sagte ihr gleich, dass das nichts werden würde. Sie hat eine schöne Stimme, aber nicht eine Spur schauspielerisches Talent. Das stellte sich dann auch heraus, aber empfindsam, wie sie nun mal ist, meinte sie wohl, ich hätte quergeschossen. Ich mag sie nämlich sehr, aber ich bin wie ein Elefant im Porzellanladen, und Viola hört lieber auf schmalzige Töne. So, nun wissen Sie es.«

»Ich bin nicht für schmalzige Töne. Ich sage Viola auch meine Meinung deutlich.«

»Aber Sie sind eine Frau, und bei Ihnen braucht sie nicht zu befürchten, dass sie Heiratsabsichten haben.«

»Hatten Sie die?«, fragte Helga.

»Vorübergehend«, gab er ehrlich zu, »aber es wurde mir schnell klar, dass es schiefgehen würde. Sie steht mit den Füßen nicht auf dem Erdboden. Sie schwebt zwischen Himmel und Erde. Ich bin ein Elefant und sie ist eine Maus, wenn auch eine sehr hübsche Maus.«

»Sie stellen Vergleiche«, sagte Helga empört.

Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Viola eine Freundin hat, die so ganz auf dem Boden der Tatsachen steht«, erklärte er. »Wie haben Sie sich kennengelernt? Das müssen Sie mir später erzählen. Wir sind am Ziel.«

*

Dieser Mann hatte eine Art, gegen die Helga nicht ankam. Dr. Norden schien ihn auch sehr gut zu kennen. Er redete auch nicht herum, und schnell wusste Dr. Norden Bescheid über den Grund ihres Besuches.

Dr. Norden wusste nun den Namen der Patientin, und Theo und Helga wussten, in welcher Klinik Marlen Broda lag.

»Sie wissen zufällig auch, wo man ihren Mann erreichen kann?«, fragte Dr. Norden.

»Sie ist nicht verheiratet«, erwiderte Theo. »Jedenfalls weiß ich darüber nichts.«

»Nun, das wird man ja in Erfahrung bringen können«, sagte Dr. Norden. »Vielen Dank, dass Sie zu mir gekommen sind, aber die Personalien braucht Dr. Leitner nötiger. Haben Sie Ihren neuen Film abgedreht, Herr Rodenberg?«

»Früher als ich dachte, deswegen bin ich schon zurück. Hat alles wunderbar geklappt.«

»Und wir freuen uns schon, wenn wir ihn sehen können«, erwiderte Dr. Norden.

»Ein wahnsinnig netter Mensch«, sagte Theo, als sie wieder auf der Straße standen.

»Sehr attraktiv«, stellte Helga fest.

Er lächelte spöttisch. »Das finden viele Frauen, aber es nutzt ihnen nichts. Seine Frau stellt alle in den Schatten.«

»Es war nur eine Feststellung von mir«, sagte Helga kühl. »Ich interessiere mich nicht für Männer, für verheiratete schon gar nicht.« Eine kleine Pause folgte, ein schnelles Atemholen. »Diese Marlen Broda ist nicht verheiratet«, sagte sie dann gedankenverloren. »Sind Sie sicher?«

»Sicher bin ich nicht, aber was spielt das für eine Rolle?«

»Ich meine nur wegen des Babys.«

»Wegen welchen Babys?«, fragte er verwundert.

»Sie erwartet doch ein Baby.«

»Allmächtiger, das habe ich nicht mitgekriegt. Sie war auch schon im Wagen, als ich kam.«

»Vielleicht suchte sie Hilfe bei Viola oder auch bei Ihnen.«

Theo kniff die Augen zusammen. »Es könnte möglich sein. Bei mir eher als bei Viola. Ich glaube nicht, dass sie Viola kannte. Jedenfalls nicht so gut. Aber sicher wusste sie, dass ich unterwegs bin. Wenn sie aber Hilfe suchte, muss sie schon in einer verflixten Notlage sein. Sie geht nicht hausieren. Bitte, protestieren Sie jetzt nicht, aber ich möchte doch gern in die Tasche schauen, ob wir nicht einen Hinweis finden auf jemanden, der ihr nahesteht.«

Helga sah ihn forschend an, und er wurde verlegen.

»Sie misstrauen mir aber sehr«, brummte er. »Bin ich denn so ein verwegener Typ?«

»Jedenfalls nicht leicht zu durchschauen«, erwiderte sie gelassen. »Und ich bin Männern gegenüber nun mal von Natur aus misstrauisch.«

»Was, wie ich ja schon feststellte, besser ist als das Gegenteil.«

Wau, wau, machte Purzel, und Theo lachte. »Er bestätigt es. Bist ein guter Hund, Purzel. Sehen Sie, er mag mich, da dürfen Sie eigentlich auch ein bisschen toleranter sein.«

»Dann schauen Sie halt in die Handtasche«, sagte Helga.

»Warten wir doch lieber, bis wir wissen, wie es ihr geht«, sagte Theo.

Purzel musste wieder draußen warten, und eigentlich hatte Helga das auch vorgehabt. Aber dann sah Theo sie so bittend an, dass sie doch mitging.

»Ich habe einen Horror vor Kliniken, seit meine Mutter gestorben ist«, sagte er leise. »Es war der schlimmste Tag in meinem Leben.«

Dr. Leitner nahm sich ein paar Minuten Zeit, als ihm gesagt wurde, in welcher Angelegenheit man ihn sprechen wolle.

Helga erklärte ihm dann, dass ihr Marlen fremd gewesen war, dass dann der Taxichauffeur aber die Tasche gebracht hätte.

»Mir ist Frau Broda bekannt«, erklärte Theo.

»Der Ehemann auch?«, fragte Dr. Leitner.

»Nein, ich weiß nichts von einer Heirat. Ich habe sie allerdings auch schon Monate nicht mehr gesehen«, erwiderte Theo.

»Es geht ihr sehr schlecht. Es wäre gut, wenn die nächsten Angehörigen benachrichtigt werden.«

Helga sah ihn entsetzt an. »Und das Baby?«, fragte sie heiser.

»Das hat sie verloren«, erwiderte Dr. Leitner ausweichend.

»Die Ärmste«, sagte Helga mitleidvoll. »Das ist schrecklich.«

»Sie sagten, dass ihr Zustand ernst ist?« Theos Stimme klang heiser.

»Sehr ernst«, erwiderte Dr. Leitner.

»Kann ich zu ihr?«, fragte Theo.

»Sie ist bewusstlos.«

»Kann ich etwas für sie tun?«, fragte Theo. »Jemand muss doch etwas für sie tun.«

»Sie hat im Augenblick alles, was sie braucht, und das ist wenig genug. Man kann jetzt gar nichts sonst tun.«

»Dann sollten wir wohl doch besser in die Tasche schauen, ob wir Anhaltspunkte finden, wer benachrichtigt werden könnte«, schlug Helga vor.

Dr. Leitner nickte.

Es war eine jener Taschen, die unergründlich schienen und in denen sich leicht etwas versteckte. Helga hasste solche Taschen. Bei ihr musste alles sofort zur Hand sein. In der Brieftasche, der sie schon den Pass entnommen hatten, befand sich noch der Führerschein und ein paar Fotos. Bei einem stockte Helga der Atem, aber sie unterdrückte einen Ausruf. Sie sah wieder Theo an, aber in dessen Stirn hatten sich die Falten nur vertieft.

Ein Notizbuch holte er auch aus der Tiefe hervor.

Auf der ersten Seite war ein Aufkleber mit Marlens Namen und Adresse. Theo schrieb sie schnell in sein eigenes Notizbuch.

Im Pass und auch im Führerschein stand »ledig«, aber das wollte nichts sagen. Wer trug schon Urkunden mit sich herum!

»Wenn Sie etwas in Erfahrung bringen, benachrichtigen Sie mich bitte«, sagte Dr. Leitner. »Sie nehmen mir damit sehr viel ab. Wir haben Hochbetrieb.«

Er wurde nun auch wieder in den Kreißsaal gerufen, aus dem das Jammern einer Frau drang.

»Kinderkriegen ist schmerzhaft«, sagte Theo rau.

»Eins verlieren tut sicher noch mehr weh«, sagte Helga.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Marlen ein Kind erwartete«, sagte er nachdenklich. »Sie ist nicht der Typ. Ich meine, sie ist kein mütterlicher Typ. Warum haben Sie keine Kinder?«

Helga sah ihn bestürzt an. »Ich bin nicht verheiratet«, erwiderte sie stockend.

»Na und, Sie sind aber der Typ, der Kinder haben sollte.«

Konnte er ihr ins Herz schauen? Ja, ein Kind hätte sie sich gewünscht, aber sie war noch keinem Mann begegnet, den sie sich als Vater ihres Kindes vorstellen konnte.

»Sie hat ihr Kind verloren, und der Vater weiß es nicht«, murmelte sie.

»Vielleicht interessiert ihn das auch gar nicht.« Theos Stimme klang hart.

»Sie hat ein Foto von Werner Kilian in der Brieftasche«, sagte Helga leise.

»Was will das schon besagen? Sie sind Kollegen. Sie haben auch einen Film zusammen gedreht.«

»Sie ist eine sehr schöne Frau.«

»Und ich hielt sie auch für eine kluge Frau«, sagte Theo, »aber das scheint bereits widerlegt zu sein.«

»Weil sie ein Kind erwartete?«, fragte Helga.

»Weil sie allein war in einer schlimmen Stunde, weil sie da vor einer fremden Tür stand und zusammenbrach.«

»Aber das kann doch ganz plötzlich gekommen sein.«

»Nicht so plötzlich. Liebe Helga, wir verstehen uns doch eigentlich ganz gut. Wir sind beide nicht sentimental und verstehen, logisch zu denken. Wenn eine Frau so schlecht beieinander ist, dass sie sogar ihre Handtasche vergisst, wenn sie Schmerzen hat, macht sie doch keinen Besuch, sondern fährt zum nächsten Arzt.«

»Da muss ich Ihnen recht geben«, erwiderte Helga, die gar nicht zur Kenntnis genommen hatte, dass er sie beim Vornamen nannte.

»Und ich kann mir wirklich nicht erklären, dass sie bei Viola hätte Hilfe erwarten können. Viola ist ein liebes Mädchen, aber eher eines, das selbst Hilfe braucht. Wie viel Zeit haben Sie?«, fragte er.

»Wenig«, erwiderte Helga. »Für heute bin ich mit der Arbeit fertig. Oh, du liebe Güte, Herr Winkler wird schon da gewesen sein.«

»Winkler? Sie meinen den Verleger?«

»Den meine ich. Er ist mein Brötchengeber.«

»Und er kommt zu Ihnen ins Haus?«, fragte Theo staunend.

»Er wohnt in der Gegend, bringt mir die Arbeit mit und holt sie auch wieder ab. Ist doch nett, nicht wahr?«

»Umwerfend. Sie scheinen ja eine unbezahlbare Kraft zu sein.«

»Ich werde bezahlt«, erwiderte sie, und nun musste sie doch lächeln. »Ich werde ganz gut bezahlt, wenn Sie das beruhigt. Jetzt muss ich nach Hause. Herr Winkler ist gewohnt, dass ich zuverlässig arbeite.«

Gerald Winkler kam fast gleichzeitig mit ihnen an. Seine Augenbrauen hoben sich leicht, als er Theo gewahrte. »Herr Rodenberg«, sagte er erstaunt. »Sie sind schon zurück?«

»Wie Sie sehen«, erwiderte Theo in seiner lässigen Art.

»Sie arbeiten jetzt mit Helga zusammen?«, fragte Gerald Winkler.

»Leider nein, wenigstens bisher nicht. Wir haben uns heute erst kennengelernt. Aber was nicht ist, das kann ja vielleicht noch werden.«

»Dann möchte ich aber mein Interesse an Ihrem nächsten Buch anmelden.«

»Mein Gott, Sie sind Till Roden!«, rief Helga jetzt aus.

»Das Mädchen ist schnell im Denken«, sagte Theo schmunzelnd. »Sicher könnte man gut mit ihr zusammenarbeiten.«

»Helga hat bei mir eine Lebensstellung«, erklärte Gerald Winkler. »Das möchte ich dazu bemerken.«

»Ich hole gleich das Manuskript«, sagte Helga rasch und eilte schon die Treppe empor. Purzel begab sich in den Garten. Er hatte genug vom Autofahren.

Was die beiden Männer miteinander sprachen, wusste Helga nicht. Sie war ziemlich in Verlegenheit gebracht, denn Theo hatte sie so eigenartig angeschaut.

Als sich Gerald Winkler dann höflich verabschiedet hatte, sagte er: »Ich habe schon gefürchtet, Sie hätten was mit ihm.«

»Warum gefürchtet?«, fragte Helga schnippisch. »Er ist ein großartiger Mann.«

»Haben Sie sehr viel für ihn übrig?«

»Sehr viel«, nickte sie. »Er ist klug, hochanständig und großzügig. Ich arbeite gern für ihn.«

»Und sonst keine Wünsche?«

»Sie sind ziemlich frech. Glauben Sie, dass Herr Winkler noch mal eine Frau anschaut?«

»Warum nicht? Ich hatte auch mal so ein Biest am Hals wie er. Zum Glück hat sie mich nicht aufs Standesamt gebracht. Ich schaue Sie übrigens sehr gern an.«

Da wurde Helga doch glühend rot. »Sie sind ein komischer Mensch«, sagte sie.

»Komisch? Ich bin alles andere als komisch, liebe Helga. Was machen wir jetzt?«

»Ich werde Purzel sein wohlverdientes Futter geben.«

»Und dann? Wir haben noch sehr viel zu besprechen, oder haben Sie Marlen Broda schon vergessen?«

»Vergessen nicht, aber ich weiß nicht, was ich da noch tun soll.«

»Ich fahre zu ihrer Wohnung und höre mich um, und dann erstatte ich Ihnen Bericht. Wir könnten miteinander zum Essen gehen.«

Er redete, als wären sie alte Bekannte. So ein Mann war Helga noch nie begegnet. Ihr Misstrauen war geschwunden, nun blieb nur noch die Frage, ob Marlen Broda eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte, oder ob sein größtes Interesse Viola galt. Das wollte sie zu gern in Erfahrung bringen, und damit entschuldigte sie auch vor sich selbst ihre rasche Zustimmung zu seinem Vorschlag.

Purzel bekam ein extra gutes Futter, und er kroch dann, behaglich schnaufend, in seinen Korb. Ihm war der Tag anscheinend auch ein bisschen anstrengend gewesen.

Helgas Nerven waren so überreizt, dass gar keine Müdigkeit aufkommen konnte. Es ging ihr so viel durch den Kopf, dass sie sich ganz mechanisch Notizen über den zeitlichen Ablauf dieses Tages machte.

Unruhig blickte sie auf die Uhr. Der Zeiger rückte unaufhaltsam weiter, ohne dass Theo kam.

Theo Rodenberg oder Till Roden. Es war seltsam, aber darauf wäre sie sobald nicht gekommen. Seltsam war es auch, dass Viola ihr von diesem Mann so gar nichts erzählt hatte, und er selbst über sich auch so sparsame Auskünfte gab. Doch bei ihm sprachen wohl die Leistungen für sich selbst, er brauchte nicht die aufgebauschte Publicity, wie sie von anderen gefordert wurde. Gerald Winkler schätzte ihn hoch ein, und das kam einer Auszeichnung gleich.

Nun beschäftigten ihre Gedanken sich nur noch mit ihm, und dann atmete sie richtig erleichtert auf, als der Gong ertönte.

Purzel hob nur den Kopf und gab ein kurzes Wau von sich, sein Schwanz wedelte, als Helga Theo die Tür öffnete, aber dann streckte er sich wieder aus und schlief weiter.

»Jetzt habe ich einen Mordshunger«, verkündete Theo, »gehen wir.«

Helga stellte keine Fragen. Sie nahm ihre Lederjacke und folgte ihm. Theo sah müde und nachdenklich aus.

»Das Stück bis zum Böck können wir zu Fuß gehen«, meinte er. »Ich brauche frische Luft.«

Helga nahm keinen Anstoß daran, dass er sie gar nicht fragte, wohin sie gehen wolle. Sie kannte sowieso kein Lokal. Allein ging sie niemals in ein Restaurant, und hier kannte sie sich erst recht nicht aus.

Der »Böck« war ein gemütliches Lokal, und wie Helga von Theo versichert wurde, bekannt für die gute Küche. Das konnte sie nur bestätigen, und als Theo mit großen Schlucken ein Weißbier getrunken hatte, seufzte er erleichtert auf. »Jetzt fühle ich mich wohler. Warum stellen Sie keine Fragen, Helga?«

»Vielleicht wollen Sie nichts erzählen«, erwiderte sie.

Er sah sie nachdenklich an. »Mir wäre es aber lieber, wenn Sie fragen würden, damit ich weiß, was Ihnen am wichtigsten erscheint.«

»Ich würde gern wissen, ob es eine Verbindung zwischen Viola und Marlen Broda gibt.«

»Über einen Umweg womöglich, und der heißt Werner Kilian. Es war seine Wohnung, in der Marlen zuletzt wohnte. Da er nicht der Typ eines Wohltäters ist, stimmt das nachdenklich.«

»Aber wir sollten uns hüten, falsche Schlüsse zu ziehen.«

»In dem Haus wohnt übrigens auch der Heini, mit dem Vera Winkler durchgebrannt war. Aber ihn hat sie auch schon wieder verlassen.«

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