Читать книгу Familie Dr. Norden Classic 49 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Es war der traurigste Tag in Leas jungem Leben, als sie am Grab ihrer Mutter stand, der Frau, die sie achtzehn Jahre als ihre Mutter geliebt hatte, und die sie jetzt schmerzlich vermißte, da sie noch so viele Fragen hatte, auf die sie nun wohl keine Antwort bekommen würde.

Mit tränenblinden Augen sah sie auf den frischen Hügel, der mit bunten Blumen bedeckt war. Sie meinte die leise Stimme der Todkranken zu hören: »Ich mußte es dir sagen, Lea, mein Liebling, ich hätte es dir so gern erspart, aber vielleicht wird deine Trauer nicht so groß sein, wenn du weißt, daß du andere Eltern hattest.«

»Was denn für Eltern, Mutti?« flüsterte sie, während ihre Tränen auf die Blumen fielen. »Warum bin ich nicht bei ihnen aufgewachsen? Ich habe dich so lieb gehabt und hätte mir keine bessere Mutter wünschen können. Jetzt bin ich allein und verstehe die Welt nicht mehr.«

Sie kniete nieder und richtete den Blick zum Himmel. »Wer soll mir denn jetzt noch Antwort geben? Mit wem kann ich sprechen über dieses Geheimnis?«

Und wieder meinte sie, Carla Barans Stimme zu hören: »Dr. Norden hat gesagt, daß ich dir wenigstens das sagen muß, daß wir nicht deine richtigen Eltern waren.«

Der Gedanke änderte nichts daran, daß ihre Trauer tief und schmerzlich war. Langsam richtete sie sich auf und wandte sich dann zum Gehen. Es begann zu regnen aus eben noch hellem Himmel. Es paßte zu ihrer Stimmung. Der Himmel weint, dachte sie, und die Regentropfen mischten sich mit ihren Tränen.

Sie ging zu dem kleinen Auto, das Carla Baran ein paar Jahre gefahren hatte. Als Lea ihren Führerschein bekommen hatte, hatte ihr Carla, schon von der schweren Krankheit gezeichnet, die Autoschlüssel gegeben.

»Ich werde immer mit dir fahren, als dein Schutzengel«, hatte sie gesagt, aber da hatte Lea noch nicht geahnt, daß sie sobald sterben würde.

Leas Hand zitterte, als sie den Schlüssel herumdrehte, und wieder richtete sich ihr Blick zum Himmel. »Bist du jetzt mein Schutzengel, Mutti?« sagte sie leise.

Sie blieb still vor dem Steuer sitzen, bis eine Faust an ihr Fenster klopfte. Erschrocken zuckte sie zusammen.

»Fahren Sie jetzt, oder wollen Sie hier übernachten?« sagte eine wütende Männerstimme.

Sie erinnerte sich, daß sie auch nicht gerade auf den Mund gefallen war. Carla hatte über ihre Schlagfertigkeit oft gelacht.

»Haben Sie den Platz gepachtet?« fragte sie ruhig. »Fahren Sie lieber Ihr Auto weg, damit ich aus der Lücke komme.«

Jetzt hatte es ihm anscheinend die Sprache verschlagen. Es dauerte einige Zeit, bis er seinen Wagen zurücksetzte.

»Üben, immer wieder üben!« rief ihm Lea zu, als sie an ihm vorbeifuhr, dann atmete sie tief durch.

»Es ist okay, Mutti«, sagte sie, »ich habe dir versprochen, meine Ziele im Auge zu behalten, und vielleicht finde ich meine Wurzeln. Versuchen will ich es, aber an dich werde ich immer mit Liebe denken.«

Dann fragte sie sich, ob ihr wohl jemand mal zuhören würde, wenn sie ihre Gedanken aussprach. Ihre Mutti hatte immer zugehört.

*

»Wie mag es Lea gehen«, sagte Fee Norden nachdenklich, »hast du nach der Beerdigung schon mit ihr gesprochen?«

»Es gibt für sie noch so vieles zu regeln, da bleibt für ein längeres Gespräch keine Zeit, Feelein. Sie wird zu mir kommen, wenn sie sich gefangen hat. Ihr wird zum Reden noch nicht zumute sein.«

»Sie muß sich schrecklich einsam fühlen.« Sie sah Daniel forschend an. »Ist da etwas, was du mir verschwiegen hast? Ich sehe es dir doch an, daß dich etwas sehr beschäftigt.«

»Ich würde gern wissen, ob ihr Frau Baran alles gesagt hat.«

»Ihr was gesagt hat?« fragte Fee.

»Etwas, was Lea schwer zu schaffen machen wird. Es wäre besser, wenn ich mit ihr rede. Ja, ich werde den ersten Schritt tun.«

»Bitte, sag mir, worum es geht, Daniel, vielleicht kann ich helfen.«

»Ich weiß nicht, ob man ihr überhaupt helfen kann, aber sie sollte wenigstens wissen, zu wem sie mit ihren Sorgen kommen kann.«

»Zu mir kannst du doch offen sein. Ich kann auch schweigen.«

»Es wurde zu lange geschwiegen, mein Schatz. Lea wurde adoptiert, und vielleicht hat es Frau Baran ihr erst zuletzt gesagt.«

Fee sah ihn konsterniert an. »Aber mit dir hat sie darüber gesprochen?«

»Sie hat mich gefragt, was ich in solchem Fall tun würde, und ich habe ihr geraten, Lea die Wahrheit zu sagen. Man weiß schließlich nie, was geschehen kann. Seit dem Fall mit den Zwillingsbrüdern bin ich vorsichtig geworden.«

Fee nickte. »Man stelle sich vor, sie lernt eines Tages einen Mann kennen, den sie heiraten will und dann stellt sich heraus, daß es ihr Bruder ist.«

»Es muß ja nicht so sein, aber es passieren die verrücktesten Dinge. Sie könnte ihrer Mutter so ähnlich sehen, oder einer Schwester, von der sie nichts weiß, und es kommt zu den schlimmsten Konflikten.«

»Gibt es überhaupt einen Anhaltspunkt, wer ihre Mutter sein könnte?«

»Ich glaube, daß Frau Baran etwas ahnte, aber ihr wurde Lea direkt vor die Tür gelegt. Da sie selbst keine Kinder bekommen konnte, war ihr Mann einverstanden, Lea zu behalten. Er hieß Leo, und so bekam das Baby den Namen Lea. Er muß ein sehr guter Mensch gewesen sein. Leider starb er, als Lea erst sechs Jahre war, aber er hat Frau und Kind gut versorgt zurückgelassen, und Frau Baran verdiente als Schneiderin auch recht gut.«

Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Fee: »Mußte sie denn überhaupt erfahren, daß sie adoptiert ist? Die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihre Wurzeln findet, ist doch sehr gering. Am besten fängt sie gar nicht erst mit dem Suchen an.«

»Wir sind doch beide der Meinung, daß alles möglich ist. Denk mal daran, was wir schon alles erlebt haben, Feelein. Wir sind auch nur zwei Menschen im großen Weltall. Es könnte auch sein, daß sie ein Zwilling war.«

»Bitte, keine solchen Komplikationen, das arme Kind wird genug daran zu knabbern haben, daß sie ein Findelkind ist.«

»Aber ein sehr gescheites, das viel nachdenken wird.«

Wie recht er damit hatte! Als Lea die hübsche Wohnung betreten hatte, in der sie aufgewachsen und glücklich gewesen war, lehnte sie minutenlang an der Wand, dem Spiegel gegenüber, in dem sie sich sehen konnte. Sie kam sich fremd vor, und keine vertraute Stimme rief ihren Namen.

Gedankenverloren zog sie ihren Mantel aus, der feucht war vom Regen, der plötzlich herunterprasselte, als sie aus dem Auto gestiegen war, und auch ihr Haar hing ihr naß in die Stirn.

Sie ging ins Bad und trocknete sich ab. Ihr Gesicht bekam etwas Farbe, aber die Leere in ihr blieb. In der blitzblanken Küche brühte sie sich einen Tee auf. Alles geschah mechanisch. Im Wohnzimmer setzte sie sich an den kleinen runden Tisch im Erker. Es war der Lieblingsplatz ihrer Mutti gewesen.

»Meine Mutti«, sagte sie bebend, als sie das Foto in die Hände nahm, das Carla Baran in besseren Zeiten darstellte. Das war noch gar nicht so lange her. Carla war eine anmutige Frau gewesen mit weichen Gesichtszügen, träumerisch blickenden Augen. Sie hatte immer zu Lea gesagt, daß sie eine glückliche Frau sei. Sie hatte nie geklagt, als die Schmerzen kamen und es war schmerzlich für sie gewesen, daß Lea dann doch mitbekam, wie es immer schlimmer wurde.

»Wenn du es mir auch früher gesagt hättest, Mutti, ich hätte niemanden mehr lieben können als dich«, flüsterte sie. »Du hättest es mir gar nicht sagen sollen. Was soll ich denn jetzt tun? Etwas suchen, was mir gar nichts bedeutet? Wer immer mich zur Welt gebracht hat, ich habe dieser Frau nichts bedeutet. Sie wollte mich nicht haben, aber du wolltest mich haben.«

Sie rief sich die letzte Lebensstunde ihrer Mutter ins Gedächtnis zurück. Jetzt konnte sie sich wieder an alles erinnern. Sie hatte am Krankenbett gesessen und die abgezehrten Hände gehalten.

»Ich muß dir noch etwas sagen, Lea. Ich darf es dir nicht verschweigen, hat Dr. Norden gesagt. Man weiß nie, was geschehen kann.«

Ihre Stimme war schon schwach gewesen. Die Metastasen waren auf den Kehlkopf übergegriffen. Das hatte Lea aber auch erst später erfahren.

»Sag nichts, Mutti, wenn es dir schwerfällt. Du kannst es mir später sagen, wenn es dir bessergeht.«

»Es ist jetzt schon zu spät, mein geliebtes Kind. Das warst du immer, vom ersten Tage an, als ich dich an unserer Haustür fand. Wir haben dich gleich geliebt, du wurdest unser Kind. Verzeih mir, daß ich es dir nicht früher sagte.«

Sie hatte manche Worte nur erahnen können, doch dann konnte sie sich alles zusammenreimen, und ein Nichtbegreifen war in ihr gewesen, als Carla nichts mehr sagen konnte. Sie hatte die Augen für immer geschlossen.

Lea versuchte, jetzt ganz ruhig nachzudenken. Sie war drei Jahre alt gewesen, als sie nach München gezogen waren. Ihr Vati war versetzt worden. Er war Finanzbeamter gewesen in Füssen und war befördert worden. Dann mußte sie wohl in Füssen ausgesetzt worden sein, aber war sie auch dort zur Welt gekommen? Wo sollte sie denn mit dem Suchen anfangen, wenn sie das überhaupt wollte?

Nein, dachte sie, es soll alles so bleiben, wie es war. Vati ist früh gestorben, an ihn konnte sie sich auch kaum noch erinnern. Nur die Fotos hatte sie immer wieder angeschaut. Er war kein verknöcherter Beamter gewesen, hatte Humor, und das konnte man auch auf den Fotos sehen, an seinen Augen, seinem Lächeln. Als sie erwachsen wurde, hatte sie immer noch nicht begreifen können, daß man mit fünfundvierzig Jahren sterben konnte, einfach so von einer Minute zur andern.

Ein Aneurysma war schuld gewesen, das eine Gehirnblutung zur Folge hatte. Bis Dr. Norden kam, war er schon tot, obgleich er sofort gekommen war. Das war das erste Mal gewesen, daß sie Dr. Norden kennenlernte, der gleich so freundlich zu ihr war, daß sie schnell ihre Scheu verlor, denn er kam nun öfter, weil Carla nicht so schnell über den plötzlichen Tod ihres Mannes hinwegkommen konnte. Der Schock saß tief, die Trauer zehrte an ihrer Substanz, und viel hatte sie nie zuzusetzen gehabt.

Aber Lea hatte sie gebraucht, und sie hatte die geliebte Mutti aufgemuntert.

All das ging Lea durch den Sinn, als sie am Fenster saß und in den sinkenden Abend schaute.

Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie in Carlas Sekretär doch einen Hinweis auf den Tag finden könnte, an dem sie von ihren Eltern gefunden wurden war. Ja, es waren ihre Eltern, niemand konnte daran rütteln, und sie war dankbar für die unbeschwerten Kinder- und Jugendjahre.

Sie brauchte sich nicht mal Sorgen um die Zukunft zu machen. Die Wohnung gehörte jetzt ihr. Sie war damals von den Eltern gekauft worden und inzwischen ganz abbezahlt. Carla hatte eine Ausbildungsversicherung für sie abgeschlossen und ihr auch ein ganz ansehnliches Vermögen hinterlassen, das zum größten Teil in Sparbriefen und Anleihen angelegt war.

Sie war volljährig und bereits seit sechs Wochen in einem renommierten Verlag als Auszubildende als Verlagskauffrau. Sie war sehr engagiert, weil es sie schon immer interessiert hatte.

Nein, Angst brauchte sie vor der Zukunft nicht zu haben, und sie war auch ehrgeizig genug, um ihr Ziel ohne Schwierigkeiten zu erreichen

Sie verplemperte ihre Zeit nicht mit Discobesuchen und wechselnden Flirts, wie so viele ihres Alters. Sie hatte viele Ideen, die sie auch verwirklichen wollte. Darüber hatte sie noch mit keinem Menschen gesprochen, auch nicht mit Carla.

Jetzt saß sie vor dem Sekretär, an den sie sich nie herangewagt hatte, solange Carla lebte.

Als sie noch sehr klein war, wollte sie mal in den Schubladen kramen. Da hatte Carla ihre Hand genommen und sehr bestimmt gesagt: »Das gehört Mutti, und wenn du einen Schreibtisch hast, wird er allein dir gehören, da werde ich auch nicht herumkramen.«

Das hatte sie tief beeindruckt, und sie hatte sich daran gehalten. Sie hatte einen Schreibtisch bekommen, als sie zur Schule kam und war überzeugt, daß ihre Mutti niemals darin herumgestöbert hatte.

Große Geheimnisse hatte sie nicht, aber ein Tagebuch hatte sie schon geführt, in dem man auch lesen konnte, daß sie für diesen oder jenen Schauspieler schwärmte und daß ihr der Abiturient Niklas Fleming ganz besonders gut gefiel, als sie fünfzehn war. Er hatte sogar manchmal mit ihr gesprochen, da sie auch denselben Schulweg hatten. Dann war er mit seinen Eltern nach Kanada gegangen, und sie hatte nie mehr etwas von ihm gehört. Kein anderer Junge hatte sie danach so beeindruckt, und jetzt, da sie erwachsen war, zeigte sie sich Männern gegenüber sehr reserviert, besonders seit eine ältere Kollegin sexuell belästigt worden war. Sie hatte zwar öfter davon gelesen, aber nie jemand kennengelernt, der direkt betroffen war. Da es ein sehr nettes Mädchen war, das nie provozierend auftrat, war ihr das sehr unter die Haut und auch zu Herzen gegangen. Sie ging sofort auf Abwehr, wenn sich ihr ein Mann hautnah näherte. Auch im Verlag passierte das manchmal, wenn auch gewiß nicht immer absichtlich. Sie hatte auch mit ihrer Mutti darüber gesprochen, und Carla hatte gemeint, daß ihr natürlicher Instinkt sie hoffentlich vor solchen Erfahrungen bewahren würde.

Sie hatte gewisse Regeln immer befolgt, und deshalb fiel es ihr auch nicht leicht, sich mit Carlas ganz persönlichen Dingen zu befassen.

Es herrschte in den Kästen mustergültige Ordnung. Sie fand Hefte, in denen Carla sehr korrekt ihre Einnahmen und Ausgaben eingetragen hatte. Private Post hatte sie selten bekommen. Manchmal war ein Brief aus Füssen gekommen von einem Dr. Altmann, und sie fand auch ein Bündel Briefe von ihm.

Plötzlich kam Lea der Gedanke, daß es vielleicht ein paar Menschen gab, die von Carlas Ableben benachrichtigt werden müßten. Zum Beispiel auch dieser Dr. Altmann. Das wollte sie gleich morgen erledigen. Sie hatte noch bis zum Montag Urlaub, um alles zu regeln.

Sie fand auch ein Notizbuch, in dem mehrere Adressen verzeichnet waren, aber es war ein altes, schon abgegriffenes Büchlein. Sie blätterte es nur flüchtig durch, und auch sonst fand sie nichts in den vier Kästen, das sie besonders interessiert hätte.

Anders war es, als sie die Klappe des Aufsatzes öffnete. Dahinter waren Fotoalben und auch zwei Tagebücher verborgen, zwei Kassetten, die ziemlich schwer waren, aber verschlossen und diese Schlüssel hatte sie noch nicht gefunden. Sie fand auch ein Bündel Geldscheine in einem flachen Metallkasten. Lea zählte sie nicht nach. Sie stützte den Kopf in beide Hände und überlegte, ob ihr der Inhalt dieses Sekretärs doch ein Geheimnis verraten konnte. Aber was konnte das schon sein, wenn sie ein Findelkind war?

Sie suchte nach den Schlüsseln für die beiden Kassetten, und da öffnete sich wie von Geisterhand eine Verschalung auf der linken Seite, und in dem Fach fand sie eine wunderschöne ziselierte Silberdose, in der sich kleine Schlüssel befanden und ein Etui mit einem ungewöhnlich schönen Diamantring. Sie hatte diesen nie an Carlas Hand gesehen. Ihr war ganz seltsam zumute. Sie hatte Hemmungen, den Dingen auf den Grund zu gehen, aber wer sollte sie letztlich daran hindern? Auch Carla konnte das nicht mehr, und sicher hätte sie es auch nicht gewollt.

Sie nahm die Briefe von Dr. Altmann, das abgegriffene Notizbuch und die beiden Kassetten und ging ins Wohnzimmer.

In dem bequemen Sessel konnte sie entspannter sitzen, und da merkte sie erst, wie verkrampft sie war.

Sie las zuerst den Brief, der vor vier Jahren geschrieben war. Er war nicht lang.

Verehrte Frau Baran, ich kann Ihnen mitteilen, daß der Verkauf Ihres Elternhauses jetzt perfekt ist. Graf Serna-Priot hat auf sein Vorkaufsrecht bestanden, da das Grundstück einstmals zum Besitz seiner Vorfahren gehörte. Ich konnte allerdings den Preis aushandeln, der den heutigen Verhältnissen entspricht. Ich hoffe, daß Sie damit zufrieden sind und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen würden, wie und wo der Betrag angelegt werden soll.

Ich würde mich freuen, wenn wir dies persönlich besprechen könnten. Ich würde auch nach München kommen.

Die anderen Briefe waren noch kürzer, verrieten aber, daß persönliche Gespräche stattgefunden hatten. Der letzte Brief, der erst vier Wochen alt war, enthielt die Mitteilung, daß das Vermögen durch gewinnbringende Kapitalanlagen auf über eine Million angewachsen war. Das mußte Lea auch erst mal verdauen.

Warum hatte Carla auch daraus ein Geheimnis gemacht? Hatte sie etwa gefürchtet, daß sie übermütig werden könnte, wenn sie von diesem Geld wußte? Aber warum hatte sie immer noch genäht, es war doch anstrengend gewesen.

Doch nicht alles für mich, Mutti, dachte sie, du hast auch so gut genug für mich gesorgt. Du hättest dir ein schönes Leben machen können. Warum bleiben so viele Rätsel für mich?

Jedenfalls nahm sie sich nach längerem Nachdenken vor, diesem Dr. Altmann einen persönlichen Besuch abzustatten.

Sie war sehr müde geworden, öffnete dann aber die beiden Kassetten doch noch, nachdem sie die richtigen Schlüssel dazu gefunden hatte. Sie hatten ganz verschiedene Schlösser, und die waren für die kleinen Behälter überaus stabil.

In einer Kassette befanden sich Gold- und Silbermünzen, die ihr völlig unbekannt waren. Sie war zu müde, um festzustellen, aus welchen Jahrhunderten sie stammten. Sie hatte auch keine Ahnung, welchen Wert sie haben konnten. Ebenso war es mit dem Schmuck, der sich in der anderen Kassette befand. Schlichte, lange und kurze Goldketten, Anhänger aus verschiedenen Steinen, eine Jadekette, die ihr sehr gut gefiel. Jade hatte immer eine besondere Anziehungskraft für sie gehabt. Dann war da ein kurzes Goldkettchen mit einem Medaillon in Herzform, das wohl für ein Kind gedacht war, aber Lea konnte sich nicht erinnern, es je getragen zu haben. Verschiedene Ringe waren auch darin, in altmodischen Fassungen und mit Steinen, die Lea nicht kannte. Sie hatte sich bisher nie mit Schmuck befaßt, außer mit Jade, weil ihr gesagt worden war, daß dies der Glücksstein für ihr Tierkreiszeichen sei.

Wenn ihr mir wenigstens etwas erzählen könntet, dachte sie und verschloß die Kassetten dann wieder. Es war spät genug, um schlafen zu gehen. Sie nahm sich vor, am nächsten Morgen Dr. Norden anzurufen und auch Dr. Altmann. Irgend etwas mußte sie unternehmen, um weiterzukommen. Es war jetzt eine Unruhe in ihr, die sie auch am schnellen Einschlafen hinderte. Als endlich der Schlaf kam, war er von wilden Träumen erfüllt.

*

Dr. Norden war erleichtert, als Lea anrief. Wendy hatte sie sofort mit ihm verbunden. Es war Freitag, und da hatte er nachmittags keine offizielle Sprechstunde. Er schlug Lea vor, ihn am Nachmittag gegen vier Uhr zu besuchen. Sie war sofort einverstanden.

Danach rief sie Dr. Altmann an. Seine Telefonnummer stand auf den Briefbogen, und sie hatte sich auch nicht geändert.

Sie spürte förmlich, wie er den Atem anhielt, als sie ihm sagte, daß ihre Mutter verstorben sei.

»Mein tiefstes Bedauern und meine aufrichtige Anteilnahme«, sagte er stockend.

»Ich hätte Sie gern einmal aufgesucht, Herr Dr. Altmann, wäre das möglich?«

»Selbstverständlich! Ich würde mich freuen. Können Sie gleich morgen kommen? Vielleicht könnten Sie das Wochenende hier verbringen. Es ist schön hier um diese Jahreszeit.«

»Ich komme gern, vormittags könnte ich dort sein.«

»Sie sind herzlich willkommen, Lea. Wir können dann alles Wichtige besprechen.«

Er nannte sie beim Vornamen, es schuf eine gewisse Vertrautheit. War das nicht unvorsichtig? Aber hatte Carla nicht öfter gesagt, sie solle nicht jedem mit Mißtrauen begegnen? Schließlich war ihr Dr. Altmann auch vertraut gewesen.

Sie schaute sich gleich auf der Karte an, wie sie am besten nach Füssen kommen konnte, um dem Wochenendverkehr auszuweichen. Jedenfalls würde es ihre erste längere Autofahrt werden.

Angst kannte Lea nicht. Sie war vorsichtig aber nie ängstlich. Sie vertraute auf ihr Gespür, auf den siebten Sinn, der sie vor Gefahr warnte.

Sie begann, das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden, da sie schon bereit war, sich allein im Leben zu behaupten. Sie machte Carla keinen Vorwurf, daß sie ihr so viele ungelöste Fragen hinterlassen hatte, aber jetzt kam sie zu der Erkenntnis, daß sie sich nicht einfach damit abfinden sollte. Eigentlich hatte sie genau genommen überhaupt keine Eltern, sie war ein namenloses Wesen, das Glück gehabt hatte, von Menschen wie den Barans gefunden zu werden. Ja, sie hatte Glück gehabt, denn sie las und hörte immer wieder, wie bedenkenlos Babys weggeworfen wurden, getötet, bevor sie noch richtig leben durften. Es fror sie bei dem Gedanken, und wieder war Dankbarkeit in ihr. »Danke Mutti, daß du mich davor bewahrt hast, ich lebe gern«, sagte sie leise.

*

»Lea kommt heute nachmittag zu mir in die Praxis«, verkündete Daniel Norden seiner Frau, als er zum Mittagessen heimkam.

»Da bin ich aber froh«, erwiderte Fee, »dann findet sie sich schon wieder zurecht.«

»Wir werden sehen«, meinte er nachdenklich. »Für sie wird es nicht einfach sein, sich mit den Tatsachen abzufinden.«

»Aber jeder intelligente Mensch möchte wissen, wo seine Wurzeln zu suchen sind.«

»Aber wo soll sie die finden, wenn es keinen Anhaltspunkt gibt.«

»Vielleicht gibt es doch einen. Daß das Baby den Barans vor die Haustür gelegt wurde ist es doch ein Zeichen, daß man dort gute Menschen vermutete. Man hatte sie nicht in eine Plastiktüte gesteckt und in eine Mülltonne geworfen. Ich habe heute gelesen, daß das eine junge Mutter fertiggebracht hat. Das Kind hat überlebt. Es ist kaum vorstellbar, wie zäh so ein kleines Wesen sein kann.«

»Man muß sich aber auch vorstellen, was jetzt in dieser Frau vor sich gehen wird. Und so könnte es auch sein, daß sich Leas leibliche Mutter viele Jahre mit Selbstvorwürfen gequält hat.«

»Oder auch nicht. Vielleicht lebt sie ein lustiges Leben, froh, daß ihr niemand auf die Schliche gekommen ist.«

Zwei Meinungen waren das, und beide konnten richtig sein.

»Lea ist ein apartes Mädchen«, sagte Fee nach einem kurzen Schweigen. »Sie ist intelligent und hat eine natürliche Anmut. So wie sie sich gibt, muß ihr angeboren sein, das kann man nicht einstudieren.«

»Schatz, geheimnisse jetzt nicht noch mehr in sie hinein. Es langt schon, welch dunkles Geheimnis sie umgibt.«

»Ich hoffe nur, daß sie keinen Schaden nimmt, Daniel.«

»Heute abend kann ich dich sicher beruhigen. Ich habe ein gutes Gefühl.«

»Wegen meiner Matheschulaufgabe, Papi?« fragte Felix, der jetzt den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Dein gutes Gefühl täuscht nicht, ich habe einen Dreier.«

»Na, siehst du, es geht doch, wenn du dich auf den Hosenboden setzt«, wurde er von Daniel gelobt.

»Gehen wir jetzt morgen segeln?« fragte Felix sofort.

»Wie ist es?« fragte Daniel seine Frau.

»Ihr könnt ja segeln, ich gehe mit den Zwillingen ins Schwimmbad.«

»Und ich darf mit«, sagte Anneka, die nun auch von draußen hereinkam.

»Segeln oder Schwimmbad?« fragte Fee.

»Natürlich Schwimmbad. Du kannst doch nicht auf beide gleichzeitig aufpassen, Mami.«

»Wer von euch beiden ist die größere Glucke«, scherzte Daniel. »Du bist nicht böse, wenn ich mit den Buben segeln gehe?«

»I wo, laßt euch nur den Wind um die Nase wehen, aber kentert bitte nicht. Weißt du eigentlich noch, wie lange es schon her ist, daß wir Mario aus dem See gefischt haben?«

»Du wirst es besser wissen, mein Schatz.«

»Achtzehn Jahre«, erwiderte Fee gedankenvoll.

»Und jetzt ist er ein großer Mann«, sagte Anneka andächtig. Die Geschichte kannten sie, da brauchten sie nicht mehr zu fragen, aber Fee dachte im Zusammenhang mit Lea daran, daß auch Mario großes Glück gehabt hatte, aber sie alle dazu, weil er ihnen nur Freude machte. Nun war er Medizinstudent schon im fünften Semester. Er gehörte zu den Hochbegabten, obgleich nur seine natürlichen Anlagen gefördert worden waren von seinen Adoptiveltern Johannes und Anne Cornelius. Für Fee und Katja Delorme war er der »kleine Bruder«, obgleich er sie an Länge längst überragte. Seine richtigen Eltern waren Gastarbeiter gewesen, die im See bei aufkommendem Sturm ertranken, nur den kleinen Mario hatte Daniel retten können. Er hatte seine Eltern nicht lange vermißt, hatte auf der Insel der Hoffnung ein neues Zuhause gefunden und viel Liebe.

So war es auch bei Lea gewesen. Fee war sehr gespannt, was Daniel ihr nach dem Treffen mit Lea erzählen konnte.

*

Sie war pünktlich, und Daniel Norden konnte zufrieden feststellen, daß sie nicht mehr gar so verzweifelt in die Welt schaute. Sie hatte sogar ein kleines Lächeln für ihn.

»Ich bin sehr dankbar, daß Sie Zeit für mich haben, Herr Doktor«, sagte sie stockend, »ich bin ja nicht krank, ich habe nur ein Anliegen, das mich sehr beschäftigt. Mutti hat erst in ihren letzten Lebensstunden gesagt, daß ich adoptiert wurde. Ihnen scheint sie es früher erzählt zu haben.«

»Nur andeutungsweise, aber viel konnte sie darüber wohl auch nicht erzählen.«

»Es hätte sich zwischen uns nichts geändert, wenn sie es mir früher erzählt hätte. Für mich wird sie immer meine Mutter bleiben. Warum hat sie sich nur so davor gescheut, mit mir darüber zu sprechen? Können Sie es mir erklären?«

»Sie hat Sie sehr geliebt, Lea. Sie waren ihr Kind und sollten es bleiben. Sie wollte nur einen Rat von mir, ob sie es Ihnen auch weiterhin verschweigen dürfe. Ich habe ihr aus Vernunftsgründen geraten, es Ihnen lieber doch zu sagen. Es gibt so viele unglückliche Zufälle im Leben, daß man nie sicher sein kann, wenn die Wahrheit über ein Geheimnis ans Licht kommt.«

Lea nickte. »So ähnlich habe ich auch gedacht und werde solche Zufälle nicht außer Acht lassen. Vielleicht helfe ich Ihnen auch ein bißchen nach, wenn es mir möglich ist, und ein bißchen Glück kann man dabei ja auch haben. Ich sehe es ganz realistisch und werde morgen gleich damit anfangen.«

Daniel war jetzt doch überrascht, daß sie sofort die Initiative ergreifen wollte.

»Und wo wollen Sie anfangen, Lea?«

»In Füssen, wo meine Eltern früher wohnten und ich vor ihre Haustür gelegt wurde. Ich habe mich schon mit Dr. Altmann in Verbindung gesetzt, der Mutti juristisch vertreten hat. Ich habe Briefe von ihm gefunden, auch Muttis Tagebuch, ein paar Kassetten und Fotoalben. Das muß ich alles durchsehen.«

»Ich kann Ihnen leider nicht viel helfen, Lea, nur soviel, daß Sie eine ziemlich seltene Blutgruppe haben, nämlich B mit besonderer Unverträglichkeit zu anderen Blutgruppen. Das muß sehr genau beachtet werden, wenn Sie mal eine Bluttransfusion brauchen.«

»Und die Blutgruppe könnte ein Hinweis auf meine Eltern sein?«

»Mit Sicherheit, wenn erst einmal Vergleichsmöglichkeiten gegeben sind. Aber manchmal treibt das Schicksal seltsame Blüten. Meine Frau sagt immer: Es kommt alles, wie es einem bestimmt ist. Also versteifen Sie sich nicht zu sehr darauf, daß Sie Ihre Wurzeln finden, sondern überlassen Sie es höheren Mächten.«

»Ich bin eigentlich nicht wild darauf, die Zusammenhänge herauszufinden. Ich habe sogar meine Bedenken, daß es herbe Enttäuschungen für mich geben könnte. Ich nehme alles, wie es kommt, aber dabei frage ich mich doch, wie eine Mutter dazu kommt, sich von ihrem Kind zu trennen. Sie wollte ja anscheinend, daß ich versorgt werde und kannte Mutti gut genug, um dafür eine Garantie zu haben. Aber wie es aussieht, wollte sie doch die endgültige Trennung.«

»Da muß ich Ihnen recht geben, aber manchmal treffen viele Umstände zusammen, daß vor allem junge Frauen keinen Ausweg sehen. Mögen es die eigenen Eltern sein, die kein Verständnis haben, wurden sie sitzengelassen von dem Partner, oder es passiert sogar, daß Familien im Streit liegen, der eine faire Lösung unmöglich macht. Das kann so sein, wenn zwei unterschiedliche Nationalitäten aufeinander prallen. Manches junge Paar flüchtet sich dann sogar in einen gemeinsamen Tod.«

»Und Sie meinen, daß man alles vertuschen kann, daß niemand etwas davon erfährt?«

»Das ist auch möglich, wenn zumindest ein Teil sehr einflußreich und vermögend ist.«

»Und es könnte auch sein, daß der Mann verheiratet war?«

»Auch das ist möglich.«

Lea sah ihn offen an. »Wenn man das alles in einen Topf wirft und schüttelt, kann man froh sein, daß ich einigermaßen gut geraten bin«, sagte sie selbstbewußt.

»Sie sind okay, Lea, so, wie Carla Baran sich ihre Tochter wünschte. Keine Mutter kann ihr leibliches Kind mehr lieben, als Sie geliebt wurden.«

»Das weiß ich. Mutti hat sich kaum etwas gegönnt, obgleich sie das gekonnt hätte. Sie hat immer nur daran gedacht, daß es mir gutgehen soll. Und es schmerzt mich, daß ich das nicht mehr gutmachen kann.«

»So sollten Sie nicht denken. Es kam alles von Herzen. Sie hatte keine Wünsche, da ihr Herzenswunsch nach einem Kind erfüllt wurde. Sie können sich glücklich schätzen, eine solche Mutter gehabt zu haben.«

»Das tue ich. Hat Mutti gesagt, was es für ein Tag war, als sie mich vor der Tür fand?«

»Sie sagte mir, daß es sehr spät abends war und sie hätte eigentlich gar nicht gewußt, warum sie noch einmal hinausschaute. Es war ein warmer Tag im Juni gewesen, und das Baby war etwa ein bis zwei Monate, warm eingewickelt in einem Steckkissen, wie man es in früheren Zeiten kannte. Heute dürfen die Babys schon strampeln, damals wurden sie fest eingewickelt, allerdings zu Zeiten unserer Großeltern.«

Leas Blick wanderte in eine imaginäre Ferne. »Zu denken, daß ich auch Großeltern hatte und was sie wohl für Menschen waren, wird meine Phantasie schon anregen.«

»Und vielleicht hätte einer von ihnen Sie doch haben wollen«, sagte er sinnend.

»Sie machen sich auch Gedanken«, meinte Lea.

»Das bleibt nicht aus, wenn man nicht gleichgültig ist. Ich hoffe, daß Sie Ihren Weg unbeirrbar gehen, Lea.«

»Ich werde mich bemühen, und wenn ich noch etwas Bedeutungsvolles in Muttis schriftlichem Nachlaß finde, werde ich Sie informieren. Mal sehen, was bei meinem Treffen mit Dr. Altmann herauskommt. Er hat Muttis Elternhaus zu einem sehr guten Preis verkauft. Er scheint es auch gut mit ihr gemeint zu haben.«

»Sie war ein guter Mensch, und du bist ein sehr tapferes und gescheites Mädchen. Ich hoffe, daß wir öfter miteinander reden können, und meine Frau würde sich auch freuen, wenn du uns besuchst.«

»Ich komme gern«, erwiderte sie unbefangen, »und vielen Dank, daß Sie Zeit für mich hatten.«

»Jederzeit, Lea.«

*

Lea fuhr heim, sie hielt unterwegs nur einmal beim Bäcker Kayser an und kaufte sich einen Apfelstrudel und zwei Brötchen. Sie hatte keine Lust, sich etwas zu kochen und in ein Lokal wollte sie auch nicht gehen. Das Wochenende würde sie sowieso in Füssen verbringen und es als Kurzurlaub betrachten.

Zu Hause machte sie es sich auf der Terrasse bequem, nachdem sie Tee aufgebrüht hatte. Es war ein gutes Gefühl, daß sie nicht zu einem Wohnungswechsel gezwungen wurde. Die Wohnung in der oberen Etage stand zur Zeit leer. Es war auch eine Eigentumswohnung, die verkauft werden sollte, weil die früheren Besitzer an den Bodensee gezogen waren. Sie hatten nicht viel Kontakt mit ihnen gehabt, weil sie sehr viel unterwegs waren und zu Hause nur ihre Ruhe haben wollten.

Schwierigkeiten hatte es bei ihnen eigentlich nie gegeben, weder im Haus noch sonstwo und auch in ihrem noch jungen Berufsleben nicht. So sah Lea auch alles positiv und schuf sich selbst keine Probleme. Sie hatte schon manches Mal den Kopf geschüttelt, womit andere sich das Leben schwer machten. Im Verlag merkte sie das am meisten, und sie machte auch die Erfahrung, daß manche von anderen viel erwarteten, wozu sie selbst nicht bereit waren.

Sie kam mit allen gut aus, und wenn dieser oder jener anzügliche Bemerkungen machte, lachte sie nur darüber.

Enge Freundschaften hatte sie nicht, und Vertraulichkeiten begegnete sie mit Vorsicht, das lag in ihrer Wesensart. Sie hatte die Freizeit auch immer am liebsten mit ihrer Mutti verbracht, obgleich sie dafür auch manchen Spott einstecken mußte. Das hinterließ aber keinen Eindruck bei ihr.

Mit Appetit hatte sie ihren Apfelstrudel verzehrt und eine Tasse Tee getrunken, dann befaßte sie sich mit Carlas Tagebuch.

Sie hatte das in den ersten Tagen ihrer Ehe begonnen, und immer nur sporadisch ein paar Sätze geschrieben, die nur ausdrückten, daß sie zufrieden und glücklich war. Später schrieb sie dann, wie sehnlich sie sich ein Kind wünschte, dann aber auch bemerkt, daß wohl kein Glück vollkommen sein dürfte. Dann folgte eine lange Pause, bis sie schilderte, wie das Baby vor ihrer Haustür von ihr gefunden wurde.

Ich konnte es nicht glauben, daß da ein lebendiges kleines Wesen lag, das nur ganz leise wimmerte. Ich nahm es empor und trug es schnell ins Haus. Leo kam gleich angelaufen, als ich nach ihm rief.

Welch ein süßes Kind, ein wunderschönes, kleines Mädchen! Eigentlich müßten wir es melden, sagte Leo, aber weil er eigentlich sagte, fühlte ich schon, daß er mir meinen Wunsch erfüllen würde. Er hatte ja gute Beziehungen zu hohen Beamten. Er fuhr sogar sofort zu unserer Drogerie, um alles für das Baby zu kaufen. Die hatten zwar schon geschlossen, aber wir kannten die Heimbergs privat und sie gaben ihm alles. Natürlich waren sie neugierig, aber Leo sagte, wir hätten plötzlich Besuch bekommen aus Südtirol und ihnen wäre der Babykoffer abhanden gekommen. Daß Leo für das Baby schwindelte, war rührend, und schon am selben Abend waren wir entschlossen, das Baby nicht mehr herzugeben.

Ich hatte keine praktische Erfahrung, aber ich staunte selbst, wie schnell ich es lernte, mit dem Baby umzugehen. Es war sauber gekleidet. Unter dem Jäckchen fanden wir einen Zettel, auf dem in Druckschrift stand: Ich heiße Franca, geboren am 1. Mai, ich suche liebe Eltern.

Nichts sonst, aber was brauchte ich auch mehr zu wissen. Ich liebte dieses kleine Wesen von der ersten Minute an. Wir entschieden uns bald, sie Lea Franca zu nennen.

Bald erreichten wir es, daß wir sie behalten, sie adoptieren durften. Sie bekam auch den Namen Baran. Wir bemühten uns auch gar nicht, etwas über ihre Mutter herauszufinden und nahmen sie als ein Geschenk des Himmels. Leo, der korrekte Beamte, war ein überglücklicher Vater. Wir waren wunschlos glücklich.

Dann folgten nur noch Eintragungen über Lea. Ihre ersten Laute, ihr erster Zahn, ihre ersten Schritte.

Sie nannte Leo Fafi und mich Mumu, an ihrem ersten Geburtstag lief sie wie ein Wiesel durch die Zimmer und juchzte, als sie ihre Geschenke bekam.

Alles drehte sich um das Kind, um sie, Lea, die sehr gerührt war, als sie das alles las.

Unser Sonnenschein, unser Prinzeßchen, jeder sagte, wie reizend sie ist.

Eigentlich war ich froh, als wir nach München übersiedelten, denn manchmal hatte ich doch Angst, es könnte jemand kommen und Anspruch auf sie erheben, aber Dr. Altmann sagte, daß die Adoption rechtmäßig sei und Lea somit unser Kind sei mit all seinen Rechten.

Dann kamen keine Eintragungen mehr. Von Leos Tod hatte Carla nichts geschrieben.

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Familie Dr. Norden Classic 49 – Arztroman

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