Читать книгу Familie Dr. Norden 734 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Die letzten warmen Tage waren schnell vergangen, und der Herbst schickte mit der kühlen Morgenluft seine ersten Vorboten. Das Laub raschelte unter seinen Füßen, als Joseph Reischl am frühen Morgen durch die verschlafene Straße des Münchener Vorortes ging. Er trug einen schwarzen Koffer in der rechten Hand, sein Äußeres war tadellos, dunkler Anzug, dezent gemusterte Krawatte.

Alles in allem machte er einen strengen Eindruck, und nur an seinen munter blitzenden Augen konnte man erahnen, daß ihn ein angenehmer Auftrag in diese ruhige Gegend mit dem altmodischen Kopfsteinpflaster führte.

Schließlich machte Jost, wie er von seinen Freunden genannt wurde, vor einer schweren, hohen Holztür halt, die zu einem schmalen Altbau mit verschnörkelter Fassade gehörte. Entschlossen drückte er auf einen Klingelknopf. Es dauerte lange, bis die Sprechanlage knackte.

»Ja, bitte?« ertönte eine weibliche, taufrische Stimme durch das Rauschen der Anlage.

»Mein Name ist Reischl von der Südlotterie. Spreche ich mit Frau Charlotte Pattis?«

Einen Augenblick war gespannte Stille, doch das war Joseph ohnehin gewohnt. Seit er als Millionärmacher bei der privaten Lotterie arbeitete, versetzte sein Erscheinen die Menschen in atemlose Gespanntheit.

»Ganz recht. Habe ich etwa gewonnen?« rang sich Frau Pattis endlich zu einer Antwort durch.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich diese Angelegenheit gern mit Ihnen persönlich besprechen.«

»Ach ja, natürlich. Einen Augenblick bitte.«

Kurz darauf ertönte ein tiefer Summton, und die schwere Tür ließ sich mit unerwarteter Leichtigkeit aufschieben. Interessiert blickte sich Jost um, während er die Treppe zur Wohnung im dritten Stock hinaufstieg. Schnell war ihm klar, hier wohnten nur betuchte Menschen, die die horrenden Mieten nach erfolgter Sanierung aufbringen konnten. Eine leise Enttäuschung legte sich über seine Vorfreude. Wieviel befriedigender war es doch, einen unerwarteten Geldsegen an einen besorgten Familienvater oder eine alte Dame mit schmaler Rente auszuzahlen statt an Menschen, die ohnehin schon in Saus und Braus lebten. Andererseits konnte er hier ohne Skrupel tätig werden, um auch seine Schäfchen ins trockene zu bringen.

»Guten Morgen, Frau Pattis.« Er war vor der bereits geöffneten Wohnungstür angelangt und hielt Charlotte vorsorglich den Mitarbeiterausweis seines Arbeitgebers hin. »Hier ist mein Ausweis.«

»Befürchten Sie, ich glaube Ihnen nicht?« Charlotte lächelte amüsiert.

»Sie glauben nicht, was für seltsame Dinge mir Tag für Tag bei meiner Arbeit passieren. Daher bin ich immer für Eventualitäten gerüstet.«

»Sehr schön. Aber jetzt kommen Sie doch bitte herein, Herr Reischl.«

Während sich Joseph durch den Flur in das mit kostbaren Möbeln und dicken Teppichen ausstaffierte Wohnzimmer führen ließ, glitt sein Blick an der schlanken Gestalt Charlotte Pattis’ herab. Blitzschnell registrierte er jede Kleinigkeit, das gut sitzende beige Strickensemble, das ihren dunklen Teint und die braunen Haare perfekt betonte, die zierliche Goldkette um ihren Schwanenhals, die Ohrringe, die im Licht blitzten und funkelten. Ohne Zweifel hatte er es hier mit einer vom Leben verwöhnten, attraktiven Frau Anfang Dreißig zu tun. Er verspürte einen ärgerlichen Stich in der Herzgegend, daß er mit seinen achtundfünfzig Jahren wohl keine Chancen mehr bei ihr hatte.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten, eine Tasse Kaffee vielleicht?« unterbrach Charlotte seine Gedankengänge und deutete ihm an, Platz auf einem zierlichen Sesselchen zu nehmen.

»Sie sind sicherlich berufstätig, deshalb möchte ich Sie nicht zu lange aufhalten. Schließlich wird Ihr Arbeitgeber keine Verspätung dulden«, mutmaßte Joseph aufs Geratewohl und erntete dafür ein spöttisches Lachen.

»Lieber Herr Reischl, ich bin in der glücklichen Lage, Inhaberin einer Weinhandlung zu sein. Die besten Sommeliers der Stadt bestellen bei mir ihren Wein.«

»Das Geschäft floriert?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Das freut mich für Sie. Ich bin aber sicher, daß Sie für den Scheck, den ich Ihnen im Namen der Südlotterie überreichen darf, Verwendung haben.« Er öffnete seinen Koffer mit gewichtiger Miene und reichte ihr einen Büttenumschlag. »Herzlichen Glückwunsch. Sie haben den Hauptgewinn gezogen.«

»Geld kann man nie genug haben«, entfuhr es ihr, und in ihren Augen glomm ein gieriger Funke, als sie den Umschlag eine Spur zu hastig in Empfang nahm und aufriß. »Du meine Güte, über eine Million Euro! Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

Einen Moment rang sie um Fassung, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Was für ein hübsches Sümm­chen!«

»Das freut mich um so mehr. Übrigens ist es bei der Südlotterie üblich, ein Foto in der örtlichen Presse und einen kurzen Bericht abzudrucken. Wenn Sie damit einverstanden sind, kommt heute gegen Abend ein Fotograf.«

»Eine bessere Werbung für meine Weinhandlung kann ich mir gar nicht vorstellen.« Charlotte zeigte sich begeistert. »Am besten, ich organisiere einen kleinen Umtrunk mit meinen Stammkunden, um den Gewinn zu feiern. Das macht sich bestimmt gut.«

»Eine gute Idee«, lobte Joseph. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie mit dem Geld machen wollen?«

»Ich kann es noch gar nicht fassen. Nein, wirklich.« Charlotte schüttelte die dunklen Locken. »Zunächst einmal anlegen, denke ich. Sicher ist sicher.«

»Wenn Sie einen Rat brauchen, stehe ich Ihnen gern jederzeit zur Verfügung«, erklärte Joseph. »Ich habe hervorragende Kontakte in jede Richtung.«

»Vielen Dank, ich habe bereits gute Berater.«

»Natürlich, es war nur ein Vorschlag.« Sofort zog sich Jost zurück und lächelte gewinnend. »Trotzdem lasse ich meine Karte hier. Für alle Fälle.«

»Wie Sie wollen. Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Das Geschäft ruft.« Mit einem Mal war Charlotte die Gegenwart des Millionärmachers unangenehm. Täuschte sie sich, oder blitzte in seinen Augen tatsächlich ein verschlagener Ausdruck auf?

Sofort erhob sich Jost, strich seinen Anzug glatt und ließ sich von Charlotte zur Tür bringen. Sein Auftrag war erfüllt, jeder weitere Kontakt zu seinen Kunden Privatsache. Dort lag der nicht ganz legale Schlüssel zu seinem eigenen bescheidenen Wohlstand. Obwohl sie sich um einen abweisenden Gesichtsausdruck bemühte, war er sich sicher, Frau Pattis nicht zum letzten Mal gesehen zu haben.

Mit der Zeitung in der Hand hatte es sich Danny, der älteste Sprößling der Familie Norden, auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht und leistete seiner Mutter Gesellschaft.

»Mensch, soviel Glück möchte ich auch mal haben«, seufzte er.

Fee hob interessiert die Augen von ihrer Näharbeit.

»Wieso, hast du das denn nicht?« erkundigte sie sich verwundert. »Immerhin bist du stolzer Besitzer eines Studienplatzes.«

»Das schon. Aber die ganze Arbeit wäre nicht nötig, wenn ich eine Million im Lotto gewinnen würde. Hör mal zu, was hier steht:

Die Südlotterie gratuliert der glücklichen Gewinnerin Charlotte Pattis. Die Geschäftsfrau und Inhaberin eines gutgehenden Weinhandels feierte ihren Hauptgewinn von über einer Million Euro bei einem Glas Champagner mit ihren Kunden. Herzlichen Glückwunsch!

Ist das nicht eine Gemeinheit, daß die Leute, die eh schon viel haben, noch mehr bekommen und andere leer ausgehen?«

»Tja, so ist das nun mal im Leben«, lächelte Fee verschmitzt. »Was würdest du denn mit soviel Geld anfangen?«

»Hm, gute Frage. Urlaub machen, Segeln gehen und bestimmt keine Zeitungen mehr austragen.«

»Klingt ja nicht sehr aufregend. Und wenn du alles gemacht hast, was dann?«

»Hast ja recht, Mam«, gab Danny zähneknirschend zu. »Ohne Aufgabe wird es auf Dauer bestimmt langweilig.«

»Geld allein macht noch lange nicht glücklich. Denk nur mal daran, wie viele Lottomillionäre ihr Geld ganz schnell wieder losgeworden sind. Allein die vielen falschen Freunde, die dann plötzlich vor der Tür stehen und ein Stück vom Kuchen wollen. Nein danke, da verzichte ich lieber.« Fee schüttelte sich bei diesem Gedanken.

»Diese Frau sieht mir nicht danach aus, als ob sie sich die Kohle wieder abluchsen läßt.« Kritisch beäugte Danny das Foto, das eine strahlende Charlotte Pattis mit einem riesigen Blumenstrauß zeigte. Auch Fee warf einen Blick darauf.

»Stimmt, sie sieht aus wie der Typ eiskalte Geschäftsfrau.«

»Weißt du was, da bist du mir schon lieber. Dafür verzichte ich auf alle Millionen der Welt.« Danny erhob sich und nahm seine Mutter, die er um einen Kopf überragte, in die Arme.

»Du bist der gleiche Schmeichler wie dein Vater«, wehrte sich Fee lachend, um ihre Rührung zu verbergen. »Und jetzt kannst du dich nützlich machen, du fauler Student. Geh und hilf Lenni beim Tischdecken. Gleich kommt Papi nach Hause.«

»Wird gemacht. Aber nur, wenn du den faulen Studenten zurücknimmst. Schließlich kann ich nichts dafür, daß sich das Medizinstudium so langsam anläßt«, widersprach er augenzwinkernd und machte sich dann auf den Weg in die Küche. Fee blickte ihm lächelnd nach. Was für ein glückliches Leben sie doch hatte, umgeben von ihren Kindern, an der Seite ihres lieben Mannes. Und selbst wenn sie manchmal von ein bißchen Luxus träumte, so konnte doch kein Geld der Welt diesen Reichtum aufwiegen.

Auch Fabian Reischl wähnte sich, ein glücklicher Mann zu sein, hätte aber trotzdem gegen einen Geldsegen nichts einzuwenden gehabt. Er bediente gerade einen Kunden in seinem Feinkostgeschäft, als die kleine Glocke an der Tür geschäftig klingelte.

»Hallo, Fabian!« Herein kam sein Vater und hob grüßend die Hand. »Laß dich nicht stören.«

Fabian nickte nur und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit wieder seinem Kunden.

»An was hätten Sie denn gedacht?«

»Nun ja, es sollte ein Geschenk für einen älteren Herrn sein. Ich hätte da an ein paar Flaschen erlesenen Wein gedacht, eine schöne Schachtel Pralinen und ein alter Cognac. Mein Schwiegervater ist ein sehr heikler Mann«, dachte der Kunde laut nach.

»Alles kein Problem. Aber mit dem Wein hapert es im Moment noch«, mußte Fabian eingestehen. »Mein Lieferant hat mich leider im Stich gelassen. Die wirklich guten Sorten treffen erst im Laufe der nächsten Woche ein.«

»Schade, ich hatte so sehr auf ein erlesenes Tröpfchen gehofft. Sie müssen wissen, mein Schwiegervater ist ein ausgesprochener Gourmet.«

»Ich werde sehen, was ich machen kann. Bis wann brauchen Sie das Geschenk?«

Der Kunde nannte das Datum und die Summe, die er ausgeben wollte. Er bezahlte im voraus, nahm die Quittung entgegen und verließ mit einem Gruß das hübsche Geschäft. Fabian seufzte, als er mit seinem Vater allein war.

»Wenn das so weitergeht, spiele ich doch noch Lotto«, erklärte er und schloß die Kasse, um sich den Anblick des spärlichen Inhalts zu ersparen. »Das war der erste Kunde heute. Gerade mal ein paar Monate eröffnet und schon am Rande des Ruins.«

»Na, na, so schlimm wird’s schon nicht sein«, lächelte Jost augenzwinkernd. »Mit dem Geld, das ich dir geliehen habe, kommst du doch eine Weile aus. Oder nicht?«

»Ehrlich gesagt haben Einrichtung und Waren mehr verschlungen, als ich kalkuliert hatte. Und dann auch noch das Malheur mit dem Weinhändler, der mich im Stich gelassen hat. Ein paar Kunden hat mich das auf jeden Fall schon gekostet. Was ist das für ein Feinkostgeschäft, das nicht erlesene Spitzenweine anbieten kann?«

»Wo besorgst du dir denn den guten Tropfen jetzt?«

»Beim Fachhändler, wo sonst?« seufzte Fabian bedrückt. »Ich muß den Endverbraucherpreis zahlen, und dabei geht ein Gutteil meines Gewinns an dem Geschenkkorb wieder flöten.«

»Hauptsache ein zufriedener Kunde, der wiederkommt. Daß es am Anfang nicht leicht werden würde, habe ich dir gesagt. Aber du mußtest ja mal wieder mit dem Kopf durch die Wand.«

»Du wirst es mir nicht verdenken, wenn ich meinen Lebensunterhalt auf anständige Art und Weise verdienen will. Schlimm genug, daß ich auf dein Ganovengeld angewiesen bin.«

»Du solltest stolz darauf sein, so einen gewieften Vater zu haben«, entrüstete sich Joseph und steckte sich eine schokolierte Trockenfrucht in den Mund. »Ohne meinen Nebenverdienst wäre das alles hier nicht möglich gewesen.« Er machte eine ausladende Handbewegung.

»Trotzdem, die Art und Weise, wie du deine Lottogewinner hinters Licht führst, gefällt mir nicht«, beharrte Fabian eigensinnig.

»Nicht alle«, beharrte Joseph eigensinnig. Dann seufzte er. »Ach Junge, diese Korrektheit mußt du von deiner armen Mutter geerbt haben. Ich verstehe dich gar nicht. Alles, was ich tue, ist, das Geld der Leute ordentlich anzulegen…«

»… und dabei eine satte Vermittlungsprovision einzustreichen, die dir gar nicht zusteht«, vollendete Fabian den Satz unbarmherzig. »Das Schlimmste daran ist, daß die Menschen es noch nicht mal bemerken, wie du sie übers Ohr haust. Sonst hätte dich längst einer angezeigt.«

»Das ist ja die Kunst, mein Sohn.« Joseph lächelte verschmitzt. »Aber jetzt muß ich zurück ins Büro. Schließlich will ich diesen lukrativen Job nicht fahrlässig aufs Spiel setzen.«

»O Pa, du bist unverbesserlich.« Fabian schüttelte den Kopf, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen. Solange er denken konnte, zumindest seit dem Tod der Mutter vor vielen Jahren, mogelte sich sein Vater am Rande der Legalität durchs Leben. Zwar hatte er immer eine anständige Arbeit, doch seine Nebenbeschäftigungen waren weitaus lukrativer als das monatliche Gehalt. Als gelernter Buchhalter kannte er alle Kniffe und Tricks, die er weidlich zu seinem Vorteil ausnutzte. Dabei stellte er sich so geschickt an, daß er der Polizei zwar bekannt war, die Beamten ihm aber niemals etwas nachweisen konnten. Fabian zuckte mit den Schultern. Ob er es wollte oder nicht, sein Vater würde sich niemals ändern. »Vielleicht schau ich heute abend mal vorbei.«

»Tu das, mein Sohn.« Nachdenklich strich sich Joseph über den gepflegten Schnauzer. Ihm war eine Idee gekommen. »Sag mal, du hast Probleme mit deinem Weinlieferanten?«

»Ja, das hast du doch mitgekriegt. Warum?«

»Oh, ich hatte da nur so eine Idee. Sagt dir der Name Charlotte Pattis was?«

»Die Pattis?« Fabian stöhnte, während er die Augen verdrehte. »Na klar. Unter den Geschäftsleuten ist sie bekannt wie ein bunter Hund. Genauso eiskalt wie schön, eine knallharte Geschäftsfrau. Wie kommst du auf sie?«

»Handelt Frau Pattis nicht mit Wein?«

»Ach, jetzt weiß ich, worauf du hinaus willst.« Fabians Miene erhellte sich belustigt. »Die beliefert doch einen kleinen Fisch wie mich nicht.«

»Beliefern vielleicht nicht. Aber womöglich hat sie Interesse daran, in dein Geschäft einzusteigen.« Joseph ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Das war die Idee! Immerhin verfügte Frau Pattis jetzt über eine ansehnliche Barschaft. »Ich denke da an eine Teilhaberschaft.«

»Du bist ein Phantast, das habe ich immer gewußt«, lachte Fabian aus vollem Hals. »Wenn sie die Unternehmenszahlen zu Gesicht bekommt, rennt sie schreiend davon.«

»Laß mich nur machen, Fabian«, erklärte Jost geistesabwesend. »Solche Dinge solltest du lieber mir überlassen.«

»Keine krummen Touren, Pa. Mir ist es schon zu heiß, daß dein Geld in diesem Laden steckt. Am Ende bin ich auch noch dran.«

»Willst du, daß dein Geschäft ein Erfolg wird? Dann benehme dich auch so.« Josephs Augen wurden kalt, und einen Augenblick lang erahnte Fabian die dunklen Seiten, die zweifellos in seinem sonst so durch und durch liebenswerten Vater steckten. Doch der Moment zog vorbei wie eine dunkle Wolke, und schon lachte Joseph wieder. »Keine Sorge. Du mußt nur positiv denken, mein Junge. Dann wird alles gut.« Er zwinkerte ihm noch einmal zu, dann nahm er Aktenkoffer und Regenschirm und verschwand in das trübe Herbstgrau.

Ein kalter Lufthauch kam Fabian entgegen, und unvermittelt fröstelte er, allein in seinem Feinkostgeschäft, das er vor einem guten halben Jahr mit viel Liebe eingerichtet hatte. Viele Kunden waren seither ein und aus gegangen, doch dann hatte das Kaufhaus gegenüber eine Feinkostabteilung eingerichtet und ihm nach und nach die Kundschaft abspenstig gemacht. Guter Rat war teuer, und Fabian erkannte, daß er sich wirklich etwas einfallen lassen mußte, wollte er in der harten Geschäftswelt überleben.

Diese Hürde hatte Charlotte Pattis längst und mit Leichtigkeit genommen. In ihrer Weinhandlung summte es immer wie in einem Bienenstock. Die verhaltenen Stimmen und das anerkennende Gemurmel, das durch das eindrucksvolle Kreuzgewölbe hallte, war wie Musik in ihren Ohren. Die Kunden standen an alten Weinfässern, fachsimpelten, während sie edle Tropfen verkosteten, und hatten dabei auch noch die Gelegenheit, ausgefallene Gemälde und Kunstwerke zu bewundern. Nicht zu Unrecht galt sie als eiskalte Geschäftsfrau, doch diese Härte hatte ihr den Weg zu den besten Restaurants der Stadt geebnet, die inzwischen zu ihren Stammkunden zählten.

All diese Details, die er bereits sorgfältig recherchiert hatte, ehe er Charlotte Pattis den Gewinn überbracht hatte, gingen Joseph Reischl durch den Kopf, als er durch die weitläufigen Hallen wanderte und an seinem Plan feilte. Er war kein Mann, der lange fackelte. Statt wie versprochen ins Büro zurückzukehren, packte er den Stier bei den Hörnern.

»Oh, Frau Pattis, ich hatte gar nicht erwartet, Sie hier anzutreffen.« In gespielter Überraschung verbeugte er sich vor Charlotte, die ihm geradewegs in die Arme gelaufen war.

»Herr… ach ja, Reischl, meine Glücksfee«, spottete Charlotte, als sie sich von ihrer Verwirrung erholt hatte. »Sind Sie auf der Suche nach einem guten Tröpfchen? Soll ich eine Verkäuferin kommen lassen?«

»Ich glaube nicht, daß mir eine Ihrer Damen behilflich sein kann. Außerdem sprech ich lieber mit der Chefin persönlich.«

»Darf ich das als Kompliment auffassen?«

»Wie Sie wollen. Wo können wir ungestört reden?« Jost sah sich forschend um. Für seinen Geschmack konnten zu viele ungebetene Gäste seinen Worten lauschen.

Charlotte Pattis musterte ihr Gegenüber einen Augenblick skeptisch, doch dann siegte ihre Neugier.

»Also gut, hier entlang. Aber ich warne Sie, meine Zeit ist teuer.«

»Sie werden zufrieden sein.« Joseph lächelte verschmitzt, und zum zweiten Mal innerhalb einer Woche folgte er der erfolgverwöhnten Geschäftsfrau. Diesmal fragte sie ihn nicht nach seinen Wünschen, bot ihm keinen Kaffee an und kam gleich zur Sache.

»Wenn Sie hier sind, um meine Million zu verschleudern, können wir uns dieses Gespräch sparen«, herrschte sie ihn ungnädig an, als sie Joseph gegenüber Platz genommen hatte.

»Von Verschleudern kann keine Rede sein. Ich habe Ihnen einen höchst seriösen Vorschlag zu machen. Gewinnträchtig…«

»Um was geht es?« Charlottes Jagdfieber war geweckt.

»Kennen Sie den kleinen Feinkostladen in der Fußgängerzone?«

»Gegenüber dem Kaufhaus? Ja, der ist mir schon aufgefallen. Phantasievolle Auslagen, gute Ware. Diese Qualität findet man heute nicht mehr allzu häufig.« Frau Pattis nickte anerkennend, fair war sie.

»Freut mich, das zu hören. Ich suche nämlich einen Teilhaber für das Geschäft.«

»Es gehört Ihnen?«

Joseph lächelte siegessicher. Er hatte den ersten Punkt gemacht. Es war ihm gelungen, Frau Pattis zu überraschen.

»Nicht direkt. Mein Sohn betreibt es. Ein sehr geschickter junger Kaufmann. Das Geschäft blüht.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Seit das Kaufhaus Feinkost führt, kaufen die Leute doch sicher da.«

»Da irren Sie sich gewaltig, die Umsätze sind sehr ansehnlich.«

»Warum will Ihr Sohn dann einen Teilhaber?« Charlotte wurde mißtrauisch.

»Ja, sehen Sie, er hat Pech mit dem Weinlieferanten. Immer kommt die Ware zu spät, ist mal zuviel und mal zu wenig, die Qualität mitunter nicht das, was man von einem Feinkostladen erwartet.«

»Und da dachten Sie, ich könnte das Sortiment mit meinem Wein attraktiver gestalten«, führte sie seinen Gedanken laut fort. Dabei ging ihr Blick an Joseph vorbei ins Leere, und zu seinem Vergnügen bemerkte er, wie schnell der Fisch angebissen hatte.

Charlotte kalkulierte bereits. »Wie groß ist denn der Laden?«

»Gut und gern achtzig Quadratmeter, angefüllt mit dem Feinsten, was Europa zu bieten hat. Und vergessen Sie nicht diese Lage. Einmalig.«

»Doch so groß? Von außen wirkt er viel kleiner.«

»Das liegt an der aufgeteilten Schaufensterfläche. Aber kommen Sie doch mal vorbei und sehen sich unverbindlich um. Ich werde inzwischen mit weiteren Interessenten sprechen«, bluffte Jost gekonnt.

»Das ist vielleicht nicht nötig.« Frau Pattis fiel auf seine Falle herein. »Heute nachmittag kann ich mich bestimmt ein Stündchen freimachen.« Ein Geschäft mitten in der Fußgängerzone, zentral gelegen, der ideale Ort, um erlesene Weine unter das gewöhnliche Volk zu bringen. Denn obschon Charlotte sehr gute Geschäfte mit den Restaurants machte, fehlte ihr die Laufkundschaft, die sich selten in das in einem ruhigen Hinterhof gelegene Gewölbe verirrte. Was für eine Chance wurde ihr da geboten. Die Sterne schienen gut zu stehen, zuerst der Gewinn und dann dieses sagenhafte Angebot. Alles schien sich zur rechten Zeit am rechten Ort abzuspielen. Doch Charlotte Pattis wäre keine gute Geschäftsfrau gewesen, wenn sie sich nicht ein gutes Stück Mißtrauen bewahrt hätte. Sie musterte Joseph Reischl argwöhnisch, der wortlos vor ihrem Schreibtisch saß. »Ihre Karte habe ich ja zu Hause. Wenn mir das Geschäft zusagt, melde ich mich wegen der Details. Bitte bereiten Sie schon mal die Unterlagen vor, Umsatzlisten, Gewinn- und Verlustrechnungen, Bilanzen. Eben alles, was sich so im Laufe der Zeit angesammelt hat, damit sich mein Wirtschaftsprüfer ein Bild von der Lage machen kann.«

»Ich erwarte Ihren Anruf.« Ohne auf ihre Aufforderung einzugehen, erhob sich Joseph mit einem feinen Lächeln. Er deutete eine Verbeugung an, ehe er Frau Pattis mit ihren Gedanken und Plänen allein zurückließ.

*

Von solchen knallharten Geschäften hatte die junge Krankenschwester Johanna Rehwald keine Ahnung. Ihr erschien München wie das Paradies, verlockend schön, aber ebenso unerreichbar dank der Sturheit ihrer Eltern.

»Hanna, jetzt sei doch nicht so bockig.« Das war die flehende Stimme ihrer Mutter, die an der verschlossenen Tür rüttelte. »Laß uns noch mal darüber reden.«

»Ich wüßte nicht, was es da noch zu reden gibt«, gab Johanna patzig zurück. »Ich gehe nach München in die Behnisch-Klinik. Aus, basta, Schluß!«

»Kannst du die Bedenken von Papa nicht verstehen?«

»Mama, ich bin zwanzig Jahre alt und kein Kind mehr. Wenn ihr glaubt, ich habe Lust, in diesem Nest zu versauern, dann täuscht ihr euch.«

»Aber Kind, wir haben doch immer nur dein Bestes gewollt.«

»Woher wollt ihr wissen, was gut für mich ist? Ich weiß es ja selbst nicht mal. In diesem Kaff kann man ja keine Erfahrungen sammeln.« Verbittert trommelte Johanna mit der Faust auf ihre geblümte Tagesdecke ein, und ihre Mutter gab seufzend auf.

Johanna konnte hören, wie sie die knarrende Holztreppe im Haus langsam hinunterstieg. Kurz darauf klapperten Töpfe in der Küche, Wasser rauschte. Margarethe Rehwald begann, das Abendessen für Mann und Tochter vorzubereiten, während Johanna im Geiste Abschied von dem Zuhause ihrer Kindheit nahm. Seit sie denken konnte, wohnte sie in dem putzigen, kleinen Haus am Rand des Tausend-Seelen-Dorfes mitten auf dem Land, kilometerweit von der nächsten Stadt und noch weiter von München entfernt.

Hügelige Wiesen und weite Felder umgaben das Dorf, dessen Mitte ein spitzer Kirchturm zierte. Auch das Haus der Familie Rehwald war von einer großen Wiese gesäumt, wilde Rosen schmückten den Garten. Obstbäume gaben dem Bild einen romantischen Anstrich.

Viele Jahre hatte Johanna ihre

idyllische Heimat über alles geliebt, doch je älter sie wurde, um so beengter fühlte sie sich zwischen Mutter und Vater und deren einfachen Vorstellungen. Nach Freiheit und Anonymität sehnte sie sich, die sie auch als Krankenschwester in der kleinen Klinik im Nachbarort nicht fand. Deshalb hatte sie nicht lange gefackelt, als sie zufällig in einer überregionalen Tageszeitung, die ein Patient weggeworfen hatte, eine Anzeige der Behnisch-Klinik in München gesehen hatte. Dort wurden erfahrene, freundliche Krankenschwestern für alle möglichen Bereiche gesucht. Noch am selben Abend hatte Johanna ihre Bewerbung mit Foto weggeschickt. Heimlich natürlich, denn ihre Eltern waren der Ansicht, ein junges, unverdorbenes Mädchen hätte in einer verruchten Großstadt wie München nichts verloren. In den schönsten Farben malte sie sich ihre Zukunft aus, weg aus dem Provinzkrankenhaus, hinein in das bunte Leben einer Privatklinik, die sie vom Vorstellungsgespräch kannte, zu dem sie bald darauf gebeten worden war. Ihr Jubel war grenzenlos gewesen, als sie die Zusage für eine der begehrten Stellen bekam.

Aber als sie ihren Eltern das Schreiben beim Mittagessen vorgelegt hatte, folgte die große Ernüchterung. Seitdem saß Johanna in ihrem Zimmer und schmollte, während Grete ihren schimpfenden Mann zu beruhigen versuchte. Dann war August Rehwald in seinen kleinen Lebensmittelladen zurückgekehrt. Stille breitete sich im Haus aus, die sich jetzt durch Margarethes geschäftiges Treiben in der Küche belebte.

Das war die Gelegenheit für Johanna. In plötzlicher Entschlossenheit stand sie auf, holte ihre Reisetasche aus dem Schrank und leerte ihre Kindheit mit einem Schwung aufs Bett. Kleine Püppchen, Glasmurmeln, Perlen und allerlei anderer Krimskrams kam zum Vorschein, Relikte einer glücklichen Zeit, die ein für allemal ein Ende gefunden hatte. Nur kurz mußte Johanna schlucken, dann machte sie sich an die Arbeit. Hosen, Pullover und Wäsche kamen in die Reisetasche, ebenso ihr bescheidener Vorrat an Kosmetika. Schuhe, ein paar Bücher, das Notizbuch und der abgeschabte Teddybär, dann war alles verstaut. Mit einem Ruck zog Johanna den Reißverschluß zu, steckte ihre Ersparnisse in die Hosentasche und sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, ehe sie leise die Tür öffnete und lauschte.

»Wo ist denn die Hanna?« Die tiefe Stimme ihres Vaters, der inzwischen aus dem Geschäft gekommen war, klang durch den Flur.

»Oben in ihrem Zimmer.«

»Bockt sie noch immer?«

»Kennst sie doch, deine Tochter«, entgegnete Margarethe lakonisch. »Sie sieht’s halt nicht ein, daß sie dableiben soll.«

»München ist zu gefährlich. Da laß ich nicht mit mir reden. Dann soll sie halt weiter bocken.« Nachdenklich zerteilte August die Kartoffeln auf seinem Teller, auf die Grete dicke Bratensoße löffelte. Er bemerkte nicht die Augen, die ihn heimlich dabei durch den Türspalt beobachteten, und auch Margarethe nahm ihre Tochter nicht wahr. Erst das leise Klappen der Haustür ließ sie aufhorchen.

»Was war denn das?« fragte sie und spähte durchs Fenster hinaus in den düsteren, nebligen Abend. Nichts war zu sehen, nur der Wind trieb die Blätter von den Bäumen. »Vielleicht ein Ast, der an der Tür schabt.«

»Ich hab’ nix gehört.«

»Dann hab’ ich mich wohl getäuscht.« Schulterzuckend ließ sich Grete auf der Bank neben ihrem Mann nieder und löffelte stumm ihr Abendessen, nachdem sie das Tischgebet gesprochen hatte.

Johanna wanderte unterdessen die dunkle Straße entlang zur Bushaltestelle. Die Wehmut war verflogen, und sie freute sich auf das Leben, das vor ihr lag. Ein spannendes, aufregendes Leben sollte es sein. Nur weg aus dem langweiligen Dorf.

Auch Fabian Reischl war an diesem späten Nachmittag zu der Ansicht gelangt, daß sein Leben eine Spur zu ereignislos war. Zumindest sein Geschäftsleben zog sich lähmend in die Länge, ohne daß auch nur ein Kunde den Laden betrat. Hin und wieder blieb ein Passant vor der geschmackvollen Auslage stehen und betrachtete die zart gemusterten Blechdosen mit Veilchenpastillen aus Frankreich, das eingelegte Gemüse aus Italien, die spanischen Oliven und den korsischen Schinken. Dem einen oder anderen lief dabei wohl auch das Wasser im Mund zusammen, das konnte Fabian an den leuchtenden Augen deutlich erkennen. Doch jeder widerstand an diesem Nachmittag der Versuchung. So beschäftigte sich Fabian damit, Warenlisten zu überprüfen, Dosen mit Wachteleiern und anderen Leckereien in die Regale zu räumen und mit dem Staubtuch über die honigfarbenen Holzregale und Kästchen zu wischen. Schließlich war alles getan und frustriert blickte er sich in seinem schönen Laden um. Was war das geschmackvollste Geschäft wert, wenn es keine Beachtung fand? Als sich Fabian schon dazu durchgerungen hatte, den Tag zu beenden und vor der Zeit abzuschließen, erschien wie aus dem Nichts eine Passantin aus der undurchdringlichen Dunkelheit und blieb vor dem beleuchteten Schaufenster stehen. Fabian zögerte einen Augenblick, ehe er zum Angriff überging, um wenigstens noch einen Kunden zu haben.

Entschlossen riß er die Ladentür auf, das kleine Glöckchen bimmelte aufgeregt.

»Wollen Sie nicht hereinkommen und sich hier drinnen umsehen? Schauen kostet nichts und ist wärmer.«

»Gern, vielen Dank.« Charlotte Pattis hob ihre braunen Augen und betrachtete ihr Gegenüber interessiert. »Sind Sie ein Verkäufer?«

»Mitnichten«, wehrte sich Fabian gekränkt. »Sie sprechen mit dem Inhaber persönlich.«

»Das trifft sich gut. Mein Name ist Pattis, Charlotte Pattis. Sie haben sicher schon von mir gehört.«

Fabian, der noch nichts von dem Besuch seines Vaters bei Frau Pattis wußte, riß die Augen weit auf.

»Ja, natürlich. Wer kennt Sie nicht?«

»Sehr schön. Dann kann ich ja gleich zur Sache kommen.« Während sie sprach, wanderte sie im Laden umher und ließ den Blick abschätzend über die Regalwände und Schränke gleiten. »Wie Sie sicher wissen, war Ihr Vater heute nachmittag bei mir. Er hat mir eine Teilhaberschaft angeboten.«

Vor Schreck verschluckte sich Fabian. Er hustete heftig, und es dauerte seine Zeit, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Entschuldigung, die Jahreszeit. Eine kleine Erkältung«, stammelte er verlegen. »Ja, ja, mein Vater sprach davon, Anteile verkaufen zu wollen. Dabei erwähnte er auch Ihren Namen.« Wenigstens erinnerte er sich an die Verhandlungskniffe, die ihm Jost beigebracht hatte.

»Gibt es viele Interessenten?« fragte Charlotte beiläufig. Sie hatte ihre Runde beendet und warf Fabian einen interessierten Blick zu. Er gefiel ihr sichtlich, der unverdorbene junge Mann mit dem offenen Gesicht. Fabian Reischl war so ganz anders als die aufgeblasenen, eingebildeten Weinkenner, mit denen sie es immer zu tun hatte. »Und warum wollen Sie überhaupt verkaufen, wenn das Geschäft so gut geht?«

»Taktik. Wir brauchen einen verläßlichen Weinhändler.«

»Dazu müßten Sie keine Anteile verkaufen, um den zu bekommen.«

»Ich habe meine Erfahrungen in der Branche gemacht und möchte einfach auf Nummer Sicher gehen«, erklärte Fabian vielsagend. Die Schule seines Vaters machte sich bemerkbar, er ließ sich nicht beeindrucken, auch wenn ihn die schöne kühle Charlotte nicht aus den Augen ließ. Fabian konnte nicht ahnen, daß ihr Interesse an ihm nicht nur geschäftlicher Natur war.

»Hm, ich verstehe.« Sie drehte sich um die eigene Achse, wohl wissend, wie sich ihr lockiges Haar dabei schmeichelnd um ihre Schultern legte. »Wirklich, ein sehr hübsches Geschäft. Falls ich tatsächlich einsteige, müßten allerdings einige Veränderungen vorgenommen werden. Sie müßten Weinregale aufstellen, kleine Stehtische, am besten mit Marmorplatte, das sieht sehr edel aus.«

»Aber da müßte ich mein eigenes Sortiment ja um die Hälfte kürzen«, entfuhr es Fabian.

Charlotte bedachte ihn mit einem stechenden Blick.

»Herr Reischl, Sie sollten sich schon überlegen, was Sie wollen«, erklärte sie mit samtweicher Stimme, die ihm eine Gänsehaut verursachte. »Wenn wir eine Partnerschaft anstreben, müssen wir uns hundertprozentig einig sein. Und das sage ich nicht nur so, das meine ich auch.«

»Ja, ja, natürlich«, beeilte sich Fabian zu versichern, der sich seiner Verhandlungspartnerin unterlegen fühlte. Um sie seine Verunsicherung nicht spüren zu lassen, drängte er auf ein Ende des Gesprächs. »Am besten, wir vereinbaren einen Termin gemeinsam mit meinem Vater. Dann können wir die Modalitäten klären.«

»Sämtliche Geschäftsunterlagen habe ich bereits angefordert. Selbstverständlich werde ich die von meinem Wirtschaftsprüfer genau unter die Lupe nehmen lassen. Ein Risiko kann ich mir nicht leisten.«

Fabian schluckte hart, ließ sich aber nichts anmerken.

»Sie werden zufrieden sein.«

»Das scheint eine Floskel Ihrer Familie zu sein«, amüsierte sich Charlotte. Diesen Satz habe ich von Ihrem Vater heute auch schon gehört. Sehr attraktiver Mann übrigens. Aber leider zu alt für mich. Da gefällt mir der Sohn schon besser«, bemerkte sie mit einem koketten Lächeln. »Auf Wiedersehen, Herr Reischl. Oder darf ich Fabian sagen? Ein sehr hübscher Name.« Sie hatte das kleine Messingschild an der Tür entdeckt, auf dem in geschwungenen Lettern der Name des Inhabers geschrieben stand.

»Wie Sie wollen«, erklärte Fabian großzügig, nur froh, Charlotte Pattis verabschieden zu können. Galant hauchte er ihr einen Kuß auf die Hand, und dann verschwand sie in der nebligen Dunkelheit so abrupt sie daraus erschienen war. Ein Windstoß fuhr Fabian durchs Haar, und schnell schloß er die Ladentür.

*

Der stürmische Herbstwind wirbelte auch in den Münchner Vororten die Blätter durcheinander. Es war ein ungemütlicher Abend, und Daniel Norden war froh, die Tür hinter sich schließen zu können.

»Puh, was für ein Wetter«, seufzte er und rieb sich die kalten Hände.

»Ach was, ich find’s schön!« Mit einem Juchzer stürzte seine kleine Tochter Désiree auf ihn zu und warf sich in seine Arme. »Wir sollen für die Schule Kastanien sammeln und Blätter, und dann basteln wir lustige Tiere«, plapperte sie unbekümmert weiter. Sie war die erste, die die Ankunft des geliebten Papis bemerkt hatte und nutzte die Gunst der Stunde. Daniel strich ihr belustigt über das seidenweiche Haar.

»Ich freue mich, wenn es dir in der Schule gefällt. Ist deine Lehrerin auch nett zu dir?«

»Die ist ganz lieb. Stell dir vor, sie hat heute ein lachendes Gesicht mit Haaren unter mein Schreibblatt gemalt.«

»Ein lachendes Gesicht mit Haaren?«

»Ach, Papi, du verstehst überhaupt nichts.« Dési setzte eine wichtige Miene auf. »Also, ein lustiger Stempel ist ganz gut. Wenn die Lehrerin ein lachendes Gesicht unter die Aufgabe malt, ist das noch besser. Aber wenn das Gesicht auch noch Haare hat…«

»Das ist wie eine Eins mit Stern, oder?«

Daniel mußte ein belustigtes Lachen unterdrücken, um seine kleine Tochter nicht zu kränken.

»Sehr gut, du hast es kapiert.«

»Was hat Papi kapiert?« In diesem Moment kam auch Jan, der zweite Erstklässler der Familie Norden, aus der Küche und begrüßte seinen Papi.

Dési verdrehte inzwischen die Augen.

»Das geht dich gar nichts an. Ich habe keine Lust, alles zweimal zu erklären.«

»Mädchen sind Zicken, findest du nicht, Papi?« wandte sich Jan hilfesuchend an Daniel. Der warf Fee, die der zweiten Tochter der Familie, Anneka, bei den Hausaufgaben geholfen hatte und gerade die Treppe herunterkam, einen verzweifelten Blick zu. Wie sollte er sich jetzt diplomatisch aus der Affäre ziehen?

»Wenn ich mich recht erinnere, haben wir es hier mit einer ganz normalen Familie und nicht mit einem Bauernhof zu tun«, erklärte Fee lächelnd und bereitete der Diskussion damit ein Ende. Sie schloß ihren Mann in die Arme und begrüßte ihn mit einem zärtlichen Kuß. »Du Ärmster, du bist ja immer noch ganz kalt.«

»Draußen ist ein ganz schöner Wind. Der Herbst hat schneller Einzug gehalten, als wir es nach diesem schönen Sommer erwartet haben.«

»Dafür ist es hier drinnen um so gemütlicher. Komm mit ins Wohnzimmer, ich habe ein Feuer im Kamin gemacht. Du kannst dort essen, wenn du willst.«

»Eine herrliche Vorstellung.« Zufrieden folgte Daniel seiner Frau in den wohlig warmen Raum, in dem ein lustiges Feuer knisterte und eine heimelige Atmosphäre verbreitete. Die Zwillinge waren unterdessen in die Küche gestürmt und stritten sich darum, wer dem Papi das Abendessen servieren durfte. Doch die gute Lenni fackelte nicht lange, drückte Jan Glas und Serviette und Dési das Besteck in die Hand und trug die Mahlzeit höchstpersönlich auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Daniel bedankte sich überschwenglich ob dieser Fürsorge und widmete sich dann seinem Abendessen.

»Übrigens habe ich heute einen Anruf von Kitty Sassen bekommen«, erzählte Fee, nachdem ihr Mann sich ausgiebig gestärkt und von seinem Arbeitstag erzählt hatte. »Sie möchten uns gern einladen. Martin feiert einen runden Geburtstag.«

»Der gute alte Martin!« Daniel seufzte bei dem Gedanken an seinen Freund, den Anwalt Martin Sassen, der ihm schon manches Mal geholfen hatte, wenn es darum ging, rechtliche Dinge zu regeln. »Die Zeit geht auch an ihm nicht spurlos vorüber.«

»Das finde ich nur gerecht«, lachte Fee vergnügt. »Aber das Philosophieren sollten wir auf später verlegen. Ich wollte eigentlich ein paar praktische Dinge mit dir besprechen. Zum Beispiel, was wir ihm zum Geburtstag schenken könnten.«

»Was hältst du denn von einem Buch oder einem schönen Flaschenverschluß?« machte Daniel einen halbherzigen Vorschlag. Als er die zweifelnde Miene seiner Frau sah, grinste er breit. »Ach, Feelein, du weißt doch, wie ungeschickt ich in solchen Dingen bin. Das überlasse ich lieber deinem weiblichen Instinkt. Du wirst schon etwas Passendes finden.«

»Du Schmeichler! Wenn es ernst wird, ziehst du dich immer mit Komplimenten aus der Affäre. Aber ich habe tatsächlich schon eine Idee. Was hältst du von einem schönen Geschenkkorb?«

»Ich weiß nicht recht, Kekse, Kaffee, Sekt. Ist das nicht langweilig?«

»Doch nicht so gewöhnlich. Ich habe neulich in der Innenstadt einen Feinkostladen entdeckt, der eine sehr ansprechende Auslage hat, Delikatessen aus ganz Europa. Vielleicht schaue ich da mal rein und sehe mich um.«

»Das klingt schon besser.« Daniel ließ sich gern überzeugen. »Eine gute Idee übrigens, Feinkost aus ganz Europa anzubieten.«

»Finde ich auch. Allerdings liegt direkt gegenüber ein großes Kaufhaus, das die Idee sofort geklaut hat.«

»So eine Schande. Ich bin dafür, daß du in diesen Laden gehst. Schließlich müssen auch die Kleinen eine Chance haben.«

»Für meinen Geschmack sind die großen Kaufhäuser auch zu unpersönlich. Ich lasse mich lieber beraten, statt mir alles mühsam selbst herauszusuchen.«

»Die Warenvielfalt nicht zu vergessen«, gab Daniel zu bedenken. »Wir können uns doch gar nicht mehr entscheiden, wenn es keine bunte Auswahl an Geschäften und Läden mehr gibt. Dann sind wir einzig und allein auf die Angebote der Kaufhäuser angewiesen und müssen uns diesem Diktat beugen. Das will ich nicht.«

»Dann ist es also beschlossene Sache«, beendete Fee die Diskussion, da es Zeit wurde, die Zwillinge ins Bett zu bringen. »In den nächsten Tagen fahre ich in die Stadt und mache mich mal schlau.«

»Einverstanden, mein Schatz. Du bist die Beste.«

Er warf ihr einen Handkuß zu und erhob sich aus seinem Sessel, um ein Scheit Holz nachzulegen. Dann brachte er das Tablett mit dem Geschirr in die Küche zu Lenni, die dort immer noch werkte und das Essen für den kommenden Tag vorbereitete. Er lobte den köstlichen Duft, der den Töpfen entstieg, und machte sich mit einem wohligen Seufzer auf den Weg nach oben, um seinen Kindern gute Nacht zu sagen. Er konnte wahrlich mehr als zufrieden mit seinem Leben sein.

*

Diese Ansicht konnte Fabian Reischl ganz und gar nicht teilen. Er saß am Küchentisch in der kleinen Wohnung seines Vaters, den Kopf in die Hände gestützt und die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Das hättest du niemals tun dürfen, Pa«, tadelte er Joseph, der ihm mit einem amüsierten Lächeln gegenübersaß.

»Kein Mut zum Risiko«, höhnte der gutmütig. »Du hättest Müllfahrer werden sollen. Ein krisensicherer Job.«

»Zumindest besser als das, was da jetzt auf mich zukommt. Außerdem scheint mir, als hätte die gute Charlotte Pattis ein Auge auf mich geworfen.«

»Du bist ein echter Glückspilz. Etwas Besseres hätte dir gar nicht passieren können.«

»Ich weiß nicht recht«, zweifelte Fabian besorgt. »Irgendwie ist sie mir zu mondän, zu karrierebesessen. Ihrer Gefühle könnte ich mir nie sicher sein.«

»Woran du nur immer denkst, statt die Gelegenheit einfach beim Schopf zu packen. So eine Frau findest du nie wieder. Und wenn es für das Geschäft gut ist…«

Familie Dr. Norden 734 – Arztroman

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