Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 30
ОглавлениеDas kleine Mädchen stand am Fenster, hatte das Kinn in eine Hand gestützt und schaute ernst und ein wenig traurig in den trüben Tag hinaus.
»Sibylle!«
»Hm.« Das Kind mit den großen verträumten Augen wandte den Kopf nicht, als die rundliche Haushälterin das Zimmer betrat.
»Tante Anita hat geschrieben, Sibylle. Es ist ein langer Brief mit einer schönen bunten Marke aus dem Ausland.«
»Was schreibt sie denn, Barb?« Sibylle schien nicht besonders daran interessiert, den Inhalt des Briefes zu erfahren.
Barbara, seit mehr als dreißig Jahren unumschränkte Herrscherin in der großen, ein wenig altmodischen Villa der Familie Germersheim, unterdrückte einen Seufzer. »Das will ich gerade mit dir besprechen, Billchen.«
Langsam wandte sich Sibylle Germersheim um und schaute Barb müde an. »Ist es wichtig?«
»Ich finde ja. Es gefällt Tante Anita nämlich so gut auf der großen Reise, dass sie länger fortbleiben will.«
»Das ist mir egal«, warf Sibylle hin. »Wenn sie nicht da ist, kann ich wenigstens machen, was ich will.«
»Deine Tante hat dich lieb und meint es gut mit dir, Billchen«, versuchte Barbara zu begütigen. Doch es klang nicht überzeugend.
Dass Sibylle der Haushälterin keinen Glauben schenkte, konnte man von ihrem Gesicht ablesen.
»Hör mal zu«, fuhr Barb mit erzwungener Munterkeit fort. »Hier schreibt sie: Ich möchte verhindern, dass Sibylle dadurch einen Nachteil hat.«
»Wodurch denn?«, schaltete das Kind unwillig ein.
Barbara räusperte sich. »Nun, dadurch, dass Tante Anita so lange fort bleibt. Du bist ganz allein hier …«
»Du bist ja bei mir, Barb.«
»Ich kann mich nicht viel um dich kümmern, Billchen. Deshalb hat Tante Anita gedacht, dass du eine Zeitlang in ein Kinderheim gehen sollst.«
Endlich war es heraus. Die arme Barbara hatte sich schon seit einer halben Stunde damit herumgequält. Den wahren Grund für diesen völlig überraschenden Entschluss Anita Germersheims durfte Sibylle allerdings unter keinen Umständen erfahren.
»Ein Kinderheim?«, wiederholte die Kleine erschrocken. »Was soll ich denn dort?«
»Sicher ist es ein sehr schönes Heim. Es heißt Sophienlust. Tante Anita hat die Adresse früher mal von einer Bekannten bekommen. Damals hatte sie auch schon daran gedacht, dich dort unterzubringen.«
»Warum denn?«, fragte Sibylle mit krauser Stirn.
»Ich weiß nicht recht. Sie dachte wohl, dass du mit anderen Kindern zusammenkommen solltest.« Barb wusste genau, dass die Überlegungen von Billchens Tante in Wirklichkeit gänzlich anderer Art gewesen waren. »Jedenfalls hat sie schon an die Dame geschrieben, die das Heim leitet. Ich soll mich telefonisch mit ihr in Verbindung setzen und dich möglichst noch in dieser Woche hinbringen.«
Sibylle wurde blass. »So schnell?« Ihr Stimmchen schwankte. »Müssen wir, Barb?«, fügte sie unsicher und bettelnd hinzu.
Barbara drückte das einsame Kind mütterlich an sich. »Tante Anita ist dein Vormund, Billchen. Sie hat über dich zu bestimmen.«
»Komisch, dass ihr das ausgerechnet auf der Reise eingefallen ist«, meinte Sibylle betrübt.
»Vielleicht hat sie unterwegs über dich nachgedacht, Billchen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es dir in dem Kinderheim gefallen wird.« Die Haushälterin bemühte sich, ihre Worte fröhlich und zuversichtlich klingen zu lassen. Sibylle sollte nicht merken, dass ihr das Herz blutete.
»Tante Anita mag mich nicht«, erklärte Sibylle leise. »Das weißt du genauso wie ich. Deshalb schickt sie mich fort. Aber es ist mir ganz egal.« Die großen Augen füllten sich mit Tränen, die das Kind Lügen straften.
»Sie meint es gut«, widersprach Barbara, weil sie das für ihre Pflicht hielt. »Soll ich dir vorlesen, was sie noch geschrieben hat?«
»Nein, ich will’s gar nicht hören.«
»Ich kann es dir auch erzählen. Du bekommst neue Sachen für das Kinderheim. Ich werde mich erkundigen, was man braucht. Das Heim ist auf dem Lande.«
»In einem Dorf? Das finde ich langweilig. Wie wird es denn mit der Schule? Wenn die Ferien vorbei sind, muss ich wieder hier sein.«
»Ich glaube, es gibt dort eine Schule«, äußerte Barbara vorsichtig, denn in Anitas Brief stand unmissverständlich, dass sie Sibylle in der hiesigen Schule abmelden solle, damit sie die für das Kinderheim Sophienlust zuständige Schule besuchen könne.
Sibylle schob die Unterlippe vor. »Ich mag nicht, Barb«, stieß sie hervor. »Aber ich weiß schon, dass ich trotzdem fort muss. Es wird bei uns immer das gemacht, was Tante Anita bestimmt.«
Die Haushälterin strich über das glatt gescheitelte halblange Haar des Kindes. »Ich werde jetzt bei der Auskunft anrufen, um die Telefonnummer von Sophienlust zu erfahren. Dann sehen wir weiter.«
»Vielleicht haben sie gar kein Telefon, wenn’s nur ein Dorf ist«, äußerte Sibylle hoffnungsvoll.
»Ich glaube doch, Billchen. Außerdem könnte man sonst einen Brief schreiben.«
Das kleine Mädchen wandte sich wieder dem Fenster zu. Es stützte das Kinn in die Hand und schaute so ernst zum Fenster hinaus wie zuvor. Sibylle Germersheim hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, sich dem Willen ihrer Tante unterzuordnen, dass sie gar nicht erst auf den Gedanken kam, sich gegen diese neueste Entscheidung aufzulehnen.
Barbara verließ das große Zimmer und begab sich an den Schreibtisch der Hausherrin, um zu telefonieren. Anitas Schreibtisch war ein wertvolles, antikes Stück und stand in einem im selben Stil eingerichteten Raum, von dessen Wänden einige Vorfahren der Familie, in Öl gemalt und in schwere Goldrahmen eingefasst, steif und vornehm herabblickten.
Steif und vornehm gab sich auch die dreißigjährige Anita Germersheim. Seit dem Tod ihrer Schwester Carola hatte sie mit Barbara und dem Kind sehr zurückgezogen in der riesigen Villa gelebt. Doch in diesem Jahr hatte sie sich ganz plötzlich entschlossen, eine Weltreise zu unternehmen. Nun schien dieser Entschluss für sie zum Schicksal geworden zu sein.
Die Haushälterin las den Brief noch einmal durch.
Liebe Barbara,
diese Zeilen schreibe ich mitten in der Nacht in meinem schönen Hotelzimmer. Draußen ist es warm, und vom Himmel funkeln südliche Sterne. Ich hätte nie gedacht, dass die Welt so wunderbar ist. Jetzt erst weiß ich, was ich in den vergangenen sechs Jahren versäumt habe. Es war ein großer Fehler, dass ich Carolas Tochter im Haus behielt und dadurch praktisch von allen gesellschaftlichen Ereignissen in unserer Stadt abgeschnitten war.
Du hast mich immer verstanden, Barb. Deshalb schreibe ich Dir ganz offen, dass ich auf dem Schiff einen Mann kennengelernt habe, der mir alles bedeutet. Frederik liebt mich, und ich liebe ihn. Wir wollen heiraten. Auf dieses große Glück hatte ich eigentlich schon verzichtet. Wie töricht und leichtfertig von mir! Durch das Kind ist mir alles verschlossen geblieben. Jetzt werde ich endgültig einen Strich unter die Vergangenheit setzen, an der ich wahrhaftig keine Schuld trage. Doch ich möchte verhindern, dass Sibylle einen Nachteil davon hat. Sie soll eine gute Erziehung genießen. Deshalb bin ich fest entschlossen, sie sofort in das Heim zu geben, das mir damals bei Carolas Tod empfohlen wurde. Glücklicherweise habe ich mein Adressenheft bei mir. Der Brief an Frau von Schoenecker, die Sophienlust leitet, ist schon fertig und geht mit der gleichen Post wie dieser Brief an Dich auf die Reise nach Deutschland. Erkundige Dich nach der Telefonnummer und setze Dich mit der Dame in Verbindung. Ich gebe Dir völlig freie Hand und bitte Dich, eine entsprechende Ausstattung für Sibylle einzukaufen. Melde das Kind auch in der Schule ab. Ich füge eine entsprechende Vollmacht bei. Sibylle soll vom Kinderheim aus die Schule besuchen. Ich will, dass Carolas Kind endgültig aus meinem Leben verschwindet. Frederik darf nichts von Sibylles Existenz erfahren. Er erblickt in mir ein Mädchen aus guter Familie mit einwandfreier Vergangenheit. Das bin ich ja auch. Was Carola getan hat, geht mich nichts an. Sibylle wird kein Unrecht geschehen, denn sie verfügt über ihr mütterliches Erbe und kann später jeden Beruf erlernen, den sie sich wünscht.
Auf Deine Verschwiegenheit, liebe alte Barb, kann ich rechnen. Da brauche ich gar nicht erst zu fragen. Du wirst mich verstehen, sobald Du Frederik kennenlernen wirst. Habe ich nicht auch ein Recht auf Glück und Liebe wie jeder andere Mensch?
Ich werde meinen Aufenthalt hier auf den Bahamas um eine oder zwei Wochen verlängern. Das gibt Dir genügend Zeit, Sibylle auszustatten und in das Heim zu bringen. Ich hoffe nur, dass ein Platz verfügbar ist. Eine Absage von Frau von Schoenecker würde mich in Schwierigkeiten bringen, denn eine andere Adresse kenne ich leider nicht und kann sie auch von hier aus nicht ausfindig machen. Du musst der Dame am Telefon auseinandersetzen, dass es sich um einen dringenden Fall handelt. Ich habe ihr das auch schon geschrieben. Für mich steht jetzt alles auf dem Spiel. Schicke mir ein Telegramm an die Adresse des Hotels, die auf dem Briefbogen steht, damit ich sicher sein kann, dass Sibylle aus dem Haus ist, wenn ich mit Frederik Mintow ankomme.
Es grüßt Dich herzlich Deine Anita, die das ganz große Glück gefunden hat.
Am unteren Rand des hellblauen Luftpostbogens war mit Blockbuchstaben die genaue Anschrift des Kinderheims Sophienlust angegeben.
Barbara seufzte. Da war nichts mehr zu machen. Einmal hatte sie sich gegen Anita durchgesetzt und ihr klargemacht, dass Sibylle in dieses Haus gehöre, genau wie Anita selbst. Doch jetzt musste sie sich fügen.
Barb bekam die Telefonnummer ohne Schwierigkeit und rief sofort in Sophienlust an. Eine halbe Stunde später war Sibylles Schicksal besiegelt. In genau einer Woche sollte sie in Sophienlust Einzug halten.
*
Frederik Mintow machte im weißen Smoking eine recht gute Figur. Er stand unter einer Palme auf der Hotelterrasse, rauchte eine Zigarette und wartete auf Anita Germersheim.
Ein Holländer, dem die Hitze zu schaffen machte, sprach ihn an. »Auf die Dauer ist das faule Leben nichts für mich, Herr Mintow. Allmählich sehne ich mich wieder nach meinem Kontor in Amsterdam.«
Frederik hob die kräftigen Schultern. »Ab und zu braucht man Urlaub, Herr van Dongen. Wer das ganze Jahr über hart arbeitet, hat ein Recht auf Erholung, meine ich.«
»Stimmt. Bin ich recht unterrichtet, dass Sie Juwelen nach Deutschland importieren? Irgendjemand sagte mir so etwas …«
Frederik nickte. »Ganz recht. Hätten Sie ein Angebot? Ich weiß, dass man in Holland gute Diamanten bekommt.«
Van Dongen lächelte. »Ich bin Juwelier. Also wäre ich allenfalls daran interessiert, ein paar Steine von Ihnen zu bekommen. Aber ich nehme an, dass Sie im Urlaub nicht vom Geschäft reden möchten. Vielleicht darf ich mich später an Sie wenden, wenn Sie wieder in Deutschland sind?«
»Warum nicht, Herr van Dongen. Es würde sich möglicherweise machen lassen, Ihnen eine Sendung direkt zu schicken. Der Umweg über Deutschland kostet doppelten Zoll. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich Ihnen später schreiben kann.«
Van Dongen versprach, dass er seine Adresse vor der Abreise hinterlassen wollte.
Nun erschien Anita Germersheim. Sie war überschlank und trug das hellbraune Haar in einer halblangen modischen Frisur, die ihr der Hotelfriseur empfohlen hatte. Dazu wirkte das bodenlange Abendkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt besonders gut.
Die jäh erwachte Freude am Leben hatte aus der schon ein wenig verblühenden Anita eine schöne, begehrenswerte Frau gemacht. Man sah ihr ihre dreißig Jahre nicht mehr an. Sie selbst fühlte sich so jung und beschwingt wie nie zuvor.
Die beiden Herren begrüßten Anita. Der Holländer, der Junggeselle war und allein reiste, bat darum, sich dem Paar anschließen zu dürfen.
Anita zögerte ein wenig, denn sie wäre mit Frederik lieber allein geblieben. Andererseits schmeichelte es ihr, dass sie nun zwei Begleiter hatte.
»Wir freuen uns«, sagte sie freundlich. »Es soll ja heute so eine Art Gala-Abend werden, weil die amerikanische Touristengruppe morgen früh abfliegt.«
Es war so gut wie jeden Abend etwas Besonderes los. Die Tage verbrachte man am Strand bei den verschiedensten Sportarten und Vergnügungen, oder man faulenzte unter großen Sonnenschutzdächern der nächsten amüsanten Abwechslung entgegen.
An diesem Tag wurde Anita noch einmal bewusst, was sie in den letzten sechs Jahren versäumt und unbewusst entbehrt hatte. Dunkelhäutige Kellner servierten ein erstklassiges Diner. Eine Kapelle spielte gedämpft im Hintergrund. In den Gläsern ließ teurer Wein aus Europa tausend Lichter funkeln.
Später wechselte die Band. Es wurde nun getanzt. Anita hatte die neuen schwungvollen Rhythmen sehr schnell erlernt. Sie fühlte sich wunschlos glücklich, und ihre Augen leuchteten.
Als der Juwelier aus Holland sich verabschiedete, war es ein Uhr nachts.
»Ein sympathischer Herr«, meinte Frederik und streifte Anitas Wange leicht mit seinen Lippen. »Er hat mir geschäftliche Zusammenarbeit angeboten. Aber ich muss mich erst erkundigen, ob er auch seriös ist. Zu den ganz Großen in seinem Geschäft gehört er nicht. Sonst müsste ich seinen Namen kennen.«
»Aber du gehörst zu den Großen, nicht wahr, Frederik?«, fragte Anita zärtlich.
Er hob die Schultern. »Weiß ich nicht so genau. Jeder will bekanntlich der Größte sein. Ich mache mir darüber keine Gedanken, solange ich genug verdiene.«
Frederik zog Anita an sich und küsste sie. Sie hatten sich bequeme Sessel an die Brüstung der Terrasse tragen lassen und schauten über das Meer, das um diese Stunde fast still war. Nur ab und zu klatschte leise eine Welle.
Hinter ihnen nahm der Festabend geräuschvoll seinen Fortgang. Inzwischen hatten die meisten Leute etwas zu viel getrunken. Anita war froh, dass Frederik nur wenig Alkohol zu sich nahm. Er hatte gesagt, er verabscheue es, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.
»Es ist wunderbar hier«, flüsterte Anita verträumt.
»Wenn man glücklich ist, findet man es überall herrlich, Anita«, gab er zurück.
»Bist du wirklich glücklich, Frederik?«, fragte sie scheu. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mich liebst. Es waren weit attraktivere Frauen als ich auf dem Schiff. Und hier wimmelt es nur so von rassigen Erscheinungen. Ich komme mir daneben wie ein Mauerblümchen vor.«
Frederik strich ihr über das Haar. »Jetzt müsste ich böse mit dir werden, Anita. Warum glaubst du mir nicht? Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die so war wie du. Du musst mir vertrauen, denn wir wollen eine gemeinsame Zukunft aufbauen – du und ich. Ich möchte dich verwöhnen und dir die ganze Welt zeigen. Du wirst herrliche Schmuckstücke tragen, und viele andere Frauen werden dich beneiden.«
Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Verzeih mir, Frederik. Seit dem Tod meiner Schwester Carola habe ich recht einsam und zurückgezogen in unserem großen Haus gelebt. Erst in diesem Jahr wurde mir bewusst, dass ich etwas versäumt habe. Deshalb buchte ich auch diese Reise. Ich wollte endlich heraus aus meinem goldenen Gefängnis.«
»Glücklicherweise war es noch nicht zu spät«, erwiderte Frederik lächelnd. »Allerdings werde ich meinen süßen Schmetterling einfangen und nicht mehr fortfliegen lassen. Das musst du dir schon gefallen lassen.«
»Viel zu gern, Frederik. Ich könnte mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.«
Einer der farbigen Diener kam heran und überreichte Anita auf einem Silberteller ein Überseetelegramm. »Es ist eben angekommen«, sagte er.
»Danke.« Anita nahm das Telegramm an sich und gab dem Boy ein gutes Trinkgeld.
»Etwas Wichtiges?«, fragte Frederik.
»Nein, sicher nicht«, versetzte Anita betont gleichmütig. »Ich hatte um eine Nachricht gebeten. Es hat Zeit.« Sie steckte den ungeöffneten Umschlag in ihre kleine Abendtasche.
»Du hast dem Boy ein viel zu großes Trinkgeld gegeben«, warf ihr Frederik vor. »Daraus schließe ich, dass es eine interessante Nachricht sein muss.«
Anita bot ihm die Lippen. »Du bist sehr neugierig. Es ist eine persönliche Angelegenheit ohne besondere Bedeutung.«
»Ich möchte alles wissen, was in deinem Leben eine Rolle spielt. Das ist keine Neugier, sondern Liebe.«
Anita schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Obwohl sie bereit war, Frederik Mintow jeden Wunsch zu erfüllen, wollte sie ihm doch keinen Blick in das Telegramm gestatten. Denn er durfte nichts von Sibylle erfahren!
Frederik fragte im Laufe der nächsten halben Stunde noch mehrmals nach dem Telegramm. Endlich gab er es auf. Anita teilte ihm mit, dass sie nun müde sei und schlafen gehen wolle.
Er begleitete sie wie allnächtlich bis zu ihrer Zimmertür. Dort spielte sich stets die gleiche, ein wenig lächerliche Szene ab, weil Frederik Anita immer wieder mit stürmischen Zärtlichkeiten dazu zu bewegen versuchte, ihn einzulassen, während Anita standhaft blieb, so schwer ihr das auch fallen mochte. Sie fühlte sich zu Frederik mit jeder Faser hingezogen und sehnte sich nach seiner Liebe. Doch ihre Erziehung und ihre eisernen Grundsätze trugen stets nach einigen Sekunden des Schwankens den Sieg davon.
Auch diesmal war es nicht anders. Anita verschloss heftig atmend ihre Tür von innen. Ihr Haar war wirr, der Lippenstift um ihren Mund verwischt. Sie ließ sich in einen bequemen Sessel fallen und legte den Kopf zurück, während sich draußen Frederiks Schritte entfernten. Er tat ihr leid. Sie bedauerte jetzt, dass sie allein war. Schon wollte sie aufspringen und ihn zurückrufen, da fiel ihr Blick auf ihre Handtasche.
Das Telegramm! Nein, sie durfte ihren Grundsätzen nicht untreu werden. Niemals würde sie sich so gehenlassen wie seinerzeit Carola.
Anita griff nach dem Täschchen und öffnete das Telegramm.
SIBYLLE IN SOPHIENLUST ANGENOMMEN STOP ABFAHRT MITTWOCH STOP GRUSS BARBARA
Anita stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie las die wenigen Worte noch einmal und zerriss das Blatt schließlich in winzige Stücke, die sie in den Papierkorb warf.
Es wird Sibylle nichts abgehen, beschwichtigte sie in Gedanken die Stimme ihres Gewissens. Sophienlust hat den besten Ruf. Mehr kann ein Kind ohne Vater kaum verlangen.
Anita legte das schöne Kleid ab, tat ihren Schmuck in die kleine Lederschatulle und ging ins Bad. Wenig später streckte sie sich in dem angenehm klimatisierten Raum im Bett aus. Eine schöne junge Frau, von Reichtum und Luxus umgeben, die von einer erfüllten, glücklichen Zukunft an der Seite des Mannes träumte, dem sie ihr Herz geschenkt hatte.
*
Als der Zug auf dem Bahnhof hielt, stiegen Barbara und Sibylle aus. Ein Mitreisender reichte ihnen das Gepäck zu. Nun schauten sie sich suchend auf dem Bahnsteig um.
Ein lang aufgeschossener Junge mit dunklen Locken kam auf sie zu. »Wollen Sie nach Sophienlust?«, fragte er höflich.
»Ja. Kommst du von dort?«, erkundigte sich Barbara.
»Der Wagen wartet vor dem Bahnhof. Ich bin Nick von Wellentin-Schoenecker. Meine Mutti hat mir erlaubt, Sie hier abzuholen.«
Barbara reichte ihm die Hand. »Ich heiße Barbara Küster. Dies hier ist Sibylle Germersheim.«
Dominik nahm Sibylles Händchen. »Willkommen, Sibylle. Ich freue mich, dass du nach Sophienlust willst. Es gefällt dir bestimmt bei uns.«
Die kleine Sibylle, von der Reise ziemlich müde, sah den Jungen, der sehr viel älter war als sie, selbst zweifelnd an. »Ich will eigentlich nicht«, gestand sie zögernd. »Aber meine Tante hat es so bestimmt.«
»Schau es dir nur erst an«, meinte Nick zuversichtlich und ergriff die beiden großen Koffer. »Meine Mutti freut sich schon auf dich.«
»Sie kennt mich doch gar nicht«, wunderte sich Sibylle.
»Sie hat alle Kinder lieb. Dich auch.«
Nicks ausdrucksvolle dunkle Augen blickten so freundlich drein, dass Billchen ein wenig Mut schöpfte. Draußen vor dem Bahnhof wartete ein großer Wagen mit einem Chauffeur, der die beiden Reisenden und ihr Gepäck fürsorglich verstaute, wobei Nick ihm sachkundig zur Hand ging.
Unterwegs bemühte sich Nick, ein Gespräch mit Sibylle anzufangen, doch das kleine Mädchen gab nur kurze Antworten und blickte meist aufmerksam zum Fenster hinaus. Barbara dagegen unterhielt sich nur zu gern mit dem lebhaften, aufgeweckten Jungen, der ihr einiges über Sophienlust erzählte.
»Ich habe das Gut von meiner Urgroßmutter geerbt. Sie hat bestimmt, dass das Gutshaus eine Zuflucht für Kinder und in Not geratene Erwachsene werden soll. Als wir nach Sophienlust kamen, war ich erst fünf Jahre alt. Meine Mutti hat das Heim gegründet. Doch jetzt kommt es uns vor, als wäre alles schon immer so gewesen. Wir nennen es das Haus der glücklichen Kinder.«
»Das hört sich gut an. Was macht denn dein Vater?«
Dominik räusperte sich. »Mein richtiger Vater hieß Dietmar von Wellentin und ist gestorben, noch ehe ich geboren wurde. Später hat meine Mutti wieder geheiratet. Das Nachbargut von Sophienlust heißt Schoeneich. Dort wohnte damals mein zweiter Vati mit seinen Kindern Sascha und Andrea. Seine Frau war gestorben. Mutti und er hatten sich gleich lieb, als sie einander begegneten. So bekamen Sascha und Andrea eine Mutti und ich endlich einen prima Vati. Inzwischen ist Sascha schon Student, und Andrea verheiratet. Dafür gibt es zu Hause noch unseren Jüngsten. Er heißt Henrik und stammt aus Muttis zweiter Ehe.«
»Meine Güte«, seufzte Billchen. »Das ist eine verwirrende Geschichte. Dann hast du also zwei Vatis?«
Billchen sah den großen Jungen nachdenklich an. »Ich habe keinen Vater und keine Mutter«, sagte sie leise. »Nur Tante Anita.«
»In Sophienlust sind eine Menge Kinder, die keine Eltern haben«, versuchte Nick zu trösten und strich über Billchens weiches Haar. »Das vergisst du bei uns. Mutti ist für alle da. Außerdem kümmert sich Frau Rennert um die Kinder. Sie ist sehr lieb und wird Tante Ma genannt. Schwester Regine betreut die ganz Kleinen, und Herr Rennert ist unser Hauslehrer.«
»Ist er Frau Rennerts Mann?«, warf Barbara ein, die genau zuhörte und sich Mühe gab, einen möglichst guten Einblick zu gewinnen.
Nick lachte. »Nein, ihr Sohn. Er ist schon verheiratet und hat niedliche Zwillinge.«
»Gibt es Hausunterricht?«, wollte Barbara wissen.
»Nur wenn es nötig ist. Wir fahren sonst mit Bussen zur Schule. Ein Bus transportiert die Grundschüler, der andere die Kinder, die schon aufs Gymnasium gehen. Herr Rennert hilft nur aus, falls ein Kind nicht mitkommt oder krank ist. Sonst beaufsichtigt er die Schularbeiten, musiziert mit uns oder organisiert sportliche Veranstaltungen. Bei uns ist nämlich immer viel los. Schon wegen der Pferde.«
»Reiten die Kinder?«, fragte Barbara.
»Ja. Wir haben Ponys und Pferde. Wenn Jugendwettbewerbe im Reiten stattfinden, holen wir alle Preise nach Sophienlust. Das ist Ehrensache. Wenn Sibylle Tiere mag, wird sie viel Spass bei uns haben. Bei uns gibt es einen Gutshof mit Tieren, und außerdem haben manche Kinder eigene Tiere. Zum Beispiel Goldhamster, Meerschweinchen, Hunde, Katzen, Kanarienvögel. Wir sind nämlich große Tiernarren. Meine Schwester Andrea hat obendrein ein Heim für verlassene Tiere gegründet. Da gibt es sogar eine Bärin mit zwei Jungen, zwei Esel, eine Ringelnatter, zwei Füchse, einen Dachs, zwei Schimpansen und ein Reh. Die Hauptperson ist Waldi, ein Langhaardackel, mit seiner Dackeline Hexe und den beiden Dackelkindern Pucki und Purzel. Nach ihm ist das Heim benannt: Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere.«
»Ich mag Tiere gut leiden«, äußerte Sibylle schüchtern. »Aber ich glaube, dass ich vor dem Reiten Angst hätte. Lieber möchte ich mit dem Lehrer Musik machen.«
»Das kannst du dir aussuchen«, erwiderte Nick.
»Billchen ist musikalisch«, berichtete Barbara. »Sie sucht sich ganz allein auf dem Klavier alle Lieder zusammen, die sie kennt.«
Sibylle warf ihr einen scheuen Blick zu. »Aber Tante Anita will nicht, dass ich klimpere.«
»In Sophienlust kannst du klimpern. Sieh mal, da drüben ist unser Gutshaus. Wir sind gleich da.«
»Schoeneich oder Sophienlust?«, fragte Barbara.
»Sophienlust. Schoeneich kann man von hier aus nicht sehen. Aber es gibt eine direkte Verbindungsstraße zwischen den Gütern. Das ist nötig, denn wir Schoeneckers wohnen ja in Schoeneich. Mutti muss täglich nach Sophienlust, Vati ebenfalls, weil er beide Güter bewirtschaftet.«
Das stolze Gutshaus erweckte Barbaras Begeisterung. »Es macht beinahe den Eindruck eines kleinen Schlosses«, meinte sie.
»So sagen viele. Für uns ist es das Haus der glücklichen Kinder. Da – wir werden schon begrüßt.«
Der Fahrer stoppte den Wagen vor dem Haupteingang, wo eine Gruppe von Kindern fröhlich winkte. »Hurra, hurra – sie sind da!«, schrie ein kleiner Bub.
»Das ist mein Bruder Henrik«, erklärte Nick lachend.
Die Kinder drängten sich um das Auto und streckten der scheuen kleinen Neuen die Hände hin.
»Es gibt Schokoladentorte«, verriet Vicky. »Magst du Schokoladentorte, Sibylle?«
»Ich kann dir dein Zimmer zeigen«, erbot sich Heidi Holsten. »Tante Isi hat dir ein Geschenk hingelegt«, fügte sie geheimnisvoll hinzu.
»Wer ist Tante Isi?«, warf Billchen unsicher ein.
»Meine Mutti natürlich«, verkündete Henrik. »Alle Kinder haben sie lieb.«
Sibyllchen schaute etwas ratlos in die fröhlichen Kindergesichter.
Ein größeres Mädchen mit blondem Haar ergriff ihre Hand. »Ich bin Irmela. Komm, wir gehen erst mal ins Haus. Du kannst ja nicht gleich mit allen auf einmal reden. Nick, willst du Frau Küster zu deiner Mutti bringen? Sie wartet schon im Biedermeierzimmer.«
»Geht in Ordnung, Irmela«, erwiderte Nick. »Ich nehme gleich die Koffer mit.«
»Es ist das Zimmer neben Heidi.«
»Weiß ich.«
Irmela nahm sich Sibylles an, die sich ohne Widerstreben von ihr wegführen ließ. Barbara folgte Nick.
Die erfahrene Haushälterin erkannte auf den ersten Blick, dass das Haus zweckmäßig und schön eingerichtet und dazu außerordentlich gut gepflegt war.
Eine Dame mittleren Alters trat ihr entgegen.
»Frau von Schoenecker?«, fragte Barbara.
»Nein, ich bin Frau Rennert. Darf ich Sie willkommen heißen? Frau von Schoenecker erwartet Sie.«
Eine Tür öffnete sich. Dann blickte Barbara in ein Paar wundervolle dunkle Augen und wusste, dass sie Nicks Mutter vor sich hatte. Mit ihrer schlanken Gestalt und dem feinen, edel geformten Gesicht wirkte Denise von Schoenecker fast mädchenhaft jung. Dennoch ging eine starke Ausstrahlung von Güte und menschlicher Reife von ihr aus. Barbara Küster, die Anitas Entscheidung bis zu diesem Augenblick verurteilt hatte, spürte, dass ihr geliebtes Billchen hier eine Herzensheimat finden konnte.
»Hatten Sie eine gute Reise?«, fragte Denise warm.
Barbara bedankte sich. »Es war lieb von Ihrem Sohn, dass er uns abgeholt hat. Unterwegs erfuhr ich schon allerlei über das Heim.«
»Nick wird Sophienlust später übernehmen. Es gehört ihm. Mein Mann und ich freuen uns, dass er sich schon heute stark mit seiner zukünftigen Aufgabe verwachsen fühlt. Doch nun zu Ihnen.« Denise nahm einen blauen Luftpostbogen zur Hand, der unverkennbar Anitas Schriftzüge trug. »Frau Germersheim schrieb mir aus Übersee, dass sie ihre Nichte aus persönlichen Gründen sehr schnell in einem Heim unterbringen müsse. Auch Sie versicherten mir am Telefon, es handle sich um einen dringenden Fall. Bin ich indiskret, wenn ich dazu ein paar Einzelheiten erfahren möchte? Ich verschließe mich grundsätzlich nicht, wenn ein Kind einen sicheren Hafen braucht. Deshalb habe ich auch sofort zugesagt. Ist Sibylle Waise?«
Barbara Küster betrachtete ein paar Sekunden lang ihre etwas runzelig gewordenen Hände. »Sibylle ist unehelich geboren, Frau von Schoenecker«, erklärte sie dann vertrauensvoll. Sie war ganz sicher, dass sie Denise die Wahrheit sagen durfte. »Ihre Mutter starb vor sechs Jahren. Billchen kann sich nicht an sie erinnern. Sie war erst ein Jahr alt. Schon damals wollte ihre Tante Anita sie in ein Heim geben. Anita schämte sich ihrer Schwester und vor allem des Kindes ohne Vater. Am liebsten hätte sie das alles aus ihrem Leben ausgelöscht. Ich habe Anita und Carola Germersheim aufgezogen, denn ihre Eltern starben, als die beiden Mädchen erst zehn und zwölf Jahre alt waren. Anita ist die Ältere. Sie war immer fleißig und machte mir niemals Schwierigkeiten. Carola dagegen wusste vor Lebensfreude und Übermut nicht, wo die Grenzen waren. Sie tollte herum wie ein Junge, zerriss sich die Kleider beim Klettern und nahm die Schule nicht sehr wichtig. Dafür gehörte ihre ganze Hingabe der Musik. Sie spielte sehr gut Violine und Klavier. Manchmal übte sie drei oder vier Stunden lang, obwohl sie noch ein Kind war. Der Vormund der Mädchen, ein alter Freund der Familie, hatte altmodische Ansichten und wollte beide nach Absolvierung der Schule in ein vornehmes Pensionat in der Schweiz schicken. Anita fügte sich, aber Carola setzte ihren Willen durch und begann am Konservatorium Musik zu studieren. Dann passiert die Sache mit dem Kind. Carola hat Billchens Vater sehr geliebt. Aber der war eine Künstlernatur und nahm die Liebe nicht ernst. Glücklicherweise hat der Herr Vormund das nicht erleben müssen. Die Mädchen waren auch inzwischen volljährig geworden. Es gab viel Streit zwischen den Schwestern wegen des Kindes, denn Anita fand Carolas Fehltritt, sie sie es nannte, unverzeihlich. Trotzdem duldete sie das Baby im Haus und spielte gelegentlich mit ihm, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann erkrankte die arme Carola. Sie nahm es zunächst nicht ernst, suchte keinen Arzt auf. Schließlich war es zu spät. Auch in der Klinik konnten sie ihr nicht mehr helfen. Carola setzte Anita zu Sibyllchens Vormund ein und bat mich, so gut zu ihrem Kind zu sein, wie ich es zu ihr gewesen war.«
Barbara hielt inne. Sie holte ihr schneeweißes Taschentuch hervor und wischte sich ein paar Tränen von der Wange. Denise von Schoenecker wartete geduldig und störte sie mit keiner Frage. Wieder einmal entrollte sich vor ihr ein tragisches Kinderschicksal.
»Ich habe einen harten Stand gehabt nach dem Begräbnis, Frau von Schoenecker«, hob Barbara wieder an. »Anita wollte das Kind weggeben und nur von fern über seine Erziehung wachen. Sie wehrte sich dagegen, dass im Hause Germersheim ein vaterloses Kind aufwachsen sollte. Aber ich meine, sie hat Billchen doch ein wenig liebgehabt, denn ich konnte sie schließlich davon überzeugen, dass das Kind ein Recht darauf hätte, im Hause der Mutter zu leben. So blieb Sibylle bei uns, aber Anita zog sich ganz zurück und hatte keinen Umgang mehr mit Freunden und Bekannten. Sie besuchte keine gesellschaftlichen Veranstaltungen und bildete sich ein, dass sie sich wegen des Kindes schämen müsse. Damals hatte sie die Adresse von Sophienlust in Erfahrung gebracht. Jetzt erinnerte sie sich daran. Denn leider steht ihr Sibylle heute im Weg. Wenigstens ist das ihre felsenfeste Überzeugung.«
Nun sagte Denise doch etwas: »Ich nehme an, dass die Liebe im Spiel ist. Billchens Tante möchte frei sein für ihr eigenes Glück.«
Die Haushälterin neigte den grauen Kopf. »Ja, Anita unternahm unerwartet eine Reise um die Welt. Sie erkannte wohl, dass sie viel nachzuholen hatte. Jeder Mensch will einmal unbeschwert jung und glücklich sein. Nicht wahr, das verstehen Sie?«
»Aber ja, warum nicht?«
»Anita hat unterwegs den Mann getroffen, den sie heiraten möchte. Sie ist jedoch fest entschlossen, ihm Sibylles Vorhandensein zu verheimlichen. Deshalb musste das Kind Hals über Kopf aus dem Haus. Mir blutet das Herz, aber ich kann Anita trotzdem nicht böse sein, denn sie hat bittere, einsame Jahre hinter sich.«
Denise lächelte. »Ich bin ihr auch nicht böse, liebe Frau Küster. Es ist jammerschade, dass ihr niemand klarmachen konnte, was für ein Glück bringendes Geschenk ein Kind ist – was für eine wunderbare Aufgabe und Herausforderung. Wir werden Sibylle liebhaben. Das verspreche ich Ihnen. Wenn Sie wollen, können Sie ein paar Tage als unser Gast bei uns bleiben. Das wird Sibylle das Einleben etwas erleichtern.«
Barbara errötete und sah auf einmal viel jünger aus. »Wenn ich hierbleiben dürfte?«, stammelte sie unsicher. »Ich habe ein paar Sachen mitgenommen und wollte mir in der Nähe ein Zimmer suchen für eine Woche. Eigentlich, weil ich misstrauisch war. Jetzt sehe ich, dass Billchen es hier gut haben wird. Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich so gedacht habe.«
»Sie konnten nicht wissen, wie es hier zugeht. Jetzt werden wir in den Speisesaal gehen, denn unsere gute Köchin Magda hat zu Ehren von Sibyllchen Schokoladentorte gebacken. Das ist ihre Spezialität. Ich denke, wir sollten auch ein Stückchen probieren.«
»Es ist hier alles ganz anders, als ich angenommen hatte, Frau von Schoenecker«, gestand Barbara erleichtert. »Hier weiß ich Carolas Töchterchen in guter Obhut.«
Barbara fand erst jetzt Muße, sich in dem stilvoll eingerichteten Zimmer umzuschauen. Ihr Blick fiel auf das Porträt einer alten Dame mit gütigem Gesicht und schneeweißem Haar.
»Das ist Sophie von Wellentin, Dominiks Urgroßmutter, die ihm Sophienlust hinterließ«, erklärte Denise. »Ich habe nur einmal in meinem Leben persönlich mit ihr gesprochen. Dennoch verbindet mich mit ihr durch dieses Bild und das Biedermeierzimmer, in dem sie sich am liebsten aufhielt, eine innige Zuneigung, die über den Tod hinausgeht. Manchmal halte ich Zwiesprache mit ihr. Oft genug ist mir unter diesem Gemälde die rechte Entscheidung eingefallen, wenn ich Zweifel hegte, was ich tun sollte.«
»Es sind wahrhaftig glückliche Kinder, die hier sein dürfen«, flüsterte Barbara dankbar.
Ein paar Minuten später war die nachdenkliche Stimmung verflogen. Im Speisesaal schwirrten die hellen Kinderstimmen durcheinander, denn es gab einen beinahe erbitterten Wettstreit um die Ehre, neben Tante Isi sitzen zu dürfen.
Denise umarmte Sibylle, die scheu abseits stand. »Es ist fein, dass du zu uns gekommen bist, Billchen. Möchtest du mich Tante Isi nennen, wie es die anderen Kinder tun?«
»Aber du bist nicht meine richtige Tante, nicht wahr?«
»Nein, das nicht.«
»Richtige Tanten mag ich nicht so gern«, flüsterte Sibylle. »Ich habe eine. Die ärgert sich immer nur über mich. Warum, das verstehe ich nicht genau. Es hat irgendetwas mit meiner Mutter und meinem Vater zu tun.«
Denise streichelte impulsiv über den Kopf des Kindes. »Wir reden später mal in Ruhe darüber, Billchen. Jetzt gibt es erst einmal Torte. Wo möchtest du sitzen?«
Sibylle schaute mit ihren großen Augen zu Denise auf. »Zwischen dir und Barb«, antwortete sie. »Geht das? Alle Kinder wollen bei dir sein, Tante Isi.«
»Du bist heute die Hauptperson. Also kannst du bestimmen, neben wem du deine Schokoladentorte essen willst. Kommt, Kinder, wir wollen anfangen, sonst wird der Kakao kalt.«
Pünktchen, die mit ihrem richtigen Namen Angelina Dommin hieß und schon sehr lange in Sophienlust war, füllte gemeinsam mit Irmela die vielen Tassen. Heidi, das vierjährige Nesthäkchen des Heims, erschmeichelte sich indessen den Platz an Denises noch freier Seite. Frau Rennert schnitt die großen Torten an und achtete darauf, dass alle Stücke gleich groß wurden.
»Willkommen in Sophienlust«, schmetterte Henrik und hob dazu seine Tasse, als wäre sie ein Sektglas.
»Willkommen«, stimmten die anderen Kinder ein.
Barbara lächelte und fühlte sich schon ganz daheim in der munteren Runde. Billchen dagegen behielt ihr ernstes Gesicht und wagte es nicht einmal, den Blick zu heben. Sie beschäftigte sich eingehend mit dem Tortenstück auf ihrem Teller. Doch man sah ihr nicht an, ob ihr der Kuchenschmaus Freude bereitete oder nicht.
Denise bemerkte die Zurückhaltung des indes mit einiger Besorgnis. Wahrscheinlich würde Sibylle sich nicht von einem Tag auf den anderen einleben. Sie nahm sich vor, dem verwaisten Mädchen, das von der eigenen Tante verleugnet wurde, besonders viel Zuwendung zu schenken, damit es eines Tages genauso unbeschwert lachen konnte wie die übrigen Kinder von Sophienlust.
*
Anita Germersheim kehrte in Begleitung von Frederik Mintow nach Deutschland zurück. Sie freute sich über die glückliche Fügung, dass er ausgerechnet in ihrer Heimatstadt einige Wochen lang geschäftliche Verhandlungen zu führen hatte.
»Meine Reise steht unter einem guten Stern«, sagte sie strahlend, als sie Plätze in einer Lufthansa-Maschine für den Rückflug buchten. »Allein bin ich abgereist, und gemeinsam mit dir komme ich heim.«
Frederik zog sie rasch an sich und küsste sie. »Als meine Braut, Liebling. In Deutschland bekommst du mein Verlobungsgeschenk. Das Schönste ist eben gut genug für dich.«
»Ich brauche keine Geschenke, nur deine Liebe, Frederik. Dass man so wahnsinnig glücklich sein kann, habe ich nicht gewusst. Ich muss mich erst langsam daran gewöhnen.«
»Dies ist erst der Anfang, Anita. Hab’ noch ein wenig Geduld, dann wirst du sehen, wie phantastisch das Leben ist. Ich werde dir Schätze zu Füßen legen. Das ist keine leere Versprechung, sondern die reine Wahrheit. Vorläufig bleiben meine Pläne noch mein Geheimnis, aber wenn ich die Abschlüsse getätigt habe, wirst du Augen machen.«
»Ich bin zufrieden, wenn wir beisammen sein können und wenn unsere Liebe ein Leben lang anhält, Frederik«, gab Anita zurück. »Geld ist eine angenehme Sache, aber innere Werte zählen mehr. Oder bist du anderer Meinung?«
Er küsste sie noch einmal. »Selbstverständlich nicht, mein Schatz. Trotzdem ist es nun mal Sache des Mannes, für das nötige Kleingeld zu sorgen. Das musst du mir wohl oder übel überlassen.« Er lächelte überlegen.
»Du hast recht«, räumte sie ein wenig beschämt ein. »Ich habe mir um finanzielle Angelegenheiten noch nie Gedanken machen müssen. Unser guter Vater hat uns so viel hinterlassen, dass wir weit mehr haben, als wir brauchen.«
»Wir?«, fragte Frederik. »Wen meinst du außer dir?«
Anita wurde rot. »Ich dachte an meine verstorbene Schwester. Sie ist seit sechs Jahren tot. Barbara, unsere Haushälterin, hat uns beide betreut, seit wir die Eltern verloren haben. Gewiss, wir waren Waisen. Doch wir kannten keine Geldsorgen.«
Frederik Mintows Mund wurde schmal und hart. »Ich habe es nicht so leicht gehabt. Alles, was ich besitze, verdanke ich mir selbst.«
Das, was mir gehört, kommt jetzt dazu«, begütigte Anita sanft. »So wirst du auch etwas vom Vermögen meines Vaters haben.«
»Ist es denn wirklich so viel?«
»Ganz genau weiß ich über die einzelnen Vermögenswerte nicht Bescheid. Diese Dinge werden von einem zuverlässigen Anwalt betreut. Aber bei der letzten Bestandsaufnahme hatte ich einen Nominalwert von anderthalb Millionen. Dazu kommt mein Anteil an der Villa und dem wertvollen Grundstück.« Es klang ein bisschen trotzig. Anita wusste recht gut, dass sie ein reiches Mädchen war.
»Wenn wir verheiratet sind, werde ich mit dir gemeinsam alles kontrollieren. Anwälte sind zwar ehrlich und gewissenhaft, aber sie verstehen es im Allgemeinen nicht, ein Vermögen zu vermehren. Möglicherweise könnten wir dein Geld in meinem Unternehmen arbeiten lassen. Aber das hat noch Zeit.«
»Ich verstehe von diesen Dingen nichts. Aber vielleicht kann ich es von dir lernen.«
Die Tickets wurden gebracht. Anita bezahlte mit einem Reisescheck. Frederik mit Bargeld, wie er es immer tat.
Vierundzwanzig Stunden später setzte der Düsenriese in Frankfurt auf.
»Schade, dass unsere Reise zu Ende ist«, seufzte Anita.
»Aber das Glück fängt erst an«, erwiderte Frederik. Er kümmerte sich um Anitas Gepäck, war ihr bei den Zollformalitäten behilflich und sorgte dafür, dass sie ein Taxi bekamen.
Im Auto hielt er Anitas Hand und sprach kein einziges Wort. Sie ließ die Erinnerungen in sich nachklingen und gab sich ganz ihrem glücklichen Gefühl hin.
Barbara empfing Anita mit herzlicher Freude. Sie hatte die Villa mit Hilfe von zwei tüchtigen Putzfrauen bis in den letzten Winkel auf Hochglanz gebracht und alles, was an Sibyllchens Vorhandensein erinnern konnte, unbarmherzig auf den Speicher verbannt.
»Frederik, dies ist unsere liebe Barbara. Ich habe dir von ihr erzählt.«
Frederik Mintow verbeugte sich und küsste der Haushälterin die Hand, worüber die gute Barbara gewaltig erschrak.
»Sie sind wie eine Mutter zu Anita gewesen«, sagte er und lächelte dazu. »Deshalb verehre ich Sie. Ich selbst habe meine Mutter nie gekannt.«
»Ja, Barb, er hat eine schwere Kindheit gehabt. Aber das müssen wir jetzt wirklich nicht besprechen. Hast du etwas zu essen für uns vorbereitet? Ist mein Telegramm rechtzeitig angekommen?«
»Aber ja. Es ist alles fertig. Ich freue mich, dass du wieder im Land bist, mein Kind.«
Barbara trug eigenhändig einen Imbiss auf. Dazu gab es einen guten Wein. »Ich trinke auf unsere Heimkehr und auf unser Glück«, sagte Frederik feierlich. »Sie müssen auch mit uns anstoßen, Barbara.«
Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht, Herr Mintow. Seien Sie mir nicht böse.«
»Es stimmt«, fiel Anita ein. »Barbara trinkt keinen Tropfen Alkohol. Davon werden wir sie auch heute nicht abbringen.«
»Trotzdem wünsche ich viel Glück«, kam es leise und ein wenig zögernd über Barbaras Lippen. »Alles Glück dieser Erde«, fügte sie hinzu.
»Danke, Barb.« Anita warf ihr einen dankbaren und liebevollen Blick zu. Dabei erkannte sie, dass Barbara mit ihrer Wahl nicht völlig einverstanden war. Deutlich las sie Zweifel, ja, sogar ein wenig Missbilligung in ihrem faltenreichen Gesicht.
Dumme Barb, dachte Anita liebevoll. Du kennst Frederik doch kaum. Bist du etwa eifersüchtig, weil du selbst niemals einen Mann gefunden hast, der dich heiraten wollte?
Frederik verabschiedete sich bald. Er wollte sich ein Hotelzimmer nehmen und einige wichtige Telefongespräche führen. Er versprach, sich spätestens am nächsten Tag zu melden.
Barbara bestellte ihm ein Taxi.
»Hast du es dir auch gründlich überlegt, Kindchen?«, fragte sie, sobald sich die schwere Haustür hinter Frederik geschlossen hatte.
»Sehr gründlich, Barb. Frederik ist ein aufrichtiger, guter Mensch. Du wirst ihn schnell liebgewinnen. Ein klein wenig kommst du mir wie eine Glucke vor, die ihr Küklein nicht fortlaufen lassen möchte.«
Barbara schüttelte den Kopf. »Ich freue mich über dein Glück, Anita. Aber Herr Mintow wirkt so fremd, Kind. Ich hatte mir deinen Verlobten anders vorgestellt.«
»Wie denn?« Anita legte die Hände auf Barbaras Schultern und lachte sie an. »Soll er wie ein Filmstar aussehen? Muss er eine Grafenkrone mitbringen? Was verlangst du nur?«
»Ich weiß es wohl selbst nicht, Anita. Es sind vielleicht seine Augen, die mir nicht gefallen.«
»Ich mag diese unbestimmbare Farbe besonders gern.«
»Nicht die Farbe der Augen stört mich, sondern dass sie recht eng zusammenstehen.«
»Dafür kann er nichts, Barb. Nicht jeder Mensch kann bildschön sein. Ich finde, dass Frederik männlich und gut aussieht.«
»Schon recht, Anita. Jetzt will ich deine Koffer auspacken. Da wird allerlei in Ordnung zu bringen sein.«
»Nicht viel, Barb. Ich habe mir unterwegs neue Kleider gekauft. Die alten Sachen habe ich verschenkt. Sie gefielen mir nicht mehr.«
»Dabei war fast jedes Stück neu.«
»Macht das was aus? Ich hatte mich ausgestattet wie eine alte Jungfer, die nichts vom Leben erwartet. Jetzt besitze ich Kleider, die zu mir passen.«
Als Barbara die beiden Koffer auspackte, staunte sie über die jähe Wandlung von Anitas Geschmack. Die leichten Seidenkleider nahmen sich wie bunte Schmetterlinge aus. Die drei Bikinis waren so winzig, dass Barbara sich fragte, ob man so etwas überhaupt tragen könne, ohne es zu verlieren. Die Absätze an den Schuhen hatten eine extravagante Höhe, und sogar die Wäsche war neu, verspielt und elegant.
Nun konnte es für Barb nicht mehr den geringsten Zweifel geben, dass Anita durch die Liebe verwandelt worden war. Sie ließ die Finger über den zarten Stoff eines Kleides gleiten und lächelte. Carola hätte sich auch solche Sachen gekauft, dachte sie. Ich bin froh, dass Anita glücklich ist.
Nur an Sibylle mochte Barb nicht denken. Zwar konnte es kaum ein besseres Heim als Sophienlust geben, doch musste Carolas Kind von jetzt an verleugnet und totgeschwiegen werden. Das widerstrebte der guten Barbara gewaltig.
Eben kam Anita aus dem Bad zurück. Sie trug einen Hausmantel und duftete nach köstlichem Badeöl.
»Was ist mit Sibylle?«, fragte sie, als habe sie Barbaras Gedanken erraten. »Ist alles in Ordnung? Ich werde Frau von Schoenecker anrufen, damit sie merkt, dass ich Anteil an Sibylle nehme. Erzähle mir von dem Heim.«
»Es ist ein Gutshaus. Die Kinder leben auf dem Land und sind glücklich, obwohl die meisten von ihnen schon ein schweres Schicksal hinter sich haben. Frau von Schoenecker ist eine ganz ungewöhnliche Dame. Man gewinnt sofort Vertrauen zu ihr. Trotzdem hat sich Billchen nicht gleich einleben können. Ich bin eine Woche lang dort geblieben. Als ich abreiste, hat Billchen mich nur traurig angeschaut und nicht einmal geweint. Das Kind tut mir so leid. Hier in der Schule sagte die Lehrerin zu mir, dass sich Sibylle nicht an die anderen anschließen kann und immer allein im Schulhof herumsteht in der Pause. In Sophienlust war es kaum anders. Billchen sah zu, wenn die Kinder spielten, ritten oder herumtobten. Sie antwortete, wenn man sie etwas fragte, aber sie schien in einer anderen Welt zu leben. Frau von Schoenecker hat mir versprochen, sich besonders um Billchen zu kümmern. Mehr kann man ja nicht tun.«
Anitas Gesicht wurde hart.
»Der Umgang mit den vielen Kindern wird ihr sicher guttun. Hast du ihr hübsche Sachen gekauft? Sie soll hinter den anderen Kindern nicht zurückstehen. Immerhin trägt sie unseren Namen.«
Barbara unterdrückte einen Seufzer. »Die Kinder brauchen einfache, praktische Sachen in Sophienlust. Jeans und Pullis, Sandalen und für schlechtes Wetter feste Schuhe, außerdem hohe Gummistiefel, mit denen sie durch die Pfützen laufen können. Ich habe mich erst erkundigt und dann besorgt, was nötig war. Mit weißen Kleidchen würde Billchen nur lächerlich wirken auf dem Gut.«
»Hoffentlich verwildern die Kinder dort nicht. Das Heim ist mir damals sehr empfohlen worden. Nun ja, es lässt sich immer noch etwas machen, wenn Sibylle älter wird. Sie soll auf eine gute Schule und später einen Beruf erlernen. Ein Mädchen wie sie muss auf eigenen Füßen stehen können, auch wenn es ein Vermögen besitzt.«
»Sie ist erst sieben Jahre alt, Anita«, meinte Barbara sanft. »Was ich ihr wünsche ist, dass sie ein fröhliches Kind wird. Aber ob das gelingen wird, weiß ich nicht.«
»Waren wir fröhliche Kinder?«, fragte Anita und strich sich über die Stirn. »Ich glaube nicht.«
»Du bist immer ernst gewesen. Aber Carola war lustig. Es ist gut, dass sie viel gelacht hat. Ihr Leben war ja so kurz.«
»Carola war leichtsinnig.« Anita griff nach einem leuchtendroten Kleid. Sie sah nun wieder heiter und jung aus. »Ich würde mich niemals so vergessen wie sie«, äußerte sie mit gesenkter Stimme. »Findest du, dass mir das Rot gut steht?«, fragte sie dann übergangslos.
»Sehr schön, Anita. Die Kleider gefallen mir.«
»Es könnten Carolas sein, nicht wahr?«
»Ja, das wäre möglich.«
Barbara ging in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen. Ihr war das Herz schwer, doch sie wusste nicht, warum.
*
Denise und Alexander von Schoenecker saßen in Schoeneich vor dem Kamin, in dem ein lustiges Feuer flackerte. Draußen regnete es in Strömen. Die Wärme tat wohl, sogar an diesem Sommerabend.
»Sorgen?«, fragte Alexander liebevoll und strich dabei über die Hand seiner Frau.
»Ja, wegen Sibylle Germersheim«, gestand Denise. »Heute hat Ihre Tante angerufen. Obwohl sie das Kind verleugnen will, um sich die Chancen bei ihrem Verlobten nicht zu verderben, nimmt sie Anteil an ihrer kleinen Nichte. Ich fand ihre Stimme sympathisch. Zu schade, dass sie so unsicher und verkrampft ist. Was kann es einem Mann schon ausmachen, wenn die Schwester seiner Braut ein uneheliches Kind hatte? Das ist beinahe wie ein Komplex.«
»Wahrscheinlich geht es ihr gegen die Familienehre. So etwas gibt es. Man kann nichts dagegen machen. Ich möchte behaupten, dass Sibylle unter diesen Umständen in Sophienlust besser aufgehoben ist.«
»Aber sie steht immer noch abseits und gehört nicht richtig zu den anderen Kindern. Henrik führt sie manchmal durch die Ställe. Sie freut sich über die Tiere. Aber vor dem Reiten fürchtet sie sich.«
»Hat es Andrea schon mal versucht? Im Tierheim Waldi & Co. ist schon oft genug das Eis gebrochen.«
»Nick und Pünktchen haben Sibylle zweimal mitgenommen zu Andrea. Die Kleine hat die Tiere angestaunt, Andreas Apfelkuchen mühselig heruntergeschluckt, sich artig bedankt und ist wieder gegangen. Andrea meinte, Sibylle sei wie von einer Glashülle umgeben. Man komme nicht an sie heran.«
»Nicht einmal du, Isi?«
»Ich habe mehrfach abends an ihrem Bett gesessen. Sie ist dann zutraulich und freundlich. Aber es bleibt ein Rest. Dieses Kind hat unbewusst darunter gelitten, dass es von seiner Tante als ein ungebetener Eindringling betrachtet wurde. Solche Wunden sind schwer zu heilen. Wir müssten etwas finden, was Sibylles Interesse weckt.«
»Sagtest du nicht, dass sie musikalisch ist?«
Denise sprang auf und umarmte ihren Mann stürmisch. »Du bist wunderbar, Liebster. Natürlich müssen wir es mit Musik probieren. Ich hätte selbst darauf kommen müssen. Ihre Mutter war hochmusikalisch. Der Vater soll Künstler gewesen sein, Musiker. Wolfgang Rennert muss sich mit Sibylle beschäftigen. Flötenstunden, Singen, irgendetwas. Ich hoffe, dass sie das auflockern wird.«
Alexander streichelte Denises dunkles Haar, in dem sich noch kein einziger grauer Faden zeigte. »Sie sollen alle glücklich sein, die Kinder von Sophienlust, nicht wahr, Isi?«
»Ja, Alexander, das ist unsere Aufgabe. Ich werde morgen gleich mit Wolfgang Rennert sprechen.«
Sie blieben noch vor dem Feuer beisammen, bis die Scheite in sich zusammensanken und verglühten. Dann löschte Alexander von Schoenecker die Lampen und ging mit Denise die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf. Wie gewohnt sahen sie nach, ob bei Nick und Henrik alles in Ordnung war. Beide Jungen schliefen. Henrik hatte die Decke verloren. Denise breitete sie behutsam über ihren Jüngsten. Nick wachte auf und blinzelte ins helle Licht, das vom Flur in sein Zimmer fiel.
»Schlaf gut, mein Großer«, raunte Denise ihm ins Ohr.
»Danke, Mutti. Gute Nacht, Vati.« Nick drehte sich um und war bereits wieder eingeschlafen, ehe sich die Tür schloss.
Eine Viertelstunde später erlosch das letzte Licht im Gutshaus von Schoeneich. Alexander griff im Dunkeln nach der Hand seiner Frau.
»Diese Jahre mit dir sind vergangen wie ein einziger erfüllter Tag, Isi. Manchmal frage ich mich, ob wir so viel Glück verdienen.«
Sie schmiegte sich in seine Arme. »Man verdient das Gute nie, das einem widerfährt, Alexander. Alles ist Gnade und Geschenk. Wir können nur versuchen, anderen Menschen so viel wie möglich von unserer Harmonie und unserem Reichtum an Glück abzugeben.«
Der Mann schloss ihren schlanken Körper fest und innig. »Du denkst stets an die anderen, nie an dich selbst, Isi.«
»Ich vergesse mich schon nicht, Alexander«, widersprach sie.
»Es kommt dir so sehr aus dem Herzen, dass du es gar nicht weißt«, erwiderte er liebevoll und verschloss ihre warmen Lippen mit den seinen.
*
Wolfgang Rennert nahm Sibylles Hand. »Tante Isi hat mir gesagt, dass du gern Musik machen möchtest. Hast du es schon mal auf unserem Flügel versucht?«
Das Kind hob die großen ernsten Augen zu ihm auf. »Ich dachte, das ist nicht erlaubt. Meine Tante mochte es nicht leiden, wenn ich mir ein Lied zusammensuchte. Ekelhaftes Geklimper, sagte sie nur.«
»Probieren wir es mal, Billchen.«
Im Allgemeinen musste man Sibylle mehrmals zureden, wenn man ihr einen Vorschlag machte. Doch diesmal schloss sie sich dem Hauslehrer sofort an. Im Musikzimmer schaute sie mit angehaltenem Atem zu, wie er den Deckel über den Tasten des Flügels hochklappte, und lauschte still, als er ein einfaches Kinderlied spielte.
»Jetzt du«, ermunterte er sie.
Sibylle stellte sich an das Instrument. Sie zögerte nur kurz. Dann spielte sie ein Wiegenlied, dessen Text sie leise sang. Mit der rechten Hand tippte sie die Melodie, ohne sich auch nur einmal zu vergreifen, mit der linken schlug sie einfache Akkorde dazu an. Das geschah mit erstaunlicher Sicherheit und ohne jede Disharmonie.
»Sehr hübsch. Wer hat dir das beigebracht, Billie?«
»Niemand. Ich habe es mir selbst ausgedacht. Aber ich möchte richtig spielen. Ich weiß nicht, wie man die Finger setzt. Wenn unsere Lehrerin in der Schule spielte, klang es viel besser.«
Wolfgang Rennert war begeistert. Sibylle war ein Naturtalent. Daran gab es keinen Zweifel. Er summte einen Ton und fragte sie, ob sie ihn auf den Tasten finden könne. Sie schlug sofort die richtige Taste an. Das wiederholte sich mehrere Male.
Absolutes Gehör, stellte der junge Lehrer bei sich fest. Das gibt es nicht oft. Es wird eine Freude sein, diesem Kind etwas beizubringen.
»Kannst du mehr spielen?«, ermutigte er sie.
»Ja, eine ganze Menge, aber auch nur so.«
Sibylle trug nun ihr gesamtes Repertoire vor. Es war ziemlich groß, und sie fand sich sogar mit Modulationen zurecht, weil ihr musikalisches Ohr ihr stets den richtigen Weg wies.
»Möchtest du richtig spielen lernen?«, fragte Wolfgang Rennert. »Es ist nicht ganz leicht. Du wirst jeden Tag üben müssen, denn die Finger brauchen lange, bis sie richtig flink über die Tasten laufen können.«
Sibylle holte tief Atem. »Am liebsten möchte ich gleich anfangen, Herr Rennert. Aber Sie haben jetzt bestimmt keine Zeit.«
»Doch, Billchen. Ich gehe nur schnell in unsere Wohnung drüben im Anbau und hole die Klavierfibel. Du musst nämlich auch Noten lernen. Wir wollen es richtig und gründlich machen.«
Sibylle strahlte ihn an, als sei Weihnachten. »Ich habe es mir immer gewünscht, Herr Rennert. Manchmal wollte ich Tante Isi fragen, ob ich auf dem großen Flügel ein bisschen klimpern darf. Aber dann bekam ich Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Billchen. Fragen kostet nichts. Tante Isi hat lange darüber nachgedacht, wie sie dir eine Freude machen könnte. Dabei ist ihr die Musik ganz zuletzt eingefallen.«
»Meine Mutter hat auch viel Musik gemacht. Ich weiß es von unserer Barb. Ihre Geige steht noch auf dem Speicher. Einmal bin ich hinaufgeschlichen und habe sie aus dem Kasten genommen. Aber es war nur noch eine Saite darauf.«
»Fangen wir mit dem Klavier an, Billchen. Du wirst staunen, wie rasch wie ein paar Stücke zusammen spielen können. Aber du musst mir versprechen, dass du nicht die Lust verlieren wirst, wenn wir Tonleitern üben und es ein bisschen langweilig wird.«
»Musik ist nicht langweilig«, versicherte Sibylle ernsthaft. »Holen Sie jetzt das Buch mit den Noten?«
»Ja, ich beeile mich.«
In den folgenden anderthalb Stunden erlebte Wolfgang Rennert ein kleines Wunder. Sibylle war so begabt, dass sie das, was er ihr erklärte, im Augenblick erfasste. Ihre kleinen Hände waren geschickt, ihre Anschläge präzise und sicher. Sie lernte in der ersten Klavierstunde ihres Lebens so viel, dass der Lehrer am Ende einen Schrecken bekam.
»Wir müssen aufhören für heute«, erklärte er bestürzt. »Es wird zu viel. Du kannst das nicht alles im Kopf behalten.«
Sibylle lachte ihn an. Ja, sie lachte. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Sophienlust.
»Das vergisst man doch nicht. Ich weil, wie es klingen muss. Soll ich Ihnen das hier noch einmal vorspielen? Ich brauche gar nicht mehr auf die Noten zu schauen. C – G – H – C, nicht wahr, so fängt es an?«
»Du bist wirklich schneller als alle meine bisherigen Schüler. Hast du es nicht doch schon einmal gelernt?« Wolfgang Rennert konnte es einfach nicht glauben.
»Ehrlich nicht, Herr Rennert. Es fällt mir ganz leicht. Darf ich weiterüben, wenn Sie jetzt gehen?«
»Du darfst spielen, soviel du willst, Billchen.«
Sibylles zierliche Finger glitten bereits wieder über die Tasten. Zum Mittagessen erschien sie mit glühenden Wangen und ließ sich den Teller nachfüllen. Das war noch nie vorgekommen. Im Gegenteil, hin und wieder war sogar ein Rest auf ihrem Teller zurückgeblieben.
Irmela, die ein bisschen Klavier spielen konnte, staunte über Billchens Eifer. »Macht dir das denn Spass? Ich war froh, als ich keine Stunden mehr nehmen musste.«
»Ich möchte von früh bis abends am Klavier sitzen. Hoffentlich zeigt mir Herr Rennert heute Nachmittag noch etwas Neues«, antwortete Billchen mit heller Stimme. »Es ist nicht schwer. Eigentlich geht es beinahe von selbst. Nur meine Hände müssten größer sein, damit ich besser greifen kann.«
»Du wächst ja«, tröstete Irmela. »Noch ein bisschen Fleisch?«
»Ein ganz kleines Stück bitte. Komisch, dass Musik hungrig macht.«
Sibylle verzehrte auch das dritte Stück Fleisch. Hinterher löffelte sie noch eine große Portion Himbeergrütze mit Vanillesoße.
Frau Rennert registrierte die Veränderung des Kindes mit heimlicher Freude. Ihr Sohn hatte ihr bereits erzählt, mit welchem Eifer Sibylle bei der Sache war.
Kaum war die Tafel aufgehoben, kehrte Sibylle auch schon ins Musikzimmer zurück. Henrik, der an diesem Tag mit den Kindern in Sophienlust gegessen hatte – wegen der Himbeergrütze –, schloss sich ihr an.
»Versuch doch mal was anderes«, forderte er sie auf, nachdem sie die vorgeschriebenen Übungen viermal fehlerfrei durchgespielt hatte.
»Was denn?«
»Irgendetwas. Ein Lied oder so etwas.«
Sibylle dachte ein Weilchen nach. Dann tippte sie zaghaft mit einem Finger eine Melodie. Es hörte sich zart und beschwingt an, zumal sie mit leiser Stimme die zweite Stimme dazu summte.
»Was ist das?«, fragte Henrik. »Es klingt schön.«
»Ich weiß es nicht. Ich habe es manchmal im Radio gehört. Jetzt will ich noch ein bisschen Begleitung dazu machen.«
Henrik schaute mit großen Augen zu, wie sie ein paar Dreiklänge anschlug. Dann wiederholte sie die Melodie. Es hörte sich fast wie ein kleines Konzert an.
»Das könnte ich nicht«, gestand Henrik freimütig. »Woher weißt du, wie es klingen muss? Bei mir hört es sich nämlich grauslich an.«
Er ging an die Tasten und intonierte mit einem Finger. »Fuchs, du hast die Gans gestohlen.« Mehrmals erwischte er eine falsche Taste. Und als er mit der linken Hand eine Begleitung dazu spielen wollte, wurde es die reinste Katzenmusik.
Sibylle lachte und hielt sich die Ohren zu. »Merkst du nicht selbst, dass das ganz falsch ist, Henrik? Das tut mir richtig weh im Kopf.«
Henrik sah sie verständnislos an. »Weh tut es mir nicht«, meinte er. »Aber schön klingt es nicht. Das stimmt.«
Die Tür öffnete sich, und Wolfgang Rennert trat ein.
»Spiel es Herrn Rennert mal vor«, ermutigte Henrik seine Freundin. »Ich fand es prima.«
»Was denn?«, erkundigte sich der junge Lehrer.
Billchen hob die mageren Schultern. »Ich weiß nicht einmal, was es ist. Aber es gefällt mir. Ich habe es im Radio gehört. So ähnlich klang es.«
Wieder spielte sie die zarte Melodie, summte die zweite Stimme dazu und schlug ein paar Akkorde als Begleitung dazu an.
»Sehr hübsch«, meinte Wolfgang Rennert anerkennend. »Das ist ein Menuett von Mozart. Ich will es dir einmal vorspielen.«
Er schraubte den Klavierschemel herunter und setzte sich an den Flügel. Sibylle und Henrik lauschten andächtig.
»Ist es ein Tanz?«, fragte Billchen, als er geendet hatte. »Ich finde, man könnte dazu tanzen.«
»Ja, ein Menuett ist ein altmodischer Tanz.«
»Bitte, spielen Sie es noch einmal. Ich möchte sehen, wie Sie es mit den Fingern machen.«
Wolfgang Rennert tat ihr den Gefallen.
»Bitte, zeigen Sie es mir«, bettelte Sibylle. »Ich möchte das selbst spielen können.«
Der junge Lehrer ließ sich von Billchens Eifer und Begeisterung anstecken. Der Schemel wurde wieder in die für das Kind erforderliche Höhe gedreht. Dann zeigte er Billchen die ersten Takte. Mit nachtwandlerischer Sicherheit spielte sie das Stück nach. Ihre kleinen Finger schienen ein Eigenleben zu besitzen.
Es verging etwa eine halbe Stunde, dann konnte Billchen das kleine Menuett spielen. Ihr sonst so ernstes Gesichtchen leuchtete und strahlte vor Freude. Die Füße, die die Pedale noch längst nicht erreichen konnten, wippten den Takt, und ihr Körper bewegte sich zum Rhythmus der Musik.
Henrik hatte sich auf den Boden gekauert und staunte seine Freundin an. »Du musst es Mutti vorspielen«, forderte er sie auf.
»Glaubst du, dass sie sich freuen wird?«
»Klar. Bei uns war noch nie ein Kind, das so schön gespielt hat.«
»Ich muss es doch erst lernen, Henrik.«
»Na, ich finde, du kannst schon sehr viel.«
Wolfgang Rennert, der etwas anderes zu tun hatte, verließ das Musikzimmer mit heimlichem Bedauern. Am liebsten hätte er noch stundenlang mit diesem ungewöhnlich begabten Mädchen geübt. Es lag auf der Hand, dass Sibylle ein ganz großes einmaliges Talent besaß. Das bedeutete für den Musiklehrer eine verlockende Aufgabe und eine große Verantwortung.
Wolfgang Rennert begegnete Denise von Schoenecker in der Halle. Rasch berichtete er ihr von seinem spontanen Erfolg bei Sibylle.
»Wie schön«, sagte Denise herzlich. »Mein Mann brachte mich gestern auf diesen Gedanken.«
»Hören Sie sich Billchen bitte selbst einmal an«, bat Wolfgang Rennert. »Man sollte meinen, dass sie schon Unterricht gehabt hat. Sie ist so musikalisch, dass sie sich die jeweiligen Harmonien zu einer Melodie nach dem Gehör zusammensuchen kann. Man liest manchmal von solchen Naturbegabungen, aber so recht mag man nicht daran glauben. Hier erlebe ich nun selbst, dass es das gibt.«
»Mir ist Billchens Talent nicht das wichtigste«, äußerte Denise freundlich. »Sie soll Freude an der Musik finden und dadurch glücklich werden.«
»Gehen Sie nur zu ihr. Sibylle ist lebhaft und fröhlich. Sie hat bei Tisch tüchtig gefuttert und ist dann gleich wieder an den Flügel zurückgekehrt.«
Denise eilte ins Musikzimmer, um sich mit eigenen Augen und Ohren zu überzeugen. Sie fand ihren Jüngsten mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden.
Er legte den Finger auf die Lippen und blinzelte seiner Mutter zu. Sibylle bemerkte nicht, dass jemand ins Zimmer getreten war. Ihre Hände glitten über die Tasten. Wieder erklang das Mozart-Menuett, frei und sicher vorgetragen, ohne einen einzigen Fehler.
Denise umarmte das Kind, als es geendet hatte.
»Gefällt es dir, Tante Isi? Herr Rennert gibt mir Unterricht, damit ich alles spielen kann, was ich mag. Noten lerne ich auch. Ein Glück, dass noch Ferien sind. Da habe ich wenigstens den ganzen Tag Zeit zum Üben. Man muss sehr fleißig sein, sagt Herr Rennert. Aber ich bin gar nicht fleißig. Es macht mir bloß Spass.«
»So viel auf einmal hatte Sibylle bislang noch nie gesprochen. Denise strich ihr das Haar ein wenig zurück. »Du sollst spielen, soviel du magst, Billchen.«
Das Kind schlang die Ärmchen um ihren Hals. »Jetzt bin ich gern in Sophienlust, Tante Isi. Ich möchte für immer bei euch bleiben.«
Voller Liebe dachte Denise an ihren Mann, dem sie den guten Rat verdankte. Nun gehörte auch Sibylle ganz und gar ins Haus der glücklichen Kinder.
*
Anita wartete ungeduldig am Fenster. Frederik hatte sich sonst nie verspätet. Jetzt aber wartete sie bereits eine volle Stunde auf ihn. Sie war zum Ausgehen angekleidet und trat in ihren hochhackigen Schuhen unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Endlich sah sie einen großen luxuriösen Wagen vorfahren, neben dem sich ihr eigenes Auto beinahe bescheiden ausnahm, obwohl es sich dabei immerhin um ein Mittelklassemodell aus Frankreich handelte, das nicht gerade billig war.
Anitas Herz schlug schneller, als sie Frederik erblickte. Er trug einen riesigen Blumenstrauß im Arm und winkte ihr lebhaft zu, als er sie am Fenster entdeckte.
Barbara ließ ihn ein und nahm ihm den hellen Staubmantel ab. Er drückte ihr auch das Blumenpapier in die Hand. Dann endlich standen sich die beiden Liebenden gegenüber.
»Für dich«, flüsterte Frederik und gab Anita die Blumen, prachtvolle dunkelrote Rosen. Er musste einen ganzen Laden geplündert haben, so viele waren es.
»Entschuldige, Liebste. Ich musste auf das Auto warten. Ich habe es eben erst gekauft. Es machte einige Schwierigkeiten mit der Anmeldung.«
»Ein toller Wagen.«
»Wir fahren gleich damit. Er gefällt dir bestimmt. Einen Tisch im Restaurant habe ich auch reservieren lassen. Heute feiern wir zwei ganz allein unsere Verlobung, denn ich habe endlich den richtigen Ring für dich gefunden.«
Anitas Wangen glühten. Sie legte die Rosen beiseite und nahm ein kleines Kästchen entgegen, das mit Leder überzogen war. Es wirkte an den Kanten und Ecken schon ein wenig abgewetzt. Vorsichtig drückte Anita auf den Verschlussknopf. Der Deckel sprang hoch. Auf goldgelber Samtunterlage steckte ein in Brillanten gefasster Rubinsolitär von einmaliger Schönheit. Dieser Verlobungsring war einer Fürstin würdig und hatte gewiss ein Vermögen gekostet.
»Frederik«, flüsterte Anita.
»Gefällt er dir?«, fragte er und küsste sie auf den Mund. »Ich wollte etwas Besonderes haben. Solche Stücke werden heute gar nicht mehr angefertigt.«
»Wem mag er wohl früher gehört haben?«, überlegte Anita halblaut und schob den Platinreif über ihren Finger. »Er passt mir.«
»Wertvolle Juwelen wechseln oft den Besitzer«, erklärte Frederik leichthin. »Du kannst dir zu dem Ring selbst eine romantische Story ausdenken. Du jedenfalls sollst ihn behalten und niemals weitergeben.«
»Das ist der schönste Ring, den ich je gesehen habe«, äußerte Anita andächtig und betrachtete ihre Hand. »Du bist ein Künstler und Zauberer. Erst gestern sind wir angekommen. Heute hast du bereits ein Auto gekauft und dieses viel zu wertvolle Geschenk für mich.«
»Das ist mit Auto ist nur eine Frage des Geldes. Bei dem Rubin hatte ich Glück. Ich fand fast auf Anhieb, was ich suchte.«
»Ich wüsste gar nicht, wo man so etwas kaufen kann.«
»Nun, das ist mein Geschäft. Davon verstehe ich etwas. Der Ring sieht gut aus an deiner Hand. Du musst achtgeben, dass du ihn nicht verlierst.«
»Das wäre schrecklich. Ich passe bestimmt immer gut auf. Wollen wir etwas trinken, ehe wir aufbrechen?«
»Es ist schon spät geworden. Ich habe den ganzen Tag zu tun gehabt und bin hungrig. Fahren wir!«
Anita übergab Barbara die Rosen und zeigte ihr den Ring. Die Haushälterin schlug die Hände zusammen. Ihre anfangs reservierte Haltung Frederik Mintow gegenüber wurde freundlicher. Wenn er ein so kostbares Schmuckstück für Anita kauft, muss er es aufrichtig meinen, dachte sie. Dennoch war ihr der Mann mit dem kurzen aschblonden Haar und den eng stehenden Augen noch immer ein wenig fremd und sogar unheimlich.
Jetzt legte er die schneeweiße Stola um Anitas Schultern und verließ mit ihr das Haus.
»Es kann spät werden, Barb«, rief Anita fröhlich zurück. »Wir feiern heute Abend unsere Verlobung.«
Eine Stunde später ließ Frederik Mintow bereits die zweite Flasche französischen Champagner öffnen. »Ich bin schon beschwipst«, sagte Anita lachend. »Aber es ist der schönste Tag in meinem Leben. Da darf ich schon einmal leichtsinnig sein.«
Das Kerzenlicht brach sich in den Brillanten an ihrem Ring und wurde von ihren glänzenden Augen widergespiegelt. Sie sah hinreißend schön aus, ohne es zu wissen.
»Ich habe heute mit verschiedenen Geschäftspartnern telefoniert«, berichtete Frederik Mintow. »Auch für mich ist dies in mehrfacher Hinsicht ein Glückstag. Nicht nur deinetwegen.«
»Hast du gute Abschlüsse erreichen können?«, fragte Anita gespannt. »Ich möchte gern mehr von deinem Beruf wissen.«
»Ich bin so gut wie entschlossen, eine riesige Edelsteinmine auf Ceylon zu übernehmen. Ich besitze schon seit Jahren Anteile daran. Jetzt will sich der eine Partner wegen seines Alters zurückziehen. Wir haben inzwischen festgestellt, dass die Mine noch auf Jahrzehnte hinaus reichen Gewinn abwerfen muss. Wir werden an einem der schönsten Plätze der Welt leben. Du wirst alles haben, wovon eine Frau träumt.«
»Du meinst, dass wir nach Ceylon ziehen sollten?«
»Natürlich. Wenn mir die Mine gehört, muss ich mich auch um die Aufsicht kümmern. Und warum sollen wir in Deutschland Regen und schlechtes Wetter hinnehmen, wenn wir unter Sonne und Palmen leben können? Es hat dir doch gefallen in den Tropen?«
»Ja, es war unwirklich schön.«
»Es wird in Zukunft genauso werden, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Wir kaufen oder bauen ein Haus, größer und schöner noch als deines hier. Wir werden glücklich sein und können nach Europa fliegen, falls uns mal der Sinn danach steht. Wenn du willst, werde ich auch dein Geld in der Mine investieren, sobald Anteile verfügbar sind. Das liegt ganz bei dir.«
»Ich möchte mich mit meinem ganzen Besitz beteiligen«, erklärte Anita. »Glaubst du, dass wir mein Vermögen transferieren könnten, auch meinen Haus- und Grundbesitz?«
»Das wird sich einrichten lassen. Denkst du daran, die alte Villa hier zu verkaufen? Willst du alle Brücken abbrechen?«
»Nach Ceylon kann man sie ja leider nicht mitnehmen.«
»Du musst tun, was du für richtig hältst. Wahrscheinlich ist das Gebäude nicht leicht verkäuflich.«
»Die Stadt hat mich schon mehrmals angesprochen. Es ist ein idealer Bau für repräsentative Zwecke. Wir werden uns erkundigen, welchen Preis man bietet.« Sie betrachtete den Rubin an ihrem Finger. »Eine Edelsteinmine erscheint mir eine bessere Geldanlage als ein altmodisches großes Haus.«
»Damit hast du allerdings recht. Ich schätze das Haus mit dem Grundstück auf eine Million oder mehr.«
»Kann sein. Schulden liegen nicht darauf. Mit einer halben Million kann ich also rechnen.«
»Nur mit einer halben? Wieso?«
Anita spielte mit ihrer Serviette. »Es gibt noch eine entfernte Verwandte, die Rechte besitzt.«
»Die Hälfte? Das ist sehr viel.«
»Daran kann ich nichts ändern.«
»Musst du erst ihr Einverständnis einholen, falls du verkaufen willst?« Frederik fragte jetzt sehr sachlich und geschäftsmäßig. »Das wäre unbequem und zeitraubend.«
»Nein, ich habe freie Verfügung. Nur muss ich die andere Hälfte mündelsicher anlegen. Das kann ich meinem Anwalt überlassen.«
»Mündelsicher? Warum? Das bringt nichts ein. Die Mine wirft mindestens zwanzig Prozent Reingewinn ab. In manchen Jahren waren es sogar mehr als dreißig Prozent.«
»Ich müsste mich erkundigen, wie die Rechtslage ist. Mit meinem eigenen Geld kann ich tun, was ich will.«
»Wer ist diese Verwandte? Erzähle doch.«
»Vielleicht später, Frederik. Es ist nicht besonders interessant. Ich habe keinen Kontakt zu ihr. Es ist eine rein juristische Angelegenheit.«
»Wie du willst. Trotzdem solltest du ihr empfehlen, sich mit ihrem Geld zu beteiligen. Wer will nicht gern reich werden? Das schlägt kein vernünftiger Mensch aus heutzutage.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Doch wir brauchen ja heute Abend noch keine Entschlüsse zu fassen. Noch hast du die Miene ja nicht in Besitz genommen.«
»Das wird in den nächsten Tagen bereits geschehen, mein Schatz. Ich muss schnell handeln, sonst kommt mir jemand zuvor.«
»Ich bewundere dich, Frederik.« Sie schüttelte den Kopf. »Da reden wir von Geld und Geschäften und es ist unser Verlobungstag. Das wollen wir nicht ganz vergessen. Ich bin glücklich, und ich liebe dich.«
»Ja, Anita. Ich liebe dich auch. Doch mein Glück wird erst vollständig sein, wenn du meine Frau bist. Am liebsten würde ich gar nicht mehr warten.«
»Wir hatten ausgemacht, dass wir um Weihnachten herum heiraten. Eine Frau hat viel zu erledigen vor der Hochzeit.«
»Was gibt es da schon groß zu tun? Wahrscheinlich muss ich schon in Kürze nach Ceylon. Natürlich können wir auch dort Hochzeit feiern, wenn dir das Spass macht. Ganz, wie du willst.«
Sie schloss die Lider und lächelte. »Eine Traumhochzeit unter Palmen. Warum nicht? Eigentlich wollte ich in meinem Elternhaus ein großes Fest feiern und die Bekannten und Freunde dazu einladen, die ich jahrelang vernachlässigt habe. Doch ich habe mit allen die Verbindung verloren. Es wäre sicherlich mit den meisten ein seltsames Wiedersehen. Lieber will ich in der Fremde mit dir getraut werden.«
»Mir gefällt dieser Gedanke auch gut, mein Schatz. Sprich nur gleich morgen mit deinem Rechtsberater über den Verkauf des Hauses und vor allem der Wertpapiere. Solche Sachen ziehen sich manchmal lange hin. Aber ich werde dafür sorgen, dass du auf jeden Fall in das Geschäft einsteigen kannst. Verlass dich auf mich.«
Anita trank von dem kühlen perlenden Champagner und achtete nicht darauf, dass Frederik viel mehr von Geld und Geschäften als von Liebe sprach. Im Gegensatz zu ihr hatte er einen klaren Kopf bewahrt und nur mäßig getrunken. Sie aber sah eine weiße Villa unter Palmen vor sich und dachte an herrliche Edelsteine, die Tag für Tag aus der Mine kommen würden, um sie und Frederik so reich wie ein Königspaar im Märchen werden zu lassen.
Es war spät, als die beiden aufbrachen. Anita musste sich ein wenig auf Frederiks Arm stützen, denn ihr war, als drehe sich alles um sie.
Im Wagen war er von stürmischer Zärtlichkeit. Anita erwiderte seine Küsse und lag glückselig in seinem Arm.
»Jetzt musst du nach Hause«, raunte er ihr schließlich ins Ohr. »Deine Barbara bekommt sonst einen schlechten Eindruck von mir. Das möchte ich nicht. Morgen früh rufe ich dich an.«
Anita schlug die Augen zu ihm auf. »Wenn wir jetzt noch im Hotel auf den Bahamas wären, würde ich dich nicht fortschicken von meiner Tür«, flüsterte sie.
»Es war richtig, dass wir nicht den Kopf verloren haben«, antwortete er. »Lange dauert es nicht mehr. Dann wirst du meine Frau sein – in Colombo auf Ceylon.«
Er strich sich das Haar zurück und ließ den Wagen an. Durch die nächtlich stillen Straßen glitt das luxuriöse Auto fast unhörbar dahin.
»Erinnerst du dich noch an die wundervollen Sterne am südlichen Himmel, Frederik? Wie kühl ist Deutschland dagegen.«
»Wir werden die südlichen Sterne bald wiedersehen, mein Schatz. So, nun bist du zu Hause. Da brennt noch Licht. Ich glaube, Barbara hat auf dich gewartet.«
»Natürlich, das tut sie immer.«
Frederik stieg aus, um die Tür an ihrer Seite zu öffnen. Sorgsam führte er sie bis zur Haustür der Villa, die sich sogleich öffnete. Barbara hatte bereits gehört, dass der Wagen gekommen war.
»Auf morgen, Frederik. Dank für alles.«
»Du brauchst mir nicht zu danken. Leb wohl, Anita. Gute Nacht, Frau Barbara.«
Anita umarmte die Haushälterin und blickte den roten Schlusslichtern von Frederiks Wagen mit Tränen in den Augen nach. »Ich liebe ihn, Barb. Endlich weiß ich, dass das Leben wunderbar sein kann.«
Barbara zog sie in die Diele und verschloss die Tür. Dann führte sie Anita die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, wo sie sie auszog wie ein kleines Mädchen.
»Lege den Ring hier neben mein Bett auf den Nachttisch«, bat Anita schlaftrunken. »Wenn ich aufwache, werde ich ihn als erstes sehen und an Frederik denken.«
Barbara hängte das Kleid auf einen Bügel, schaffte mit ein paar Handgriffen Ordnung und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer, denn Anita war bereits eingeschlafen. Der prachtvolle Ring leuchtete geheimnisvoll neben ihrem Kopf unter der Bettlampe.
*
Sibylle fuhr nun jeden Morgen mit dem roten Bus in die Schule, denn die Ferien waren zu Ende. Sie war ins zweite Volksschuljahr aufgenommen worden und kam im Unterricht gut mit. Seit sie ihre Liebe zum Klavierspiel entdeckt hatte, gab es keine Schwierigkeiten mehr für das lebhafte, intelligente Kind. Sibylle war mit allen Kindern in Sophienlust ein Herz und eine Seele. Auch in der Schule fand sie sofort Kontakt zu den Kindern aus der näheren Umgebung. Sie gab sich frei und offen. Die frühere Schüchternheit war von ihr abgefallen wie ein alter abgetragener Mantel. Sie lernte leicht und passte sich dem neuen Unterrichtssystem mühelos an.
Einmal kam die treue Barbara für ein Wochenende zu Besuch und wollte ihren Augen nicht trauen, als Billchen ihr sonnengebräunt und glückselig entgegengelaufen kam.
Billchen spielte ihr auf dem großen Flügel vor, und Barbara rannen ein paar Tränen über die Wangen.
»Jetzt würde Tante Anita nicht mehr sagen, dass es ein Geklimper ist, Barb«, stellte das Kind fröhlich fest.
»Gewiss nicht, Billchen. Ich glaube, du spielst sogar besser als deine Mutter. Sie fing erst mit zehn oder elf Jahren zu spielen an. Du bist ja erst sieben.«
»Ich werde im Herbst schon acht«, rief Sibylle eifrig aus. »Weißt du, ich möchte spielen wir eine richtige Künstlerin. Herr Rennert hat mir Schallplatten vorgespielt. Es gibt Konzerte für Klavier und Orchester. Berühmte Männer haben die Noten geschrieben. Wenn ich groß bin, will ich diese Stücke selbst spielen.«
»Du hast dir viel vorgenommen. Aber mach nur so weiter.«
Barbara sprach mit Denise von Schoenecker und Frau Rennert, natürlich auch mit Wolfgang Rennert, der Billchen so liebevoll unterrichtete. Als sie abreiste, nahm sie die Gewissheit mit, dass Sibylle in Sophienlust ein glückliches Kind geworden war.
*
Am Samstag darauf hatte Sibylle ein großes Erlebnis und eine entscheidende Begegnung. Es fing damit an, dass Andrea von Lehn ihrem Vater mitteilte, dass sie leider nicht mit zum Konzert nach Frankfurt fahren könne, weil Peterle nicht ganz in Ordnung sei. Frau Dr. Frey habe zwar versichert, dass kein Grund zur Sorge bestehe, doch wolle sie ihr Söhnchen nicht allein lassen, so zuverlässig ihre Hausgehilfin Betti auch sein möge.
Alexander von Schoenecker wollte daraufhin mit seinem Schwiegersohn sprechen. »Mutti und ich hatten uns auf diese Familienfahrt so gefreut«, seufzte er. »Kommst du wenigstens mit, Hans-Joachim?«
Der junge Tierarzt zögerte. Es widerstrebte ihm, Andrea allein zu lassen. Andererseits mochte er seine Schwiegereltern nicht enttäuschen.
Alexander hörte im Hintergrund die Stimme seiner Tochter.
»Natürlich fährst du mit, Hans-Joachim. Du musst mir dann erzählen, wie das Konzert war.«
»Ich komme also mit, Vater«, ließ sich Hans-Joachim vernehmen. »Andrea will es selbst. Aber ihre Karte bleibt übrig.«
»Wir werden sehen, was sich tun lässt, Hans-Joachim«, meinte Alexander. »Vielleicht möchte Carola Rennert mitfahren. Sie kommt wenig aus dem Haus, seit sie ihre Zwillinge hat. Sie braucht mal eine Abwechslung und Anregung.«
Hans-Joachim von Lehn verabschiedete sich und kehrte eiligst in seine tierärztliche Praxis zurück. Alexander von Schoenecker aber benachrichtigte Denise. Diese wandte sich an Wolfgang Rennert und lud Carola, seine junge Frau, zu dem Konzert ein.
Doch Wolfgang Rennert machte einen Gegenvorschlag. »Wie wäre es, wenn Sie Sibylle mitnehmen würden, Frau von Schoenecker?«
»Ist sie nicht noch zu klein dafür? Zwei Stunden klassische Musik ist für ein Kind eine ganze Menge. Dazu kommt die weite Fahrt. Wir wollen Billchen nicht überfordern.«
Wolfgang Rennert überlegte kurz. »Ich weiß, dass sie schrecklich gern mal ein Konzert hören möchte, Frau von Schoenecker. Da es sich diesmal um das Auftreten eines international bekannten Pianisten handelt, möchte ich Sibylle dieses Kunsterlebnis gönnen. Thilo Bach spielt doch, nicht wahr?«
»Ja, das ist richtig.«
Denise suchte Carola Rennert auf, bewunderte das Zwillingspärchen im Laufstall und trug ihr das Problem vor.
Carola redete ihr zu, das Kind mitzunehmen. »Ich erinnere mich gut, wie stark mich als kleines Mädchen die Bilder großer Meister angesprochen haben, Tante Isi. Unser Billchen besitzt ein ungewöhnliches Musiktalent. Ein berühmter Künstler wie Thilo Bach kann ihr wahrscheinlich mehr vermitteln als der beste Unterricht.«
Denise schloss sich der Meinung des jungen Ehepaares an. »Also gut. Soll unser kleines Klavierwunder mitfahren. Sibylle kann schließlich auf der Rückfahrt im Auto schlafen.«
So waren die Würfel gefallen. Sibylle wurde vor Freude ganz blass, als sie erfuhr, dass sie mit dem Ehepaar von Schoenecker und Dr. von Lehn ins Konzert gehen dürfe.
Schwester Regine suchte Billchens schönstes Sonntagskleid heraus und bürstete das Haar des Kindes, bis es schimmerte wie Seide.
Im Konzertsaal traf das bildhübsche Kind manch verwunderter Blick. Sibylle war mit Abstand die jüngste Besucherin. Sie hatten Plätze in der vordersten Reihe, sodass Billchen nicht nur hören, sondern auch sehen konnte, was auf dem Podium vor sich ging. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen betrachteten sie den großen Konzertflügel. Das Stimmen der vielen Instrumente des Orchesters verfolgte sie mit wacher Aufmerksamkeit. Dann betrat Thilo Bach mit dem Dirigenten das Podium. Beifall rauschte auf. Doch Sibylle klatschte nicht. Sie wartete nur auf die Musik.
Es wurde still im Saal. Der Dirigent hob den Stock, die Künstler richteten die Blicke auf ihn, bereit für ihren Einsatz. Das Kind tat einen tiefen Atemzug, als die Musik begann. Es blickte unverwandt auf den Pianisten, der seinem Instrument die herrlichsten Tonfolgen entlockte. Seine Hände schienen kraftvoll und doch zart. Sibyllchen war wie gebannt.
Aber auch die übrigen Zuhörer konnten sich der Zauberkraft von Thilo Bachs Spiel nicht entziehen. Wieder einmal versetzte er sein Publikum in eine andere Welt, riss jeden einzelnen mit und erfüllte die Musik der großen Meister mit pulsierendem Leben.
»Gefällt es dir?«, fragte Denise flüsternd am Ende des ersten Satzes und legte den Arm um Billchens Schultern.
Das Kind gab keine Antwort. Es schien die Frage gar nicht gehört zu haben.
Der zweite Satz folgte. Es war ein Klavierkonzert von Robert Schumann, meisterhaft vorgetragen. Alexander von Schoenecker griff nach der Hand seiner geliebten Frau. Dr. Hans-Joachim von Lehn dachte an Andrea und wünschte, sie säße jetzt an seiner Seite. Doch als er zu dem Kind hinüberschaute, begriff er, dass diese erste Begegnung mit einem großen Künstler für Sibylle von großer Bedeutung war. Noch nie hatte er auf einem Kindergesicht eine solche Seligkeit erblickt.
Nach Schumann stand Chopin auf dem Programm. Danach kam die Pause. Alexander und Denise hatten Bekannte und Freunde entdeckt, mit denen sie ein paar Worte wechseln wollten.
»Kommst du mit, Billchen? Du kannst ein belegtes Brot haben oder ein Eis.«
Sibylle schüttelte das Köpfchen. »Ich bleibe lieber hier, Tante Isi. Zu essen brauche ich nichts.«
Hans-Joachim von Lehn schloss sich seinen Schwiegereltern an, denn er wollte eine Erfrischung zu sich nehmen.
Das kleine Mädchen sah sich plötzlich allein. Aufmerksam betrachtete es die leeren Stühle des Orchesters, die Instrumente, soweit sie zurückgelassen worden waren. Immer wieder wurde sein Blick magisch von dem großen aufgeschlagenen Konzertflügel angezogen.
Niemand achtete auf Sibylle, als sie aufstand und die Stufen hinaufstieg, die zum Podium führten. Niemand bemerkte, dass sie durch die Tür schlüpfte, durch die die Künstler auf die Bühne gekommen waren.
*
Thilo Bach schaute einigermaßen verblüfft auf die Tür, die sich lautlos und behutsam öffnete. Er hatte ausdrücklich darum gebeten, ungestört zu bleiben.
»Wo kommst du denn her?«, fragte er lächelnd, als das kleine Mädchen sich durch den Türspalt zwängte.
Sibyllchen sah ihn glückselig an. »Ich habe Sie gesucht.«
»Gesucht hast du mich? Sitzt du nicht in der ersten Reihe?«
»Ist es schwer, so zu spielen?«, fragte Sibyllchen, ohne auf des Künstlers Worte einzugehen. »Es sieht aus, als ginge es von selbst.«
»Willst du es lernen? Da musst du sehr viel üben, kleine Dame. Soll ich dir mal etwas vorspielen?«
Sibylle nickte nur. Sie fühlte sich zu dem blonden Mann, der mit seinen Händen den Flügel zum Singen bringen konnte, wie von einer geheimnisvollen Macht hingezogen.
Thilo Bach vergaß, der er müde gewesen war und sich ausruhen wollte. Der unerwartete Besuch dieses Kindes machte ihn auf eine ihm selbst nicht begreifliche Weise glücklich. Er intonierte auf dem Klavier, das in dem Künstlerzimmer stand, eine einfache Weise.
Sibylle summte mit. »Das kenne ich«, flüsterte sie, als er die Hände von den Tasten nahm.
»Kannst du denn spielen?«
»Ja, ein bisschen.«
»Versuch’s mal.«
Sibylle setzte sich mit absoluter Selbstverständlichkeit auf den Schemel. Ihre kleinen Finger wiederholten mit unbeirrbarer Sicherheit, was Thilo Bach zuvor gespielt hatte. Es war ein kleines Stück von Beethoven.
»Du, das ist großartig«, lobte Thilo Bach seinen kleinen Gast. »Kannst du noch mehr?«
Sibylle spielte das Menuett von Mozart und danach einen Satz aus einem Stück von Haydn, das sie gerade mit Wolfgang Rennert einstudiert hatte.
»Wie alt bist du?«, wollte Thilo Bach wissen.
»Sieben, bald acht. Wenn ich größer bin, werde ich über mehr Tasten greifen und auch auf die Pedale treten können. Schade, dass es so lange dauert, bis man erwachsen ist.«
Thilo Bach legte die Hand auf die Schulter des kleinen Mädchens. »Das geht schnell genug. Mach nur so weiter. Du spielst gern, nicht wahr?«
»Ja. Ich sitze immer am Klavier, wenn ich mit den Schulaufgaben fertig bin. Manchmal spiele ich natürlich auch draußen mit den anderen Kindern – ich meine, Verstecken und solche Sachen.
Wir haben einen großen Park und einen Gutshof mit vielen Tieren.« Sibylle plauderte ganz unbefangen. Der berühmte Künstler kam ihr durchaus nicht fremd vor.
»Du wohnst also auf dem Lande?«
»Ja, in Sophienlust. Bei Tante Isi von Schoenecker. Ich durfte mit ins Konzert fahren, weil Tante Andrea bei ihrem kleinen Baby bleiben musste.«
Thilo Bach nickte, als wisse er genau, wer die Genannten seien. »Wie heißt du eigentlich?«, erkundigte er sich freundlich.
»Sibylle Germersheim.«
Der Künstler lauschte dem Klang des Namens nach. Hatte er ihn nicht schon einmal gehört? Nein, wohl nicht.
Er zog aus einem flachen Koffer, der auf dem Klavier gelegen hatte, eine Fotografie von sich und schrieb auf die Rückseite:
Für Sibylle von Thilo Bach, zur Erinnerung.
»Danke«, flüsterte Sibylle andächtig. »Ich werde mir einen Rahmen dazu kaufen und das Bild neben meinem Bett aufstellen. Wenn ich es anschaue, kann ich an das Konzert denken. Ich bin froh, dass es noch nicht zu Ende ist. Wird es lange dauern?«
»Noch zwei Stücke, Sibylle. Wenn die Menschen tüchtig Beifall klatschen, spiele ich sogar eine kleine Zugabe.«
»Es sollte nie aufhören«, seufzte Sibylle. »Wenn es so tönt und klingt, singt mein Herz mit.«
Thilo Bach zog sie unwillkürlich ein wenig an sich. »So ähnlich geht es mir auch, Sibylle. Musik ist etwas Wunderbares. Du scheinst einen guten Lehrer gefunden zu haben.«
»Ja, Herr Rennert. Er kann schön Klavier spielen. Aber nicht so wie Sie.«
Ein leises Klingelsignal ertönte. »Jetzt ist die Pause bald zu Ende«, erklärte der Pianist. »Du musst zu deinem Platz zurück. Sonst wirst du gesucht.«
»Ich sitze ganz vorn. Das finde ich leicht.« Sibyllchen wäre am liebsten noch länger bei Thilo Bach geblieben. Doch er führte sie zur Tür.
»Du musst gehen, Sibylle. Ich will an die Musik denken, die ich gleich spielen soll. Da kann ich dich nicht gebrauchen.«
Ein Mitglied des Orchesters führte Sibylle zurück in den Saal. Denise und Alexander hatten ihren kleinen Schützling schon vermisst. Sie waren höchst verwundert, als das Kind mit einem Künstlerfoto erschien, das die eigenhändige Widmung von Thilo Bach trug.
»Wie bist du zu ihm gekommen?«, fragte Denise und betrachtete die Aufnahme.
»Ich habe gesehen, dass er mit den anderen Musikern dort oben durch die Tür gegangen ist, Tante Isi. Er ist jetzt mein Freund. Weißt du, dass er mich schon vorher hier gesehen hatte?«
Sibyllchen hatte glänzende Augen und heiße Wangen. Sie berichtete, dass Thilo Bach ihr etwas auf dem Klavier vorgespielt hätte und dass auch sie ihm habe vorführen dürfen, was sie inzwischen gelernt hatte. Sie war aufgeregt und überglücklich.
Der Beginn des zweiten Teils des Konzerts versetzte die Zuhörer erneut in eine verzauberte Stimmung. Auch das Kind lauschte angespannt und ohne jedes Anzeichen von Ermüdung.
Zum Schluss klatschte Sibylle so laut, wie sie nur konnte. »Wenn wir genug klatschen«, rief sie den drei Erwachsenen zu, »spielt er mehr.«
Thilo Bach ließ sich die erste Zugabe abschmeicheln. Es folgte danach eine zweite. Als der tosende Beifall sich noch immer nicht legen wollte, setzte er sich unter dem Jubel des Publikums ein letztes Mal an den Flügel.
»Für Sibylle«, sagte er und nickte seiner kleinen Verehrerin zu.
Er spielte das Menuett von Mozart, das das Kind ihm in der Pause vorgetragen hatte. Sibylle wagte kaum zu atmen. Ihre Augen leuchteten, ihr Mund lächelte.
Zu allem Überfluss reichte Thilo Bach ihr von den vielen, vielen Blumen, die man ihm aufs Podium gebracht hatte, einen Rosenstrauß zu. »Für dich«, sagte er herzlich. »Denke manchmal an mich.«
Das Kind vermochte nicht zu antworten. Es wurde von der Last des gewaltigen Gebindes fast erdrückt. Denise trat hinzu und dankte dem Künstler mit ein paar freundlichen Worten.
Sibyllchen blieb wie festgebannt stehen, bis die Musiker endgültig gegangen waren. Dann erwachte sie wie aus einem Traum. Tränen rannen ihr über die Wangen. Es war zu viel für sie gewesen. Denise hob sie auf und legte sie ihrem Schwiegersohn in die Arme.
»Ich bin nicht traurig«, schluchzte Sibylle. »Warum ich weinen muss, weiß ich nicht.«
Dr. Hans-Joachim von Lehn trug sie ins Auto. Auf der langen Heimfahrt durch die warme Sommernacht schlief das Kind tief und fest, und in Sophienlust nahm Denise sich die Zeit, das schlaftrunkene Billchen persönlich zu Bett zu bringen. Sie lehnte das Bild des Künstlers an die Vase, in die sie die Rosen getan hatte.
»Das letzte Stück hat er nur für mich gespielt«, flüsterte das Kind, schon halb im Schlaf.
Denise küsste die klare, hohe Stirn des kleinen Mädchens und löschte das Licht. Leise ging sie hinaus.
»Hoffentlich hat sich Sibylle nicht zu sehr aufgeregt«, sagte sie zu ihrem Mann, als sie wieder zu ihm in den Wagen stieg. »Immerhin bin ich überzeugt, dass Herr Rennert recht hatte mit seinem Vorschlag.«
»Wir sollten der Kleinen öfter Gelegenheit geben, gute Musik zu hören«, erwiderte Alexander gedankenvoll. »Seltsam, wie schnell sie Kontakt zu Thilo Bach gefunden hat.«
»Er scheint warmherzig und freundlich zu sein. Unser Billchen wird diesen Abend wohl nie vergessen.«
*
Währenddessen feierte Thilo Bach seinen großen Erfolg mit seiner schönen jungen Freundin Isabella von Wettering. Unmittelbar nach dem Konzert hatte ein Sektempfang der Stadt die Mitglieder des Orchesters, den Dirigenten, den prominenten Solisten und viele bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vereint. Doch jetzt war Thilo mit Isabella allein.
»Endlich stört uns niemand mehr«, stellte er fest. »Gleich kommt das Essen. Offizielle Empfänge sind etwas Gräßliches.«
Die bildhübsche Isabella, vierundzwanzig Jahre alt und Studentin der Musik, streichelte die Hand ihres Freundes. »Ich bin stolz auf dich, Thilo. Du warst heute besser als je zuvor.«
»Ich habe es selbst gemerkt. Aber jetzt bin ich ziemlich müde.«
»Die Menschen, die dir zuhören, haben sicherlich keine Ahnung, wie gewaltig deine Leistung ist, Thilo. Was war eigentlich mit dem kleinen Mädchen? Ist es nicht übertrieben, ein Kind ins Konzert zu schicken? Du hast ihr Blumen geschenkt.«
Sie wurden unterbrochen, weil zwei Kellner einen Servierwagen ins Hotelzimmer des berühmten Gastes rollten und mit geübten Griffen den Tisch deckten.
»Wir versorgen uns selbst, vielen Dank«, erklärte Isabella freundlich.
Die Hotelangestellten zogen sich zurück. Während Isabella die Teller füllte, erzählte Thilo von Sibylles Besuch im Künstlerzimmer. »Sie hat viel Talent«, äußerte er lebhaft. »Ich wünschte, ich könnte ein Kind wie sie unterrichten. Aber dazu bleibt mir keine Zeit.«
»Weißt du, wie sie heißt?«
Er hob die Schultern. »Sibylle. Der Familienname ist mir wieder entfallen. Sie sagte, sie wohne auf einem Gut. Sophies Lust oder so ähnlich heißt es.«
»Sophienlust?«
Überrascht sah Thilo seine Freundin an. »Du kennst es? Ja, das war der Name.«
»Das Gut meiner Eltern ist nicht allzu weit entfernt von Sophienlust. Es handelt sich um ein Kinderheim. Frau von Schoenecker hat es in einem Gutshaus gegründet. Du kannst sicher sein, dass man dort das Talent des Kindes gewissenhaft fördert.«
»Das beruhigt mich, offen gestanden, Bel. Vielleicht werde ich das kleine Mädchen mal wiedersehen. Es würde mich interessieren, was aus ihr wird. Nicht immer entwickeln sich siebenjährige Wunderkinder später zu guten Musikern. Allerdings hatte ich bei ihr das Gefühl, dass echte Musikalität und Begabung in ihr stecken. Ein interessantes Persönchen.«
Bel schob ihm den Teller zu. »Jetzt musst du endlich etwas essen. Es ist eine schlimme Angewohnheit von dir, vor einem Konzert den ganzen Tag zu fasten.«
Der Musiker zog Bels Hand an die Lippen. »Du brauchst auf das Kind nicht eifersüchtig zu sein«, scherzte er.
Isabella von Wettering richtete die samtbraunen Augen voll auf den Mann, den sie liebte. »Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann«, sagte sie mit fester Stimme. »Eifersucht ist etwas Dummes.«
Thilo Bach senkte die Lider, als er dem klaren Blick ihrer samtbraunen Augen begegnete. Er schämte sich ein wenig, denn er hatte Gefühle bisher noch niemals ernst genommen. Schöne Frauen waren in seinem Leben gekommen und gegangen. Er hatte die Rosen gepflückt und sie dann achtlos am Weg liegenlassen, wenn er eine andere Blüte gefunden hatte. Neue Liebe beflügelte ihn und feuerte ihn zu immer größeren Leistungen auf dem Konzertpodium an. Das Mädchen, dem sein Herz gehörte, musste stets so sitzen, dass er in ihr Gesicht blicken konnte beim Spiel. Doch es war in jedem Konzertwinter ein anderes Gesicht gewesen.
»Liebe kleine Bel«, murmelte er. »Morgen fliegen wir nach Paris. Kommst du mit mir?«
»Bis ans Ende der Welt, Thilo. Ich sorge mich nur, weil du diese Sommertournee durch ganz Europa gebucht hast und zu keiner richtigen Erholung vor dem Winter kommen wirst. Jeder Mensch muss mal ausspannen, sogar du.«
Der Künstler machte eine geringschätzige Handbewegung. »Ohne Musik kann ich nicht existieren. Ich brauche die ständige Herausforderung, den Wechsel, das atemlose Zuhören des Publikums, den wilden Beifall. Später, wenn ich alt bin, werde ich genug Zeit zum Ausruhen haben.«
Bel schwieg. Doch sie bemerkte das nervöse Zucken um seine Augen und das ganz leichte Zittern seiner Hand, als er das Glas wieder hob.
»Auf dich, Bel.«
»Nein, Thilo, auf dich. Immer nur auf dich.«
Später lag die schöne Bel in seinen Armen. Sie war unendlich glücklich, denn dies war die Stunde, in der Thilo Bach ihr allein gehörte.
*
»Warum hast du Geheimnisse vor mir?«, fragte Frederik und küsste Anita zärtlich. »Ich merke, dass du mir etwas verbirgst. Hast du kein Vertrauen zu mir? Schau mal, ich bin dir gegenüber vollkommen aufrichtig gewesen. Du weißt, dass ich klein angefangen habe und auf meine Vergangenheit nicht gerade stolz sein kann. Aber es beunruhigt mich, dass du dich über deine Verwandte so beharrlich ausschweigst.«
Die beiden saßen beim Tee. Barbara hatte dazu Brötchen gemacht und auch feines Gebäck in einer Silberschale bereitgestellt. Anita trug wieder einmal ein neues Kleid und sah darin besonders attraktiv aus. Sie hatte mit Frederik über den geplanten Verkauf der Villa gesprochen, deren Wert von einem Sachverständigen auf knapp zwei Millionen veranschlagt worden war. Doch zwei Schwierigkeiten waren aufgetaucht. Es würde nicht leicht sein, einen Käufer zu finden, der diese Kaufsumme sofort aufbringen konnte, und Anita musste nun erneut zugeben, dass sie nur über die Hälfte des Erlöses verfügen dürfte.
Anita rührte in ihrem Tee und kämpfte mit sich. »Du hast wohl recht, Frederik«, rang es sich endlich von ihren Lippen. »Es war dumm von mir, dass ich es dir nicht sagen wollte. Die andere Hälfte des Hauses und des Grundstücks gehört meiner kleinen Nichte. Ich bin ihr Vormund.«
Frederik Mintow verstand nicht sofort. »War deine verstorbene Schwester verheiratet?«, fragte er verwundert.
Anitas Wangen färbten sich dunkler. »Nein.«
»In euren Kreisen ist so etwas peinlich«, meinte Frederik unbekümmert. »Dabei bist du selbst entschlossen, einen Mann zu heiraten, der den Namen seines Vaters nie erfahren hat.« Er umarmte sie und spielte ein wenig mit ihrem Haar. »Wo steckt das Kind? Wie alt ist es?«
Anita gab sich einen Ruck und gestand ihm rückhaltlos, dass sie Sibylle in ein Kinderheim verbannt habe, weil sie sich ihrer schämte.
»Du bist ein süßes Dummchen«, erwiderte Frederik amüsiert. »Aber als du die Kleine wegbringen ließest, wusstest du doch nicht, dass der Mann deines Herzens gar keinen Grund hat, über so etwas die Nase zu rümpfen. Das Mädchen tut mir leid. Ich weiß, wie es in solchen Heimen zugeht, denn ich bin selbst ein paar Jahre lang in einem gewesen. Wir wollen deine Nichte zu uns nehmen. Ein Kind braucht eine richtige Familie. Wenn du damit einverstanden bist, adoptieren wir sie später. Ich mag Kinder gut leiden.«
Anita Germersheim sah Frederik ungläubig an. »Das würdest du tun? Es würde dir nichts ausmachen? Du hast nicht einmal gefragt, wer der Vater ist.«
»Als ob das wichtig wäre.«
»Du – du machst mich sehr glücklich, Frederik«, stammelte Anita bewegt. »Es hat mich oft bedrückt. Doch jetzt sehe ich endlich ein, dass mein Verhalten falsch und töricht war. Oft habe ich mich heimlich danach gesehnt, Sibylle in die Arme zu schließen und ihr Liebe zu schenken. Aber ich war nicht stark genug, um meine Hemmungen zu überwinden. Ich bildete mir ein, dass man in der Stadt mit Fingern auf uns zeigen würde. Lass dir danken, Frederik.« Sie schlang die Arme um ihn.
»Ich bin froh, dass du mir endlich volles Vertrauen schenkst, mein Schatz. Selbstverständlich nehmen wir das Kind mit.«
»Wie gut du bist, Frederik. Dabei kennst du Sibylle noch gar nicht. Wollen wir nach Sophienlust fahren und sie besuchen?«
»Später, Anita. Morgen muss ich nach Amsterdam, anschließend nach London und Berlin. Es gibt viel zu erledigen. Ich weiß nicht genau, wie lange ich unterwegs sein werde. Du hörst von mir. Sobald ich Zeit habe, besuchen wir die Kleine.«
Eine halbe Stunde später fuhr Frederik Mintow in seinem aufwendigen Wagen davon. Anita winkte ihm nach und lief dann zu Barbara in die Küche, um ihr von Frederiks großherzigem Angebot zu berichten. Die Haushälterin schüttelte zunächst ungläubig den Kopf. Dann siegte ihr Gerechtigkeitssinn über die letzten Vorbehalte gegen Anitas Verlobten.
»Er hat ein gutes Herz«, stellte sie mütterlich fest. »Ein Segen, dass du ihm reinen Wein einschenken konntest. Es war nicht recht, Sibyllchen zu verleugnen.«
»Nein, Barb, das war ein großes Unrecht. Ich sehe es ein und werde es gutmachen. Nie hatte ich bisher den Mut, mich zu Carolas Kind zu bekennen und es liebzuhaben. Das soll nun anders werden. Frederik hat mir gezeigt, dass Name und Herkunft nicht wichtig sind.«
»Du willst sie mitnehmen in das fremde Land?«, fragte Barbara etwas beklommen.
»Natürlich, Barb. Wirst du uns begleiten? Ich brauche dich.«
»Ich weiß es noch nicht«, seufzte Barbara. »Vielleicht bin ich nicht mehr jung genug für diese weite Reise. Lass mich in Ruhe darüber nachdenken.«
»Es wird dir gefallen, Barb. Das Leben ist viel leichter in den warmen Ländern. Du darfst nicht zurückbleiben. Du gehörst zu mir und Sibylle.«
»Ja, ja«, nickte Barbara. »Das stimmt. Wahrscheinlich bringe ich es am Ende gar nicht fertig, euch allein ziehen zu lassen.« Aber sie sah bei dieser Feststellung nicht gerade glücklich aus.
*
Nick entdeckte Sibylle in der Scheune, wo sie mit Vicky, Angelika und Heidi einen Wurf junger Katzen bewunderte. Er schwenkte einen Zeitungsausschnitt in der Hand.
»Hier steckst du«, sagte er. »Sonst bist du doch immer am Klavier.«
»Immer nicht«, widersprach Billchen leise, um die Katzenmutter mit ihren Kindern nicht zu erschrecken.
»Jawohl. Thilo Bach gastiert in Wien. Hier steht es. Wenn du deinen Brief an die Konzertagentur richtest, kriegt er ihn schon.«
Sibylles Interesse an den Kätzchen erlosch. Sie nahm das Stück Papier und buchstabierte den Text. Dabei verließ sie an der Seite des großen Jungen die Scheune.
Draußen schien die warme helle Nachmittagssonne. Trotzdem zog Billie ein missmutiges Gesicht. »Ich habe ihm jetzt fünf Briefe geschickt. Er müsste doch endlich mal antworten, findest du nicht?«
Nick verzog den Mund. »So berühmte Leute kriegen bestimmt viel Post. Es ist auch möglich, dass mal ein Brief verlorengeht.«
»Im ersten Brief war ein Foto von mir«, zählte Sibylle betrübt auf. »In den anderen Briefen habe ich ihm mitgeteilt, was ich am Klavier gelernt habe. Außerdem möchte ich eine Menge von ihm wissen. Aber wenn er nicht antwortet, hat es keinen Zweck, dass ich ihm schreibe.«
»Versuch’s nur noch einmal.« Nick verfolgte den Weg des bekannten Künstlers in allen Zeitungen, die er ergattern konnte. Er fand es hochinteressant, dass Sibylle mit Thilo Bach Freundschaft geschlossen hatte und ermutigte die Kleine immer wieder, die Hoffnung, dass er ihr antworten werde, nicht aufzugeben.
Da Nick eine lebhafte Phantasie hatte, malte er sich aus, dass Thilo Bach seiner kleinen Freundin eines Tages in Sophienlust einen Besuch abstatten würde. Selbstverständlich würde er dann ein Konzert geben. Nick versprach sich davon etwas ganz Außergewöhnliches, obwohl er nicht genau wusste, was.
Sibylle hatte keine so hochfliegenden Ideen. Sie übte seit dem Konzert und ihrem Gespräch mit Thilo Bach mit noch größerem Eifer am Flügel und wartete jeden Tag auf einen Brief von dem Pianisten. Doch dieser Brief kam leider nicht.
»Also gut, ich schreibe ihm noch einmal«, beschloss Sibylle. »Was könnte ich ihm denn diesmal schreiben?«
»Lade ihn ein, dich zu besuchen«, schlug Nick spontan vor. »Wir freuen uns mächtig, wenn er kommt.«
»Meinst du, dass deine Mutti das erlauben würde?«
»Klar. Kannst sie ja fragen. Gäste sind immer willkommen bei uns. Ich habe da ja auch ein Wörtchen mitzureden.«
Gelegentlich betonte Nick, dass ihm Sophienlust gehörte und er gewissermaßen die Rechte eines Hausherrn besaß. Er tat das ohne jede Angeberei.
»Wenn er käme, könnte ich ihm vorspielen, was ich inzwischen bei Herrn Rennert gelernt habe«, sagte Billchen sehnsuchtsvoll. »Seit ich das Menuett von ihm gehört habe, weiß ich erst, wie es richtig klingen muss. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich besucht.«
»Sophienlust ist ziemlich berühmt«, äußerte Nick zuversichtlich. »Es hat schon oft etwas über uns in der Zeitung gestanden. Vielleicht kommt er doch.«
Sibylle strebte ins Haus, und Nick blieb an ihrer Seite. Gemeinsam fassten die beiden den Brief, der ihnen so sehr am Herzen lag, ab. Nick buchstabierte dem kleinen Mädchen die schwierigeren Worte. Schließlich malte er in schönen, gleichmäßigen Blockbuchstaben die Adresse auf den Umschlag. Frau Rennert half mit einer Briefmarke aus, und Nick erbot sich, das wichtige Schreiben in den Briefkasten zu werfen.
Billchen lief nun ins Musikzimmer und klappte den Deckel über den Tasten des Flügels hoch.
Nick hörte sie gleich darauf spielen. Er war fest überzeugt, dass Billchen einmal eine große Künstlerin sein würde. Im Augenblick aber dachte er an den Brief, der sein Ziel unter allen Umständen erreichen sollte.
Nick klopfte an eine Tür und trat ein, sobald er hereingebeten wurde. Es war ein gemütlich eingerichteter Raum mit altmodischen Möbeln. Im Lehnstuhl am Fenster saß die alte Huber-Mutter, die ihren Lebensabend in der Geborgenheit von Sophienlust verbrachte und von den Kindern sehr verehrt wurde. Sie kannte sich mit Heilkräutern aus, wusste Tee daraus zu kochen, wenn jemand krank war, und hatte schon oft das künftige Schicksal eines Kindes zu deuten gewusst.
»Grüß Gott, Nick.« Das faltenreiche Gesicht lächelte dem Jungen entgegen. »Bringst du mir einen Brief?«
Nick ging zu ihr und verbeugte sich. »Grüß Gott, Huber-Mutter. Nein, der Brief soll weggeschickt werden. Er geht an den berühmten Klavierspieler, den unser Billchen im Konzert kennengelernt hat.
Sie hat ihm schon ein paarmal geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ob die Briefe überhaupt ankommen bei ihm?« Seine dunklen Augen richteten sich mit wacher Aufmerksamkeit auf seine alte Freundin.
Die Huber-Mutter streckte die Hand aus und entzifferte ein bisschen mühselig die Anschrift. »Nach Wien, ins Ausland, geht der Brief. Das ist richtig. Ich denke, dieser Herr hat Billchens Briefe bekommen. Aber vielleicht hat er keine Zeit, ihr zu schreiben, weil er so berühmt ist.«
»Sibylle will ihn zu uns einladen«, fuhr Nick eifrig fort. »Ob er kommen würde?«
Die Huber-Mutter blinzelte Nick zu wie eine Verschwörerin. »Willst du mal wieder hören, wie es weitergehen wird? Recht hast du, Nick. Ich glaube schon, dass er die Einladung annehmen wird. Viele berühmte Leute sind schon in Sophienlust gewesen.«
Nick strahlte. »Danke, Huber-Mutter. Jetzt bin ich richtig froh.«
»Nun, nun«, dämpfte die alte Frau seine Begeisterung. »Warte erst ab, was geschehen wird.«
Nick runzelte die Stirn. »Ist es nicht gut, wenn Thilo Bach nach Sophienlust kommt?«
»Doch, Nick. Für Billchen ist es ganz wichtig.«
»Wegen der Musik?«
»Hm.«
Mehr ließ die Huber-Mutter nicht aus sich herauslocken. Nick konnte sich das Ganze nun auslegen, wie er wollte. Er verabschiedete sich ziemlich rasch von ihr und schwang sich draußen auf sein Rad, um den Brief so schnell wie möglich in den Kasten zu werfen.
*
Sie waren im Kutschwagen durch den Wiener Wald gefahren und verzehrten nun in einem Gartenrestaurant ihr sonntägliches Mittagsmahl. Ein Baum spendete Schatten. Vögel zwitscherten in den Zweigen. Es war eine Stunde der Erholung, wie Thilo Bach sie selten genug erlebte.
Bel kaufte eine Postkarte. »Du musst der Kleinen wenigstens ein paar Zeilen schicken, Thilo. Ich finde ihre Briefe reizend.«
Der Künstler warf eilig ein paar freundliche Worte auf die Karte, die seine Freundin an sich nahm, um sie später zu adressieren und abzuschicken.
»Ich werde Noten für sie aussuchen«, beschloss Thilo. »Du hast recht, sie hat eine Antwort verdient. Bestimmt macht ihr so ein Brief viel Mühe. Sie ist erst sieben.«
»Wenn du mir sagst, was du ihr schicken willst, besorge ich die Noten«, erbot sich Bel. »Hast du das Foto noch?«
Er nickte und griff in seine Brieftasche. »Hier. Es gefiel mir so gut, dass ich es eingesteckt habe. Es ist das Gegengeschenk für mein Bild. Sie hat auch eine Widmung darauf geschrieben. ›Für Thilo Bach von Sibylle Germersheim, als Andenken‹.« Er lächelte und reichte Bel die kleine Aufnahme.
»Ernst schaut sie aus«, stellte Bel fest. »Sie hat interessante Augen. Deine Augen sind ganz ähnlich. Wahrscheinlich habt ihr beide Musikeraugen.«
Thilo Bach lachte. »Es sollten wohl mehr die Ohren sein, in denen sich das ausdrückt. Du hast zu viel Phantasie, Bel. Aber es schmeichelt mir, dass dir meine Augen gefallen.« Er küsste ihre Hand und nahm das Bild wieder an sich.
»Wenn du meine Eltern besuchst, könntest du bequem einen Abstecher nach Sophienlust machen«, sagte die junge Frau. »Du bist ja eingeladen.«
»Leider werde ich keine Zeit dazu haben, Bel. Du kennst mein Programm genauso gut wie ich. Vielleicht später.«
Bel unterdrückte einen Seufzer. »Ja, Thilo, später.« Sie sah ihm in die Augen und lächelte.
Eine gute Stunde danach kehrten sie in die Stadt zurück. Sie mussten die Koffer packen, denn es sollte mit dem Schlafwagen in der Nacht nach Rom gehen.
Bel nahm wie gewohnt alles in ihre geschickten Hände. Sie notierte auch zwei Notenbände, hinterlegte das erforderliche Geld und beauftragte die Hotelsekretärin, die Sendung an Sibylle abzuschicken.
Als Bel in Thilos Hotelzimmer zurückkehrte, erschrak sie sehr. Ihr Freund sah aschfahl aus und stützte sich schwer atmend auf die Platte des Tisches, neben dem er stand.
»Was ist, Thilo?«, flüsterte Bel und eilte auf ihn zu. Sie sah winzige Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Lippen waren bläulich verfärbt.
»Mir ist schwindlig geworden. Es hat nichts zu bedeuten«, stieß er gepresst hervor und duldete, dass sie ihn zu seinem Sessel führte. Erschöpft ließ er den Kopf nach hinten auf die Lehne sinken. Das Atmen schien ihm schwerzufallen.
»Ich rufe einen Arzt«, beschloss Bel.
»Nein, das ist nicht nötig«, wehrte er sich mit matter Stimme. »Es ist gleich vorüber.«
»Du kannst so nicht reisen, Thilo. Ein Arzt weiß sicher, was dir jetzt hilft.«
Er wollte aufstehen, um ihr zu beweisen, dass es ihm wieder gutgehe. Doch die Beine versagten ihm den Dienst. Deshalb erhob er keinen Einspruch mehr, als Bel sich mit dem Hotelempfang verbinden ließ und darum bat, sofort einen Arzt zu Thilo Bach zu schicken.
Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Es war ganz still in dem großen eleganten Hotelzimmer.
Nach zwanzig Minuten klopfte es. Der Arzt war ein jovialer Wiener von strahlender Liebenswürdigkeit. Doch sein Gesicht wurde ernst, als er seinen prominenten Patienten untersuchte.
»Sie gehören ein paar Tage fest ins Bett, Meister«, erklärte er kategorisch. »Herz und Kreislauf sind betroffen. Damit spaßt man nicht. Anschließend müssen Sie sich gründlich ausruhen und erholen. Ich rate Ihnen, gleich ins Krankenhaus zu gehen, damit man Sie gründlich untersuchen kann. Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich eine Ambulanz und telefoniere mit dem Krankenhaus, damit dort alles zu Ihrem Empfang vorbereitet wird.«
»Ich muss nach Rom. Übermorgen Abend gebe ich dort ein Konzert. Dann folgt Madrid, Lissabon. Ich muss meine Zusage einhalten, Doktor.«
»Wenn Sie in Madrid oder Lissabon begraben sein möchten, dann reisen Sie nur«, äußerte der Doktor sarkastisch. »Man wird Ihnen im Krankenhaus bestätigen, dass Sie absolute Ruhe brauchen. Keine Konzertagentur der Welt kann von Ihnen verlangen, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.«
Thilo Bach sackte in seinem Sessel noch tiefer in sich zusammen. »So ernst sieht es aus?«, flüsterte er.
»Ja, leider, Meister. Aber wenn Sie sich in Behandlung begeben und sich Ruhe gönnen, kommt das in Ordnung. Sie haben sich ständig zu viel abverlangt. Ein Mensch ist keine Maschine. Und sogar eine Maschine muss hin und wieder überholt werden.«
Der Künstler fühlte sich so schwach, dass er sich fügte. »Bel, du musst sofort mit Michels telefonieren. Die restliche Sommertournee wird abgesagt. Ich habe keine Lust, mich in Lissabon begraben zu lassen. Michels muss das regeln. Ich bin für niemanden zu erreichen. Wenn möglich, soll die Öffentlichkeit nichts davon erfahren, dass ich schlappgemacht habe.«
»Ich kümmere mich um alles, Thilo. Mach dir keine Gedanken. Deine Gesundheit ist jetzt das einzig Wichtige.« Bels Stimme bebte. Sie zwang sich gewaltsam zur Ruhe, so schwer es ihr auch fiel.
Der Arzt bestellte einen Krankenwagen und erbot sich, den Patienten persönlich zu begleiten. Bel versprach, dass sie nachkommen werde, sobald sie die Weiterreise abgesagt und die sich daraus ergebenden Formalitäten eingeleitet habe.
Am späten Nachmittag, nachdem sie alles erledigt hatte, erschien Bel im Krankenhaus, wo sie Thilo leidlich vergnügt in einem der schönsten Zimmer des Instituts vorfand. Der Professor hatte seinen freien Sonntag mit größter Selbstverständlichkeit geopfert und den Künstler eingehend untersucht.
»Es sieht glücklicherweise nicht gar so schlimm aus«, sagte der weißhaarige erfahrene Internist, nachdem er Bel mit einem »Küss die Hand, Gnädigste« willkommen geheißen hatte. »Der Herr Kollege befürchtete einen Infarkt. Daran sind wir gerade noch vorbeigekommen. Trotzdem darf man eine solche Warnung der Natur nicht in den Wind schlagen. Zweimal geht es sicher nicht so glimpflich aus. Der Maestro hat sich freiwillig bereit erklärt, eine Woche bei uns zu bleiben, damit er den kleinen Kollaps ganz überwindet. Anschließend rate ich zu einem Erholungsaufenthalt. Es braucht nicht gerade ein Sanatorium zu sein. Wichtig sind Ruhe, gute Luft, ländliche Umgebung, keine Aufregungen, Klavierspielen höchstens zum eigenen Vergnügen ein Stündchen am Tag. In zwei Monaten darf er sein Publikum wieder beglücken. Früher auf keinen Fall. So leid es mir tut.«
Thilo nickte dazu. »Ich habe schon Ja und Amen gesagt, Bel. Du hattest recht mit deinen Warnungen. Diese Hetze macht den Stärksten kaputt. Jetzt kannst du dir ausdenken, wo wir Ferien machen.«
»Da brauche ich nicht lange zu überlegen«, sprudelte Bel freudig und erleichtert hervor. »Wir fahren zu meinen Eltern. Dort hast du Ruhe, Landluft, keinen Ärger, keine Hast. Ich kann mir keinen besseren Platz für eine Erholung auf dem Land denken.«
Thilo Bach zögerte unmerklich. Dann neigte er zustimmend den Kopf. »Frage bei deinen verehrten Eltern an, ob ich mich bei ihnen einladen darf, Bel.«
»Sie freuen sich. Bei uns ist das Haus im Sommer für gute Freunde immer offen. Wir werden faulenzen, spazierengehen, frische Milch trinken und glücklich sein.«
Der Professor stellte ein paar Fragen und erfuhr, dass Bels Eltern ein Landgut besaßen. »Genau das richtige«, meinte er wohlwollend. »Sie müssen nur versprechen, dass Sie sich dort ärztlich betreuen lassen und lange genug bleiben. Mit zwei, drei Wochen ist das nämlich nicht getan.«
»Ich gebe Acht, Professor«, versprach Bel. »Auf mich können Sie sich verlassen.«
»Ja, den Eindruck habe ich.« Der Chefarzt zog Bels Hand an die Lippen, verbeugte sich und ließ das Paar allein.
»Wie gut, dass es nichts Schlimmes ist«, flüsterte die junge Frau und neigte sich über das Bett, um ihre Lippen auf Thilos Mund zu legen. »Ich habe entsetzliche Angst ausgestanden.«
Der Künstler ließ eine Strähne ihres braunen Lockenhaares durch seine Finger gleiten. »Angst, ja, die hatte ich auch«, gestand er mit gesenkter Stimme, »denn sie machten hier alle ganz ernste Gesichter und stellten eine Menge komplizierter Untersuchungen an. Bist du sicher, dass ich deinen Eltern nicht zur Last falle?«, schaltete er noch einmal ein.
»Wir könnten auch …«
»Gar nichts könnten wir. Du scheinst nicht zu wissen, dass man sich auf dem Land über Gäste immer freut. Ich würde es dir übelnehmen, wenn du meine Einladung ausschlagen würdest. Du gehörst jetzt nach Wetterhof. Außerdem hast du nun Zeit, deine Schwiegereltern kennenzulernen.«
Bel bemerkte nicht, dass Thilo Bach bei dem Wort Schwiegereltern die Augen zusammenzog, als blicke er in ein Licht, das ihn blendete.
»Du hast recht. Ich schulde ihnen längst einen Besuch«, erklärte er schließlich entschlossen. »Ist es ihnen eigentlich recht, dass du mich auf meine Reise begleitest? Sie haben sicherlich ziemlich strenge Vorstellungen über den Lebenswandel eines jungen Mädchens mit gutem Namen.«
Bel streichelte seine blasse Wange. »Meine Eltern haben Vertrauen zu mir und respektieren meine Entschlüsse. Sie sind aufgeschlossen und modern. Ich habe ihnen viel von dir berichtet. Sie haben dich längst akzeptiert und ins Herz geschlossen.«
»Hoffentlich sind sie nicht enttäuscht.«
»Du bist bisher noch überall mit offenen Armen aufgenommen worden. Nur keine falsche Bescheidenheit.«
So scherzten sie und kamen dabei allmählich über den Schrecken hinweg. Thilo Bach ließ sich umsorgen und verwöhnen. Er machte sich keine Gedanken mehr und war bereit, die schöne Bel von Wettering vor den Traualtar zu führen, obwohl er die Liebe immer noch nicht ernst nahm. Er wollte nett sein und Bel nicht enttäuschen.
*
»Sibylle, ich habe eine Überraschung für dich.«
Billchen, die am Flügel saß und die Stücke übte, die ihr im Auftrag Thilo Bachs übersandt worden waren, nahm die Hände von den Tasten und sah Denise fragend an.
»Thilo Bach hat vorhin angerufen.«
»Ist das wahr?« Sibylle freute sich so sehr, dass es ihr fast den Atem verschlug. »Was hat er gesagt, Tante Isi?«
»Dass er uns besuchen will. Er erholt sich auf einem Gut, das ungefähr eine Stunde von hier entfernt ist. Am Sonnabend kommt er. Grüße an dich hat er mir auch aufgetragen.«
»Ich hatte ihm geschrieben und gefragt, ob er mich besuchen wolle«, stammelte Billchen überwältigt. »Dann kam bloß die Postkarte und das Päckchen mit den Noten. Da habe ich nicht mehr geglaubt, dass er mich wiedersehen möchte. Du, ich freue mich.« Sibyllchen sprang auf und umarmte Denise stürmisch.
»Wir werden ihn festlich empfangen. Magda soll Torten backen. Und du kannst ihm vorspielen, was du inzwischen gelernt hast.«
Billchen nickte voller Eifer. »Wenn ich ihn schön darum bitte, setzt er sich sicher selbst an den Flügel. Dann kann Tante Andrea ihn doch noch anhören, obwohl sie damals nicht mit ins Konzert gehen konnte und mir ihre Karte geschenkt hat.«
»Vielleicht möchte er nicht spielen. Er sagte mir, dass er Ferien hat. Wir dürfen ihn nicht drängen, Billchen. Wahrscheinlich muss er überall, wo er eingeladen ist, ans Klavier, auch wenn es ihm keinen Spass macht.«
Billchen zog die Stirn kraus. »Für mich spielt er gern, Tante Isi«, behauptete sie zuversichtlich.
Denise strich dem Kind übers Haar. Sie widersprach nicht, denn sie ahnte, dass Sibylle recht hatte.
Die nächsten Tage waren mit allerlei Vorbereitungen ausgefüllt. Wolfgang Rennert setzte durch, dass der Flügel gestimmt wurde. Magda dachte sich ein festliches Menü für den Abend aus und rührte außerdem einen herrlichen Kuchenteig nach dem anderen.
Am Freitag erhielt Sibylle einen Brief von ihrer Tante Anita. Sie schrieb, dass sie sich Sophienlust ansehen und Sibylle bald besuchen wolle.
»Ich brauche sie gar nicht«, flüsterte das Kind ein bisschen trotzig. »Aber wenn sie da ist, will ich ihr etwas vorspielen. Bestimmt wird sie sich wundern.«
»Sie wird stolz auf dich sein«, begütigte Denise. »Ich glaube, du fehlst ihr.« Auch sie hatte ein Schreiben von Anita Germersheim bekommen, in dem diese die Absicht zu erkennen gegeben hatte, ihre kleine Nichte in einiger Zeit wieder zu sich zu nehmen. Sie wolle heiraten, und ihr Verlobter sei damit einverstanden, das verwaiste Kind zu adoptieren.
Denise freute sich über Anitas Sinneswandlung. Doch sie fragte sich besorgt, wie Sibylle sich dazu stellen würde. Das Kind fühlte sich in Sophienlust zu Hause und hatte noch nie den Wunsch geäußert, zu seiner Tante zurückzukehren.
So kam der wichtige Tag heran. Obwohl es bereits herbstlich wurde, lachte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Es war schulfreier Samstag, und die freudige Aufregung der Kinder knisterte in allen Winkeln und Ecken wie Elektrizität. Es war Nicks Idee, dem Auto des Gastes, der mit seiner Freundin Bel von Wettering erwartet wurde, ein Stück entgegenzureiten. Gleich nach dem Mittagessen zogen die Kinder ihre Reitsachen an und rannten in den Pferdestall, um die Ponys zu satteln. Nick und Irmela, die beiden besten Reiter, hatten große Pferde.
Justus, der ehemalige Verwalter von Sophienlust, legte mit Hand an und prüfte sachkundig, ob die Gurte richtig angezogen waren und die Steigbügel die vorgeschriebene Höhe hatten. Es war ein entzückendes Bild, als die Gruppe von kleinen Reiterinnen und Reitern davontrabte. An jedem Sattelknauf war ein Fähnchen befestigt. Damit wollten die Kinder dem Gast zuwinken.
Sibylle blieb ein bisschen traurig zurück, denn sie hatte sich nie entschließen können, in den Sattel zu steigen. Sie hielt Heidi Holsten bei der Hand, die noch zu klein war, um sich an einem solchen Ausritt zu beteiligen.
»Jetzt sind sie früher bei ihm als ich«, flüsterte Billchen enttäuscht. »Dabei kommt er doch zu mir.«
»Dafür spielst du ihm nachher etwas auf dem Flügel vor«, tröstete Heidi mit ihrer hellen Stimme.
»Hm. Trotzdem wünschte ich, ich könnte mit den anderen reiten. Warten ist eklig.«
Heidi blinzelte ihr zu. »Wir gehen zu Magda in die Küche. Vielleicht gibt es etwas zu schlecken.«
Sibylle vergaß ihren Kummer. Magda, die alle Hände voll zu tun hatte, steckte den beiden Mädchen ein paar Leckerbissen zu und verkündete außerdem, dass gleich die Schüssel, in der sie gerade die Zitronenspeise schlug, leer werden würde.
»Lass nicht zu wenig drin, Magda«, bettelte Heidi.
Die gutmütige Köchin, die schon zu Zeiten der alten Sophie von Wellentin das Regiment in der Küche geführt hatte, lachte. »So viel, dass ihr beide etwas kriegt, aber heute Abend keinen verdorbenen Magen habt. Torte wollt ihr doch nachher auch essen – oder nicht?«
Heidi leckte sich die Lippen. »Klar, Magda. Mindestens zehn Stück.«
»Das hat noch niemand geschafft, Heidi.«
Magda füllte die schaumige Zitronenspeise in mehrere Glasschalen und schob den Kindern die Rührschüssel hin. Mit den Fingern schleckten die beiden so lange, bis die Schüssel ganz blank und sauber aussah.
*
Um diese Zeit sahen Bel und Thilo eine Reiterkavalkade mit lustigen Fähnchen vor sich. Bel verlangsamte das Tempo des Wagens und hielt neugierig Ausschau.
»Sind Sie Herr Thilo Bach – auf dem Weg nach Sophienlust?«, fragte der dunkellockige Anführer der Kinder.
»Stimmt«, rief der Künstler zurück.
»Wir wollen Sie empfangen und Ihnen das Ehrengeleit geben«, verkündete Nick mit schmetternder Stimme. »Willkommen!«
Die Kinder ergriffen die Fähnlein und schwenkten sie fröhlich durch die Luft. Umringt von den jugendlichen Reitern setzte das Auto sehr langsam das letzte Stück der Fahrt fort.
»Wo steckt Sibylle?« Thilo Bach hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und fragte einen kleinen Reiter. Es war Henrik von Schoenecker.
»Billchen reitet nicht. Sie wartet zu Hause. Sie will Ihnen später etwas auf dem Flügel vorspielen.«
Der Ankömmling gab sich zufrieden.
»Ich habe dir schon angekündigt, dass du dich wundern wirst. Sophienlust ist eine einzigartige Einrichtung.« Bel lächelte Thilo an. »Du bist bestimmt noch nie von Reitern eingeholt worden wie ein Fürst im Mittelalter.«
Nun bog der Zug in die Einfahrt des Gutshauses ein.
»Dort steht Sibylle«, sagte Thilo Bach erfreut.
Billchen wartete mit Heidi und ein paar anderen kleinen Kindern. Auch dieses Grüppchen winkte nun mit Fähnchen.
»Wir begrüßen unseren hochberühmten Gast«, rief Nick begeistert aus. »Willkommen im Haus der glücklichen Kinder.«
»Ich danke euch vielmals. Das ist ein schöner Empfang.«
Thilo Bach stieg aus und ging auf Billchen zu, die ihm mit ausgebreiteten Ärmchen entgegenlief und ihre Fahne dabei verlor, ohne darauf zu achten.
Der blonde Mann hob das kleine Mädchen hoch in die Luft. »Grüß dich, Sibylle. Bei wem muss ich mich für die Einladung bedanken?«
»Sophienlust gehört Nick«, sagte Billchen. »Von ihm stammt auch die Idee, Sie einzuladen. Dort, der Junge auf dem großen Pferd, das ist er.«
»Er ist doch höchstens fünfzehn. Wie kann ihm dies alles gehören?«
In diesem Augenblick trat Denise am Arm ihres Mannes ins Freie. Sie hatte die letzten Worte gehört.
»Es ist richtig. Unser Junge ist der Eigentümer von Sophienlust, Herr Bach. Ich verwalte das Heim, bis er es selbst übernehmen kann, und mein Mann beaufsichtigt den Gutsbetrieb neben unserem Gut Schoeneich, das da drüben liegt. Dürfen wir uns dem Willkommensgruß der Kinder anschließen? Wir sind stolz auf Ihren Besuch und hoffen, dass es Ihnen und Fräulein von Wettering bei uns gefallen wird.«
Wie immer verstand es die schlanke liebenswürdige Denise, innerhalb weniger Augenblicke eine Atmosphäre der Herzlichkeit zu schaffen.
Die Reiter trabten davon, um ihre Pferde zu versorgen. Das gab den Übrigen ein wenig Zeit. Im Biedermeierzimmer machte man sich miteinander bekannt. Billchen wich keine Sekunde von Thilo Bachs Seite.
Die Gäste zeigten sich an allem, was das Heim betraf, interessiert. Thilo hatte sich auf Gut Wetterhof in reichlich vierzehn Tagen schon sichtbar erholt. Bel aber wirkte schöner denn je in ihrer Glückseligkeit.
Noch vor dem gemeinsamen Kuchenschmaus wurde das Haus besichtigt. Es folgte ein kurzer Rundgang durch den Park und ein kleiner Ausflug zu den Stallungen. Dann nahmen alle an den blumengeschmückten Tischen Platz.
Thilo Bach unterhielt sich angeregt mit Denise von Schoenecker sowie mit Andrea von Lehn, die ihm gegenübersaß. Billchen hatte den Platz an seiner Linken und konnte vor Aufregung gar nicht richtig essen.
Die größeren Mädchen füllten die Tassen nach und reichten die Torten herum. Die Stimmung stieg immer mehr, obwohl es nur Kaffee für die Erwachsenen und Kakao und Saft für die Kinder gab.
»Es scheint wahrhaftig ein Haus voller glücklicher Kinder zu sein«, stellte Thilo Bach fest. »Bist du gern hier, Sibylle?«
»Ja, sehr gern. Ich möchte für immer hierbleiben, Herr Bach. Schon wegen der Klavierstunden. Aber auch sonst. Sie verstehen mich schon.«
»Hm, ich verstehe dich. Hier kann man auf dem Gutshof herumtoben, im Park spielen oder im See schwimmen, wenn es warm genug ist. Es gibt große Wiesen und viele Tiere. Stadtkinder müssen solche Dinge entbehren und sehen sie höchstens mal in den Ferien.«
»Tante Andreas Mann ist Tierarzt«, plauderte Billchen eifrig. »Sie wohnen in Bachenau, ganz in der Nähe. Bei ihnen gibt es ein Heim der glücklichen Tiere. Das müssten Sie sich mal ansehen, Herr Bach.«
»Stimmt das – ein Tierheim?«
Andrea nickte. »Es ergab sich ganz von selbst. Wir sind allesamt große Tiernarren. So nahmen wir nach und nach einige verlassene Tiere auf. Hausherr ist der Dackel Waldi. Im übrigen haben wir eine recht zusammengewürfelte Gesellschaft. Eine Braunbärin mit ihren Jungen, ein Reh, einen Dachs, einen Igel, sogar eine Ringelnatter, dazu zwei ziemlich freche Schimpansen, zwei Esel, Füchse und so weiter.«
»Wer betreut denn diesen Privatzoo?«, warf Bel ein.
»Wir haben einen zuverlässigen Tierpfleger. Auch ich kümmere mich um die Tiere, die ein schönes Freigehege haben. Hin und wieder helfen uns die Kinder aus Sophienlust. Dafür pflegen wir ihre Goldhamster, Meerschweinchen, Katzen und Hunde, wenn sie krank sind.«
»Ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt kein Kinderheim, in dem man den Kindern erlaubt, sich eigene Tiere anzuschaffen. Das macht doch viel Arbeit.«
»Unsere Kinder sollen glücklich sein«, versetzte Denise freundlich.
»Wenn das Glück an einem Kanarienvogel oder einem Zwergkaninchen hängt, so sollte man das den Kleinen nicht verwehren. Im Allgemeinen betreuen sie ihre vierbeinigen und geflügelten Lieblinge ohne Hilfe und sehr gewissenhaft.«
»Erstaunlich«, murmelte Thilo Bach. »Sie lassen jede Neigung gelten. Wie kam es, dass Sie Sibylles Talent entdeckten?«
»Das war ein guter Ratschlag meines Mannes.« Denise nickte Alexander liebevoll zu. »Wir wussten nur, dass sie musikalisch ist.«
»Bei Tante Anita durfte ich nicht ans Klavier«, plauderte Billchen aus. »Aber wenn sie nicht da war, habe ich doch ein bisschen probiert. Wenn ich groß bin, möchte ich so spielen wie Sie.« Sie schenkte dem Künstler einen strahlenden Blick, in dem sich Liebe und Bewunderung ausdrückten.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du das schaffst, Billchen«, erwiderte Thilo Bach ernsthaft.
Bel schaute ihren Freund an und dann in das zarte Gesicht des kleinen Mädchens. Wieder fiel ihr auf, dass der Mann und das Kind die gleichen Augen zu haben schienen. Wahrscheinlich gibt es doch Musikeraugen, dachte sie.
Nun hob Frau Rennert die Nachmittagstafel auf. Ob Sibylle ihrem berühmten Freund jetzt etwas vorspielen dürfe, fragte Denise.
Das Kind hüpfte voraus ins Musikzimmer, dessen Türen weit geöffnet waren. Lampenfieber kannte Billchen nicht. Sie brannte darauf zu zeigen, was sie gelernt hatte.
Für die Erwachsenen standen Stühle bereit, die Kinder setzten sich ohne Umstände auf den blanken Parkettboden. Sibylle schaute Wolfgang Rennert fragend an und legte die kleinen Hände auf die Tasten, als er ihr zunickte.
Das fehlerfreie, taktsichere Spiel bereitete den Zuhörern großes Vergnügen. Sibylle kannte die Stücke auswendig und warf kaum je einen Blick in die aufgeschlagenen Noten, die der Musiklehrer für sie umblätterte.
Es gab herzlichen Beifall. Vor allem Bel zeigte sich begeistert. »Ich habe nicht gedacht, dass ein Mädchen von sieben Jahren so spielen kann«, gestand sie freimütig.
Thilo hob Sibylle hoch und küsste sie auf beide Wangen. »Mach so weiter, Sibylle. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Es wurde still. Sibylle setzte sich zwischen die Kinder auf den Boden, während der Künstler am Flügel Platz nahm.
Thilo begann mit bekannten Kinderliedern, improvisierte ein paar lustige Weisen und ging schließlich zu klassischen Stücken über, die er mit scheinbarer Mühelosigkeit in höchster Vollendung vortrug. Für die Erwachsenen war es ein erlesenes Kunsterlebnis. Sogar die Kinder spürten die Begegnung mit dem Einmaligen, mit echter musikalischer Größe.
Zum Abschluss intonierte Thilo Bach ein Lied nach Wunsch, in das alle einstimmen sollten. Wolfgang Rennert gab den Takt an, und der berühmte Gast konnte sich davon überzeugen, dass die Sophienluster Kinder ihre hellen Stimmen wohl zu gebrauchen wussten.
»Bravo!«, rief er aus. »Mit euch macht es Spass. Habt ihr nicht einen Platz frei in Sophienlust?«
»Bei uns ist immer Platz«, erwiderte Nick sofort. »Wollen Sie bei uns bleiben?«
»Halt«, mischte sich Bel von Wettering ein. »Da habe ich ein Wörtchen mitzureden. Wenn es recht ist, werden wir gelegentlich wiederkommen. Aber wohnen musst du schon bei uns, Thilo.«
»Es war nur ein Scherz, Nick«, sagte Thilo Bach. »Sophienlust ist ein Kinderheim. Ich bin leider schon zu alt. Aber ich verspreche feierlich, dass ich die Verbindung mit Sophienlust und mit Sibyllchen aufrecht erhalten werde.« Er streckte die Hand aus, und Billchen sprang sofort auf, um sich an seine Seite zu schmiegen. »Dürfen wir Brüderschaft schließen, Frau von Schoenecker?«, fragte er.
»Wenn Sie Billchen das erlauben wollen, machen Sie ihr gewiss eine Freude.«
»Du kannst mich Thilo nennen«, erklärte Thilo. »Onkel, das gefällt mir nicht ganz. So alt bin ich noch nicht. Wir sind richtige Freunde.«
Sibylle schien vor Stolz über diese Auszeichnung ein bisschen gewachsen zu sein. Kerzengerade stand sie neben dem Künstler und schaute glückselig zu ihm auf.
Nun nahm das sorgsam geplante Programm wieder seinen Lauf. Die Kinder veranstalteten Geschicklichkeitsspiele im Park, bei denen es kleine Preise zu gewinnen gab. Thilo Bach und Bel übernahmen das Ehrenamt der Gewinnverteilung. Schwester Regine unterstützte sie dabei und sorgte unmerklich dafür, dass jedes Kind zu seinem Recht kam, denn die Kleinsten waren den älteren Kindern in manchem Wettbewerb noch nicht gewachsen.
Viel zu schnell verging der Nachmittag. Das Abendessen vereinte alle wieder im Speisesaal. Nur Andrea von Lehn war abgefahren, weil es höchste Zeit für Peterles Fläschchen wurde.
Erst zu später Stunde kam ein Gespräch im Biedermeierzimmer zustande, während Bel bereits auf die Uhr sah und an den Aufbruch erinnerte.
»Es ist mir ernst mit der Freundschaft zwischen Sibylle und mir, verehrte Frau von Schoenecker«, erklärte Thilo nachdrücklich. »Ich möchte den Kontakt mit diesem Kind nicht verlieren. Es ist nicht allein Billchens Talent, das mich dazu veranlasst. Ich habe die kleine Sibylle einfach liebgewonnen.«
»Billchen erwidert diese Zuneigung. Sie hat Ihr Bild neben ihrem Bett stehen und ist Ihnen mit ihrem ganzen kleinen Herzen zugetan.«
Bel griff verstohlen nach Thilos Hand. Sie war von dem Kind nicht weniger entzückt als er. »Steht sie allein? Hat sie Angehörige?«, erkundigte sie sich.
»Es gibt eine Tante. Sonst ist niemand da.«
»Ob sie damit einverstanden wäre, dass ich auf die spätere Entwicklung des Kindes Einfluss nehme?«, fragte der Künstler.
»Ich weiß es nicht«, gestand Denise mit einem unmerklichen Seufzer. »Bisher sah es so aus, als wollte diese Tante möglichst gar nicht behelligt sein. Vor ein paar Tagen kündigte sie jedoch ihren Besuch an. Man soll nichts überstürzen, Herr Bach. Möglicherweise lässt sich ein Gespräch mit Frau Germersheim arrangieren. Vorerst ist Billchen bei uns gut aufgehoben, und der Unterricht durch unseren Herrn Rennert reicht auch aus.«
»Ja, gewiss«, gab Thilo Bach etwas zerstreut zurück. Er schien über etwas nachzudenken, doch er äußerte sich nicht.
Die größeren Kinder warteten in der Halle und umringten die Gäste, als diese abfahren wollten. Sibyllchen hatte so lange gebettelt, bis man ihr erlaubt hatte, mit den Großen aufzubleiben. Sie sah ein bisschen übermüdet aus, doch ihre Augen glänzten vor Freude.
»Komm bald wieder, Thilo«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Wenn du mir antwortest, schreibe ich dir wieder einen Brief.«
»Ich will mich bessern, Sibylle«, versprach er feierlich.
Bel schloss Sibylle in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann stiegen die Gäste in den Wagen ein.
»Da scheint sich etwas anzubahnen«, raunte Alexander von Schoenecker Denise ins Ohr. »Ob die beiden heiraten und Sibylle zu sich nehmen wollen?«
Denise lehnte den Kopf gegen die Schulter ihres Mannes. »Ich weiß es nicht, Liebster. Sibylles Tante hat ihre Meinung geändert und möchte ihre Nichte zurückholen, sobald sie heiratet. Es ist schwer zu entscheiden, welche Lösung für das Kind besser wäre.«
»Verschieben wir die Entscheidung auf ein andermal, Isi. Wie oft haben wir schon erlebt, dass manches am Ende anders kommt, als wir dachten. Noch sind Frau von Wettering und Thilo Bach nicht verheiratet. Und wann Sibylles Tante in den Stand der Ehe treten will, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Heute Nacht brauchst du dir deswegen keine Sorgen zu machen.«
*
Anita Germersheim und Frederik Mintow erschienen überraschend in Sophienlust. Frederik war von einer Reise zurückgekehrt und hatte Anita mit dem Plan der Fahrt nach Sophienlust geradezu überrumpelt.
Unterwegs kauften sie ein kleines Geschenk. Das geschah auf Frederiks Betreiben, denn er wollte mit Anitas Nichte gleich gute Freundschaft schließen, wie er sagte.
Obwohl die Ankunft eines Autos in Sophienlust selten unbemerkt blieb, war der Gutshof an diesem regnerischen Donnerstag wie ausgestorben. Dabei hätte Mintows auffälliges Wagenmodell sicherlich die Begeisterung der Jungen geweckt.
»Sieht ein bisschen verschlafen aus«, stellte Frederik fest. »Aber das Haus gefällt mir.«
»Ja«, erwiderte Anita. »Seltsam, dass niemand herauskommt.«
Es blieb ihnen dann nichts anders übrig, als zur Eingangstür zu gehen, die sie unverschlossen fanden. Unschlüssig schauten sie sich in der großen Eingangshalle um.
»Hallo«, rief Frederik schließlich laut. »Es ist Besuch da.«
Man hörte eine Tür gehen, dann näherten sich Schritte. Es war Frau Rennert, die im Büro über schriftlichen Arbeiten gesessen hatte.
»Guten Tag«, begrüßte sie die Ankömmlinge freundlich. Dann stellte sie sich vor und fragte nach dem Anliegen der Besucher.
»Ich bin die Tante von Sibylle Germersheim. Herr Mintow und ich möchten die Kleine besuchen.«
Frau Rennert räusperte sich, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Dass Sibylles Tante zu erwarten gewesen war, hatte sie gewusst. Auch die Probleme, die sich daraus eventuell ergeben konnten, waren ihr nicht fremd. Denn Denise von Schoenecker besprach alle diese Dinge vertrauensvoll mit ihr.
»Es ist schade, dass Sie uns nicht vorher benachrichtigt haben«, sagte sie freundlich. »Sibylle ist jetzt noch in der Schule. Der Bus kommt kurz nach ein Uhr. Frau von Schoenecker ist augenblicklich in Bachenau bei ihrer Tochter. Sie müssen also leider etwas Geduld aufbringen. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Sie sind gewiss schon lange unterwegs.«
»Wenn es keine Umstände macht, gern«, erwiderte Anita, angenehm berührt.
»Gar nicht. Ich rechne auch damit, dass Sie mit uns das Mittagessen einnehmen, Frau Germersheim. Für die Kinder ist es ein Ereignis, wenn wir Besuch haben, und Sie erleben gleich zwanglos mit, wie es in Sophienlust zugeht.«
Frau Rennert führte das Paar ins Biedermeierzimmer, dessen zeitlose Schönheit Anita entzückte. Frederik stand schweigend im Hintergrund. Erst als die Heimleiterin hinausgegangen war, um bei Magda in der Küche einen Imbiss zu bestellen, äußerte er, was er dachte: »Ich hatte mir das Heim anders vorgestellt, Schatz. Du brauchst wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben. Hier müssen die Kinder wie kleine Prinzen und Prinzessinnen leben.«
Anita stimmte ihm zu. Da sie jedoch schon von Barbara erfahren hatte, dass Sophienlust ein ungewöhnliches Kinderheim war, war sie nicht so sehr erstaunt wie Frederik.
Ziemlich schnell wurde ein Tablett mit appetitlichen Brötchen und Obst gebracht. Auch hausgemachter Fruchtsaft war dabei. Frau Rennert berichtete, dass sie Frau von Schoenecker telefonisch erreicht habe. Nach dem Mittagessen werde sie da sein. Ob die Gäste bis dahin einen Rundgang unternehmen wollten?
Anita sah aus dem Fenster. »Es regnet«, stellte sie achselzuckend fest. »Wir warten hier, wenn es recht ist. Erzählen Sie uns bitte, wie es Billchen geht? Ist sie brav? Lernt sie gut in der Schule? Sie war immer recht schüchtern.«
Frau Rennert lächelte. »Schüchtern ist unser Billchen gar nicht. Zu Anfang konnte sie sich nicht einleben und schloss sich von der Gemeinschaft ab. Aber seit sie Klavier spielen darf, ist sie genauso fröhlich wie alle Kinder hier.«
»Hat sie Unterricht? Ist sie nicht zu jung dafür?« Anita zog die Brauen nervös zusammen.
»Billchen besitzt ein großes Talent. Mein Sohn, der hier Haus- und Musiklehrer ist, unterrichtet sie. Die Kleine spielt mit Hingabe und bewunderungswürdiger Ausdauer. Gewiss spielt sie Ihnen etwas vor. Sie werden staunen.«
»Sie hat das Talent ihrer Mutter geerbt«, kam es leise über Anitas Lippen. »Meine arme Schwester spielte auch schon als Kind. Aber Glück hat ihr die Musik nicht gebracht.«
Frau Rennert fand keine Antwort. Auch Frederik Mintow warf Anita einen fragenden Blick zu. Warum sprach sie so bitter über die Begabung ihrer verstorbenen Schwester?
Anita wechselte rasch das Thema. Sie erkundigte sich nach der Schule und nach allerlei Einzelheiten. Dann entschuldigte sich Frau Rennert mit dringenden Arbeiten und ließ die Besucher allein.
Anita und Frederik stärkten sich.
»Ist es dir nicht recht, dass deine Nichte Klavierunterricht hat?«, warf Frederik hin. »Das kann gewiss nichts schaden, meine ich.«
»Es sind die Erinnerungen, Frederik. Carola lebte nur für ihre Musik. Das wurde ihr zum Schicksal. Sie hatte eine stürmische, leidenschaftliche Beziehung zu einem jungen Musiker, der sie ohne Abschied verließ. Möglicherweise hat sie ihm in ihrer Torheit nicht einmal gestanden, dass sie ein Kind erwartete. So war Carola nämlich.«
Frederik lachte leise, sodass Anita zusammenzuckte. Sie fand diese tragische Geschichte ihrer jüngeren Schwester alles andere als komisch.
»So geht es nun mal im Leben, Schatz. Aber wir werden Sibylle entschädigen. Sie soll es gut haben bei uns. Das verspreche ich dir.«
Anita nahm seine Hand. »Wir werden sie verwöhnen. Wenn sie will, kann sie Klavier spielen. Sie soll glücklich sein, denn das Kind hat keine Schuld.«
»Sie wird nie mehr etwas entbehren, Anita. Bis sie erwachsen sein wird, werde ich aus ihrem Vermögen so viel gemacht haben, dass sie sich die ganze Welt kaufen kann.«
»Das Geld ist für mich nicht das entscheidende, Frederik. Ein Kind braucht Liebe. Und genau darum habe ich Carolas Töchterchen bisher betrogen.«
Frederik nickte, kam aber sogleich wieder auf seine eigenen Pläne zu sprechen. Er war enttäuscht, dass der Verkauf der Villa sich ziemlich schwierig anließ. Auch riet Anitas Anwalt bei dem augenblicklichen niedrigen Börsenstand davon ab, das Wertpapierdepot von Anita und ihrem Mündel aufzulösen.
»Selbstverständlich haben wir Zeit, mein Schatz. Ich kann die gesamte Transaktion auch aus eigenen Mitteln vorfinanzieren. Aber es wäre mir lieber, wenn alles seine Ordnung hätte. Ein paar Punkte an der Börse machen kaum etwas aus. Dein Vertrauensmann denkt in Pfennigen, scheint mir.«
Anita hob die Schultern. »Du solltest mal mit ihm sprechen.«
»Das hat keinen Sinn, Anita. Ich besitze keine Vollmacht. Diese Dinge musst du leider selbst erledigen.«
»Wenn wir verheiratet sind, übertrage ich dir die gesamte Verwaltung unseres Eigentums, Frederik. Mich beunruhigt das viele Geld. Bei dir bin ich sicher, dass du es richtig verwaltest.«
»Darauf kannst du dich verlassen, Schatz. Hoffentlich findet sich schnell ein Käufer für das Haus. Dann könnten wir wenigstens über die Kaufsumme verfügen. Ich bin an rasche Geschäftsabschlüsse gewöhnt. Steine und Juwelen wandern von einer Hand in die andere. Hausbesitz und Wertpapiere sind mir zu schwer beweglich.«
Anita nickte. Dass ihr Anwalt ihr davon abgeraten hatte, ihr gesamtes Vermögen flüssig zu machen, mochte sie dem Freund nicht sagen. Sie hielt den alten Herrn für schwerfällig und für allzu vorsichtig. Frederiks Erfolge lieferten doch den schlüssigen Beweis dafür, dass man aus wenig Geld viel machen konnte, wenn man es richtig anfing.
»Ich kümmere mich schon darum, Frederik«, versprach Anita. »Bis Ende des Jahres ist es bestimmt soweit. Dann werden wir das Geld transferieren und abreisen – mit Sibylle.«
Frederik holte tief Atem. »Du wirst es nicht bereuen, Anita.«
»Ich ginge auch mit dir, wenn du arm wärest, Frederik.«
Mintow küsste sie auf die Wange. »Also, weißt du, das hört sich zwar wunderschön an, aber hast du dir auch überlegt, wovon wir leben sollten, wenn wir beide nichts hätten?«
»Du bist ein Materialist.«
»Wenn schon. Die gefällt der Rubin schließlich auch.«
Anita betrachtete ihren herrlichen Ring. »Du hast recht. Ich rede lauter Unsinn«, flüsterte sie. »Übrigens meinte der Rechtsanwalt, ich solle den Ring versichern lassen.«
Frederik schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, Schatz. Das habe ich sofort beim Kauf getan.«
»Du denkst an alles. Ich muss zugeben, dass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre.«
»Es wäre Leichtsinn, ein solches Stück nicht zu versichern.«
»Das sagte mein Anwalt auch. Trotzdem wollte ich dich erst fragen.«
Frederik lächelte befriedigt. »Doppelt darf man nämlich auch nicht versichert sein. Das ist ungesetzlich.«
Draußen hörte man das Geräusch eines Autos, dann Kinderstimmen. Anita und Frederik traten ans Fenster. Sie sahen einen roten VW-Bus mit der Aufschrift ›Kinderheim Sophienlust‹. Jungen und Mädchen mit Schultaschen stiegen eben aus.
»Sie scheinen zu kommen. Du, da ist Sibylle.« Anita öffnete das Fenster und winkte. »Billchen, hallo, ich warte schon auf dich.«
Sibylle blickte hoch. Nur zögernd hob sie die Hand und winkte zurück.
»Komm zu mir, Sibyllchen.«
»Ja, Tante Anita.«
Die Besucher mussten sich jedoch eine ganze Weile in Geduld fassen, ehe Sibylle endlich erschien.
»Grüß Gott«, sagte sie artig, jedoch mit deutlicher Zurückhaltung.
Anita breitete die Arme aus und zog das Kind an sich. »Ich habe Sehnsucht nach dir gehabt, Billchen«, flüsterte sie zärtlich. »Es war nicht recht, dass ich dich hierhergeschickt habe. Du brauchst nicht mehr lange zu bleiben. Es wird sich alles ändern.«
Billchen spürte, dass ihre Tante es aufrichtig meinte. Wie alle Kinder hatte sie ein sehr feines Unterscheidungsvermögen für echte und falsche Herzlichkeit. Der Panzer von Ablehnung, mit dem sie ihr kleines Herz umgeben hatte, schmolz dahin.
»Ich bin gern hier, Tante Anita«, sagte sie fröhlich. »Wenn du willst, zeige ich dir nachher alles. Auch möchte ich dir etwas vorspielen. Du wirst staunen. Es ist kein Geklimper mehr, sondern richtige Musik.«
»Da bin ich aber neugierig. Jetzt musst du erst einmal Frederik guten Tag sagen, Billchen. Ihr werdet bestimmt gleich gute Freunde sein.«
Frederik streckte Sibylle die Rechte entgegen. »Du bist ein hübsches Mädchen«, sagte er und lachte dazu. »Was für schönes Haar du hast. Schau, wir haben dir etwas mitgebracht.«
Sibylle musterte ihn aufmerksam und schwieg. Er drückte ihr ein Päckchen in die Hände, doch sie rührte keinen Finger, um es zu öffnen.
»Willst du nicht wissen, was drin ist?«, schaltete sich Anita ein.
Sibylle löste das Papier, weil sie von jeher daran gewöhnt war, ihrer Tante zu gehorchen. Außerdem merkte sie, dass Anita ihr tatsächlich eine Freude machen wollte.
Das Päckchen enthielt eine kleine Puppe mit einer kompletten Ausstattung an Kleidern, Mänteln und allerliebstem Zubehör. Billchen staunte. »Danke. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Gefällt dir die Puppe?«, fragte Anita eifrig.
»Doch, sie ist niedlich. Aber du musst mir nichts mitbringen, Tante Anita. Ich freue mich, wenn du mich besuchst.«
Anita war den Tränen nahe. Hastig zog sie ihre kleine Nichte an sich. »Freust du dich wirklich?«, flüsterte sie bewegt.
Billchen nickte. »Doch, es ist schön. Willst du hierbleiben? Tante Isi erlaubt es sicherlich.«
»Das wird nicht möglich sein, Billchen. Wir reden noch darüber. Ich werde dich mitnehmen in ein fremdes Land, in dem immer die Sonne scheint.«
»Aber ich kann jetzt nicht verreisen. Wir haben keine Ferien in der Schule. Ich muss sowieso in Sophienlust bleiben, weil Thilo mich bald wieder besucht. Er hat es mir versprochen.«
»Thilo? Wer ist das?«
»Mein Freund. Er ist erwachsen und spielt Klavier. Im Konzert vor vielen Leuten, die Beifall klatschen. Wenn sie genug klatschen, macht er am Schluss eine Zugabe.«
Anita legte die Hand auf des Kindes Schulter. »Wie heißt er mit vollem Namen – dein Freund?«
»Thilo Bach. Ich kann dir sein Bild zeigen. Es steht an meinem Bett. Er hat es mir geschenkt.«
»Thilo Bach«, wiederholte Anita mit zitternder Stimme.
»Kennst du ihn? Nick sagt, er ist ein berühmter Mann. Es steht oft etwas über ihn in der Zeitung.«
»Ja, er ist berühmt geworden, Sibylle«, erwiderte Anita tonlos. »Woher kennst du ihn?«
»Ich durfte mit ins Konzert, weil Tante Andrea bei ihrem Baby bleiben musste. In der Pause habe ich ihn besucht. Da hat er mir das Bild geschenkt. Später bekam ich noch Blumen. Letzten Samstag hat er mich hier besucht. Ich durfte ihm vorspielen. Danach hat er für uns ein Konzert gegeben. Er ist mein bester Freund.«
»Weißt du sonst etwas von ihm?«, fragte Anita leise.
»Er mag Kinder gut leiden. Wir haben ihm etwas vorgesungen. Eine Dame war bei ihm. Sie gefiel mir gut. Ich glaube, sie wird mal seine Frau.«
Der Gong, der zum Essen rief, erklang. Frau Rennert erschien persönlich im Biedermeierzimmer, um die Besucher in den Speisesaal zu geleiten. So erhielt Anita keine Gelegenheit, weitere Fragen an ihre Nichte zu richten. Auch Frederik, der sich über Anitas Verhalten gewundert hatte, musste sich gedulden.
Die Gäste fühlten sich inmitten der fröhlichen Kinderschar etwas fremd und befangen. Frederik ließ sich Magdas Rouladen allerdings trotzdem schmecken, während Anita nur wenig aß.
Erst nach der Mittagsmahlzeit erschien Denise von Schoenecker. Sie begrüßte Anita und Frederik herzlich. »Trinken wir eine Tasse Kaffee im Biedermeierzimmer«, schlug sie vor. »Sie haben sicherlich ein paar Fragen. Ich hoffe, Sie können ein bisschen bei uns bleiben.«
»Wir wollten heute Abend zurück«, erklärte Frederik. »So viel Zeit habe ich leider nicht.«
»Vielleicht fahre ich für ein paar Tage her, wenn du wieder verreisen musst, Frederik.«
»Gibt es für dich nicht viel zu erledigen? Später wirst du genug mit Sibylle beisammen sein.«
Denise führte die beiden ins Biedermeierzimmer. Sibylle wollte schnell ihre Schulaufgaben erledigen, um dann für ihre Tante frei zu sein.
»Es ist mir lieb, dass wir uns ungestört unterhalten können«, sagte Anita, sobald sich die Tür geschlossen hatte. »Sibylle hat mir vor dem Essen erzählt, dass sie mit dem Pianisten Thilo Bach befreundet sei. Er soll sogar hiergewesen sein.«
»Warum regt dich das auf?«, unterbrach Frederik sie ein wenig ungeduldig. »Lass der Kleinen doch den Spass. Sie träumt sicher davon, dass sie auch einmal berühmt wird.«
Anita zögerte eine Sekunde. Dann sah sie Denise fest an und sagte: »Ich fühle, dass ich Ihnen vertrauen darf, liebe Frau von Schoenecker. Bis jetzt habe ich über Billchens Vater geschwiegen. Es war das Geheimnis meiner armen Schwester. Niemand sollte es jemals erfahren. Thilo Bach ist Sibylles Vater. Doch er wird davon nichts ahnen. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht einmal an den Namen Germersheim. Es ist ja lange her. Für ihn ist das eine Ewigkeit. Er liebt und vergisst – und liebt und vergisst …«
Denise ergriff die Hand der eleganten jungen Frau, deren sich eine tiefe Erregung bemächtigt hatte. »Er weiß sicherlich nichts davon, liebe Frau Germersheim. Aber zwischen Sibylle und ihm besteht eine starke Zuneigung. Bisher haben wir das mit der musikalischen Begabung der beiden zu erklären versucht. Nun löst sich das Rätsel auf höchst wunderbare Weise. Vater und Tochter mussten sich wohl finden.«
»Sibylle soll es nicht erfahren. Auch er nicht. Er hat genug Leid in unsere Familie gebracht«, stieß Anita leidenschaftlich hervor. »Frederik Mintow und ich sind entschlossen, Sibylle zu adoptieren. Sie soll in einem glücklichen Elternhaus aufwachsen und nichts entbehren. Wir werden ins Ausland gehen. Das bedeutet zugleich eine Trennung von Thilo Bach. Sibylle darf ihn nicht wiedersehen.«
»Herr Bach verbringt zur Zeit unweit von hier einen längeren Urlaub. Es wird kaum möglich sein, ihn von weiteren Besuchen abzuhalten, sofern man ihm nicht die Wahrheit sagt«, gab Denise zu bedenken. »Sibylle hängt an ihm und erblickt in ihm ihr Vorbild. Es wäre für das Kind ein schmerzlicher Verlust, wenn es seinen Freund nicht mehr sehen dürfte.«
»Ja, ich verstehe. Er würde vielleicht sogar argwöhnisch werden und sich plötzlich an Carola erinnern. Wir müssen vorsichtig sein. Ich möchte Sibylle nicht weh tun.«
»Eine ziemlich verrückte Geschichte«, ließ sich Frederik vernehmen. »Ich meine, wir sollten vorsichtig sein und schweigen. Sonst fordert dieser Herr dir das Kind am Ende noch ab, Anita.«
Anita schüttelte den Kopf. »Das ist kaum möglich. Ich bin Anitas Vormund. Thilo Bach könnte nichts ausrichten.«
»So ein Star erreicht alles, was er sich in den Kopf setzt, Anita. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir eines Tages das Nachsehen.«
Denise sah ihn sehr aufmerksam an. »Liegt Ihnen so viel an Sibylle, Herr Mintow? Sie haben sie doch erst heute kennengelernt.«
»Meine Freundin spricht ständig von der Kleinen. Sie liebt sie wie ein eigenes Kind. Deshalb werden wir unter keinen Umständen auf Sibylle verzichten. Ich habe das Glück meiner zukünftigen Frau im Auge und selbstverständlich auch das Wohl des Kindes.«
»Ich verstehe«, erwiderte Denise leise. »Dann sind wir uns also einig, dass vorerst der Kontakt zwischen Sibylle und Herrn Bach bestehen bleiben darf?«
»Es wird sich nicht vermeiden lassen«, seufzte Anita. »Wohl ist mir dabei nicht. Wenn ich nicht mit dem Verkauf des Hauses und den übrigen Vorbereitungen so viel zu tun hätte, würde ich Sibylle einfach mitnehmen. Ich bin dankbar, dass wir uns nun gut verstehen.« Sie lächelte. »Eigentlich verdiene ich das nicht. Ich habe eine Menge versäumt an Sibylle. Trotzdem hat sie sich nicht vor mir zurückgezogen, sondern sich gefreut, dass ich gekommen bin. Sie ist das Kind meiner toten Schwester, und ich bin ihre nächste Verwandte. Wie konnte ich nur so dumm sein, mich zu schämen, weil sie ein Kind ohne Vater ist?«
»Kinder ohne Vater gibt es nicht«, spottete Frederik ein klein wenig unpassend. »Das hat sich bei deiner Nichte eben erst wieder erwiesen, Schatz.«
Anita warf ihm einen flehenden Blick zu. »Nicht, Frederik«, bat sie. »Ich kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Anita.« Er legte den Arm um ihre Schultern und wollte sie trotz Denises Gegenwart küssen. Anita befreite sich mit einer raschen Bewegung.
Denise überbrückte die etwas peinliche Situation, indem sie von etwas anderem sprach.
Der weitere Verlauf dieses Besuches war dann auch nicht ganz schattenlos. Zwar führte Sibylle ihre Tante stolz überall herum, doch erwies es sich, dass das Kind sich gegen jeden freundschaftlichen Annäherungsversuch Frederiks sperrte. Je mehr er sich bemühte, desto stärker zeigte Billchen ihre Ablehnung.
Anita wurde dadurch in einen Konflikt gestürzt, von dem Billchen nichts ahnen konnte. In die tiefe dankbare Freude darüber, dass Carolas kleine Tochter ihr die frühere Unfreundlichkeit nicht nachtrug, mischte sich die Besorgnis, wie sich das Verhältnis zwischen Frederik und dem Kind in Zukunft gestalten würde.
»Wenn du wiederkommst, sollst du ihn nicht mitbringen, Tante Anita«, flüsterte Sibylle Anita beim Abschied ins Ohr. »Ich mag ihn nicht.«
Der Wagen fuhr ab, die Sophienluster Kinder winkten fröhlich. Nur Denise von Schoenecker hatte erkannte, dass etwas nicht stimmte. Doch sie behielt ihre Gedanken für sich.
*
Valerie Isenberg war Bels Cousine. Sie war achtzehn, gertenschlank, bildhübsch, anspruchsvoll und sagenhaft verwöhnt. Sie rollte in einem offenen Sportwagen an, der mit mehreren Koffern und unzähligen Taschen bis in den letzten Winkel vollgestopft war.
Valerie hatte sich nicht angemeldet. Trotzdem freuten sich Bels Eltern über das unvermutete Auftauchen dieses Irrwischs, wie sie Valerie zärtlich zu nennen pflegten.
Da Bel an diesem Nachmittag ausgeritten war, fand Valerie bei einem ersten Streifzug durch das weitläufige Landhaus von Wetterhof den berühmten Pianisten allein auf der Terrasse, wo er in einem Buch blätterte und sich langweilte. Das ruhige Landleben ging Thilo Bach allmählich auf die Nerven. Er ließ das Buch auf die Erde fallen und ging dem Mädchen ein paar Schritte entgegen.
»Es hat sich in der Familie herumgesprochen, dass Sie auf Wetterhof sind, großer Meister. Ich wollte mir dieses einmalige Erlebnis nicht entgehen lassen. Von Musik verstehe ich zwar nichts, aber ich schwärme trotzdem für Sie.«
Thilo verbeugte sich schmunzelnd. »Welche Ehre!«
»Ich bin Bels Cousine Valerie. Den altmodischen Namen verdanke ich einer Patentante. Hoffentlich stört es Sie nicht.«
»Mir gefällt Ihr Name.« In seinen Augen konnte sie lesen, dass auch sie ihm gefiel. Irgendetwas knisterte in der warmen Luft dieses Herbstnachmittags, etwas, woran der Mann und das Mädchen Freude hatten.
»Spielen Sie Tennis? Wie redet man einen Konzertpianisten eigentlich an?«
»Einigen wir uns auf die Vornamen, beiderseits. Recht so?«
»Hm.«
»Wenn Sie mögen, können wir Tennis spielen, Valerie. Ich muss mich bewegen, sonst werde ich hier zu fett.«
»Okay, Thilo. Ich ziehe mich um. In fünf Minuten.«
Thilo Bach eilte in sein Zimmer und schlüpfte in seinen Tennisdress. Obwohl er keine Minute vergeudet hatte, erwartete Valerie ihn bereits auf dem tadellos gepflegten Platz im Park von Wetterhof. Ihr Rock war von unwahrscheinlicher Kürze, doch konnte sie sich das bei ihren Beinen leisten.
Valerie war gut trainiert und eine ebenbürtige Gegnerin. Doch nach einer Weile brach sie mitten im Satz ab und erklärte, dass sie keine Lust mehr habe.
»Mir ist heiß. Wollen wir schwimmen?«, rief sie aus.
»Wenn es Ihnen Spass macht.«
Wieder war sie beim Umkleiden bedeutend schneller als er. Er sah sie mit elegantem Kopfsprung ins Bassin springen, als er eben wieder aus dem Haus trat. Dieses junge ungestüme Mädchen ließ das Blut rascher in seinen Adern pulsieren.
Sie tollten im Wasser wie Kinder. Einmal hielt er Valerie ganz fest. Ihr roter Mund war dicht vor dem seinen, die weißen Zähne schimmerten wie Perlen. Eben noch hatte sie gelacht und sich zu wehren versucht. Jetzt war sie plötzlich still und sah ihn mit ihren wunderschönen Augen voll an. War sie es, die ihn küsste? Hatte er sie an sich gezogen und seine Lippen auf die ihren gelegt?
»Davon darf niemand etwas wissen«, flüsterte Valerie mit spitzbübischem Lächeln. »Bel würde nämlich keinen Spaß verstehen. Ich kenne sie.«
»Wenn du niemandem etwas sagst, wird es auch keiner erfahren, du süßer Fratz«, erwiderte Thilo und küsste sie noch einmal.
»Ich kann schweigen wie das Grab«, versicherte Valerie und spritzte ihm ein bisschen Wasser ins Gesicht.
In der Umkleidekabine riss er sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Schultern und ihre Arme mit leidenschaftlichen Küssen.
»Bel kann jeden Augenblick kommen«, warnte Valerie ihn. »Sei nicht so unvernünftig.«
Er hatte es sich eben auf einem Liegestuhl bequem gemacht, als Bel erschien.
»Wie war’s?«, fragte er. »Eines Tages werde ich wohl auch noch Reitunterricht nehmen.«
»Nur, wenn du magst, Thilo. Zum eiter muss man geboren sein. Was ist? Warst du schon im Wasser?«
»Allerdings, und zwar mit mir!« Valerie trat aus der Kabine und küsste ihre Cousine auf beide Wangen. »Da staunst du, nicht wahr?«
Bel freute sich aufrichtig. »Fein, dass du da bist. Die Überraschung ist dir gelungen. Wie gefällt dir meine Cousine, Thilo?«
»Ganz gut«, behauptete er. »Wir haben schon zusammen Tennis gespielt.«
»Sie kann mehrere Personen pausenlos in Atem halten«, erklärte Bel arglos und fröhlich. »Dafür ist sie bekannt. Schwimmt jemand noch einmal mit?«
Valerie, die jetzt ein leichtes Kleid trug, hob die Schultern. »Bin schon trocken und angezogen, Bel. Wie ist es mit Ihnen, Meister?«
Thilo sprang auf. »Natürlich schwimme ich mit dir, Bel.«
Valerie sah mit unergründlichem Gesichtsausdruck zu, wie die beiden sich im Wasser tummelten. Es ging dabei nicht ganz so turbulent zu wie zuvor zwischen ihr und Thilo Bach.
Beim Abendessen wurde der Flirt fortgesetzt. Thilo saß zwischen den beiden Mädchen. Unter dem Tisch haschte er nach Valeries Hand, während er mit Bels Mutter über sein letztes großes Konzert in Paris plauderte. Er fand das Leben an diesem Herbstabend auf dem Land einmalig schön und langweilte sich gar nicht mehr.
*
Ein Brieflein von Sibylle flatterte ins Haus. Thilo beschloss, seine kleine Freundin bereits am nächsten Tag zu besuchen.
»Komm mit uns«, forderte Bel ihre Cousine auf. »Dieses Kinderheim ist sehenswert. Du wirst staunen.«
»Interessiert mich überhaupt nicht«, erklärte Valerie mit krausem Näschen. »Ich werde mich anderweitig amüsieren. Viel Vergnügen im Waisenhaus.«
Thilo gelang es ebenfalls nicht, Valerie zu überreden. Vielleicht passte es ihr nicht, dass sie in Bels Gegenwart das hübsche Spiel mit dem Feuer, das Thilo und sie in aller Heimlichkeit betrieben, kaum fortsetzen konnte.
In Sophienlust wurden die Gäste mit Herzlichkeit empfangen, obwohl sie nicht die einzigen Besucher waren.
»Sibylles Tante ist hier«, berichtete Nick, der den Wagen bemerkt hatte und die Begrüßung übernahm. »Sie ist mit Billchen im Musikzimmer.«
»Dann wollen wir auch zuhören. Das stört hoffentlich nicht.«
»Nein, gar nicht. Leider ist meine Mutti heute nicht hier.«
Nick begleitete Thilo und Bel. Die anderen Kinder, die das Auto umringt hatten, blieben zurück. Auch Nick ging wieder ins Freie, sobald die Gäste vor dem Musikzimmer angekommen waren.
Thilo Bach hörte von drinnen Sibylles Spiel. Er legte den Finger auf die Lippen und drückte lautlos die Klinke herunter. Auf Zehenspitzen betrat er zusammen mit Bel das Zimmer. Das Kind saß am Flügel, Anita Germersheim in einem Sessel unweit des Fensters.
Erst als Billchen die kleinen Hände von den Tasten nahm, machte sich Thilo bemerkbar. »Hallo, du hast schon wieder eine Menge dazugelernt. Vielen Dank für deinen Brief, Sibylle.«
Der Drehschemel wirbelte herum. Mit einem Jubelruf sprang Sibylle auf und ließ sich von Thilo auffangen.
Der Künstler küsste das Kind auf die glühenden Wangen. »Hoffentlich stören wir nicht«, sagte er dann leise. »Ist es Ihnen recht, dass wir Sibylle heute besuchen, gnädige Frau?«
Anita war blass geworden. Sie starrte Thilo Bach an, als wäre er ein Geist.
»Möglicherweise hat Ihnen Ihre Nichte erzählt, dass wir befreundet sind«, fuhr Thilo fort, weil Anita keine Antwort gab. »Darf ich Ihnen Bel von Wettering vorstellen? Mein Name ist Thilo Bach.«
Nun reichte sie ihnen die Hand. Zuerst Bel, dann ihm. »Ja, Billchen hat mir von Ihnen erzählt, Herr Bach. Finden Sie ihr Klavierspiel gut?« Anitas Stimme war ohne jeden Klang.
»Ausgezeichnet. Es ist erstaunlich, was sie leistet und wie schnell sie Fortschritte macht.«
Sibylle blickte unsicher zwischen den drei Erwachsenen hin und her. Soll ich noch etwas spielen?«, fragte sie.
»Ja, bitte«, flüsterte Anita. »Ich höre dir so gern zu, mein liebes Herz.«
Billchen löste sich von Thilo Bach und lief zu ihrer Tante. Sie umarmte sie zärtlich. Dann erst kehrte sie zum Flügel zurück.
Bel setzte sich, Thilo blieb stehen. Er lauschte dem Spiel des hochbegabten Kindes und fühlte dabei die Blicke der eleganten Dame am Fenster auf sich gerichtet. Eine seltsame Unruhe bemächtigte sich seiner. Was wollte diese fremde Frau von ihm? Warum sah sie ihn so unverwandt an?
»Hast du schon mal die neuen Noten versucht, die ich dir geschickt habe?«, fragte Anita, sobald die Melodie verklungen war.
Sibylle nickte. »Das Heft liegt in meinem Zimmer. Soll ich es holen? Ich weiß die Stücke noch nicht auswendig.«
»Wenn du willst.«
Sibylle lief hinaus.
Anita stand auf. Die Spannung war nun so stark, dass man sie beinahe mit Händen greifen konnte. Auch Bel spürte es. Sie hielt es nicht mehr im Sessel aus und gesellte sich wie schutzsuchend an Thilos Seite. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Es war eine Geste, die die Zusammengehörigkeit der beiden bezeugte.
»Trennen Sie sich von ihm, ehe es zu spät ist, Frau von Wettering«, stieß Anita unbeherrscht hervor. »Er wird Sie vergessen, wie er viele andere vor Ihnen vergessen hat. So – genauso – stand er einst mit meiner Schwester Carola da. Sie hat ihn genauso geliebt, wie Sie es heute tun. Trotzdem ging er fort. Den Namen Carola Germersheim haben Sie wohl längst nicht mehr im Gedächtnis, Herr Bach?« Jetzt war Anitas Stimme schneidend, obwohl sie sehr leise sprach.
Thilo senkte die Lider. »Ich erinnere mich«, gab er zu. »Es ist lange her. Carola spielte wunderbar Klavier. Sie sind Anita, nicht wahr? Mir kam Billchens Name von Anfang an vertraut vor …«
»… aber Sie haben sich keine Gedanken darüber gemacht, nicht wahr? Das war nie Ihre Art.«
»Was ist aus Carola geworden?« Die Frage war kaum zu verstehen.
»Sie ist tot. Sibylle ist ihre Tochter. Wussten Sie, dass Carola ein Kind erwartete, Herr Bach?«
Er verstand, was sie meinte. »Nein, Anita. Ich schwöre Ihnen, ich wusste es nicht. Ist das die Wahrheit? Ist Sibylle meine Tochter?« Es war ihm, als schwanke der blanke Parkettboden unter seinen Füßen.
In diesem Augenblick kam Sibylle zurück. Ahnungslos und voller Eifer stellte sie die Noten auf und begann wieder zu spielen.
Bel umklammerte Thilos Hand. »Ich liebe dich, Thilo«, raunte sie ihm ins Ohr. »Ich gehöre zu dir.«
Er gab den Druck ihrer Finger nicht zurück. Sie war nicht einmal sicher, ob er ihre geflüsterten Worte verstanden hatte. Er blickte auf das Kind, dann wieder auf Anita. Es war, als würde ein Kampf ohne Worte und Waffen geführt, während unter den kleinen Händen eine zarte Melodie ertönte.
Es wirkte wie eine Erlösung, als Frau Rennert das Musikzimmer betrat. Nick hatte sie informiert, dass neue Besucher angekommen waren. Der Bann löste sich. Doch das Gespräch schleppte sich nur mühsam hin. Frau Rennert gab sich alle Mühe, eine unbeschwerte Stimmung herbeizuzaubern, aber sie hatte keinen Erfolg damit.
Anita Germersheim war von Denise von Schoenecker eingeladen worden, ein paar Tage auf Sophienlust zu bleiben. Als Thilo Bach das erfuhr, zeichnete sich eine gewisse Erleichterung auf seinem Gesicht ab. Die Aufforderung von Frau Rennert, am gemeinsamen Abendessen der Kinder teilzunehmen, akzeptierte er, obgleich er damit weder Bel noch Anita eine Freude machte, was ihm kaum entgehen konnte.
Nach dem Tee spielten sie zu viert ein Gesellschaftsspiel, weil Sibylle sich das wünschte. Die drei Erwachsenen mogelten gewaltig und ließen Billchen ständig gewinnen. Niemand lächelte darüber. Später unternahm die kleine Gesellschaft einen Spaziergang durch den Park, wobei Sibylle die Unterhaltung bestreiten musste.
Der Gong, der zum Abendessen rief, bedeutete wenigstens das Ende dieser Quälerei. Doch erst als Sibyllchen endlich im Bett lag und das Versprechen erhalten hatte, dass Thilo wiederkommen würde, konnte dieser Anita um eine Aussprache bitten.
Frau Rennert sah den Künstler mit seiner Freundin und Anita Germersheim in den Park gehen. Sie wünschte insgeheim, dass Denise jetzt da sein möge. Doch Denise und ihr Mann waren weggefahren und wurden erst spät in der Nacht zurückerwartet.
»Ich wollte es für mich behalten«, sagte Anita müde. »Doch als ich sah, dass Sie noch immer mit der Liebe nur spielen, da konnte ich nicht schweigen. Er wird Sie unglücklich machen, liebe Frau von Wettering. Hören Sie auf mich.«
Bel schüttelte den Kopf. Thilo wollte etwas sagen. Aber er überlegte es sich anders und schwieg.
»Sibylle hat von beiden Eltern die musikalische Begabung geerbt«, fuhr Anita fort. »Ich werde dafür sorgen, dass sie eine erstklassige Ausbildung erhält.«
»Ich habe wohl nicht das Recht, eine Bitte zu äußern?«, kam es nun zögernd über Thilos Lippen. »Sibylle ist meine Tochter. Ich möchte für sie sorgen. Dieses Kind bedeutet mir unendlich viel. Ist es zu viel verlangt, wenn ich als Vater um sie bitte?«
»Sibylle ist mir von Carola anvertraut worden, als sie starb. Ich bin ihr Vormund und für des Kindes Wohl verantwortlich. Meine Antwort ist nein. Sie würden Sibylle auch nur wie ein hübsches Spielzeug behandeln, das Sie beiseite legen, sobald es Ihnen langweilig wird. Mein Verlobter und ich sind entschlossen, Carolas Tochter zu adoptieren. Sibylle wird einen Vater haben, der zuverlässig ist und es gut mit ihr meint.«
»Warum urteilen Sie so hart, Anita? Mit Sibylle ändert sich mein Leben von Grund auf. Ich bin ihr Vater. Sie hat keinen näheren Verwandten als mich. Unsere seelische Bindung ist so stark, dass das kleine Ding im Konzert zu mir kam. Sie können uns nicht mehr trennen, Anita. Das wäre grausam und ungerecht gegenüber Sibylle. Wenn Sie Carolas Kind wirklich lieben, dürfen Sie nicht nein sagen.«
Anita atmete heftig. »Ich liebe Sibylle, und ich werde darüber wachen, dass sie glücklich wird. Solange sie hier in Sophienlust ist, kann ich nichts dagegen tun, dass Sie das Kind besuchen. Doch wenn wir in Ceylon sind, wird Sibylle bald nicht mehr an Sie denken.«
»So weit gehen Sie fort?«
»Ja, und ich bin froh darüber. Ich werde alle Brücken hinter mir abbrechen und das Haus verkaufen.«
»Das schöne, alte Patrizierhaus am Stadtrand? Schade, dass Sie sich von diesem Familiensitz trennen wollen.«
»Was geht Sie das an?«, fuhr Anita zornig auf. »Ich sage es Ihnen nur, damit Sie erkennen, dass alles längst beschlossen und nicht mehr zu ändern ist.«
Bel, die bis dahin still neben den beiden gegangen war, legte die Hand auf Thilos Arm. »Wir wollen heimfahren, Thilo.«
»Ja, fahren wir, Bel. Aber ich nehme Ihre Antwort nicht als endgültig hin, Anita.«
»Ich werde morgen oder in einer Woche nichts anderes sagen.«
Er blieb stehen und griff nach Anitas Hand. Zuerst wollte sie sie zurückziehen. Dann aber ließ sie sie ihm. Sie duldete sogar, dass er seine Lippen darauf legte.
»Auf Wiedersehen, Anita.«
Ihr Mund blieb stumm. Schweigend drückte sie Bels Rechte. Gegen den Stamm einer mächtigen Eiche gelehnt, blieb sie im dunklen Park zurück, während Thilo und Bel zum Haus zurückkehrten, sich bei Frau Rennert bedankten und die Heimfahrt antraten.
Niemand sah Anitas heiße Tränen, niemand hörte ihr bitteres Schluchzen.
*
»Das war ein seltsames Erlebnis«, sagte Bel, als sie ihren Wagen mit sicherer Hand durch die Dunkelheit steuerte. »Mir ist gleich aufgefallen, dass Sibyllchen deine Augen hat. Trotzdem wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie deine Tochter sein könnte.«
»Mich hat das Kind sofort stark angezogen«, entgegnete Thilo. »Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten. Jetzt komme ich mir ziemlich erbärmlich vor. Nicht einmal den Namen hatte ich mir gemerkt. Anita hat recht, du bist viel zu schade für mich, Bel.«
»Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen, Thilo. Meine Eltern mögen dich und sind damit einverstanden, dass wir uns verloben. Du brauchst nur mit meinem Vater ein paar Worte zu reden. Natürlich hätten sie lieber einen Landwirt als Schwiegersohn gehabt, weil ich das Gut erbe und selbst nichts davon verstehe. Aber sie wollen, dass ich glücklich werde.«
»Halt an, Bel. Ich muss mit dir reden«, bat Thilo mit rauer Stimme. »Da vorn kannst du gut an den Rand fahren.«
Bel fragte nicht, sondern brachte den Wagen zum Stehen und stellte den Motor ab. »Was ist?«
Er legte die Hände auf ihre Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Ich kann dich nicht heiraten, Bel. Anita beurteilt mich schon richtig. Du hast mir dein Vertrauen geschenkt, aber ich habe deine Liebe nicht ernstgenommen.«
»Das ist nicht wahr. Ich glaube dir nicht.«
»Geh zu Valerie und frage sie. Wir haben einander geküsst, sobald du uns den Rücken zudrehtest. Valerie ist ein leichtfertiges kleines Ding. Sie spielt gern ein wenig mit der Liebe, genau wie ich.«
»Warum lügst du mich an? Du würdest so etwas niemals tun.«
»Bel, es ist die Wahrheit. Ich war in Valeries Zimmer, als du mich gestern Nachmittag überall suchtest. Wir haben oben hinter der Gardine gestanden und darauf gewartet, dass ich mich unbemerkt hinausstehlen kann. Später tat ich so, als wäre ich eben von einem Spaziergang zurückgekommen. Von Valeries Fenster aus habe ich gesehen, dass dir dein goldenes Armband ins Gras fiel, während du zum Tennisplatz liefst, um nach mir Ausschau zu halten. Deshalb konnte ich es später so schnell finden. Glaubst du mir nun?«
Ihr schönes Gesicht war erstarrt. »Ich habe mich gewundert, dass du es gefunden hast«, sagte sie mit erschreckender Ruhe. »Thilo, bedeutet dir die Liebe so wenig?«
»Ich wollte dich heiraten, Bel. Du bist anders als die vielen Frauen, die ich gekannt und geliebt habe. Aber jetzt darf ich es nicht mehr tun. Verzeih mir, wenn du kannst.«
»Du musst meinen Eltern eine Erklärung geben. Etwas wird dir hoffentlich einfallen. Nein, es ist besser, wenn ich ihnen mitteile, da ich dich fortschicke. Dass du nicht mehr auf Wetterhof bleiben kannst, siehst du wohl ein. Frage deinen Arzt in Maibach, ob er dir ein ruhiges Sanatorium empfehlen kann. Du musst an deine Gesundheit denken. Aber ich will keinen Tag länger mit dir unter demselben Dach leben.«
»Ich habe dir wehgetan.«
Sie hob den Kopf ein wenig höher. »Nein, Thilo.« Ihr Stolz gab ihr die Kraft, die Liebe zu ihm zu überwinden.
Als sie auf den Wetterhof zurückkehrten, war man dort schon schlafen gegangen. In der Nacht klopfte Valerie an Thilos Tür. Doch er gab keine Antwort und öffnete nicht.
*
Anita saß mit Denise von Schoenecker im Biedermeierzimmer. Sie wirkte niedergeschlagen und nervös.
»Was soll ich tun, Frau von Schoenecker?«, fragte sie leise. »Sibylle hat im Laufe der Zeit regelrechte Hassgefühle gegenüber Frederik Mintow entwickelt. Dagegen hängt sie mit leidenschaftlicher Zuneigung an Thilo Bach.«
Denise nickte. »Ich weiß es. Für Herrn Bach ist die Begegnung mit seiner Tochter zum einschneidenden Erlebnis geworden. Er sprach sich neulich mir gegenüber aus. Dass er sich von Frau von Wettering getrennt hat und den Rest seiner Ferien in Bachenau verbringt, ist Ihnen sicher bekannt. Er ist seitdem häufig bei uns zu Gast und musiziert mit unseren Kindern.«
»Er hat mich letzte Woche besucht. Zum ersten Mal in seinem Leben nimmt er neben seinem Klavierspiel etwas ernst. Sibylles Schicksal liegt ihm am Herzen. Das meint er aufrichtig, wenn ich auch zunächst daran zweifeln wollte. Wir haben in Carolas Zimmer gesessen und von ihr geredet. Ich glaubte, dass er sich kaum noch an sie erinnern könne. Doch er hatte nichts vergessen. Ich gab ihm Carolas Tagebuch. Es ist seltsam genug, dass ich ihn nicht mehr verurteilen kann. Er hat sich gewandelt. Trotzdem möchte ich Sibylle mitnehmen. Ich habe sie zu lieb und würde es nicht ertragen, sie zurückzulassen.« Anita wischte sich hastig eine Träne von der Wange.
»Ist die Übersiedlung in ein so fernes Land unvermeidlich?«, warf Denise ein.
Anita schilderte ihr die Pläne ihres Verlobten.
»Das klingt sehr märchenhaft«, stellte Denise ruhig fest. »Ohne Herrn Mintow nahetreten zu wollen, möchte ich Ihnen raten, diese Angelegenheit zu überprüfen. Sie wollen ihr gesamtes Vermögen investieren, dazu Sibylles Erbteil. Haben Sie einen vertrauenswürdigen Rechtsberater?«
»Frederik hat es nicht nötig, sich an mir zu bereichern«, entgegnete Anita erregt. »Er ist steinreich. Sehen Sie, diesen Ring schenkte er mir zur Verlobung. Mir wurde erst neulich von einem Fachmann bestätigt, dass er kaum zu bezahlen ist.«
Denise betrachtete nachdenklich den herrlichen Rubin im Kranz der blitzenden Brillanten.
»Alle Welt stellt sich gegen Frederik«, fuhr Anita ein wenig heftig fort. »Sogar Thilo Bach hat behauptet, es sei unklug, unsere Villa zu verkaufen. Er machte mir schließlich das Angebot, den Besitz selbst zu erwerben. Für Sibylle, wie er sagte.«
»Es liegt mir fern, Sie zu kränken, liebe Frau Germersheim. Dennoch möchte ich Ihnen raten, Ihr Geld nicht in eine Edelsteinmine zu stecken, die Sie nie gesehen haben. Sie haben keinerlei Sicherheit.«
»Ich brauche keine. Wem in der Welt sollte man vertrauen, wenn nicht dem Mann, den man heiraten will?«
Denise erkannte, dass Anita sich nicht raten lassen würde. »Kommen wir auf Sibylle zurück«, lenkte sie ab. »Wie wäre es, wenn Sie uns das Kind zunächst noch lassen würden? Es wird nicht ohne Probleme sein, sich in der neuen Heimat einzurichten und dort Fuß zu fassen.«
»Das würde die Bindung zwischen Vater und Tochter verstärken. Ich habe Angst, dass ich Sibylles Liebe verlieren könnte. Jahrelang habe ich geglaubt, dass dieses Kind mir im Weg sei. Heute weiß ich, dass Sibylle zu mir gehört.«
In Denises Gesicht erwachte ein gütiges Lächeln. »Ich bin zuversichtlich, dass Sie den richtigen Weg finden werden, weil Sie Sibylles Glück wollen. Unser Herz weist uns meist die rechte Richtung, auch wenn unser Verstand noch grübelt und zweifelt. Vertrauen Sie Ihrem Herzen!«
»Wenn Billchen nicht zur Vernunft kommt, stehe ich zwischen ihr und meinem Verlobten«, wandte Anita zaghaft ein. »Mein Herz gehört beiden.«
»Manchmal muss man ein wenig Geduld und Vertrauen in das Schicksal aufbringen. Noch ist Zeit.«
»Nicht mehr lange, Frau von Schoenecker.«
Es klopfte an der Tür, und Sibylle kam herein. Sie begrüßte ihre Tante mit Jubel und Freude.
»Bist du allein da?«, fragte sie und schmiegte sich in Anitas Arme. »Ohne ihn?«
»Ja, Kleines.«
Sibylle verzog den Mund. »Warum heiratest du ihn, Tante Anita? Wir brauchen ihn nicht.«
Denise tat, als habe sie nichts gehört. Sie schlug rasch eine Fahrt nach Bachenau zu Andrea vor. »Im Tierheim ist immer etwas zu sehen«, meinte sie. »Ich muss im Ort einen Besuch machen. Wenn Sie einverstanden sind, nehmen wir meinen Wagen. Am besten wir brechen unmittelbar nach dem Mittagessen auf.«
Anita hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie mochte die blutjunge Andrea von Lehn gut leiden. Auch mit Dr. Hans-Joachim von Lehn unterhielt sie sich gern. Vor allem aber freute sie sich darauf, das kleine Peterle zu bewundern. Immer wenn sie dieses winzige Menschenkind anschaute, träumte sie davon, einmal ein Baby im Arm zu halten, das ihr gehören würde.
Das Essen verlief in gewohnter Fröhlichkeit. Anita vergaß ihre sorgenvollen Gedanken und langte tüchtig zu. Dass Denise sie aufmerksam beobachtete, wurde ihr nicht bewusst.
*
Thilo Bach empfing die Besucherin mit Überraschung und Staunen. Er hatte es sich in dem einfachen Hotelzimmer so gemütlich wie möglich gemacht und war eben dabei, einen Brief zu schreiben.
»Hoffentlich störe ich nicht.«
»Wie könnten Sie, Frau von Schoenecker! Darf ich etwas für Sie bestellen? Sie kochen recht guten Kaffee hier, und der Käsekuchen ist hausgebacken.«
»Nur eine Tasse Kaffee, bitte. Dabei plaudert es sich netter.«
Der Künstler klingelte und gab die Bestellung auf.
Denise trug ihr Anliegen ohne besondere Umschweife vor. Sie wollte wissen, was Thilo Bach von den geschäftlichen Plänen Frederik Mintows hielt.
»Ich hatte bereits die Absicht, mit Ihnen und Ihrem Mann darüber zu sprechen«, erwiderte Thilo lebhaft. »Anita ist verliebt und verblendet, fürchte ich. Jahrelang hat sie zurückgezogen gelebt und kaum Umgang mit anderen Leuten gehabt. Sie ist jetzt Wachs in den Händen dieses Mannes. Offenbar zögert ihr Anwalt, den wundervollen Familiensitz zu veräußern. So etwas ist später nicht mehr rückgängig zu machen. Man sollte sich über Herrn Mintow erkundigen. Ich bin misstrauisch. Das klingt alles gar zu großartig. Vor allem stimmt es mich nachdenklich, dass Sibylle ihn nicht mag. Kinder besitzen einen untrüglichen Instinkt.«
»Ja, manchmal trifft das zu.«
»Ich kann und darf nicht zusehen, wie mein Kind ins Unglück gestürzt wird. Auch Anita ist zu schade, um einem Mitgiftjäger auf den Leim zu gehen.« Thilo hatte sich heiß geredet. Die Sache ging ihm nahe.
»Mein Mann ist mit einem hervorragenden Juristen befreundet. Ob wir uns dort Rat holen sollten?«
»Wenn das möglich wäre? Auf jeden Fall habe ich bei Anitas Anwalt ein Vorkaufsrecht für das Anwesen mit der Villa angemeldet und einen Betrag als Sicherheit hinterlegt.«
»Soviel liegt Ihnen daran?«
Thilo erwiderte ihren Blick freimütig. »Ja, Frau von Schoenecker. Es gibt nichts, was mir wichtiger wäre.«
Sie telefonierten mit Alexander von Schoenecker, der versprach, sich sofort mit seinem Freund in Verbindung zu setzen. Es war dabei eine Hilfe, dass Thilo Namen und Anschrift von Anitas Rechtsbeistand angeben konnte.
*
An einem stürmischen Tag Anfang Oktober stand Thilo Bach vor dem hohen Eisentor der Villa Germersheim und läutete. Der Wind zerrte an seinem leichten Mantel, ein paar Tropfen schlugen ihm ins Gesicht.
Barbara öffnete. Sie stellte keine Fragen und zeigte nicht einmal Überraschung. »Ich rufe Anita«, sagte sie nur.
Anita ließ ihn kaum zwei Minuten warten. »Ist etwas passiert?«, rief sie leise aus. »Ich will morgen nach Sophienlust. Geht es Sibylle gut?«
»Billchen geht es ausgezeichnet., Anita. Sie brauchen sich um das Kind keine Sorgen zu machen.«
Sein ernstes Gesicht beunruhigte sie. Nervös drehte sie an ihrem kostbaren Ring.
»Es fällt mir nicht leicht, Anita, das zu sagen, was notwendig ist. War Herr Mintow kürzlich bei Ihnen?«
»Gestern erst. In der Nacht ist er nach Amsterdam geflogen. Er hat dort zu tun. Worum handelt es sich?« Anitas Augen waren forschend auf Thilo Bach gerichtet.
»Frederik Mintow heißt mit seinem richtigen Namen Fritz Mintowsky und hat bereits mehrmals im Gefängnis gesessen, Anita.«
»Nein, das … das muss eine Verwechslung sein.« Die Stimme wollte ihr kaum gehorchen.
»Seine Delikte waren Betrug, Juwelendiebstahl und Hehlerei beim Verkauf von geraubtem Schmuck. Erst vor einem Jahr war er wieder wegen eines Schmuckraubes angeklagt, doch konnte man ihm nichts nachweisen. Es handelte sich um besonders wertvolle Stücke, die einer Engländerin gehörten. Er scheint seinen aufwendigen Lebensstil vom Verkauf dieser Juwelen zu finanzieren. Dabei hat er es bis jetzt so geschickt angefangen, dass ihm nie etwas zu beweisen war. Einige Stücke aus dem Schmuckschatz tauchten an den verschiedensten Plätzen der Welt auf. Kein einziges Mal schien Mintowsky die Hand im Spiel zu haben.«
»Thilo, das sind bösartige Verleumdungen. Fritz Mintowsky und Frederik sind zwei verschiedene Personen.«
»Leider nicht, Anita. Schauen Sie sich das an.« Er zog eine Fotografie aus seiner Brieftasche, die unverkennbar den Rubinreif zeigte, den Anita am Finger trug. »Der Ring ist geraubt. Mintowsky muss sich sehr sicher gefühlt haben. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass niemand bei einer Anita Germersheim gestohlenen Schmuck vermuten würde.«
»Aber …« Anita war so blass geworden, dass Thilo erschrak.
»Es hilft nichts, Anita«, flüsterte er und legte dabei den Arm um sie, als wolle er sie behüten und beschützen. »Die Wahrheit ist, dass die Geschichte mit der Mine auf Ceylon frei erfunden ist. Er wollte ins Ausland, um sich allen polizeilichen Nachforschungen zu entziehen. Durch die Heirat, die ebenfalls ins Ausland verlegt werden sollte, wäre er auf bequeme und legale Weise in den Besitz Ihres gesamten Vermögens gekommen. Die Adoption, die er anstrebte, hätte ihm außerdem Sibylles Erbteil in die Hand gegeben.«
Anita fasste sich allmählich. »Mit diesem Ring wird man ihm den Schmuckraub nachweisen können«, flüsterte sie und zog den Rubin hastig vom Finger.
»Ja, ein Glück, dass Ihr gewissenhafter Anwalt mit dem Verkauf des Hauses gezögert hat. Er beauftragte auf eigene Verantwortung einen Privatdetektiv mit Nachforschungen. Das erfuhren wir, als Herr von Schoenecker sich über einen befreundeten Juristen einschaltete.«
»Herr von Schoenecker?«, stammelte Anita.
»Ja, ich habe ihn um Hilfe gebeten. Es erschien mir unverantwortlich, weiterhin tatenlos zuzusehen, wie Sie diesem Menschen Ihr und Sibylles Schicksal blindlings anvertrauten.«
»Seit das Kind sich immer mehr gegen ihn stellte, war ich meiner eigenen Gefühle nicht mehr sicher, Thilo«, gestand Anita kaum vernehmbar. »Wie dumm und leichtgläubig bin ich doch gewesen. Es hätte mir längst auffallen müssen, dass er meist von meinem Vermögen sprach und nur selten von Liebe. Ich schäme mich.«
»Das sollen Sie nicht, Anita. Habe nicht auch ich allen Grund, mich dessen zu schämen, was ich in der Vergangenheit getan habe? Sie wurden bewusst betrogen. Es ist keine Schande, wenn man sich mit verbrecherischen Machenschaften nicht auskennt.«
»Warum tun Sie das für – für mich?«
»Ich habe Carola gegenüber genug versäumt. Jetzt möchte ich für Sie und Sibylle das tun, was ich für meine Pflicht halte. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Pflicht. Das bedeutet unendlich viel für mich.«
Sie blickte ihn an und konnte nun schon lächeln. »Danke, Thilo.«
»Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern und dafür sorgen, dass der Name Germersheim nicht in Zusammenhang mit dem geraubten Schmuck genannt wird, Anita. Wir werden den Ring noch heute hinterlegen. Wenn Mintowsky tatsächlich in Amsterdam ist, wird er auf der Rückreise verhaftet werden.«
Anita erschauerte. »Ich war in Gefahr. Manchmal habe ich mich vor ihm ein wenig gefürchtet, zum Beispiel im Auto. Er fuhr grundsätzlich schneller, als erlaubt war.«
»Wir wollen nicht mehr daran denken. Diese Episode ist vorüber.«
»Es kommt mir vor, als sei es schon lange, lange her«, flüsterte Anita.
Thilo neigte sich über sie und legte seine Lippen auf ihren zitternden Mund. »Hilf mir, Anita«, bat er und liebkoste ihr verwirrtes Haar mit seinen Händen. »Ich brauche dich, um den Glauben an mich selbst wiederzugewinnen. So wie Carola und Bel habe ich vielen Mädchen Herzeleid zugefügt. Jetzt habe ich fast nicht den Mut, dich zu fragen, ob du das Wagnis auf dich nehmen willst, meine Frau zu werden. Aber es ist die einzige Möglichkeit, Sibylle glücklich zu machen.«
»Nur wegen Sibylle?«
»Nein, Anita – nicht nur wegen Sibylle. Es ist etwas mit mir geschehen, das mir wie ein Wunder erscheint. Ich habe Angst um dich gehabt. Daran erkannte ich, dass ich dich dem anderen Mann nicht überlassen wollte. Dich nicht und Sibylle nicht. Vielleicht ist immer ein Stück von meinem Herzen in diesem alten Haus geblieben, Anita. Dass du es verkaufen wolltest, bestürzte mich. Dadurch fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Liebe ist anders, ganz anders, als ich früher glaubte.«
»Liebe«, wiederholte Anita innig, »ja, Thilo, Liebe.«
*
Nach Weihnachten gab Thilo Bach sein erstes Konzert. Der Arzt war mit seinem Gesundheitszustand zufrieden und hatte endlich grünes Licht gegeben. Im festlich erleuchteten Saal sah man die schöne junge Frau des berühmten Pianisten und seine Tochter, von der man sich erzählte, dass sie das Talent ihres Vaters geerbt habe.
Dieses erste Auftreten des Künstlers nach langer Pause wurde zu einem triumphalen Erfolg. Der tosende Beifall wollte kein Ende nehmen. Nicht weniger als vier Zugaben erzwang sich das begeisterte Publikum, während die Kritiker bereits ihre Berichte an die Zeitungen durchgaben und darin behaupteten, dass Thilo Bach sich selbst übertroffen habe. Er müsse nun zu den ganz Großen gerechnet werden, denn zu seinem virtuosen Können sei eine tiefe Verinnerlichung und seelische Reife getreten, die seinem Spiel überirdischen Glanz verleihe.
Sibylle griff nach Anitas Hand, als ihr Vater sich noch einmal an den Flügel setzte. Er nickte seiner kleinen Tochter zu und spielte jenes Mozart-Menuett, das Sibyllchen ihm bei ihrer ersten Begegnung vorgetragen hatte.
Erst bei dem festlichen Empfang, mit dem die Rückkehr Thilo Bachs aufs Konzertpodium gefeiert wurde, bemerkte dieser, dass Denise und Alexander von Schoenecker anwesend waren. Sibylle ließ sich von Denise umarmen und fragte, ob sie in den Osterferien für ein paar Tage nach Sophienlust kommen dürfe.
»Du bleibst ein Sophienluster Kind, Billchen. Wir freuen uns, wenn du uns besuchst.«
Thilo Bach verbeugte sich tief vor Denise. »Wie lieb von Ihnen, dass Sie diese weite Fahrt nicht gescheut haben. Ich danke Ihnen.«
»Das war doch Muttis Überraschung für dich, Vati«, zwitscherte Sibylle fröhlich. »Es war gar nicht so leicht, es dir zu verheimlichen.«
Anita nickte. »Barbara hat ein großes Diner vorbereitet. Das Gastzimmer ist bereit. Trotzdem hast du glücklicherweise nichts von unserer kleinen Verschwörung gemerkt.«
Es wurde spät, bis die Wagen zur Villa am Stadtrand fahren konnten, in der inzwischen ungetrübtes Glück Einzug gehalten hatte. Sibylle war so müde geworden, dass ihr Vater sie ins Bett tragen musste.
Dann endlich konnte Barbara das Essen servieren. Ihr gütiges Gesicht sah um Jahre verjüngt aus.
»Was mag aus Bel von Wettering geworden sein?«, fragte Thilo Denise, nachdem man ausführlich über Sophienlust gesprochen hatte.
»Sie ging im Herbst auf eine längere Reise. Seit einiger Zeit hat sie ihr Musikstudium wieder aufgenommen. Kurz vor Weihnachten traf ich ihren Vater, der mir verriet, dass die schöne Bel im Sommer heiraten werde. Herr von Wettering scheint mit seinem Schwiegersohn durchaus einverstanden zu sein. Er hat Landwirtschaft studiert und wird den Wetterhof später übernehmen. Mit Bel verbindet den jungen Mann darüber hinaus die Liebe zur Musik. Er spielt ein Instrument, doch ich habe vergessen, welches.«
Thilo tauschte einen Blick innigen Einverständnisses mit Anita. »Ich freue mich, das zu hören«, sagte er warm.
Alexander von Schoenecker hob sein Glas.
»Lassen wir die Vergangenheit ruhen, Freunde. Meine Frau und ich danken für die Einladung. Mögen Glück und Erfolg Ihrem Hause treu bleiben.«
»Es war ein langer Weg«, versetzte Thilo gedankenvoll, nachdem sie getrunken hatten. »Sophienlust war ein Meilenstein. Dort habe ich gelernt, dass die Liebe unser Leben bestimmt.«
Anita neigte den Kopf. »In Sophienlust haben wir Sibylle zu lieben begonnen. Auch unsere Liebe nahm dort ihren Anfang.«
»Wenn Frau Andrea an jenem Abend nicht bei Peterle geblieben wäre, hätte ich meine kleine Tochter möglicherweise niemals getroffen«, fügte Thilo hinzu.
Anita schwieg nun. In ihren Augen leuchtete ein sanftes Licht. Sie dachte an das kleine Peterle und an ihre eigene Sehnsucht nach einem Kind. Sie wusste, dass dieser Wunsch sich in einigen Monaten erfüllen würde.
Am nächsten Morgen reiste das Ehepaar von Schoenecker wieder ab.
»Grüßt alle«, rief Sibyllchen. »Nick, Henrik, Pünktchen, Vicky, Angelika, Heidi, Tante Ma, Herrn Rennert, Schwester Regine und Magda. Vergesst auch Justus nicht und Tante Andrea. Ich habe alle lieb, aber meine Mutti und meinen Vati habe ich am liebsten.«
Der Wagen fuhr ab.
»Nun hat die kleine Tochter des großen Künstlers doch eine Heimat für ihr Herz gefunden«, sagte Denise leise.