Читать книгу Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Ich glaub, ich kann heute nicht zur Arbeit«, stöhnte Felicitas Norden und zog demonstrativ die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch.

Es war noch früh am Morgen, und die Nacht konnte sich noch nicht recht dazu entscheiden, sich zurückzuziehen. Ein düsterer Streifen Licht fiel durch den Spalt des Vorhangs ins Schlafzimmer des Ehepaars Norden. Doch weder das offensichtlich schlechte Wetter noch seine bleierne Müdigkeit hielten Dr. Daniel Norden davon ab, sich über seine Frau zu beugen.

»Was ist mit dir, Feelein?«, erkundigte er sich besorgt.

Jammern passte so gar nicht zu ihr, und so musste er befürchten, dass es ihr wirklich schlecht ging. »Bist du krank?«

»Schwer krank«, kam postwendend die nicht sehr ernst gemeinte Antwort.

Das bemerkte auch Daniel deutlich am Ton. Erleichtert seufzte er auf und gab seiner Frau einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Ein Glück, dass du einen Experten im Haus hast. Wo fehlt’s denn?«

»Experte mag ja sein. Dummerweise ist er in letzter Zeit höchst selten im Haus.« Dumpf drang Fees Stimme unter der Decke hervor, während sie im Dämmerlicht das Gesicht ihres Mannes musterte. »Wann bis du denn gestern nach Hause gekommen?«

Sofort wusste Daniel, worauf seine Frau anspielte. Er streckte den Arm aus, und Fee bettete ihren Kopf in die Beuge.

»Gegen zwei Uhr, glaube ich«, gestand er und gähnte herzhaft.

Vier Stunden waren definitiv zu wenig Schlaf. Zu mehr kam der engagierte Arzt aber in den vergangenen Tagen nicht. Seine langjährige Freundin und Kollegin, die Klinikchefin Jenny Behnisch, hatte ihn darum gebeten, sie während ihres Urlaubs in der Klinik zu vertreten. Natürlich war er ihrer Bitte nachgekommen und hatte die Leitung seiner Praxis vorübergehend an seinen Sohn Danny übergeben. Eine weise Entscheidung, denn ausgerechnet jetzt war die Privatklinik so gut belegt wie lange nicht.

»Du hast nur vier Stunden geschlafen?«, stellte Fee unwillig fest. »Das ist viel zu wenig.«

Doch Daniel hatte im Augenblick andere Gedanken im Kopf.

»Mag sein, aber es kommen wieder bessere Zeiten. Viel schlimmer ist es, wenn es dir nicht gut geht. Magst du mir nicht endlich verraten, was dir fehlt?«, verlangte er zu wissen.

Er wusste, dass in jedem Spaß ein Körnchen Wahrheit steckte. So war es auch diesmal. Fee schmiegte sich enger an ihren Mann und schickte ihm einen tieftraurigen Blick.

»Ehrlich gesagt leide ich unter akutem Liebesentzug mit nicht absehbaren Langzeitfolgen«, gestand sie halb spaßend, halb im Ernst.

»Ach, du liebe Zeit!« Eine besorgte Falte grub sich tief in Daniels Stirn. »Das ist ja furchtbar. Hältst du eine Therapie mit hohen Dosen an Streicheleinheiten für vielversprechend?«

Nachdenklich wiegte Felicitas den Kopf.

»Schon möglich. Allerdings klingt es, als ob diese Therapie viele Nebenwirkungen hat«, erklärte sie so ernsthaft, dass Daniel um ein Haar in amüsiertes Gelächter ausgebrochen wäre. Doch Fee zuliebe hielt er sich zurück und spielte ihr amüsantes Spiel weiter mit.

»Welche Art von Nebenwirkungen befürchtest du denn?«

»Oh, frag lieber nicht«, verriet sie mit Grabesstimme. »Die Sehnsuchtsattacken sind noch das Harmloseste. Viel schlimmer sind die Gelüste nach noch mehr Zweisamkeit, die sich unweigerlich einstellen werden.«

»Dann sollten wir gleich, wenn Roman und Jenny aus Afrika zurück sind, die Koffer packen und uns ein paar Tage Auszeit an einem geheimen Ort gönnen. Dort, wo uns niemand findet.« Unwillkürlich musste Daniel an Jenny denken. Zu Beginn ihres Urlaubs hatte sie ihr Handy kurzerhand in einem Swimmingpool versenkt, um im wohlverdienten Urlaub nicht ständig von Anrufen aus der Klinik gestört zu werden. Selbst der engagierteste Arzt brauchte einmal eine Auszeit von seinem anstrengenden Beruf. Das bekam auch Daniel im Augenblick am eigenen Leib zu spüren. »Was hältst du von dem Gartenhotel Alpenblick, in das wir die beiden eingeladen haben? Das muss wirklich traumhaft schön sein und ist deiner mit Sicherheit würdig«, machte er einen verlockenden Vorschlag.

Zu seiner großen Verwunderung verschwand das schalkhafte Blitzen aus Fees Augen, und unvermittelt wurde sie ernst.

»Das wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein«, seufzte sie. »Leider wird daraus nichts werden, weil du Danny nicht schon wieder mit der Praxis allein lassen kannst. Zumal er ja noch an seiner Doktorarbeit sitzt, mit der er langsam mal fertig werden sollte.«

Daniel Norden seufzte bedauernd. Mit jedem Wort hatte seine Frau recht.

»Sieht ganz danach aus, als ob es das Schicksal im Moment nicht gut mit uns meint. Dabei haben wir vor Roman noch großartig getönt, wie wichtig wir unsere Beziehung nehmen und stets darauf achten, in all dem Stress genügend Zeit füreinander zu finden.«

Während Fee über diese Worte nachdachte, streichelte sie ihren Mann. Selbst nach so vielen Jahren elektrisierte sie dieses Gefühl seiner nackten Haut unter ihrer Hand.

»Hmmm, dann bleibt uns im Moment wohl nichts anderes übrig, als die Therapie vorzuziehen«, gurrte sie und beugte sich über ihn, um ihn zu küssen.

»Nichts lieber als das«, erklärte sich Daniel nach einem kurzen Blick auf die Uhr gern bereit und erwiderte ihre sanften Berührungen. »Wenn du nachher im Bad nicht zu lange brauchst…«

»Für den Mann, den sie lieben, können Frauen Berge versetzen«, verriet Fee mit vor Leidenschaft rauer Stimme. »Und sogar in fünf Minuten im Bad fertig sein.«

*

»Nanu, was ist denn hier los?«, wunderte sich Felix Norden, als er an diesem Morgen ins Erdgeschoss kam. Anders als sonst war es überall stockfinster, und um ein Haar fiel er über eine Leiter, die an der Wand lehnte. »Himmel, das ist ja lebensgefährlich hier«, schimpfte er und tastete nach dem Lichtschalter. Endlich flammte die Deckenlampe auf. Tatsächlich herrschte noch überall nächtliche Ruhe. Keine Spur war von Lenni, dem guten Geist des Hauses Norden, zu sehen und Felix beschloss kurzerhand, sich selbst in der Küche zu schaffen zu machen. Als seine Eltern die Treppe herunter kamen, wurden sie wie üblich vom Duft nach frischem Kaffee begrüßt, der verführerisch durchs Haus zog.

»O Felix, du machst heute Frühstück?«, begrüßte sein Vater ihn verwundert und warf einen Blick auf den Tisch, den der zweitälteste Sohn des Hauses inzwischen liebevoll gedeckt hatte. »Wo steckt denn Lenni?«

Ratlos zuckte Felix mit den Schultern.

»Keine Ahnung.«

Es war Fee, die eine Antwort auf diese Frage hatte.

»Sie hat sich gestern Abend noch eingebildet, die Gardinen abzuhängen und zu waschen. Dabei ist ihr schwindlig geworden, und ich hab sie ins Bett geschickt«, berichtete sie. Sie war ihrem Mann gefolgt und knöpfte den letzten Knopf ihrer Bluse zu, ehe sie sich fragend umsah. »Sie klagte über einen Anflug von Grippe. Vielleicht schläft sie sich einfach aus«, mutmaßte sie.

»Schon möglich. Aber deshalb muss sie doch nicht dafür sorgen, dass wir alle auf dem Krankenlager landen«, beschwerte sich Felix mitleidheischend. »Sie hat die Leiter mitten im Weg stehen gelassen, und ich hätte mir fast den Hals gebrochen.«

»Zum Glück ist ja nichts dergleichen passiert, und du konntest uns ein herrliches Frühstück zubereiten«, gab Daniel Norden augenzwinkernd zurück und setzte sich an seinen Platz.

Er hatte nicht mehr viel Zeit. Schon bald würde ihn das Klinikleben wieder in Beschlag nehmen, und er wollte wenigstens noch halbwegs in Ruhe frühstücken. »Der Kaffee ist köstlich.«

»In dir schlummern wirklich ungeahnte Talente«, lobte auch Fee ihren Sohn. »Eigentlich könntest du Lenni diese Arbeit in Zukunft immer abnehmen. Schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste. Etwas weniger Arbeit und mehr Ruhe schaden ihr sicher nicht.«

Im Gegensatz zu ihrem Mann trank sie ihren Kaffee im Stehen, ehe sie sich nach dem Wohlergehen ihrer Haushälterin erkundigen wollte. Doch so weit sollte es nicht kommen.

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, ertönte gleich darauf Lennis resolute Stimme, und alle drehten sich nach ihr um.

»Da bist du ja!«, begrüßte Felix die Haushälterin, die ihm in all den Jahren wie eine Großmutter ans Herz gewachsen war. Er musterte sie eingehend. »Geht’s dir gut?«

»Natürlich! Unkraut verdirbt schließlich nicht.« Sie warf einen herausfordernden Blick in die Runde ihrer Lieben. »Was ist? Warum schaut ihr mich so an?«, fragte sie deutlich gereizt.

»Ehrlich gesagt haben Sie schon mal besser ausgesehen«, gestand Felicitas. Tatsächlich war Lennis gütiges Gesicht ungewöhnlich blass, und die Falten um die Augen tiefer als sonst. »Soll Daniel Sie mit in die Klinik zur Untersuchung nehmen?«

»Papperlapp!«, lehnte sie energisch ab und nahm den Kaffee, den Felix ihr zuvorkommend reichte. »Wegen so einem Anflug von Grippe renn ich doch nicht gleich zum Arzt. Ich bin doch kein Hypochonder.« Kopfschüttelnd wandte sich Lenni ab und belegte ihr Revier, die Küche, wieder mit Beschlag.

Felix sah ihr nach, wie sie schimpfend und murrend aus dem Esszimmer ging.

»Das ist der beste Beweis, dass sie munter ist wie ein Fisch im Wasser«, bemerkte er und setzte sich an den Tisch.

Sein Magen hatte sich mit einem lauten Knurren bemerkbar gemacht, und er griff gerade nach einer Scheibe Brot, als ein Krachen, gefolgt von einem lauten Geheul, aus dem Treppenhaus zu hören war.

»Was ist denn jetzt wieder los?«, stöhnte Fee auf. So vielversprechend der Morgen begonnen hatte, so chaotisch schien der ganze Tag zu werden, und schon dachte sie wieder an den verlockenden Vorschlag, den Daniel ihr gemacht hatte. Ein paar Tage Ruhe und Zweisamkeit im Hotel Alpenblick…

Die Beule an Désis Kopf, die gleich darauf vor ihr auftauchte, ließ diesen Gedanken zerplatzen wie eine Seifenblase.

»Dési, mein Engel, was ist passiert?«

»Warum steht die dämliche Leiter mitten im Flur?«, fragte die jüngste Tochter der Familie ärgerlich, als sie sich zu ihren Eltern ins Esszimmer gesellte.

»Wenn sie mitten im Flur steht, ist sie ja eigentlich nicht zu übersehen«, erlaubte sich Daniel eine kritische Bemerkung.

»Schon. Aber nicht, wenn man blind vor Liebe ist«, konnte sich ihr Zwillingsbruder Janni eine freche Bemerkung nicht verkneifen und wich geschickt dem Schlag aus, den Dési ihm versetzen wollte.

»Hahahaha, sehr witzig«, kommentierte sie seine Bemerkung und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Du bist doch nur neidisch, weil du bei Kessy abgeblitzt bist.«

»Habe Hoffnungen, aber niemals Erwartungen. Dann erlebst du vielleicht Wunder, aber niemals Enttäuschungen«, erklärte Jan mit einem Gesichtsausdruck und in einem Tonfall, der eines Weisen würdig gewesen wäre.

Ungläubiges Schweigen erfüllte den Raum, bis Felix in wieherndes Gelächter ausbrach.

»Mann, der war gut. Den muss ich mir merken, wenn Frau Riemerschmidt das nächste Mal an mir rummeckert«, japste er schließlich nach Luft, als schließlich und endlich seine Schwester Anneka ins Esszimmer kam.

Sie war die letzte im Bunde und hätte noch eine Stunde länger schlafen können.

»Habt ihr eigentlich schon mal was von Rücksichtnahme gehört?«, murrte sie verschlafen, drückte ihrem Vater und ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und setzte sich auf ihren Platz. »Hier geht’s zu wie im Irrenhaus. Und wer hat eigentlich die Leiter mitten im Treppenhaus stehen gelassen? Ich hätte sie um ein Haar umgerannt.«

»Ich wusste gar nicht, dass alle Bewohner dieses Hauses ein Problem mit den Augen haben«, erwiderte Daniel belustigt. Er hatte sein Frühstück inzwischen beendet und trank den letzten Schluck Kaffee, ehe er aufstand. »Ich werde die Leiter höchstpersönlich wieder an ihren Platz bringen…«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach Lenni, die, die Hände in die Hüften gestützt, wieder in der Tür aufgetaucht war. »Wie sollte ich denn sonst die Gardinen wieder aufhängen, die ich gewaschen habe?«

»Das erledige ich heute Abend für Sie«, bot Daniel Norden im Brustton der Überzeugung an. »Nicht, dass Ihnen wieder schwindlig wird.«

Doch damit stieß er nicht auf die erhoffte Gegenliebe.

»Sie sind genug beschäftigt in letzter Zeit«, erwiderte Lenni entschieden. »Mal abgesehen davon, dass ich Ihnen ja auch nicht einfach die Arbeit wegnehme.«

Daniel und Fee tauschten verblüffte Blicke. So harsch war die Haushälterin selten mit ihrem Chef ins Gericht gegangen.

»Ich wollte Ihnen nur behilflich sein«, verteidigte sich Dr. Norden. »Aber wenn Sie ohne mich klarkommen, mache ich mich jetzt auf den Weg in die Klinik. Bist du fertig, Feelein?« Seit sie denselben Arbeitsweg hatten, fuhren sie immer zusammen, um wenigstens so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen.

»Ja, ich denke, ich hab alles. Wiedersehen, Kinder!« Ganz liebevolle Mutter ging Fee einmal um den Tisch herum, um jeden Sprössling mit einem Kuss zu verabschieden. »Einen schönen Tag euch.« Als sie bei Felix angelangt war, beugte sie sich über ihn. »Du musst ja als Letzter weg. Schaust du ein bisschen auf Lenni? Nicht, dass ihr noch was passiert«, bat sie ihn unter den Argusaugen der Haushälterin flüsternd.

»Klar«, versprach Felix und lachte Lenni, die versucht hatte zu lauschen, freundlich an.

Die fühlte sich ertappt und drehte sich mit brennend roten Wangen schnell wieder um.

Fee, die wusste, dass sie sich auf ihre Kinder verlassen konnte, verließ an der Seite ihres Mannes beruhigt das Haus. Schon war auch sie in Gedanken wieder bei ihrer Arbeit und freute sich schon jetzt auf die Herausforderungen, die der neue Tag bringen mochte.

*

Auch in der kleinen Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ herrschte um diese Uhrzeit schon lebhaftes Treiben.

»Frau Wallner hat vier einfache Brötchen, drei Seelen, drei Laugenknoten und zwei Wurzelzöpfe bestellt«, las Danny Norden laut aus dem dicken Kalender vor, in dem seine Freundin die täglichen Bestellungen notierte.

Tatjana stand hinter ihm vor den Körben mit den unterschiedlichsten Backwaren und beschriftete und füllte Tüte um Tüte. Seit ihre ungeliebte Mitarbeiterin Dorothee Miller gekündigt hatte und nur noch die Tortenkünstlerin Marianne Hasselt und Tatjana übrig waren, musste Danny seiner Freundin an besonders hektischen Tagen zur Hand gehen. Sonst wäre das Pensum nicht zu schaffen gewesen.

»Jetzt noch vier Brezen und zwei einfache Brötchen für Familie Ambacher und das war’s dann«, erklärte Danny und klappte den Kalender zu.

Tatjana ließ die frischen, handgemachten Backwaren in die Papiertüte fallen und rollte sie zusammen, um sie zu den anderen Tüten in den Lieferkorb zu stecken.

»Vielen Dank, mein Lieber. Ich sag’s ja nur ungern. Aber ich wüsste im Augenblick nicht, wie ich ohne dich über die Runden kommen sollte.« Tatjana stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Danny einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Schon wollte sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, als er blitzschnell die Hände auf ihre schmalen Hüften legte und sie wieder zu sich umdrehte.

»Moment mal. Wenn die Bezahlung weiter so mau ist, werde ich wahrscheinlich demnächst kündigen und mich nach einem anderen Job umsehen müssen«, drohte er in gespieltem Ernst.

Erschrocken riss Tatjana die Augen auf. Nach einem Unfall vor einigen Jahren war sie erblindet. Erst durch eine von Danny initiierte Operation hatte sie einen Teil ihrer Sehkraft wiedererhalten. Geblieben war ihr ein fast unheimliches Gespür für das, was in ihrer Umgebung vor sich ging. Sie erahnte nicht nur am Schritt oder Duft eines Parfums, welcher Kunde gerade das Geschäft betrat, sondern erfühlte auch die Stimmungen, die in der Luft schwangen. So wusste sie zwar, dass ihr Freund im Augenblick nur scherzte. Doch etwas an seinem Tonfall hatte sie hellhörig gemacht.

»Was verlangst du? Mehr Quarkbällchen? Käsebrezen? Pizzaschnitten?«, fragte sie trotzdem scherzhaft.

»Ich hatte eher an Naturalien in Form von Zärtlichkeiten gedacht«, erwiderte Danny.

Es war noch früh am Morgen, und sie waren allein in der frisch renovierten Bäckerei mit dem angeschlossenen Café. So konnte er es wagen, seine Hand unter die lange Kellnerschürze gleiten zu lassen, die Tatjana wie immer um ihre Hüften geschlungen hatte.

»Ah, wusste ich doch, dass du immer nur das Eine im Kopf hast«, gluckste Tatjana und drückte sich an ihn.

»Selbst schuld. Das hab ich von dir gelernt«, raunte Danny ihr heiser ins Ohr und küsste ihren Hals.

»Ich kann doch nichts dafür, dass du so unwiderstehlich bist.« Sie küsste ihn leidenschaftlich, ehe sie ihn resolut von sich schob und eine geschäftsmäßige Miene aufsetzte. »Also gut, Herr Norden, Sie haben mich davon überzeugt, dass ich Sie auf keinen Fall als Mitarbeiter verlieren kann. Wenn Sie mit Ihrer Bezahlung nicht zufrieden sind, sollten wir einen Termin vereinbaren, um über Ihre Gehaltswünsche zu sprechen. Wie wär’s mit heute Abend, neunzehn Uhr?«

»Neunzehn Uhr klingt ganz hervorragend. Wo sollen wir uns treffen?«

»Gibt es einen besseren Treffpunkt als die ›Schönen Aussichten«?‹, fragte Tatjana spitzbübisch.

Dieser Name für ihr frisch renoviertes Geschäft war Dannys Idee gewesen, und noch immer war sie begeistert darüber.

»Wenn du hier bist und auf mich wartest, nicht!« Das meinte der junge Arzt ganz und gar ernst und er zog seine Freundin wieder an sich. In den letzten Wochen war die gemeinsame Zeit knapp bemessen und jede Minute kostbar, die sie zusammen verbringen konnten. »Was hast du heute so vor?«, fragte er, als es Zeit zum Aufbruch wurde.

Tatjana warf einen Blick auf die große Bahnhofsuhr, die über dem Durchgang zum kleinen Café hing.

»In einer Viertelstunde stellt sich eine Bäckerin vor. Wer weiß, vielleicht haben wir ja diesmal Glück, und du bist deinen Nebenjob eher los, als wir denken.«

»Und was ist mit unserer Verabredung?«

»Die muss ich dann möglicherweise absagen«, erklärte Tatjana erbarmungslos. »Schließlich habe ich keine Zeit zu verschenken.« Das vergnügte Zwinkern in ihren Augen strafte sie Lügen.

»Keine Sorge, in diesem Fall finde ich einen Vorwand, um dich zu treffen«, gab Danny zu verstehen, dass er keinesfalls auf dieses Treffen verzichten würde. Besitzergreifend nahm er seine Freundin in die Arme und küsste sie, dass ihr Hören und Sehen verging. »War das deutlich genug?«, fragte er, als sie sich voneinander lösten und Tatjana nach Luft schnappte.

»Alle Achtung. Soll ich das Geschäft überhaupt aufschließen?« Ganz raffinierte Liebhaberin wusste sie genau, wie sie den Stolz ihres Freundes zum Strahlen bringen konnte.

Die Rechnung ging auf, und Danny lächelte geschmeichelt. Tatjana besaß genug Selbstbewusstsein, um ihn ganz Mann sein zu lassen und ihm in den richtigen Momenten die Führung zu überlassen.

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, machte er sogleich Gebrauch von diesem Vorrecht und verabschiedete sich zärtlich und diesmal endgültig von Tatjana.

Sie stand in der Tür und sah ihm nach, wie er schwer bepackt mit den Bestellungen, die er vor Beginn der Sprechstunde noch ausliefern wollte, auf den Wagen zuging. Das energische Klingeln einer Fahrradglocke ließ ihn zusammenzucken.

»Aus dem Weg, alter Mann!«, rief eine junge Frau mit blau gefärbten Haaren.

Nur ein beherzter Sprung auf die Seite rettete Danny vor einem Zusammenstoß.

»Sind Sie verrückt geworden? Sie hätten mich um ein Haar überfahren!«, schimpfte er sichtlich erschrocken und balancierte die schweren Körbe in seinen Armen.

Unter Tatjanas fragenden Blicken war die junge Frau inzwischen abgestiegen.

»Ja eben, nur um ein Haar«, erwiderte sie frech. »Sie hätten ja zur Seite gehen können.«

»Wie bitte?«, ärgerte sich der junge Arzt über die Wiederworte. »Sie hätten die Straße benutzen müssen«, klärte er seine Kontrahentin auf.

»Haben Sie eigentlich Augen im Kopf?« Die blauhaarige Frau deutete auf einen Linienbus, der die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte und die komplette Straße versperrte.

Doch im Augenblick galt Dannys erstes Interesse dem frechen Mädchen. Er sah ihr dabei zu, wie sie ihr Rad mitten auf dem Gehweg abstellte und mit einem riesigen Schloss absperrte.

»Dann hätten Sie wenigstens absteigen können. Und im Übrigen ist das hier auch kein Parkplatz.«

Aufreizend langsam richtete sich die junge, ganz in Schwarz gekleidete Frau auf und sah sich um.

»Tja, zu dumm, dass hier niemand Fahrradständer aufgestellt hat. Jetzt muss ich mein Rad leider, leider hier stehen lassen. Und Sie sollten sich jetzt mal lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Mit dieser Empfehlung ließ sie Danny Norden stehen und drehte sich zu Tatjana um, die immer noch in der Tür stand und dem Gespräch mit wachsender Fassungslosigkeit gelauscht hatte.

Zähneknirschend ließ Danny sie laufen. Noch immer hielt er die Körbe mit den Backwaren in den Armen. Sie waren schwer wie Blei, und er zitterte, als er auf seinen Wagen zuging, um die schwere Last endlich loszuwerden. Wenigstens hatte der Linienbus endlich die Straße verlassen, sodass ihn keine unliebsame Überraschung mehr von seinen Arbeiten abhielt.

*

»So, Lennilein, jetzt, da wir allein sind, kannst du mir ja mal verraten, wo du die Gardinen versteckt hast«, erklärte Felix Norden, als er endlich mit der Haushälterin allein war. In einer Viertelstunde musste auch er in die Klinik aufbrechen, wo er ein freiwilliges soziales Jahr in der Ergotherapie absolvierte. Bis dahin wollte er dem Wunsch seiner Mutter nachkommen und Lenni davon abhalten, selbst wieder auf die Leiter zu klettern. »In der Waschmaschine sind sie jedenfalls nicht. Da hab ich schon nachgeschaut.«

»Ich hab sie längst hochgeholt«, verkündete Lenni und warf stolz den Kopf in den Nacken. »Während du die Küche aufgeräumt hast, war ich unten im Keller. Die ersten hängen schon wieder an den Fenstern.«

»Mann, Lenni, es ist ja leichter einen Sack Flöhe zu hüten als dich«, schimpfte der Arztsohn. »Den Rest lässt du jetzt aber mich machen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Diese Haken sind so kniffelig. Die bekommst du niemals in die Schiene. Mal abgesehen davon, dass ich Angst habe, dass du mir die Vorhänge wieder dreckig machst. Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du mir helfen wolltest?«

Schuldbewusst presste Felix die Lippen aufeinander.

»Was kann ich denn dafür, dass Janni mich vorher gebeten hatte, seine Fahrradkette wieder reinzumachen?«, verteidigte er sich.

»Nichts. Aber es gibt einen Grund, warum ich meine Arbeit lieber selbst mache.« Damit war die Diskussion für Lenni beendet, und sie marschierte aus der Küche.

Felix sah ihr nach und haderte mit sich, ob er ihre Worte nicht einfach überhören sollte. Doch nach einem Blick auf die Uhr entschied er sich anders. Die Debatte mit seiner störrischen Ersatzoma hatte länger gedauert als gedacht, und er musste sich allmählich fertig machen, wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen und wieder einmal einen spöttischen Kommentar von seiner Chefin ernten wollte. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief er die Treppe hinauf. Im Hintergrund hörte er das Klappern der Leiter. Er war gerade oben angekommen, als ihn ein ohrenbetäubendes Krachen zusammenfahren ließ. Ein dumpfer Knall und der Schrei aus Lennis Kehle sorgten dafür, dass er auf dem Absatz kehrt machte und wieder hinunter eilte. Felix fand die Haushälterin im Arbeitszimmer. Wie befürchtet lag sie neben der umgefallenen Leiter auf dem Boden und wimmerte vor sich hin.

»Mein Knie. O weh, o weh.«

»O Mann, Lenni«, stöhnte Felix entsetzt auf. »Ich wusste doch, dass das nicht gut geht. Warum hab ich mich nur von dir einschüchtern lassen?«, ging er hart mit sich ins Gericht, während er versuchte, die Haushälterin aufzurichten. »Komm, ich helf dir hoch.«

Doch Lenni schüttelte gequält den Kopf.

»Es geht nicht. Das tut so weh. Irgendwas stimmt nicht mit dem Knie.« Sie hatte so starke Schmerzen, dass ihr Tränen in die Augen getreten waren.

So hatte Felix seine geliebte Lenni nie gesehen und er bekam es mit der Angst zu tun. Fieberhaft dachte er nach, was in diesem Fall zu tun war.

»Bleib ganz ruhig. Ich komm gleich wieder«, versprach er und sprang auf. Zuerst sorgte er für eine Decke und Kissen, damit Lenni nicht auskühlte. Erst dann wählte er die Nummer der Behnisch-Klinik und forderte einen Wagen an.

In knappen Worten berichtete er, was geschehen war. Nach dem Gespräch gab es nichts weiter zu tun, als abzuwarten. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis das Martinshorn durch die Straßen hallte und schnell näher kam. Wenige Minuten später brachte Felix die Ersthelfer ins Arbeitszimmer. Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet Noah, angehender Rettungsassistent und Anneka Nordens Freund, mit von der Partie war.

»Das ist vielleicht ein blödes Gefühl, zu einer bekannten Adresse gerufen zu werden«, sagte er zu Felix, als er neben Lenni niederkniete. »Wie fühlen Sie sich?«

»Zum Tanzen habe ich heute keine Lust, junger Mann«, erwiderte sie zähneknirschend, und Noah schickte dem Bruder seiner Freundin einen ungläubigen Blick.

Trotz seines Schreckens, der ihm immer noch in den Gliedern steckte, konnte sich Felix ein Grinsen nicht verkneifen.

»Unkraut verdirbt nicht«, raunte er Noah zu, ehe sich die Türen des Rettungswagens schlossen. »Hat sie selbst heute Morgen noch gesagt.«

Als der Wagen losfuhr, stand der Arztsohn am Straßenrand und sah den Rücklichtern nach, die sich scheinbar im Nebel des grauen Morgens auflösten. Erst jetzt, als der erste Schock nachließ, machte sich eine abgrundtiefe Sorge in ihm breit, und er beeilte sich, dem Wagen in die Klinik zu folgen.

*

»Hast du mein Mathebuch gesehen, Mama?« Tobias Hasselts Stimme hallte durch die gemütlich eingerichtete Wohnung, in der er mit seiner Mutter Marianne lebte. »Ich hab’s gestern aufs Küchenbuffet gelegt, und jetzt ist es weg.«

»Vielleicht war heute Nacht ein Einbrecher hier und hat es geklaut«, erwiderte Marianne belustigt und lächelte im Spiegel den Mann an, der hinter sie getreten war.

»Das ist überhaupt nicht lustig!«, wetterte Tobias ungeduldig. »Ich muss unbedingt noch eine Hausaufgabe machen. Wenn ich die vergesse, muss ich am Freitag nachsitzen.«

Marianne schickte dem Mann im Spiegel einen bedauernden Blick.

»So ist das Leben mit Kindern nun mal«, entschuldigte sie sich bei Mario Cornelius, der erst seit kurzem ihr Freund war. Noch basierte ihre Beziehung auf ihrer innigen Verliebtheit, der allerdings jede Sicherheit fehlte. Aus Angst vor Verletzungen beobachteten sich die beiden Liebenden mit Argusaugen, lauschten mit gespitzten Ohren auf jedes Wort, das der andere sagte. Besonders Marianne war so empfindlich, wie sie sich selbst gar nicht kannte. Nach dem allzu frühen Tod ihres Mannes vor einiger Zeit hatte sie sich in den viele Jahre jüngeren Arzt verliebt. Gerade dieser Altersunterschied machte ihr zu schaffen, was nicht zuletzt daran lag, dass Mario der begehrteste Mann an der Behnisch-Klinik war und besonders von einer jungen Lernschwester umgarnt wurde.

Auf der anderen Seite war auch Mario nicht halb so sicher, wie es schien, ob er der lebenserfahrenen, klugen Marianne genügen konnte. Er beugte sich über sie, um sie sanft auf die Wange zu küssen.

»Ich kenne das Leben mit einer großen Familie von meiner Schwester und finde es wunderbar«, versicherte er ihr. »Allerdings tue ich mich schwer mit kleinen Kindern. Deshalb hab ich mir die Rosinen rausgepickt und mir eine Frau mit fast erwachsenem Nachwuchs gesucht.« Er zwinkerte ihr vergnügt zu, ehe Marianne ihrem immer noch schimpfenden, wetternden Sohn zu Hilfe kam.

Ein Blick und ein gezielter Griff genügten, um das vermisste Buch unter einem Stapel Papier auf dem Buffet ans Tageslicht zu fördern.

»Wie wär’s, wenn du das hier nimmst, bis wir ein anderes gefunden haben.«

»Das hast du absichtlich da versteckt«, behauptete Tobias kein bisschen dankbar und verzog sich an den Frühstückstisch, um nebenbei die überfällige Hausaufgabe zu erledigen.

Seufzend sah Marianne zu Mario auf, als er sich zu ihnen an den Tisch gesellte.

»Kinder und Männer braucht man gar nichts suchen lassen. Die können vor dem gesuchten Objekt stehen und sehen es trotzdem nicht.«

»Das würde ich so nicht behaupten«, widersprach der Kinderarzt und setzte sich. Er dankte Marianne, die ihm Kaffee eingeschenkt hatte. »Ich habe die große Liebe gesucht und gefunden. Wenn das kein Erfolg ist, weiß ich auch nicht.« Dabei lächelte er so verliebt, dass Mariannes Zweifel für einen Moment still schwiegen.

Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf den Mund.

»Glaub ja nicht, dass du damit bei mir durchkommst. Bei mir zählen Taten. Schöne Worte kann jeder daherreden. Das ist nicht weiter schwierig«, lachte sie gut gelaunt.

In gespielter Verzweiflung verdrehte Mario die Augen.

»Wie soll ich dir beweisen, dass es mir ernst ist?«

»Statt Mum zu becircen könntest du mir bei den linearen Gleichungen helfen«, mischte sich Tobias in das Geplänkel der beiden Erwachsenen ein.

»Lineare Gleichungen?« Mario zog eine Augenbraue hoch. »Lass mich mal sehen. Das ist mindestens vierzig Jahre her, dass ich das gelernt hab.«

»So alt bist du doch noch nicht mal«, lachte Tobias belustigt auf. »Deshalb müsstest du das locker drauf haben.«

»Locker drauf haben?«, wiederholte der Arzt ungläubig. Diese Herausforderung musste er annehmen, wenn er vor dem jungen Mann bestehen wollte, und er zog das Heft zu sich heran.

Es dauerte nicht lange, bis die beiden in eine ernsthafte Diskussion über den richtigen Lösungsweg vertieft waren. Während Marianne sie dabei beobachtete, wurde ihr Herz weit vor Glück. Eine Zeitlang hatte sie gefürchtet, nie mehr wieder dieses Gemeinschaftsgefühl erleben zu dürfen, das eine Familie bedeutete. Doch mit Mario lebte die Hoffnung neu auf, und sie lächelte innig.

*

Als Lenni auf der Rolltrage in die Notaufnahme der Behnisch-Klinik gebracht wurde, wurde sie nicht nur von den behandelnden Ärzten erwartet. Auch Fee hatte alles stehen und liegen gelassen, um ihrer Haushälterin beizustehen.

»Um Gottes willen, Lenni, wie konnte das passieren? Ich hab Felix doch extra gesagt, dass er aufpassen soll.« Besorgt beugte sich die Ärztin über die Liege und nahm Lennis eiskalte Hand.

»Machen Sie ihm keine Vorwürfe. Er hat alles versucht«, erwiderte die Haushälterin matt. »Diesen Schlamassel hab ich ganz allein fabriziert.« Ihre Blicke wanderten unruhig hin und her. »Wo ist der Doktor? Wenn er das erfährt, hält er mir mit Sicherheit eine Standpauke.«

Trotz ihrer Angst musste Fee über diese Sorge lächeln.

»Sie haben Glück. Dan ist gerade im OP. Der Kollege Weigand wird Ihre Versorgung übernehmen.« Sie nickte Matthias Weigand zu, der neben sie an die Liege getreten war.

»Wie ist das passiert?«, erkundigte er sich bei dem Ersthelferteam.

»Lenni ist beim Gardinenaufhängen von der Leiter gefallen«, erstattete Noah Adam Bericht. »Sieht ganz danach aus, als hätte sie sich eine Trümmerfraktur im linken Knie zugezogen. Wir haben ihr was gegen die Schmerzen gegeben.«

»Weitere Verletzungen?«

»Vermutlich hat sie sich auch eine Rippenprellung zugezogen. Der Kreislauf ist stabil, aber etwas arrhythmisch. Das sollten Sie sich unbedingt ansehen«, erstattete der angehende Rettungsassistent pflichtbewusst Bericht.

»Gut.« Dr. Weigand übernahm das Klemmbrett mit den notwendigen Aufzeichnungen und bedankte sich bei seinen Kollegen, als Felix atemlos hereingestürmt kam.

»Da bist du ja, Lenni!«, rief er erleichtert, als er seine geliebte Ersatzoma sah. »Wie geht es dir?«

Ein Lächeln huschte über das erschöpfte Gesicht der Haushälterin.

»Felix! Mach dir keine Sorgen.« Sie winkte, und schon öffneten sich die Türen des Behandlungsraums.

Felix wollte ebenfalls hinein schlüpfen, als seine Mutter ihn am Arm zurückhielt.

»Halt. Hier kannst du nicht durch. Das weißt du doch«, erinnerte sie ihn sanft, aber bestimmt.

»Ich kann Lenni doch nicht allein lassen!« Der junge Mann starrte verzweifelt in den Raum mit den vielen medizinischen Apparaten. »Immerhin bin ich schuld an der ganzen Misere.«

»Unsinn!« Fee legte den Arm um die Schultern ihres Sohnes und führte ihn fort. »Lenni hat mir schon gesagt, dass du nichts dafür kannst.« Unter den sanften Worten seiner Mutter beruhigte sich Felix Norden langsam wieder.

Inzwischen gingen im Behandlungsraum die Untersuchungen vonstatten.

»Mit der Trümmerfraktur im Knie haben die Kollegen aller Wahrscheinlichkeit nach recht«, erklärte Dr. Weigand nach einer ersten Untersuchung. »Ich bin mir sicher, dass das Röntgenbild die Diagnose nur noch bestätigten wird. Bitte informieren Sie Dr. Norden. Er soll sich die Sache ansehen, sobald er aus dem OP zurück ist«, wies er Schwester Elena an, die seinen Auftrag sofort ausführte.

Trotz ihrer Erschöpfung verfolgte Lenni jeden Schritt, der getan und jedes Wort, das gesprochen wurde, aufmerksam.

»Warum den Doktor?«, fragte sie irritiert. »Sie sind doch auch Arzt.«

»Ich möchte, dass er sich die Sache mal ansieht«, antwortete Dr. Weigand wahrheitsgemäß. Als Interimschef der Klinik hatte sich Daniel Norden auserbeten, über jeden komplizierten Fall informiert zu werden. »Haben Sie sonst Schmerzen?«

»Nur wenn ich lache!«, kam die ironische Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Doch auch diese Aussage nahm Matthias Weigand ernst, während er den Kopf des Ultraschallgeräts über den Oberkörper seiner Patientin gleiten ließ.

»Wahrscheinlich haben Sie sich bei dem Sturz tatsächlich eine Rippenprellung zugezogen. Aber keine Sorge. Mit genügend Ruhe geht das von selbst vorbei.« Sein Blick ruhte auf dem Monitor, auf den die Bilder übertragen wurden. »Hier sehen Sie übrigens die Milz…alles in Ordnung…und auch den Nieren ist nichts passiert. Da haben Sie nochmal Glück im Unglück gehabt.« Zufrieden mit diesen Ergebnissen wischte er das Gel von Lennis Haut und legte den Schallkopf beiseite. Doch statt die Untersuchung zu beenden, nahm er noch einmal das Stethoskop zur Hand. Unter den Argusaugen der Haushälterin hörte er erneut die Herztöne ab. Dabei war seine Miene ernst.

»War Ihnen schwindlig in den letzten Tagen? Haben Sie sich müde und abgeschlagen gefühlt? Hatten Sie Schmerzen in der Brust?«, stellte er eine Frage nach der anderen.

Unter seinem kritischen Blick fühlte sich Lenni sichtlich unwohl und wie ertappt senkte sie den Blick

»Woher wissen Sie das alles?«, erkundigte sie sich kleinlaut.

Doch Dr. Weigand schickte ihr nur einen vielsagenden Blick und stand auf. Aus den Augenwinkeln hatte er beobachtet, wie der Kollege Norden den Raum betrat.

»Das besprechen Sie am besten mit Dr. Norden«, erwiderte er und verabschiedete sich von Lenni, die beim Namen ihres Chefs auf der Liege ein bisschen tiefer rutschte. Sie wusste, dass sie mit Kritik zu rechnen hatte, die zu allem Überfluss auch noch berechtigt war.

*

»An diesen Service könnte ich mich glatt gewöhnen«, bemerkte Dr. Mario Cornelius, als Marianne ihren Wagen vor der Klinik parkte.

»Das solltest du nicht tun. Vielleicht lasse ich mich nämlich auch ab und zu ganz gern zur Arbeit fahren!«, gab Marianne zu bedenken und ließ sich nur zu gern von Mario auf den Mund küssen.

Diese vertrauliche Geste direkt vor der Klinik stärkte ihr Vertrauen in seine Liebe und machte ihr Mut, sich mehr und mehr auf ihn einzulassen.

Wenn sie geahnt hätte, von wem sie beobachtet wurden, hätte Marianne ihrem Liebsten nicht so glücklich nachgewunken. So aber sah sie Mario nach, wie er beschwingt die Stufen zur Klinik hoch eilte. Erst als er durch die Glastüren verschwunden war, konzentrierte sich die Konditorin auf die Straße. Ein glückliches Lächeln auf den Lippen sah sie in den Rückspiegel, setzte den Blinker und reihte sich in den fließenden Verkehr ein.

Darauf hatte Lernschwester Carina nur gewartet.

»Na, warte, dir wird das dämliche Grinsen noch vergehen«, schimpfte sie, von Eifersucht zerfressen, und beeilte sich, ihrem Schwarm Mario Cornelius in die Klinik zu folgen.

Dabei war Carina selbst schuld an ihrem Dilemma und im Grunde genommen wusste sie das ganz genau. Monatelang hatte sie sich mit dem Chef der Pädiatrie einen heißen Flirt geliefert. Ihrer eigenen Unsicherheit hatte sie es zu verdanken, dass es nie zu einem Treffen gekommen war. Schließlich hatte Mario genug gehabt von ihren kindischen Spielchen und sich der reifen Marianne zugewandt, die genau wie er wusste, was sie wollte. Doch Carina war weit davon entfernt, diese Niederlage hinzunehmen.

Janni Norden war ihr noch einen Gefallen schuldig. Sie hatte ihm aufgetragen, Mario ins ehemalige Café Bärwald zu bestellen, nichtahnend, dass ihre Konkurrentin Marianne Hasselt ausgerechnet dort als Konditorin arbeitete. »Wenn er mich heute Abend im Café ›Schöne Aussichten‹ sieht, muss er einfach mit mir reden. Und danach wollen wir ja mal sehen, ob er noch Interesse an dieser Frau hat«, murmelte Carina grimmig vor sich hin, während sie im Laufschritt auf den Aufzug zueilte. Wenn sie nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte, musste sei sich beeilen. Schon wollten sich die Türen vor ihr schließen, doch sie sprang gerade noch in die Kabine. Als sie sich umdrehte, starrte sie direkt in Mario Cornelius‘ selig lächelndes Gesicht, und um ein Haar wäre ihr Herz stehen geblieben.

»Oh, hallo!«, begrüßte sie den Chef der Pädiatrie schüchtern.

Mario zuckte zusammen, als hätte sie ihn aus einem schönen Traum geweckt.

»Ach, Schwester Carina«, erwiderte er ihren Gruß ungewöhnlich freundlich.

Seit ihrer letzten Absage war er der jungen Lernschwester aus dem Weg gegangen und hatte jedes Treffen zu zweit tunlichst vermieden, von einem Gespräch ganz zu schweigen. Deshalb ruhte Carinas ganze Hoffnung auf dem Treffen am Abend. In den richtigen Kleidern, mit den richtigen Worten würde es ihr mit Sicherheit gelingen, ihn doch noch von sich und ihren ernsthaften Absichten zu überzeugen.

Doch an diesem Morgen schien Mario seine Vorsätze Carina betreffend ohnehin vergessen zu haben. Er lächelte sie immer noch freundlich an, und entgegen jeder Vernunft schlug ihr Herz höher.

»Sie sehen ja heute so fröhlich aus«, konnte sie sich eine Bemerkung in seine Richtung nicht verkneifen. »Haben Sie schöne Pläne für heute Abend oder freuen Sie sich so sehr auf die Arbeit?« Trotz ihres inzwischen schmerzhaft klopfenden Herzens versuchte sie, unbeschwert und locker zu klingen.

Mario antwortete nicht sofort. Ein Gedanke war ihm in den Sinn gekommen.

»Gut, dass Sie es sagen«, unwillig schüttelte er den Kopf. »Fast hätte ich es vergessen. Mein Neffe Jan will sich heute Abend mit mir im Café ›Schöne Aussichten‹ treffen.«

»Das sind ja schöne Aussichten«, entfuhr der jungen Lernschwester ein lahmer Scherz, und sie hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt.

Doch in seiner verliebten Stimmung bemerkte Mario nichts.

»Ich freu mich immer, meine Nichten und Neffen zu sehen. Auch wenn es ungewöhnlich ist, dass Janni mich ausgerechnet dort treffen will.«

»Vielleicht hat er Ärger mit seinen Eltern«, machte Carina einen scheinheiligen Vorschlag.

Nachdenklich wiegte Mario den Kopf.

»Schon möglich. Aber das werde ich ja spätestens heute Abend erfahren.« Ein leises Klingeln kündigte die Ankunft im zweiten Stock an, wo Mario noch etwas zu erledigen hatte, ehe er seinen Dienst auf der Kinderstation antrat. »Ich muss los. Dann noch einen schönen Tag.« Er nickte der Lernschwester freundlich zu und verließ den Fahrstuhl.

Carina indes war so verzaubert von den wenigen Worten, die der unverschämt attraktive Dr. Cornelius an sie gerichtet hatte, dass sie ihm nur wortlos nachstarren konnte, bis sich die Aufzugtüren wieder vor ihr schlossen.

»Dir auch einen schönen Tag, mein Lieber«, murmelte sie halblaut vor sich hin und lächelte teuflisch. »Und am Abend wirst du dein blaues Wunder erleben.«

*

Irritiert betrachtete Tatjana die junge Frau, die Danny um ein Haar umgefahren hätte und die bald darauf selbstbewusst die Bäckerei betrat. Ihr Sehvermögen reichte aus, um die blau gefärbten Haare zu erkennen. Auch der Nasenring und die Tätowierung, die am Hals unter ihrem schwarzen T-Shirt hervor blitzte, blieben Tatjana nicht verborgen. Das kräftig schwarze Augenmakeup und die schwarze Kleidung ließen die Haut ihrer Besucherin noch blasser erscheinen, als sie es tatsächlich war.

Für gewöhnlich war Tatjana sehr aufgeschlossen und tolerant und sie störte sich nicht an Äußerlichkeiten. Das unmögliche Benehmen der jungen Frau hatte aber Spuren bei ihr hinterlassen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Bäckerin ungewöhnlich schroff.

Die junge Frau antwortete nicht sofort. Kaugummikauend sah sie sich in aller Ruhe in den frisch renovierten Räumen um.

»Mein Name ist Marla. Ich hab einen Termin bei der Chefin«, ließ sie sich schließlich herab, die Frage zu beantworten.

»Ich BIN die Chefin.« Tatjana schwante Übles. »Du bist Marla Brandt?«

»Jap.« Marlas Interesse konzentrierte sich auf Tatjana. »Sie sind die Chefin hier? Cool. Wie der ganze Laden hier. Gefällt mir.« Sie nickte anerkennend.

Doch die Begeisterung war nicht beidseitig.

»Mir auch. Und ich habe gerade beschlossen, dass ich keinen Job mehr zu vergeben habe.« Um ihre Worte zu unterstreichen, verschränkte Tatjana die Arme vor dem Körper.

»Wirklich?« Unbekümmert, wie Marla war, schien sie diese Bemerkung überhaupt nicht auf sich zu beziehen. Sie drehte sich um die eigene Achse und beschloss, sich auf einen der Barhocker zu setzen, die vor dem Schaufenster der Bäckerei neben hohen Tischen für eilige Kunden bereit standen. »Darf ich?«, Fragte sie anstandshalber, als sie schon fast saß.

Empört über so viel Dreistigkeit schnappte Tatjana nach Luft.

»Nein. Darfst du nicht. Und ich finde, wir können uns den Rest dieses unerfreulichen Gesprächs auch sparen.«

Endlich schien Marla ein Licht aufzugehen. Sie sah Tatjana eingehend an und dachte dabei nach.

»Ach, jetzt kapier ich… Sie sind sauer wegen dem Schnösel von vorhin. Das war ein Missverständnis… Vergessen wir die ganze Sache.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin genau die Frau, die Sie suchen.«

»Was macht dich da so sicher?« Mit jedem Wort konnte Tatjana es weniger glauben. Selten hatte sie ein so selbstbewusstes Mädchen gesehen. Aber war diese so demonstrativ zur Schau gestellte Selbstsicherheit auch echt? Daran hatte die Bäckerin ihre berechtigten Zweifel.

»Ich kann backen, was Sie wollen. Das ganze Programm. Sie haben meine Unterlagen doch gesehen.«

Tatjana zögerte kurz. Dann holte sie tief Luft und setzte zu einer Erklärung an.

»Das mag schon sein, Marla. Aber ich suche nicht nur eine fähige Bäckerin, sondern ein Allround-Talent, das auch mal vorn im Verkauf mithelfen und die Kunden freundlich bedienen kann. Diese Fähigkeit scheint bei dir nicht allzu stark ausgeprägt zu sein«, wagte sie eine vorsichtige Prognose.

»Ich könnte zur Probe arbeiten«, machte Marla unbeeindruckt einen Vorschlag.

Doch Tatjana hatte weder Lust noch Nerven für Experimente.

»Tut mir leid!« Sie schüttelte den Kopf und ging zur Tür. Das kleine Glöckchen klingelte hektisch, als sie sie öffnete und eine eindeutige Geste machte.

Marla zögerte. Dann rutschte sie vom Barhocker und kam der unmissverständlichen Aufforderung nach. An der Tür angekommen, blieb sie noch einmal stehen und sah Tatjana kaugummikauend an.

»Falls Sie es sich noch einmal anders überlegen… Meine Adresse haben Sie ja.« Dazu lächelte sie so freundlich, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Doch in diesem Augenblick war Tatjana sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie vergaß sie in dem Moment, als sie Marianne bemerkte, die eben aus ihrem Wagen ausstieg und ihr fröhlich zuwinkte. Mit einem Armvoll Blumen und einem großen Korb – beides zauberte sie vom Rücksitz ihres Wagens – kam sie auf Tatjana zu. Die Tortenkünstlerin hatte ein großes Geschick im Arrangieren und Dekorieren und lebte ihr Talent nur zu gern in der frisch renovierten Bäckerei und dem kleinen Café aus. Dieses Talent wirkte sich direkt auf die Kundschaft auf, die nach der Neueröffnung in Scharen in das Geschäft strömte und gar nicht mehr gehen wollte.

»Guten Morgen, Jana. War das unsere neue Kollegin?«, erkundigte sich Marianne, als sie bei ihrer Chefin angekommen war.

»Sie wäre es gern geworden. Aber es lag nicht nur an den blauen Haaren.« Tatjana lachte und nahm Marianne die Blumen ab. »Komm erst mal rein und trink einen Kaffee mit mir. Dann erzähle ich dir alles.«

Das ließ sich Marianne nicht zwei Mal sagen und folgte ihrer Chefin ins Geschäft.

*

Dr. Daniel Norden hatte sich viel Zeit genommen für die Untersuchung seiner Haushälterin Lenni. Inzwischen war Fee in ihr Büro zurückgekehrt und versuchte seither, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Vergeblich, wie sie bald einsehen musste. Die sorgenvollen Gedanken kreisten unaufhörlich in ihrem Kopf, und Felicitas amtete erleichtert auf, als ihr Mann endlich in ihrem Büro auftauchte.

»Gott sei Dank, Dan, da bist du ja endlich!« Sie sprang vom Stuhl auf und eilte ihm entgegen.

»Hoppla, so eine stürmische Begrüßung lasse ich mir gern gefallen.« Trotz seiner Sorgen musste Daniel lachen und schloss seine Frau in die Arme.

Die Erinnerung an die Zärtlichkeiten des Morgens war noch lebendig, und er musste sie mit Gewalt vertreiben, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können.

»Wie geht es Lenni?«, erinnerte auch Fee ihn an das, was im Augenblick am Wichtigsten war.

»Der Verdacht hat sich bestätigt. Sie hat sich eine Trümmerfraktur des linken Kniegelenks zugezogen«, erklärte er und ging hinüber zum Sideboard, wo immer eine Schale mit frischem Gebäck aus Tatjanas Bäckerei bereit stand. Einen Moment lang blickte er auf die verführerische ­Auswahl und entschied sich schließlich für ein ebenso winziges wie köstliches Schoko-Sahne-Törtchen. »Hmmm, die sind einfach fantastisch«, geriet er unvermittelt ins Schwärmen und schloss einen kurzen Augenblick genüsslich die Augen.

Fees alarmierte Stimme ließ Daniel aber rasch wieder in die Wirklichkeit zurückkehren.

»Heißt das, dass sie ein neues Kniegelenk braucht?«, fragte sie zutiefst besorgt.

»Keine Angst, Feelein«, versuchte Daniel, seine Frau zu beruhigen. »Du weißt doch selbst, dass das heutzutage ein Routineeingriff ist.«

Das wusste Felicitas tatsächlich. Sie wusste aber auch, dass ihr Mann etwas vor ihr verbarg. Der ernste Ausdruck in seinen Augen zeugte davon.

»Ist da noch was?«, hakte sie nach.

Als Daniel seufzte, bestätigten sich ihre Befürchtungen.

»Ich kann aber auch wirklich gar nichts vor dir verbergen.«

»Ein beruhigender Gedanke«, stellte Fee ernst fest. »Was ist los?«

»Eigentlich wollte ich erst darüber sprechen, wenn mehr Untersuchungsergebnisse vorliegen. Aber gut… Lenni hat seit einiger Zeit Herzbeschwerden.«

Diese Nachricht kam auch für Fee überraschend. Mit vielem hatte sie gerechnet, nur nicht damit.

»Seit einiger Zeit, sagst du? Wie kann das sein? Davon hätten wir doch was mitbekommen müssen.«

Dieser Gedanke bekümmerte auch ihren Mann.

»Ich weiß auch nicht, warum sie nichts gesagt hat. Die Herzrhythmusstörungen sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch der Grund für ihre Schwindelanfälle.« Unwillig schüttelte Dr. Norden den Kopf. »In diesem Zustand ist selbst eine Operation mit Rückenmarksnarkose ein Risiko. Aber ich hoffe, dass wir diese Probleme bis morgen früh in den Griff bekommen werden und uns dann um das Knie kümmern können.«

Felicitas Norden kannte ihren Mann gut genug, um auch die Worte zwischen den Zeilen lesen zu können. Die Sorge um die Haushälterin, die ihr in all den Jahren wie ein echtes Familienmitglied ans Herz gewachsen war, ließ ihre Knie weich werden. Sie sank auf den Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch für Besucher bereit stand. Angstvoll sah sie zu ihrem Mann hoch.

»Sie wird doch wieder gesund werden?«

Diese bange Frage hatte sich Dr. Norden auch schon gestellt. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine sichere Antwort darauf. Doch wie immer hatte auch in diesem Fall sein unerschütterlicher Optimismus gesiegt. So lange eine Schlacht nicht verloren war, wollte er an den glücklichen Ausgang glauben.

»Natürlich wird sie das!«, versicherte er mit fester Stimme. »Und wir alle werden ihr dabei helfen.«

*

»Warum nur hab ich mich von Lenni überreden lassen?«, murmelte Felix Norden vor sich hin, während er eine neue Lieferung Acrylfarben in dem dafür vorgesehenen Schrank verstaute. Die Materialien waren für Menschen gedacht, die nach einer Operation mit körperlichen Einschränkungen kämpfen mussten und ihre Bewegungsfähigkeit unter anderem durch eine Maltherapie wiedererlangen sollten. Er war so vertieft in seine verzweifelten Gedanken und Schuldgefühle, dass er die Blicke seiner ungeliebten Chefin nicht bemerkte.

»Ist es um deinen Geisteszustand schon so schlecht bestellt, dass du Selbstgespräche führst?«, fragte ihn die Ergotherapeutin ironisch.

Durch Worte und Gesten hatte sie dem Arztsohn von Anfang an unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er mitnichten mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden war. Er musste sich seine Sporen selbst verdienen, und sie dachte nicht daran, ihm das Leben leicht zu machen.

Felix, der nicht mit einem Zuhörer gerechnet hatte, fuhr erschrocken herum.

Silvie Riemerschmidts hämisches Lächeln brachte ihn fast zur Weißglut.

»Natürlich führe ich Selbstgespräche«, erklärte er und warf wütend die Schranktür zu. »Hin und wieder brauche ich nämlich einen kompetenten Gesprächspartner.«

Ehe die Ergotherapeutin den Sinn dieser Worte überhaupt erfasst hatte, war er an ihr vorbei aus dem Zimmer gelaufen. Er stürmte an verdutzten Patienten vorbei durch den Flur und hielt er erst wieder an, als ihm die kühle Luft des Spätherbstes ins Gesicht schlug. Irritiert hielt Felix inne und sah sich um. Ohne es zu bemerken, war er in den parkähnlichen Garten gelaufen. Erst jetzt bemerkte er, dass er außer Atem war. Die Hände in die Seiten gestemmt hielt er keuchend inne. Die kalte Luft kühlte seine überschäumenden Gefühle auf ein erträgliches Maß ab, und langsam begann Felix, im Garten auf und ab zu gehen.

Seine Mutter Felicitas, die am Fenster in ihrem Büro stand, bemerkte den jungen Mann, der unter blattlosen Bäumen rastlos seine Kreise zog. Sie ahnte, welche Sorgen ihn belasteten. Deshalb zögerte sie nicht und verließ ihr Büro, um ihm in dieser dunklen Stunde beizustehen.

»Felix, mein Lieber, ist alles in Ordnung?« Glücklicherweise hatte sie einen Mantel mitgenommen und schloss schnell die Knöpfe, ehe sich die unangenehme Kälte festbeißen konnte.

»Diese verdammten Gardinen! Warum hab ich mich nur von Lenni einlullen lassen? Warum hab ich mich nicht durchgesetzt?«, fragte Felix bitter. Erst jetzt drehte er sich zu seiner Mutter um. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck erschreckte sie zutiefst. »Ich hab Angst, Mami!«

Fee konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann ihr Zweitältester diese kindliche Anrede zum letzten Mal benutzt hatte. Früher völlig normal, war sie inzwischen ein Zeichen höchster Not.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Felix«, sprach sie mit sanfter Stimme auf ihren Sohn ein und kam näher. »Wir wissen doch alle, wie stur Lenni sein kann. Niemand hat Schuld an diesem Unfall. Mal abgesehen davon, dass sie hier in den besten Händen ist.« Sie verriet nicht, dass sie sich mit diesen Worten selbst genauso zu trösten versuchte.

Felix schien ihre Gedanken zu erahnen.

»Lenni ist keine junge Frau mehr. Eine Operation in ihrem Alter ist bestimmt alles andere als ein Kinderspiel.« Seite an Seite wanderten Mutter und Sohn durch den schönen Garten, der selbst in dieser Jahreszeit in pittoresker Schönheit dalag.

»Ich weiß«, musste Fee seufzend eingestehen. Sie haderte mit sich, ob sie Felix von Lennis Herzproblemen erzählen sollte, und entschied sich schließlich dafür. Früher oder später würde er es ohnehin erfahren. »Dein Vater hat heute herausgefunden, dass die Schwindelanfälle von Herzproblemen herrühren.«

Abrupt blieb Felix stehen und starrte seine Mutter entgeistert an.

»Lenni hat Herzprobleme? Warum haben wir nie was davon mitbekommen?«

»Offenbar hat sie ein ungeahntes schauspielerisches Talent.« Ratlos zuckte Felicitas mit den Schultern. »Aber dein Dad und alle anderen Ärzte werden alles in ihrer Macht Stehende tun, damit sie wieder gesund wird«, versicherte sie noch einmal.

»Und wenn das nicht genügt?«, fragte Felix hoffnungslos zurück.

Doch daran wollte Fee noch nicht einmal ansatzweise denken.

»Du wirst sehen: Bald schwingt Lenni im Haus wieder das Zepter wie eh und je und wird sich nichts vorschreiben lassen«, versprach sie ,und ihre Worte klangen fast wie eine Beschwörung.

*

Die Nachricht von Lennis Unfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Familie Norden. Schon am Nachmittag hatten sich sämtliche Familienmitglieder vor dem Krankenzimmer versammelt und warteten auf Daniels Signal, hereinkommen zu dürfen.

Endlich öffnete sich die Tür, und sein skeptischer Blick glitt über die Köpfe seiner Lieben.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht zu viel Besuch auf einmal ist«, bemerkte er.

»Mensch, Papi, Lenni erschrickt eher, wenn nur ein paar von uns auflaufen«, bemerkte Janni. »Dann macht sie sich gleich Sorgen, dass einem von uns was passiert ist.«

»Stimmt auch wieder«, gab Dr. Norden sich dieser Argumentation geschlagen. »Aber bitte seid so leise wie möglich. Auf keinen Fall dürfen alle durcheinander reden. Immer einer nach dem anderen…«

»Entschuldige, aber das ist nicht der erste Krankenbesuch, den wir gemeinsam machen«, erinnerte Danny seinen Vater lächelnd an die unabänderlichen Tatsachen.

Daniel seufzte.

»Natürlich nicht. Tut mir leid, aber ich bin tatsächlich ein bisschen nervös«, gestand er und ließ seine Familie eintreten.

Auf diesen Moment schien Lenni offenbar schon gewartet zu haben. Als ihre Lieben so zahlreich im Krankenzimmer auftauchten, lächelte sie zufrieden.

»Da seid ihr ja endlich!«

»Du Ärmste, wie geht es dir? Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.«

»Hast du noch große Schmerzen?«

»Wir sollten die Gardinen einfach abschaffen!«

Während Lenni die Liebesbezeugungen und Beileidsbekundungen über sich ergehen ließ, lächelte sie noch mehr. Alle redeten durcheinander, und Daniel Norden schickte seiner Frau einen ratlosen Blick. Felicitas lächelte sichtlich belustigt zurück.

»Tut dir noch was weh?«, wiederholte Anneka geduldig ihre Frage, als sich der erste Trubel endlich gelegt hatte.

Tapfer winkte die Haushälterin ab.

»Ein bisschen, aber das wird schon wieder«, versprach sie fast feierlich. »Diese neumodischen Gelenke sind so fantastisch, dass man sogar einen Marathon damit laufen kann.«

»Seit wann machst du denn Sport?«, entfuhr es Dési.

Lenni zwinkerte ihr belustigt zu.

»Noch nicht. Aber vielleicht fang ich dann damit an.«

»Damit werden Sie wohl noch eine Weile warten müssen«, wollte Daniel die Erwartungen nicht zu hoch schrauben. »Nach der Operation werden Sie noch eine Weile hier bleiben, bevor Sie zu Johannes und Anne in Reha gehen können.«

»Auf die Insel der Hoffnung wollte ich schon immer mal als Patientin«, zeigte sich Lenni durchaus begeistert von diesem Plan. Das Sanatorium, das Fees Vater gemeinsam mit seiner zweiten Frau Anne auf der romantischen Halbsinsel betrieb, war ein fast magischer Ort. Bei vielen Patienten hatte der Aufenthalt dort schon wahre Wunder bewirkt. »Aber Gymnastik muss ich da nicht machen, oder?«, erkundigte sie sich vorsorglich.

Doch das konnte und wollte Dr. Norden seiner Haushälterin nicht versprechen, wusste er doch um die heilende Wirkung moderater Bewegung.

»Sie werden schön brav das ganze Programm absolvieren, das die Therapeuten von Ihnen verlangen.«

»Schließlich müssen Sie wieder trittsicher sein, wenn Sie nach Hause kommen«, ergänzte Fee. »Wie ich Sie kenne, lassen Sie sich ja doch nicht davon abhalten, wieder auf Leitern zu klettern«, sagte sie Lenni auf den Kopf zu.

Alle lachten. Nur Lennis Miene wurde plötzlich ernst.

»Du liebe Zeit, was ist denn eigentlich mit den Gardinen passiert?«, wandte sie sich sichtlich besorgt an Felix. »Sag bloß, dass sie noch feucht auf dem Boden liegen.«

Felix zuckte ratlos mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ich hab sie jedenfalls nicht aufgehoben. Wenn du dich recht erinnerst, hatte ich Wichtigeres zu tun.«

Doch Lenni hörte ihm schon gar nicht mehr zu.

»O je, o je«, jammerte sie. »Bestimmt bekommen sie Stockflecken. Was soll denn nur aus dem Haus werden, wenn ich wochenlang außer Gefecht gesetzt bin?«

»Bitte machen Sie sich darüber keine Sorgen. Gemeinsam bekommen wir das schon irgendwie hin, wenn auch nicht so perfekt wie Sie«, entschied sich Fee für eine diplomatische Antwort.

»Genau«, pflichtete Anneka ihrer Mutter bei. »Werd du erst mal wieder gesund. Alles andere ist nicht so wichtig.«

Einen Moment lang haderte Lenni mit sich.

»Also schön.« Erwartungsvoll wandte sie sich an ihren Chef. »Wann bekomme ich denn mein neues Kniegelenk?«

Obwohl Daniel Norden im Laufe seiner Karriere schon manches erlebt hatte, versetzte ihn Lennis offensichtliche Ungeduld in Erstaunen.

»Wenn Ihr Herz auf die Medikamente anspricht, werden wir morgen früh operieren. Aber nur dann. Wir wollen auf keinen Fall ein Risiko eingehen«, erwiderte er bewusst zurückhaltend. Den letzten Teil seines Satzes überhörte Lenni geflissentlich.

»Na bitte. So schnell werdet ihr mich nicht los«, freute sie sich und wandte sich an Felix. »Und du kümmerst dich bitte gleich heute Abend darum, dass die Gardinen nochmal in die Waschmaschine kommen. Dreißig Grad Schonwäsche, Feinwaschmittel. Und nur wenig schleudern, sonst bekommen sie hässliche Falten, die sich nicht mehr aushänge. Und natürlich müssen sie gleich aufgehängt werden…«

Zum allerersten Mal in seinem Leben war Felix für eine Arbeitsanweisung dankbar. Das war das beste Zeichen dafür, dass seine geliebte Lenni schon wieder auf dem Weg der Besserung war. Und dafür hätte er noch viel mehr getan als Gardinen vorschriftsmäßig zu waschen und aufzuhängen.

*

Nicht nur durch Lennis Sturz verging die Zeit an diesem Tag wie im Flug, und ehe es sich Dr. Mario Cornelius versah, wurde es Zeit zum Aufbruch. Doch bevor er zu der Verabredung mit seinem Neffen fuhr, telefonierte er noch kurz mit seiner Liebsten.

»Hast du schon frei?«, erkundigte er sich bei Marianne.

Ihr Bild stand vor seinem geistigen Auge, und diese Vorstellung zauberte ihm ein zärtliches Lächeln auf die Lippen.

»Ich liefere noch Torten aus«, antwortete sie. Sie hatte ihren Wagen vor dem Haus geparkt, wo sie die letzte Lieferung des Tages abgeben sollte. »Wenn das so weitergeht und wir nicht bald eine kompetente Hilfe finden, musst du auch noch einspringen. Genau wie Danny.«

Mario lachte.

»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als mit dir zusammen zu arbeiten.«

»Da wär ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, scherzte Marianne. Sie hatte den Apparat zwischen Ohr und Kinn geklemmt und hob vorsichtig eine schwere Tortenschachtel vom Beifahrersitz ihres Wagens. »Hat dein Anruf einen besonderen Grund? Sonst würde ich lieber weitermachen, bevor mir noch eine Schachtel runterfällt.«

Eigentlich hatte Mario ihr von seiner Verabredung mit Jan erzählen wollen. Da er seine Freundin aber nicht zusätzlich stressen wollte, verzichtete er darauf.

»Ich wollte nur deine Stimme hören«, versicherte er und hauchte einen Kuss in den Apparat.

»Du bist süß!« Marianne lachte leise und bedauerte, im Augenblick nicht mehr Zeit für ihren Freund zu haben. »Ich melde mich später bei dir.«

»Ich kann’s kaum erwarten und hab das Handy immer am Mann«, versprach er fast feierlich und beendete das Gespräch.

Während er sich endgültig auf den Weg zu seiner Verabredung machte, stellte Marianne die Tortenschachtel auf den Boden und steckte das Telefon ein. Sie wollte sich eben wieder nach ihrer Lieferung bücken, als es erneut klingelte. Im ersten Moment dachte sie, dass Mario etwas vergesse hatte. Aber es war eine weibliche Stimme, die sich meldete.

»Bist du noch unterwegs, Marie?«, erkundigte sich Tatjana atemlos.

Durch das Stimmengewirr im Hintergrund war sie kaum zu verstehen.

»Ich liefere gerade die letzte Torte aus.« Mit gespitzten Ohren stand Marianen neben der Tortenschachtel und lauschte auf den unglaublichen Lärm. »Was ist denn bei dir los? Bist du in einer Bahnhofshalle?«

»Schön wär’s. Dann könnte ich nämlich einfach in den nächsten Zug steigen und fliehen.« Zumindest ihren Humor hatte Tatjana noch nicht verloren. »So aber muss ich leider hierbleiben. Stell dir vor, in irgendeiner Zeitung ist heute eine sehr positive Besprechung über unser Café erschienen. Offenbar liest die ganze Stadt dasselbe Blatt und hat sich dazu entschlossen, es zum Feierabend auszuprobieren. Seit fünf ist hier die Hölle los.«

»Willst du damit sagen, dass im Augenblick 1,5 Millionen Menschen bei dir sitzen?«, fragte Marianne belustigt.

Tatjana lachte, auch wenn sie der Verzweiflung nah war. Ihr hoffnungsloser Blick glitt über die zahlreichen Menschen, die sich im Café auf jedem freien Platz drängten. Aus der Nähe hatte sie einige bekannte Gesichter erkannt wie die junge Lernschwester aus der Behnisch-Klinik, die sichtlich fassungslos an einem der alten Holztische im Eck saß und auf die Tür starrte. Es war offensichtlich, dass auch sie nicht mit diesem Ansturm gerechnet hatte.

»Ganz so viele sind es wahrscheinlich nicht«, räumte Tatjana ein. »Aber auf jeden Fall zu viele, um allein mit ihnen fertig zu werden«, gestand sie. »Deshalb wollte ich dich bitten, ob du nochmal vorbeikommen und mir helfen kannst. Ich weiß, dass du gleich Feierabend hast, aber…«

»Schon gut!«, stimmte Marianne sofort zu, obwohl sie sich wirklich auf ihre wohlverdiente Freizeit gefreut hatte. »Natürlich lass ich dich nicht hängen. In zwanzig Minuten kann ich da sein. So lange musst du noch durchhalten. Schaffst du das?«

»Du bist ein Engel!«, bedankte sich Tatjana statt einer Antwort und legte auf, bevor Marianne etwas erwidern konnte.

Erneut hatte sich die Tür zur Bäckerei geöffnet, das Glöckchen begrüßte den Ankömmling hektisch.

*

»Du liebe Zeit, was ist denn hier los?« Fassungslos stand Mario Cornelius in der Bäckerei und sah sich um.

Trotz ihres verminderten Sehvermögens hatte Tatjana ihn sofort erkannt. Sie lächelte tapfer, als sie auf ihn zuging.

»Mario! Hast du auch den Bericht über unser Café gelesen oder bist du zufällig vorbei gekommen?«

»Ich bin hier mit Janni verabredet«, erwiderte der Kinderarzt, nachdem er Tatjana zur Begrüßung links und rechts auf die Wange geküsst hatte. »Aber wenn ich das gewusst hätte, wären wir woanders hingegangen. Steckt er denn hier irgendwo?« Hilflos sah er sich in dem Gewimmel um.

Bedauernd schüttelte Tatjana den Kopf.

»Janni ist ganz bestimmt nicht hier. Der hätte sich längst bemerkbar gemacht. Aber die Lernschwester aus der Klinik, die sitzt da hinten im Eck und scheint genauso überfordert zu sein wie wir.«

»Carina?« Neugierig drehte sich Mario um.

Tatsächlich entdeckte er die junge Schwester, die den Arm gehoben hatte und ihm zuwinkte. Sie hatte ihn schon gesehen, als er noch draußen vor den großen Schaufenstern gestanden hatte. Sofort schlug ihr Herz schneller, und ihre Kehle wurde trocken vor Aufregung. Unterdessen dachte Mario kurz nach und traf dann eine Entscheidung.

»Wenn Janni kommt, sagst du ihm dann bitte, wo ich bin?«, bat er Tatjana, die das gern und ohne Hintergedanken versprach.

»Klar. Magst du was trinken? Falls ja, würde ich dich bitten, das Getränk gleich mitzunehmen.«

»Nein, danke. Ich glaub, es sind schon genug Menschen da, um die du dir Gedanken machen musst.« Er nickte ihr freundlich zu und machte sich dann auf den Weg zu Carina, schob sich an eng stehenden Stühlen und Hockern vorbei, bat Gäste um Entschuldigung, stieß versehentlich an Tische und erreichte endlich die rettende Oase. »Puh, das ist ja der reinste Spießrutenlauf!«, stöhnte er und ließ sich auf den Platz fallen, den Carina ihm freigehalten hatte. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. Erst dann schickte er der jungen Lernschwester einen fragenden Blick. »Was machen Sie überhaupt hier? Haben Sie auch diesen Artikel gelesen? Tatjana hat sowas erwähnt…«

Mit dieser Frage hatte Carina gerechnet und lächelte unschuldig wie ein Engel.

»Von einem Artikel wusste ich nichts«, erwiderte sie wahrheitsgemäß, ehe sie mit einer glatten Lüge fortfuhr. »Ich hatte einfach mal Lust, was anderes zu sehen als immer nur die Klinik und meine kleine Wohnung. Da dachte ich, es wäre eine gute Idee, hierher zu kommen.« Sie log so geschickt, dass Mario keinen Verdacht schöpfte. »Und Sie sind also mit Ihrem Neffen verabredet?«

Einen Moment überlegte er, woher sie das wusste. Dann erinnerte er sich an ihr Treffen im Aufzug am Morgen.

»Stimmt. Aber ich hab keine Ahnung, wo er steckt. Offenbar hat er sich verspätet.«

Doch das hatte Janni keineswegs getan. Das wusste auch Carina. Er war zwar nicht im Café ›Schöne Aussichten‹. Doch hier und da sah sie immer wieder einen Haarbüschel in einem der Schaufenster aufblitzen, und ein neugieriges Augenpaar linste durch die beschlagenen Scheiben.

»Dann können wir zwei Hübschen die Wartezeit ja gemeinsam nutzen und ein Glas zusammen trinken«, machte Carina einen mutigen Vorschlag.

Etwas in ihrer Stimme ließ Mario hellhörig werden und er betrachtete seine Tischnachbarin eingehender.

»Ich glaub, ich hab Sie nie in Straßenkleidung gesehen«, bemerkte er, und Carina legte den Kopf schief.

»Und? Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, fragte sie aufreizend, und unwillkürlich musste er wieder an den Flirt denken, der sie beide monatelang beschäftigt hatte. Doch diese Zeiten gehörten ein für alle Mal der Vergangenheit an, und heute fragte sich Mario, was er eigentlich an diesem jungen Ding gefunden hatte. Im Vergleich zu Marianne war Carina nichts weiter als ein junges, zugegebenermaßen apartes Mädchen, der es jedoch an Lebenserfahrung und Reife fehlte.

»Sie wissen selbst, wie hübsch Sie sind«, erwiderte er fast schroff. »Da brauchen Sie meine Bestätigung nicht auch noch.«

In diesem Moment wusste Carina, dass sie die Vergangenheit nicht außen vor lassen konnte. Eine Weile rührte sie in ihrem Kaffee, der längst kalt geworden war. Dabei sah sie aus den Augenwinkeln wieder einmal Jannis Haarschopf aufblitzen. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf den Mann ihrer Träume.

»Sie sind immer noch sauer, weil ich Sie damals versetzt hab, nicht wahr?«, fragte sie schweren Herzens. »Ich weiß heute, wie albern und kindisch ich mich benommen habe, und es tut mir unendlich leid, was passiert ist. Glauben Sie nicht, dass Sie mir…uns noch eine Chance geben können?« Carina legte all ihre Gefühle, die sie für Mario hatte, in ihre Worte, in ihr Gesicht.

Der Kinderarzt reagierte nicht sofort. Mit gesenktem Kopf saß er am Tisch und betrachtete den altmodischen Zuckerstreuer aus Glas, der dort neben einer kleinen Vase mit einer frischen Rose stand. Noch einmal ging ihm der ganze Flirt durch den Kopf, dachte er an seine Gefühle, die Schmetterlinge in seinem Bauch, die aber so wenig mit dem zu tun gehabt hatten, was er jetzt für Marianne empfand.

Mit angehaltenem Atem und ängstlich klopfendem Herzen wartete Carina auf seine Entscheidung. Sie zuckte zusammen, als er sich räusperte und sie endlich ansah.

»Ich freue mich, dass Sie durch diese Geschichte reifer geworden sind«, erlöste Mario sie endlich aus ihrer Ungewissheit. »Aber auch ich habe dazugelernt. Meine Gefühle für Sie… Das war nicht annähernd das, was ich für meine jetzige Freundin empfinde. Selbst wenn Marianne und ich erst kurz zusammen sind, fühlt es sich anders an als alles, was ich je zuvor erlebt habe«, gestand er offen. »Ich denke, wir beide, Sie und ich, haben uns da in was reingesteigert.«

Am liebsten hätte sich Carina die Ohren zugehalten. Sie wollte die Wahrheit nicht hören. Das war nicht das, was sie sich von diesem Treffen erhofft hatte. Und mit jedem Stück Hoffnung, das in ihr starb, erwachte die Wut, die Eifersucht auf diese Frau, die ihr den Mann vor der Nase weggeschnappt hatte. Carina konnte Mario nicht mehr ansehen. Ihr hilfloser Blick irrte durch das Café und blieb schließlich an der Tür hängen, durch die Marianne gerade herein kam. Als sie ihre ärgste Konkurrentin entdeckte, dachte die junge Lernschwester nicht länger nach. Sie wartete, bis die aparte Frau mit den wilden Locken und den erhitzten Wangen durch die Tür trat. Carina sah genau, wie Mariannes Augen aufleuchteten, als sie Mario unter den Gästen entdeckte. In diesem Moment legte sie die Arme um den Hals des Kinderarztes und zog ihn zu sich. Zu perplex, um angemessen auf diesen Angriff zu reagieren, fühlte Mario die heißen Lippen der Lernschwester auf den seinen brennen.

»Du elender Verräter!« Mariannes Schrei hallte durch das ganze Café, und für den Bruchteil eines Augenblicks verstummten die sämtliche Gespräche.

Kurz schien es, als ob die Welt stillstehen würde. Kein Laut war zu hören, und die neugierigen Gäste versuchten, den Grund für diese Beschuldigung herauszufinden. Als aber nichts weiter geschah, begann sich die Welt wieder zu drehen. Die Gäste wandten sich wieder ab und nahmen ihre Gespräche wieder auf. Alles war wieder wie vorher.

Nur für Marianne hatte sich alles geändert. Und auch wenn Mario die junge Lernschwester mit einem hasserfüllten Blick von sich stieß, sonnte sich Carina in ihrem Erfolg. Mit einem gezielten Tritt hatte sie das zarte Pflänzchen, das diese Beziehung war, erbarmungslos zertrampelt. Das erkannte sie überdeutlich an Mariannes verzerrter Miene. Verblendet, wie sie war, fühlte Carina kein Bedauern. Wenn sie schon auf Mario verzichten musste, sollte ihn auch keine andere haben.

*

Zu diesem Zeitpunkt spielten sich nicht nur im Café ›Schöne Aussichten‹ dramatische Szenen ab.

Ein Alarm hallte über den Flur der Behnisch-Klinik. Schwester Elena, die im Schwesternzimmer gesessen und den Dienstplan für die kommende Woche geschrieben hatte, sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Ein Blick auf die Anzeigentafel genügte, um zu wissen, welcher Patient ihre Hilfe brauchte.

Doch Dr. Norden war ihr schon zuvor gekommen.

»Lenni!« Er eilte auf das Bett zu, in der die Haushälterin lag.

Ihr Kopf war zur Seite gesunken. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Gesicht war gespenstisch blass.

»Lenni! Hörst du mich? Hallo?« Daniel klopfte auf ihre Wangen, ehe er eine kleine Taschenlampe aus der Kitteltasche zog und ihr in die Augen leuchtete, um die Reflexe zu prüfen. »Was ist passiert?«, erkundigte er sich nebenbei bei der Schwester.

»Vorhin war ihr schwindlig, und jetzt ist sie plötzlich weg«, berichtete Schwester Elena und warf ­einen Blick auf die Überwachungsgeräte, an die Lenni glücklicherweise immer noch angeschlossen war. »Der Kreislauf ist instabil. Puls 80 zu 60.«

Unwillig schüttelte Dr. Norden den Kopf.

»Das sieht nicht gut aus. Bereiten Sie eine Infusion vor.«

»Was vermuten Sie? Einen Schlaganfall?«, erkundigte sich Schwester Elena zutiefst besorgt.

Sie wusste, in welchem Verhältnis die Patientin zu dem allseits beliebten Interimschef stand, und es bedrückte sie, ihn so besorgt zu sehen.

»Leider ist das möglich. Wir brauchen sofort ein CT«, ordnete er an, und Elena lief, um alles Nötige in die Wege zu leiten.

*

Als Felicitas Norden an diesem Abend nach Hause kam und ins Wohnzimmer trat, stieß sie einen Schreckensschrei aus.

»Felix, willst du wohl sofort da runter kommen!«, befahl sie, als sie ihren Zweitältesten auf der Leiter entdeckte. »Ein Unglück am Tag reicht mir völlig aus.«

»Wenn du so rumschreist und mich erschreckst, bekommen wir vielleicht Mengenrabatt bei den künstlichen Kniegelenken«, drohte Felix, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Weit vornüber gebeugt stand er auf der Leiter und versuchte, die widerspenstigen Haken in die Schiene einzufädeln. »Mal abgesehen davon ist es kein Wunder, dass Lenni runtergefallen ist. Diese Haken sind dermaßen störrisch, die bringt man kaum in die Schiene.«

»Wir werden ein anderes System anschaffen«, versprach Fee, die sich inzwischen am Fuß der Leiter postiert hatte, um wenigstens für mehr Standfestigkeit zu sorgen.

»Apropos Lenni, wie geht’s ihr denn inzwischen?« Es war fast geschafft. Nur noch drei Haken, und die letzte der Gardinen würde wieder ordentlich an ihrem Platz hängen.

Kritisch sah Felicitas ihrem Sohn bei der Arbeit zu.

»Dein Vater wollte nochmal nach ihr sehen. Eigentlich dachte ich, dass er schon zu Hause ist…«

In diesem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss.

»Na bitte, du hast fast richtig gedacht«, feixte Felix grinsend und kletterte von der Leiter.

Als er aber die ernste Miene seines Vaters sah, der zu seinen Lieben ins Wohnzimmer kam, verging ihm das Lachen.

»Du kommst ganz schön spät!«, begrüßte Felicitas ihren Mann mit einem Kuss. Auch sie hatte die Sorge in seiner Miene entdeckt und versuchte, darin zu lesen. »Ist was mit Lenni?«

Daniel antwortete nicht sofort. Er stand mitten im Zimmer und musterte betreten seine Schuhspitzen.

»Dan, bitte!«, versuchte Fee ruhig zu bleiben. »Was ist passiert?«

»Sie ist uns plötzlich weggeklappt«, erwiderte er endlich heiser ,und sowohl Fees als auch Felix’ Augen wurden rund vor Schreck. »Zuerst haben wir einen Hirninfarkt vermutet«, fuhr Daniel seufzend fort. »Allerdings war das CT unauffällig. Und die Angio auch.«

»Eine TIA?«, wusste Fee sofort, wovon ihr Mann sprach.

»Ja«, stimmte Daniel zu, als Felix allmählich ungeduldig wurde.

»Immer diese Fremdwörter und Abkürzungen! Kann mir bitte mal einer erklären, um was es hier geht?«, fragte er deutlich gereizt.

Fee und ihr Mann tauschten betroffene Blicke. Manchmal vergaßen sie, dass sie es nicht nur mit medizinischem Fachpersonal zu tun hatten. Selbst wenn sich ihre Kinder durch die vielen Gespräche inzwischen ziemlich gut auskannten, verstanden sie beileibe nicht alles.

»Entschuldige, Liebling«, wandte sich Felicitas an ihren Sohn. »Bei einer Angiographie, kurz Angio, handelt es sich um die medizinische Darstellung von Gefäßen im Körper. Und eine TIA ist eine kurzzeitige Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff.«

»Besser hätte ich es auch nicht erklären können«, lobte Daniel seine Frau.

Doch sein Lob ging ins Leere, denn längst waren Fees Gedanken weiter geeilt.

»Was bedeutet das alles für die geplante Operation morgen?«, wandte sie sich mit einer berechtigten Frage an ihren Mann.

»Die TIA ist eine Folge der Herzrhythmusstörung. Die müssen wir unbedingt in den Griff bekommen, bevor wir die Operation wagen können. Deshalb müssen wir sie erst einmal verschieben.« Er warf einen bedauernden Blick in die Runde und machte Anstalten, in die Küche zu gehen, um sich ein Bier zu holen.

»Stimmt das?«, rief Felix ihm alarmiert nach. Noch immer plagten ihn Schuldgefühle. »Dann fahre ich sofort in die Klinik.«

Müde hielt Daniel in der Tür inne und drehte sich noch einmal um.

»Lenni hat ein Mittel bekommen. Sie schläft jetzt«, versuchte er, seinen Sohn zu beruhigen. »Falls irgendwas ist, ruft mich der Kollege Weigand sofort an.«

Doch Felix‘ Entschluss stand fest.

»Ich fahre trotzdem zu ihr. Wenn sie aufwacht, kann ich ihr erzählen, dass die Gardinen wieder frisch gewaschen an ihrem Platz hängen. Das hilft ihr vielleicht.« Diesen Worten ließ der zweitälteste Sohn der Familie Norden umgehend Taten folgen, und gleich darauf fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss.

*

»Marianne, bitte, ich kann das alles erklären«, flehte Dr. Mario Cornelius die Frau seines Herzens an.

Nach dem unfreiwilligen Kuss waren mehrere Dinge auf einmal passiert. Ohne die Lernschwester noch weiter zu beachten, war der Kinderarzt aufgesprungen und zu seiner Freundin gelaufen. Carina indes hatte in aller Seelenruhe ihre Sachen zusammengepackt und war durch die Bäckerei marschiert, ein stolzes Lächeln auf den Lippen. Niemals hätte sie nach außen gezeigt, wie verletzt sie wirklich war. Aber es interessierte auch niemanden, und noch nicht einmal Mario bemerkte, dass Carina das Café verließ.

Dafür wollte sich draußen Jan voller Wut auf die Lernschwester stürzen.

»Das ist ja wohl der Hammer!«, rief er erbost, kaum dass sie auf die Straße hinaus getreten war.

Damit hatte Carina gerechnet und dreht sich milde lächelnd zu dem Arztsohn um.

»Lass mich in Ruhe, Junge«, verlangte sie und wedelte mit der Hand hin und her, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen.

»Was hast du da angerichtet?«, ließ Jan sich davon allerdings nicht einschüchtern. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich das niemals getan.«

Die Lernschwester war inzwischen ein paar Meter weiter gegangen. Jetzt blieb sie stehen und drehte sich zu dem aufgebrachten jungen Mann um.

»Ich weiß und ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du mir diesen kleinen Gefallen getan hast. Wiedersehen.« Carina winkte, ehe sie sich endgültig umdrehte und um die nächste Ecke verschwand.

In diesem Moment musste Janni einsehen, dass seine Versuche, sich Gehör zu verschaffen, vergeblich waren. Schuldbewusst kehrte er zum Eingang des Cafés zurück, um auf Mario zu warten, der noch immer versuchte, seiner Freundin alles zu erklären.

Doch Marianne wollte nicht mit Mario sprechen. Die Tatsache, dass das Café immer noch brechend voll war, kam ihr dabei zu gute.

»Du siehst doch, dass ich im Augenblick keine Zeit für dich habe«, fauchte sie und tippte demonstrativ eine Rechnung in die Kasse.

Sie wartete, bis der Papierstreifen gedruckt wurde, und wollte sich dann an Mario vorbei drängen.

Der hielt sie am Ärmel fest.

»Wann hast du Zeit für mich?«, verlangte er energisch zu wissen.

Der Blick, der ihn traf, war zum Fürchten, und er leistete keinen Widerstand mehr, als Marianne den Arm wegzog.

»Morgen vielleicht«, erwiderte sie unbestimmt. »Kommt drauf an, wie viel hier los ist.« Sie nickte ihm kühl zu und machte sich dann auf den Weg zu ihren Kunden, die ungeduldig auf ihre Rechnung warteten.

Einen Moment lang blieb der Kinderarzt in der Bäckerei stehen und sah seiner Freundin nach, musste aber schließlich einsehen, dass er das Problem an diesem Abend nicht mehr lösen würde. Schweren Herzens verließ er das Café, nichtahnend, dass er draußen schon sehnsüchtig erwartet wurde.

Wie ein Rumpelstilzchen war Janni auf dem Gehweg auf und ab gelaufen und stürzte sich auf seinen Onkel, kaum dass der einen Fuß aus dem Geschäft gesetzt hatte.

»Diese blöde Schnepfe!« Auf den Wangen des Teenagers bildeten sich hektische rote Flecken. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich nie auf dieses Geschäft eingelassen.«

Mario starrte seinen Neffen verständnislos an.

»Janni, da bist du ja! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Hast du unsere Verabredung vergessen? Und was für ein Geschäft meinst du überhaupt?«

Die kalte Luft schlug ihm ins erhitzte Gesicht. Während er auf eine Antwort wartete, schloss er den Reißverschluss seiner Jacke.

All die Fragen hatten Jan Norden zur Besinnung gebracht. Schuldbewusst starrte er zu Boden und scharrte mit der Schuhspitze auf dem Asphalt.

»Es ist alles meine Schuld. Das mit Marianne und Carina und so.«

Mario legte den Kopf schief und dachte kurz nach.

»Hm, das klingt nach einer längeren Erklärung.« Er seufzte tief, steckte die Hände in die Jackentaschen und wanderte los. Sein Neffe folgte ihm, und Seite an Seite schlenderten die beiden den Gehweg hinunter.

»Dann schieß mal los!«, verlangte der Kinderarzt und Janni begann zu erzählen.

Er begann am Anfang und berichtete von dem Zusammenstoß mit Carina vor ein paar Wochen auf dem Klinikflur.

»Es war meine Schuld, ich hab einfach nicht aufgepasst«, gestand er zerknirscht. »Die Instrumente sind auf den Boden gefallen, und sie musste sie alle nochmal sterilisieren. Dafür hat sie von mir einen Gefallen verlangt.« Jan kickte einen kleinen Stein weg, der auf dem Weg gelegen hatte. Mit trostlosem Blick sah er ihm nach, wie er über den Asphalt sprang und schließlich im Rinnstein liegen blieb.

»Lass mich raten«, erwiderte Mario düster. »Du solltest dich mit mir verabreden, damit sie eine Gelegenheit hat, privat mit mir zu sprechen.« Im Nachhinein gelang es ihm mühelos, das Puzzle zusammenzusetzen, machte jedes von Carinas Worten und auch die Begegnung im Aufzug an diesem Morgen doch einen Sinn. »Aber warum ausgerechnet in Tatjanas Café? Wenn wir uns woanders getroffen hätten, hätte Marianne nichts davon erfahren. Ich hätte Carina den Kopf gerade rücken können, und alles wäre gut gewesen.« Seine Stimme klang so bitter, dass Jan unwillkürlich den Kopf einzog.

»Carina wusste nicht, dass Marianne dort arbeitet.« Er wollte noch mehr sagen, aber Mario schnitt ihm das Wort ab.

»Aber du wusstest es«, sagte er seinem Neffen unbarmherzig auf den Kopf zu und wenn möglich, zog Jan den Kopf noch mehr ein.

»Jaaa«, antwortete er gedehnt. »Ich fand die Idee irgendwie witzig… Hab nicht nachgedacht, was draus werden kann.«

»Das Gefühl hab ich allerdings auch«, schimpfte Mario ärgerlich vor sich hin, und schnell fuhr Janni fort: »Außerdem dachte Carina, dass das Café noch im Umbau und deshalb nicht viel los ist.« Janni lauschte dem Nachhall seiner Worte und wusste gleichzeitig, dass es keine Entschuldigung für seine Tat gab, geben konnte. »Aber wie auch immer… Ich bin schuld daran, dass Marianne jetzt wütend auf dich ist.«

Eine Weile ging Mario mit gesenktem Kopf neben seinem Neffen her. Plötzlich hob er den Arm und legte ihn auf Jans Schulter.

»Du bist nicht schuld«, erklärte er endlich voller Überzeugung. »Carina hätte ihren perfiden Plan mit oder ohne dich durchgezogen. Jemand, der solche Mittel wählt, findet immer einen Weg.«

Überrascht blickte Jan zu seinem Onkel auf.

»Meinst du wirklich?«, fragte er unsicher. »Dann bist du mir nicht böse?«

»Nein«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Und jetzt sollten wir Carina nicht mehr den Gefallen tun und ihr so viel Aufmerksamkeit zukommen lassen. Viel wichtiger ist, wie ich die Sache mit Marianne wieder in Ordnung bringen kann.«

»Wenn ich dir dabei irgendwie helfen kann…«, machte Janni ein Angebot zur Güte.

Zu seiner großen Erleichterung lachte Mario trotz seines Kummers laut heraus.

»Lieber nicht. Erstens sieht man ja, was dabei rauskommt, wenn du deine Finger im Spiel hast«, lehnte er grinsend ab und blieb vor seinem Wagen stehen. »Und zweitens gibt es Dinge im Leben eines Mannes, die muss er selbst klären.« Er öffnete die Beifahrertür und machte Janni ein Zeichen einzusteigen. »Und jetzt bringe ich dich nach Hause, bevor sich deine Eltern noch Sorgen machen.«

*

Tatsächlich fiel es dem Ehepaar Norden schwer, in dieser Nacht ein Auge zuzutun. Das lag aber mitnichten an Janni, sondern vielmehr an den Sorgen, die sie sich um Lenni machten. So kam es, dass Daniel Norden bereits im Morgengrauen aufstand und schon im Schwesternzimmer auftauchte, bevor die Patienten geweckt wurden.

»Wie war die Nacht?«, erkundigte er sich bei Schwester Elena, die am Abend zuvor erst ihren Nachtdienst angetreten hatte.

»Offenbar besser als Ihre!«, bemerkte sie mit einem vielsagenden Blick in sein blasses Gesicht und griff nach Lennis Akte, die auf dem Schreibtisch lag. »Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Offenbar geht es Ihrer Lenni wieder viel besser. Dem Kollegen Weigand liegt auch schon ein neues EKG vor.« Sie reichte Daniel die aktuellen Unterlagen, die er interessiert studierte.

»Das sieht ja wirklich ganz gut aus«, konnte er sich nur über die gute Kondition seiner Haushälterin wundern. »Was ist bei dem Langzeit-EKG rausgekommen?« Er gab Elena die Unterlagen zurück und musterte sie aufmerksam.

»Sämtliche Werte sind im tole­rablen Bereich.« Ein leises Klopfen an der ohnehin geöffneten Tür lenkte sie ab und sie drehte sich nach ihrem neuen Besucher um.

Niemand anderer als Daniel Norden junior stand in der Tür.

»Danny, was machst du denn hier?«, fragte Dr. Norden überrascht.

»Ich wollte nach Lenni sehen, bevor mich die Praxis wieder mit Haut und Haaren verschlingt«, lächelte der junge Arzt. »Mal abgesehen davon muss ich mit dir über einen Patienten sprechen. Ich bin mir nicht ganz schlüssig, welche Behandlungsmethode die beste ist, und brauche deinen Rat.«

»Hört, hört! Ich gehöre doch noch nicht ganz zum alten Eisen«, unkte Daniel lächelnd, ehe er wieder ernst wurde. »Das erledigen wir gleich im Anschluss. Zuerst muss ich aber entscheiden, wie es mit Lenni weitergehen soll.«

Danny hatte zuvor ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt, und seine Miene wurde kritisch.

»Ich finde, du solltest den Eingriff verschieben«, tat er seine Meinung kund. »Nach dem Sturz und den Vorkommnissen vom vergangenen Abend ist eine Operation zu gefährlich. Das weißt du selbst am besten.«

Dr. Nordens nachdenklicher Blick ruhte auf den Unterlagen.

»Und wenn Sie noch abwarten?«, machte Schwester Elena einen plausiblen Vorschlag.

»Je länger Lenni bewegungsunfähig im Bett liegt, umso größer ist das Risiko für weitere Komplikationen. Schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste«, teilte Daniel Norden seine Befürchtungen mit seinen beiden Zuhörern.

Danny nickte mit ernster Miene.

»Stimmt schon. Mit jedem Tag wird es schwerer, dass sie wieder auf die Beine kommt«, wusste auch der junge Arzt um diese Gefahr. »In ihrem Alter führt das unweigerlich zu weiteren gesundheitlichen Problemen.«

Fragend sah Schwester Elena von einem zum anderen. Eine steile Sorgenfalte stand auf ihrer Stirn.

»Sie würden auf jeden Fall operieren, nicht wahr?«, sagte sie Dr. Norden auf den Kopf zu.

Diese Frage beantwortete der Interimschef der Behnisch-Klinik nicht sofort. Zuerst ließ er sich noch einmal sämtliche Argumente und Fakten durch den Kopf gehen.

»Ja, das würde ich«, sagte er dann so bestimmt, dass auch für Danny keine Fragen mehr offen blieben.

»Gut, wenn das so ist, bin ich auch einverstanden«, schenkte er seinem Vater sein ganzes Vertrauen.

Sichtlicher Stolz lag in Daniels Gesicht, als er seinem Sohn zulächelte.

»Dann müssen wir nur noch Lenni davon überzeugen, dass eine Rückenmarksnarkose in diesem Fall die bessere Wahl ist.«

Danny, der die Sturheit der Haushälterin kannte, grinste breit.

»Das könnten wir doch auch Schwester Elena überlassen«, machte Dr. Norden einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag, den sie mit einem belustigten Lachen quittierte.

»Tut mir leid, meine Herren, aber ich habe mein Soll erfüllt und trete jetzt meinen wohlverdienten Feierabend an.« Sie lächelte ihrer Kollegin zu, die unbemerkt von den beiden Ärzten das Schwesternzimmer betreten hatte, und stand auf, um ihre Worte umgehend in die Tat umzusetzen.

*

Nachdem Danny Norden die beruflichen Fragen mit seinem Vater geklärt hatte, sah er noch bei Lenni vorbei, wünschte ihr viel Glück für den bevorstehenden Eingriff und machte sich dann guten Mutes auf den Weg in die Praxis.

Gleich im Anschluss bereitete Dr. Norden senior alles für den unmittelbar bevorstehenden Eingriff vor. Er wies sein Operationsteam auf die besonderen Umstände hin und besprach mit dem Anästhesisten jedes noch so kleine Detail, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Überraschend war auch Lenni ohne große Überzeugungsarbeit mit einer Spinalanästhesie einverstanden.

»Dann muss ich wenigstens keine Angst haben, nicht mehr aus der Narkose aufzuwachen«, erklärte sie sehr zu Daniels Belustigung und Erleichterung.

So gewappnet machten sich die Ärzte und Schwestern an diesem Vormittag an die Arbeit, während Fee in ihrer Abteilung mitfieberte. Je mehr Zeit verging, umso mehr wunderte sie sich, keinen Anruf von ihrem Mann zu bekommen. So musste sie notgedrungen darauf warten, dass sie sich kurz nach Mittag endlich freimachen konnte. Sie eilte hinauf, um Lenni zum – wie sie meinte – glücklichen Ende der Operation zu gratulieren.

Der Schrecken war groß, als Fee Norden erfuhr, dass der Eingriff immer noch nicht beendet war.

»Was? Die sind immer noch da drin?«, erkundigte sie sich entsetzt bei einer Schwester, die vor dem Operationssaal mit Gerätschaften hantierte. »O je, vielleicht war Lenni doch noch nicht stabil genug.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, versuchte Schwester Leonie, die Ärztin zu beruhigen. »So ein neues Kniegelenk ist doch ziemlich aufwändig. Das dauert schon seine Ze…« In ihre Worte hinein öffneten sich die Türen zum Operationsbereich, und Dr. Norden kam in Begleitung von Dr. Weigand und einem erfahrenen Orthopäden heraus. Ein Blick in sein angestrengtes Gesicht genügte Fee, um zu wissen, dass es Probleme gegeben hatte. Sofort war sie in Aufruhr. Daran konnte auch das matte Lächeln nichts ändern, das ihr Mann ihr schenkte, als er sie erblickte.

»Fee, was machst du denn hier?«, fragte er sichtlich erschöpft.

»Was ist passiert? Wie geht es Lenni?«, stellte sie statt einer Antwort gleich zwei Gegenfragen.

Um Zeit zu gewinnen, wischte sich Daniel mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Sie ist noch nicht wieder bei Bewusstsein«, gestand er zurückhaltend.

»Moment mal! Ihr wolltet doch eine Spinalanästhesie machen«, sagte Felicitas ihrem Mann auf den Kopf zu.

Meistens freute sich Daniel darüber, eine so aufmerksame Zuhörerin zu haben. Doch ab und zu wünschte er sich, Fee könnte sich nicht an jedes noch so kleine Detail erinnern, von dem er ihr erzählt hatte.

»Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen«, musste er schweren Herzens gestehen.

Vor Entsetzen wurden Fees ungewöhnlich violette Augen groß und rund.

»Warum das denn?«

Da er nicht jede Einzelheit der Operation auf dem Flur erörtern wollte, fasste Dr. Norden seine Frau sanft am Ellbogen und führte sie in einen der Aufenthaltsräume, die für die Angehörigen der Patienten bereit standen. Dort gab es stets eine Auswahl an Getränken und Gebäck, woran sich die Besucher stärken konnten. Glücklicherweise war das Zimmer leer. Aus einer Thermoskanne schenkte Daniel zwei Tassen Kaffee ein und reichte eine davon seiner Frau, die neben ihm stand.

»Es handelt sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme«, versuchte er, sie zu beruhigen.

Fees Kehle war trocken vor Aufregung, und sie trank einen Schluck, um überhaupt sprechen zu können.

»Wieso Vorsichtsmaßnahme?«

»Es gab Komplikationen. Lennis Herz hat ausgesetzt, und wir konnten den Eingriff nicht zu Ende bringen«, erwiderte Daniel mit rauer Stimme.

Als er bemerkte, dass alle Farbe aus Fees Gesicht wich, streckte er schnell die Hände aus, um seine Frau zu stützen. Fürsorglich begleitete er sie zu einem der bequemen Stühle und sorgte dafür, dass sie sich setzte.

»Abbrechen?«, wiederholte sie tonlos.

Daniel nickte bekümmert.

»Wir konnten die Knieprothese nicht einsetzen. Dazu hätte die Zeit nicht gereicht. Deshalb haben wir versucht, das Gelenk, so gut es geht ,wieder herzustellen. Bitte mach dir keine allzu großen Sorgen. Lenni geht es den Umständen entsprechend gut. Ich bin mir sicher…«

»Was bedeutet das alles?«, ließ Felicitas ihren Mann nicht aussprechen.

Im Rahmen ihrer Facharztausbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie absolvierte sie ein Praktikum an der Pädiatrie der Behnisch-Klinik und hatte inzwischen selbst genug Erfahrung gesammelt, um diverse Situationen einschätzen zu können.

»Wird sie eine Gehbehinderung zurückbehalten?«

Zutiefst betroffen senkte Dr. Norden den Kopf.

»Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht ausschließen«, musste er schweren Herzens gestehen.

Wenn möglich, wurde Fee noch blasser, und um ein Haar wäre ihr der Kaffeebecher aus der Hand gefallen.

»O Dan, stimmt das?«, hauchte sie kraftlos.

»Ich fürchte, davon müssen wir ausgehen.«

*

Wie so oft in der Vergangenheit versammelten sich die Mitglieder der Familie Norden auch an diesem Abend um den großen Esstisch. Doch diesmal war es nicht dasselbe wie sonst. Die Stimmung war gedrückt, und obwohl sich Anneka alle Mühe gegeben und ein Rezept aus Lennis persönlichem Kochbuch zubereitet hatte, hielt sich die Begeisterung der Anwesenden in Grenzen.

»Was soll denn das sein?«, fragte Jan skeptisch und rührte mit dem Löffel in seinem Teller herum.

»Brokkolicremesuppe mit Edelfischnocken«, gab Anneka stolz zurück.

Der junge Mann wollte eben einen lautstarken Protest anstimmen, als er sich daran erinnerte, schon einmal mit Lenni über eben dieses Gericht diskutiert zu haben.

»Richtig, da ist Lachs, Zander und Heilbutt drin«, bemerkte er, während er auf die blassen Klößchen starrte, die in der kräftig grünen Suppe schwammen. »Lenni hat sie mit fein gehackten Karotten, Sellerie und Lauch gemischt.« Als er sich daran erinnerte, wie er mit der geliebten Haushälterin diskutiert und sich schließlich geweigert hatte, die Fischnocken zu essen, stiegen ihm Tränen in die Augen. »Frischkäse ist auch noch drin«, schniefte er.

Auch die anderen Familienmitglieder erinnerten sich an das Gespräch, das aus einem anderen Leben zu stammen schien.

»Du wolltest die Nocken nicht essen, und ich hab sie stattdessen genommen«, sagte Fee leise.

»Damals hast du behauptet, dass du froh bist, dass Lenni mal Abwechslung in unseren Speiseplan bringt.« Danny Norden sah zuerst seine Mutter und dann seine Freundin Tatjana an, die neben ihm am Tisch saß.

In dieser Zeit hatte sie den jungen Arzt zwar schon gekannt, war aber noch nicht ständiger Gast im Hause Norden gewesen.

»Jetzt sagt bloß, dass euch allen die Fischnocken nicht geschmeckt haben«, entfuhr es Anneka, und sie warf einen empörten Blick in die Runde. »Dabei dachte ich, dass ich so eine tolle Idee hatte.«

»Sie schmecken ganz ausgezeichnet«, beeilte sich Daniel zu versichern und schob gleich noch einen Löffel in den Mund.

Eine Weile aß die Familie schweigend, bis Dési plötzlich ihren Stuhl zurück schob und aufstand. Alle zuckten zusammen und sahen sie erschrocken an.

»Mir ist kalt. Ich hol mir schnell einen Pullover!« Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen und verließ schnell das Esszimmer. Gleich darauf waren ihre eiligen Schritte auf der Treppe zu hören.

»Die Treppe!«, murmelte Felicitas vor sich hin und wandte sich ihrem Mann zu. Ein schrecklicher Gedanke war ihr in den Sinn gekommen. »Wird Lenni überhaupt noch Treppen steigen können, wenn sie doch kein neues Kniegelenk bekommt?«

Als Daniel aller Augen auf sich ruhen fühlte, schluckte er.

»Wir kriegen das alles hin«, versprach er, und es klang so, als wollte er nicht nur seine Familie, sondern auch sich selbst beruhigen. »Im Augenblick bleibt uns aber nichts anderes übrig als abzuwarten. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sich Lenni von dem Eingriff erholt hat.«

»Wie lange?«, kam die Frage aus mehreren Kehlen gleichzeitig und wie aus der Pistole geschossen.

Während Daniel seinen Teller auskratzte, dachte er nach.

»Zwei oder drei Wochen vielleiht. Und dann muss sie auf die Roseninsel zur Reha. Erst danach werden wir wissen, wie beweglich sie sein wird.«

Unwirsch schob Felix seinen Teller von sich. Seit der Unfall passiert war, war er auffallend schweigsam und in sich gekehrt.

»Na prima. Das klingt ja alles schwer nach Pflegefall«, schimpfte er ungehalten.

Erschrocken sog Fee die Luft ein. Auch sie hatte ihren Teller leer gegessen und betupfte sich den Mund mit einer Serviette.

»So ein Unsinn«, machte sie ihren Gefühlen Luft. »Du hast Papi doch gehört.«

»Eben deshalb«, konterte Felix gnadenlos.

Er war mit den Nerven am Ende.

»Lenni wird mit Sicherheit Betreuung brauchen«, gab Dr. Norden seinem Sohn zögernd recht. »Zumindest am Anfang. Und die Treppen sind wirklich ein Problem, besonders die runter in ihre Wohnung.«

»Wie bitte?« Danny traute seinen Ohren kaum. »Aber was sollen wir denn dann machen? Wir können sie doch nicht in ein Pflegeheim stecken.«

Dieser Gedanke war so ungeheuerlich, dass alle durcheinander redeten, bis Daniel Norden der lautstarken Diskussion ein mindestens ebenso lautstarkes Ende bereitete. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Löffel in den leeren Suppentellern tanzten und klapperten.

Schlagartig verstummten die Stimmen, und alle sahen den Arzt an.

»Niemand wird hier in ein Pflegeheim abgeschoben, damit das klar ist! Wir werden eine Lösung suchen und finden!«, erklärte Dr. Norden in die besorgten Gesichter, ehe er sich an seine Tochter Anneka wandte. »Und jetzt wüsste ich gern, was es heute zum Nachtisch gibt. Die Suppe war so köstlich, dass ich wirklich gespannt bin.«

»Für den Nachtisch bin ich heute verantwortlich«, erklärte Tatjana und stand auf. »Meine Profiteroles sind eine Sensation. Das behaupten wenigstens meine Gäste.«

»Deine Gäste sind eben kluge Menschen«, bestätigte Danny lächelnd. »Sie wissen, dass Schokolade chemisch gesehen das perfekteste Nahrungsmittel der Welt ist und man deshalb auf ausreichende Zufuhr derselben achten sollte«, verpackte er seinen Stolz auf Tatjana in einen Scherz.

Der lobende Zeitungsbericht über das Café ›Schöne Aussichten‹ und der darauf folgende Ansturm waren die schönste Bestätigung für ihn, dass sich jede ihrer Mühen gelohnt hatte und dass Tatjana auf dem richtigen Weg war. Er bewunderte sie zutiefst für ihre Energie und Entschlossenheit, diesen schweren Weg trotz ihrer Sehbehinderung gegangen zu sein.

Ehe sich die Bäckerin auf den Weg in die Küche machte, warf sie ihrem Freund eine Kusshand zu.

»Es mag aber auch daran liegen, dass es sinnlos ist, sich vor Schokolade zu verstecken. Sie findet einen immer! Auch meine Gäste«, erklärte sie augenzwinkernd, und alle lachten.

Wie alle anderen Familienmitglieder auch war sie Daniel Norden mehr als dankbar, das Thema gewechselt zu haben. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass das Leben selten planbar war und manche Überraschung bereithielt. Das hatte Tatjana selbst mehrfach am eigenen Leib erfahren und sich daher einen schier unerschütterlichen Optimismus angeeignet, der auch auf die anderen Familienmitglieder abfärbte. Schon bald saßen Anneka und Felix, Dési und Janni, Daniel, Fee und Danny am Tisch und ließen sich die köstlichen Windbeutel mit Sahnefüllung und Schokosauce schmecken, während sie herzlich über Tatjanas Anekdoten aus dem Café lachten und ihre Sorgen um Lenni wenigstens für kurze Zeit vergessen konnten.

*

Auch wenn die Sorge um Lenni groß war, konnte Tatjana ihre eigenen Probleme darüber nicht völlig vergessen. Der Ansturm auf das Café war erfreulich. Aber die Schwierigkeiten, vor die der überraschende Erfolg die Bäckerin und ihre Kollegin Marianne stellte, dämpften die Freude erheblich.

»Wir müssen so schnell wie möglich jemanden finden, der backen und am besten auch noch bedienen kann«, bemerkte Tatjana, als Marianne am nächsten MorgenzurArbeit kam.

Sie war blass, und nicht nur die tiefen Höhlen, in denen ihre Augen lagen, zeugten von der schlaflosen Nacht. Ihr dunkles, lockiges Haar war noch wilder als sonst und hatte sich offenbar nur unwillig mit einem Haarband bändigen lassen. Doch auf all diese eindeutigen Zeichen konnte Tatjana an diesem Morgen keine Rücksicht nehmen. Nachdenklich sah sie der Kaffeemaschine dabei zu, wie sie dampfend und schnaubend zwei Tassen mit der dunklen, aromatischen Flüssigkeit füllte. »Nicht auszudenken, was werden soll, wenn die Besucherzahlen so bleiben und wir keine Verstärkung finden. Danny macht jetzt schon gute Miene zum bösen Spiel. Mal abgesehen davon, dass er eigentlich seine Doktorarbeit schreiben sollte statt mir in der Bäckerei zu helfen.«

Marianne hatte inzwischen ihre Jacke mit einer Schürze getauscht und unterdrückte ein Gähnen, als ihre Chefin ihr den Kaffee reichte. Noch hatte keine Kundschaft den Weg ins frisch renovierte Café gefunden und die beiden Frauen nahmen an einem der kleinen Tische Platz.

»Was war denn mit dem blauhaarigen Mädchen, das sich gestern vorgestellt hat?«, erkundigte sich Marianne und nippte vorsichtig an ihrer Tasse.

Wenn Tatjana nur an die Szene vor der Bäckerei dachte, verdrehte sie die Augen.

»Du hättest sie mal erleben sollen, wie sie mit Danny umgesprungen ist.« Kopfschüttelnd biss sie in eines der beiden frischen Croissants, die auf einem kleinen Teller auf dem Tisch standen. Ein paar Brösel fielen auf die dunkle Holzplatte und Tatjana stippte sie mit der befeuchteten Fingerspitze auf. »Frech wie Oskar.«

»Das ist doch manchmal gar nicht so schlecht«, gab Marianne zu bedenken und musste unwillkürlich an Carinas freches Auftreten vom Vortag denken. Im Nachhinein wünschte sie sich, mehr Selbstbewusstsein besessen und der Lernschwester mit einem schlagfertigen Kommentar die Stirn geboten zu haben. »Den Broten und Brötchen, die sie backt, macht das sicher wenig aus. Die werden sich schon nicht beschweren…«

Über diese Vorstellung musste Tatjana nun doch lachen.

»Stell dir vor, was in der Backstube los wäre, wenn das Zeug auch noch reden könnte… Nein, lass mich, das ist mir zu heiß… Igitt, der Zuckerguss ist aber heute klebrig…«, lieh sie ihrem Croissant ihre verstellte Stimme.

Marianne lachte.

»Oder stell dir so eine Torte vor…nein, ich kann Marzipan nicht ausstehen. Mach mir Zuckerfiguren, sonst bin ich beleidigt«, spielte sie das Spiel trotz ihres Liebeskummers mit, und die beiden Frauen lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen.

Dann wurde es endlich Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

»Was für eine Ausbildung hat das blauhaarige Mädchen denn?«, fragte Marianne auf dem Weg in die Backstube.

Unwillig verdrehte Tatjana die Augen. Sie wollte nicht über Marla sprechen.

»Warum warst du eigentlich gestern bei Mario nicht auch so hartnäckig? Den hast du lieber weggeschickt, statt dir seine Entschuldigung anzuhören«, wich sie ungeduldig aus. »Dabei sind seine Manieren sicher bestechender als die von Marla.«

Auf dieses Argument hatte Marianne tatsächlich keine Antwort. Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass sie es schon jetzt bereute, den Kinderarzt so schnöde abgefertigt zu haben, ohne ihn wenigstens anzuhören. Seitdem schwieg Mario beharrlich, und die Konditorin musste feststellen, dass sie sich mit dieser Maßnahme selbst am allermeisten bestrafte.

Trotzdem blieb sie standhaft.

»Er muss schon einen verdammt guten Grund haben, warum er sich mit dieser jungen Schwester getroffen hat. Und dann auch noch hier im Café. Wenn Mario schon weiß, dass ich Probleme mit unserem Altersunterschied habe und damit, dass viel jüngere und hübschere Frauen hinter ihm her sind, dann könnte er doch solche Sachen lassen. Was wollte er damit bezwecken? Mich demütigen?«, brach all ihr Kummer aus ihr heraus.

»Siehst du. Und genau deshalb hättest du mit ihm reden sollen.« Um Tatjanas Lippen spielte ein verschmitztes Lächeln. Sie bückte sich nach dem Sack, der neben ihr auf dem Boden stand, und häufte einen kleinen Berg Mehl vor sich auf der Arbeitsplatte auf. Es wurde Zeit, die dritte Lage Brötchen für den Tag vorzubereiten.

Inzwischen hatte Marianne die erste der vielen Torten aus der Kühlung geholt, die sie kunstfertig nach Kundenwünschen verzieren würde.

»Ach, egal! Soll er ruhig mal ein bisschen zappeln«, schimpfte sie und klatschte ärgerlich ein Stück Marzipan auf ihren Arbeitstisch. »Und jetzt sollten wir das Thema wechseln, wenn ich nicht statt Rosenranken einen Mann am Marterpfahl für die Torte basteln soll.«

Dieses Risiko wollte Tatjana lieber nicht eingehen. Während der Brötchenteig in ihren Fingern geschmeidig und weich wurde, dachte sie gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin darüber nach, wo sie so schnell wie möglich eine fähige Hilfe finden konnten. Sie sollte weder blaue Haare noch ein Haustier haben und auch nicht dem Irrtum verfallen sein, dass eine Brotbackmaschine einen Bäcker ausmachte. Doch je länger sie sich unterhielten, umso klarer wurde den beiden, dass es nicht einfach werden würde, Unterstützung zu bekommen.

*

Während Tatjana und Marianne Seite an Seite arbeiteten und hartnäckig mit der Lösung ihres dringlichsten Problems beschäftigt waren, begutachtete Dr. Daniel Norden in der Klinik die Operationswunde seiner Haushälterin.

»Das sieht ja ganz gut aus!«, bemerkte er zufrieden.

Lenni lag im Bett und sah ihrem Chef bei der Arbeit zu.

»Das heißt, dass ich bald wieder richtig laufen kann?«, fragte sie fast aufgeregt. »Meine Freundin Rita hat nämlich Karten für eine Ausstellung besorgt. Da will ich unbedingt hin.«

Mit dieser Frage hatte Daniel gerechnet. Trotzdem wurde sein Herz schwer, und er seufzte tief, als er sich auf die Bettkante setzte.

»Ich muss Ihnen etwas gestehen«, begann er und griff nach Lennis Hand, um sie zwischen die seinen zu nehmen.

»Hui, das klingt ja gerade so, als ob Sie mir einen Heiratsantrag machen wollen«, alberte sie arglos.

»Wenn ich nicht schon verheiratet wäre, hätte ich das längst getan«, ging Dr. Norden bereitwillig auf ihren Scherz ein und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, das aber gleich wieder verschwand. »Leider ist das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht ganz so erfreulich wie ein Heiratsantrag. Bei Ihrer Operation gab es Komplikationen. Wir konnten den Eingriff leider nicht wie geplant zu Ende bringen.«

Unter seinen Worten war das Lächeln nach und nach von Lennis Lippen verschwunden.

»Was heißt das?« Vor Aufregung war ihre Stimme heiser.

»Sie wissen ja, dass wir Sie in ein künstliches Koma versetzen mussten. Das lag an Ihren Herzproblemen, die während des Eingriffs wieder aufgetreten sind. Deshalb konnten wir die Prothese nicht einsetzen. Aber wir haben das Gelenk so gut es ging rekonstruiert«, wollte Daniel wenigstens ein bisschen Optimismus verbreiten.

Inzwischen war Lenni so bleich geworden wir ihr Kopfkissen. Sie ahnte, was die Worte ihres Chefs zu bedeuten hatten, wollte es aber nicht wahrhaben.

»Was heißt das?« Ohne Daniel aus den Augen zu lassen, entzog sie ihm ihre Hand. »Kann ich je wieder richtig laufen, Doktor? Sagen Sie mir die Wahrheit!«

Die Sorge in ihrer Stimme schnitt Dr. Norden tief und schmerzhaft in die Seele. Aber es nützte alles nichts. Lenni hatte die Wahrheit verdient.

»Es ist noch nicht sicher, dass Sie wieder ganz hergestellt werden«, musste er gestehen. Dabei sah er ihr tapfer in die Augen. »Treppensteigen, längeres Stehen, weite Wege… Das alles könnte sehr beschwerlich werden.«

»Aber wie soll ich denn dann das Haus in Ordnung halten, wenn ich mich nicht mehr bewegen kann?«, entfuhr es der Haushälterin.

Ihre Miene war verzerrt vor Verzweiflung, als Daniel langsam den Kopf schüttelte.

»Darüber sollten Sie im Augenblick nicht nachdenken«, bat er inständig. »Jetzt geht es zunächst darum, endlich Ihre Herzprobleme in den Griff zu bekommen. Alles andere wird sich später finden.«

Doch Lenni schien ihm gar nicht mehr zuzuhören. Ihr Blick wanderte hinüber und aus dem Fenster hinaus in den Garten, den die Klinikchefin Jenny Behnisch nach eigenen Vorstellungen hatte anlegen lassen. Ein echtes Paradies war entstanden, das selbst zu dieser Jahreszeit einen malerischen Anblick bot. Doch Lenni bemerkte nichts von dieser Pracht.

»Dann ist es jetzt also so weit!«, murmelte sie, und eine einsame Träne rann über ihre faltige Wange, während Dr. Norden hilflos an ihrem Bett saß.

Es kam selten vor, dass ihm Worte des Trostes fehlten. Doch diesmal wusste er nicht mehr, was er noch sagen sollte.

*

»Mario, ich hatte ja keine Ahnung, dass dich Lennis Krankheit so mitnimmt!« Erschrocken betrachtete Felicitas Norden ihren Bruder Mario, als er an diesem Morgen ihr Büro in der Klinik betrat.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte er zurück und korrigierte sich sofort, als er ihre Irritation bemerkte. »Ich meine, natürlich tut es mir sehr leid, dass es Lenni so schlecht geht. Aber ehrlich gesagt ist sie nicht der Grund für meine schlaflosen Nächte.«

Felicitas legte den Bericht zur Seite, den sie gerade gelesen hatte und stand auf. Ihr Bruder wirkte so, als ob er einen starken Kaffee und ein Gespräch brauchen konnte, und hilfsbereit, wie sie war, bot sie ihm beides an.

»Dann mal raus mit der Sprache. Was ist passiert?«, erkundigte sie sich, als sie nebeneinander auf dem Sofa Platz genommen hatten.

Schweigend rührte Mario Cornelius in seinem Kaffee.

»Natürlich geht es um eine Frau, was denn sonst?«, seufzte er endlich und trank einen Schluck.

Dabei sah er seine Schwester über den Rand der Tasse so unglücklich an, dass Fee sofort eine Ahnung hatte, was passiert sein mochte.

»Lass mich raten: Du hast Ärger mit Marianne?«, erkundigte sie sich mitfühlend.

»Ich kann nur hoffen, dass es nur Ärger und nicht gleich das Ende ist.«

»Wie bitte?« Fee konnte es nicht glauben. »Wann immer ich euch zusammen sehe, wirkt ihr wie ein Herz und eine Seele.« Sie hatte sich sehr darüber gefreut, dass Mario nach einigen Episoden und dem unglücklichen Flirt mit Lernschwester Carina endlich eine reife, intelligente und aparte Frau gefunden hatte, die es ernst mit ihm meinte und nicht nur auf seinen Status und sein gutes Aussehen Wert legte. »Wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, dass ihr beiden eine Weile zusammen bleibt.«

Mario lachte freudlos.

»Stell dir vor, das hatte ich auch gehofft. Aber das hat Carina wieder mal gründlich vermasselt.«

»Carina? Wieso denn Carina?«, erkundigte sich Fee verständnislos.

Stockend erzählte Mario Cornelius die ganze Geschichte.

»Was? Janni hat sich als Köder hergegeben?«, fragte Felicitas, als sie hörte, was ihr Jüngster angerichtet hatte.

Beschwörend hob ihr Bruder die Hände.

»Du darfst ihm nicht böse sein«, bat er inständig. »Sicher war es nicht toll, wie das gelaufen ist. Aber haben wir in unserer Jugend nicht alle unbedachte Sachen gemacht, ohne über die Konsequenzen nachzudenken?«

Natürlich hatte er mit dieser Einschätzung recht. Trotzdem konnte sich Fee über sein Verständnis nur wundern.

»Du bist meinem Sohnemann nicht böse?«

Mario schüttelte den Kopf.

»Carina hätte ihren perfiden Plan so oder so durchgezogen. Menschen wie sie schaffen das.«

»Du kannst wirklich von Glück sagen, dass das damals nicht geklappt hat mit euch. Es ist sicher kein Spaß, so einen Menschen als Partner zu haben«, seufzte Felicitas aus tiefstem Herzen. Dabei war ihr die quirlige, bildhübsche Lernschwester immer sehr sympathisch gewesen. »Schwer zu glauben, dass wir uns alle so sehr in ihr getäuscht haben.«

Doch darüber wollte sich Mario keine Gedanken mehr machen. Er leerte seine Tasse in einem letzten, großen Zug. Als er sie auf die Untertasse zurückstellte, klirrte das Porzellan leise.

»Über Carina denke ich später nach. Was im Augenblick viel wichtiger ist, ist Marianne. Sie will nicht mit mir reden. Dummerweise verstehe ich sie auch noch. Warum musste ich mich auch zu Carina setzen, obwohl ich wusste, dass Marianne damit ein Problem hat?«, bezichtigte er sich selbst.

»Weil du dir in diesem Augenblick wahrscheinlich nichts dabei gedacht hast«, wollte Felicitas ihren Bruder beruhigen. Ihn leiden zu sehen, tat ihr in der Seele weh, und sie wollte ihm gern helfen.

»Stimmt. Aber wie soll ich das Marianne beibringen, wenn sie nicht mit mir redet?«, stellte Mario eine berechtigte Frage und stand auf.

Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen, und im Grund seines Herzens war er froh über diese Ablenkung, die er nur in seinem Beruf fand.

Auch Felicitas erhob sich von ihrem Platz auf dem Besuchersofa und begleitete Mario zur Tür.

»Wie wär’s, wenn du sie von der Arbeit abholst?«, machte sie einen hilflosen Vorschlag. »Dann wird sie schon mit dir reden.«

»Sie wird einfach an mir vorbeigehen, in ihr Auto steigen und wegfahren.«

»Dann musst du eben dafür sorgen, dass das nicht möglich ist.« Die Hand auf der Klinke, zuckte Felicitas ratlos mit den Schultern.

Mario lachte unfroh.

»Und wie stellst du dir das vor? Ich kann ja schlecht mit einem Bus aufkreuzen…« Er hatte kaum ausgesprochen, als sich seine Miene plötzlich erhellte. Danny hatte ihm von dem Linienbus erzählt, der tags zuvor die komplette Straße vor der Bäckerei versperrt hatte. »Warum eigentlich nicht?«, fragte er sich selbst und konnte auf einmal wieder lächeln.

Ehe sich Fee erkundigen konnte, was Mario mit dieser kryptischen Bemerkung meinte, verabschiedete er sich und eilte den Flur hinab. So blieb seiner Schwester nichts anderes übrig als abzuwarten, was passieren würde, und sich im Übrigen auf all die anderen Dinge zu konzentrieren, mit denen ihr buntes Leben aufwartete.

*

An diesem Morgen wartete Felix Norden ungeduldig auf die erstbeste Gelegenheit, um sich aus der Abteilung für Ergotherapie zu stehlen und seine geliebte Lenni zu besuchen. Als seine Chefin Silvie Riemerschmidt ihn damit beauftragte, Patientenakten aus der Orthopädie abzuholen, nutzte er seine Chance für einen Abstecher bei seiner Ersatzomi.

»Lennilein, wie geht‘s dir heute?«, erkundigte er sich, nachdem er einen Kuss links und rechts auf ihre blassen Wangen gehaucht hatte.

Normalerweise beschwerte sie sich immer über das Kitzeln und lachte so lustig dabei, dass die Falten um ihre Augen tanzten. Doch an diesem Tag beachtete sie den zweitältesten Sohn der Familie Norden kaum. Ihr starrer Blick hing an der weißen Wand gegenüber.

»Wie würde es dir denn gehen, wenn du wüsstest, dass du nie mehr richtig laufen geschweige denn arbeiten kannst?«, fragte sie mit Grabesstimme.

»Also, das mit der Arbeit ließe sich verkraften«, witzelte Felix und musste dabei unwillkürlich an seine übellaunige Chefin denken. »Außerdem finde ich, dass du schon genug gearbeitet hast in deinem Leben.« Er hatte nicht viel Zeit. Deshalb verzichtete er auf einen Stuhl und setzte sich kurzerhand zu Lenni auf die Bettkante. »Es gibt auch noch andere Dinge im Leben, die Spaß machen«, versuchte er, sie zu trösten.

Doch davon wollte die Haushälterin nichts wissen.

»Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, könnt ihr mich nicht mehr brauchen. Das ist wie mit einem kaputten Staubsauger. Der steht auch nur im Weg rum.«

Unwillig verdrehte Felix die Augen gen Himmel. So eine Aussage war typisch für seine sture Ersatzomi.

»Du willst dich doch wohl nicht mit einem Staubsauger vergleichen?«, tadelte er sie mit gestrenger Miene.

»Nein, mit einem kaputten«, wiederholte sie trotzig. »Die rangiert man auch aus.«

»Tut man nicht«, widersprach Felix energisch. »Man repariert sie. Genauso, wie dein Knie wieder repariert wird. Dann kannst du vielleicht nicht mehr so viel arbeiten. Aber zum Beispiel mit deiner Freundin auf diese Ausstellung gehen«, erinnerte er sie an die schönen Dinge des Lebens.

»Ach, was! Ich kann doch nicht den Rest meiner Tage im Museum verbringen.« Überraschend energisch schüttelte Lenni den Kopf. »Nein, ich hab mir das schon alles überlegt. Bevor ich euch zur Last falle, gehe ich in ein Pflegeheim. Ich hab mir schon ein paar Nummern rausgesucht. Du musst nur mein Telefon hier anmelden.« Sie deutete auf den Apparat auf dem Nachttisch. »Den Rest erledige ich selbst.«

Felix traute seinen Ohren kaum und wollte schon widersprechen, als sein Telefon klingelte. Er zog den Apparat aus dem Kittel und warf einen Blick darauf.

»Oh, ich muss leider los. Meine Chefin, der Drache, meldet mich als vermisst, wenn ich nicht sofort zurückrufe.«

Im Normalfall hätte Lenni einen ironischen Kommentar zum Besten gegeben. So aber sah sie Felix nur dabei zu, wie er sich erneut über sie beugte und sie küsste.

»Ich komm wieder, sobald ich kann«, versprach er schweren Herzens. Am liebsten wäre er gar nicht erst gegangen. Doch es nützte nichts. Die Pflicht rief, und mit Frau Riemerschmidts Unerbittlichkeit hatte er bereits mehrfach seine eigenen, leidvollen Erfahrungen gemacht.

Trotzdem kehrte Felix Norden nicht direkt in seine Abteilung zurück. Lennis Bemerkungen hatten den Arztsohn alarmiert. Auf keinen Fall wollte er schon wieder etwas falsch machen. Deshalb rief er seine Chefin kurz an und versprach, gleich mit den gewünschten Akten zurückzukommen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er zuvor noch eine dringende Angelegenheit erledigen musste.

Nur ein paar Minuten später klopfte Felix an die Tür des Büros, das sein Vater für die Zeit der Vertretung bezogen hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er ins Zimmer. Er hatte Glück. Daniel hatte eben ein Telefonat beendet. Er hielt den Hörer noch in der Hand und blickte überrascht auf.

»Was ist passiert, mein Sohn?« Felix‘ Miene sprach Bände, und sofort erschrak Dr. Norden.

»Lenni will, dass ich ihr Telefon anmelde. Sie will sich einen Platz im Pflegeheim suchen.«

»Wie bitte?« Überrascht schnappte Daniel nach Luft. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. »Wie kommt sie denn auf diese Idee?«

»Sie fühlt sich unnütz, wenn sie nicht mehr für uns arbeiten kann.«

»Entschuldige, das ist wirklich Blödsinn«, entfuhr es Daniel, und Felix nickte energisch.

»Ich weiß und ich hab auch alles versucht, um ihr das auszureden. Aber offenbar ist sie gerade dabei, sich völlig aufzuge…«

Weiter kam er nicht. In diesem Augenblick war lautes Fußgetrappel auf dem Flur zu hören, das schnell näher kam. Gleich darauf wurde die Tür zu Daniels Büro aufgerissen. Völlig aufgelöst, mit wirrem Haar und nach Luft ringend tauchte Fee im Zimmer auf.

»Lenni hatte einen Herzstillstand. Kommt schnell!«

*

Wie jeden Mittag war Marianne Hasselt nach Hause gefahren, um für ihren Sohn Tobias zu kochen und gemeinsam mit ihm zu Mittag zu essen. Danach hatten sie noch eine Weile zusammen gesessen und sich über dies und das unterhalten. Die Konditorin bemühte sich, sich nichts von ihrem Ärger mit Mario anmerken zu lassen, und lachte und scherzte mit ihrem Sohn, bis es schließlich Zeit wurde, ins Café zurückzukehren.

»Heute Abend kann es wieder später werden«, erklärte Marianne, als sie vor dem Spiegel stand und sich mit einer Bürste durch die kräftigen, lockigen Haare fuhr. »Ich hoffe nur, dass es nicht wieder so zugeht wie gestern. Das hält auf Dauer kein Mensch aus.« Ohne nachzudenken griff sie nach einem bunten Schal – ein Geschenk von Mario – und schlang ihn um den Hals. Sie lächelte ihrem Spiegelbild kurz zu, als sie sich wieder daran erinnerte, was zwischen ihnen passiert war. Das Lächeln erlosch, und schnell tauschte sie den Schal gegen einen anderen, mit dem sie keine Erinnerungen verband.

»Warum holt ihr euch denn keine Hilfe?«, stellte ihr Sohn eine berechtigte Frage.

»Weil das nicht so einfach ist. Kein Mensch will mehr zu diesen Uhrzeiten und für so wenig Geld arbeiten.«

»Also, ich finde deine Arbeitszeiten cool.« Tobias lehnte am Fensterbrett im Wohnzimmer und sah seiner Mutter im Flur dabei zu, wie sie in die Jacke schlüpfte.

»Ich arbeite ja auch nicht nachts wie ein Bäcker, sondern habe halbwegs zivile Arbeitszeiten. Was man von Tatjana nicht gerade behaupten kann.« Wenn Marianne an ihre Chefin dachte, zog sich ihr Herz vor Mitgefühl zusammen. »Im Augenblick fängt sie frühmorgens an und schläft oft mittags ein paar Stunden, um wenigstens halbwegs über die Runden zu kommen und nicht vor Erschöpfung zusammenzubrechen.«

Ein lautes Hupen schallte von unten herauf. Neugierig drehte sich Tobias um und blickte hinunter auf die schmale Straße vor dem Haus.

»O Mann, da unten steht ein Bus!«, rief er aufgeregt. »Was macht der denn hier? Die Haltestelle ist doch vorn an der Hauptstraße!«

»Vielleicht hat er sich verfahren«, mutmaßte Marianne gedankenverloren und griff nach ihrer Handtasche.

»Die Busfahrer kennen ihre Strecken doch in- und auswendig«, widersprach Tobias, als er plötzlich lauthals zu lachen begann. »Das glaube ich jetzt nicht!«

Endlich wurde auch Marianne neugierig.

»Was ist denn los?« Sie hatte es eilig, und dementsprechend ungeduldig war ihr Tonfall.

»Komm her und schau’s dir selbst an.« Tobias winkte seine Mutter zu sich.

Zuerst zögerte sie und warf einen fragenden Blick auf die Wohnungstür. Tatjana wartete sicher schon auf sie. Schließlich siegte aber ihre Neugier, und sie ging durch’s Wohnzimmer hinüber zu Tobias.

»Da bin ich ja mal gespannt, was es so Tolles zu sehen gibt«, lächelte sie und stellte sich neben ihn. Im nächsten Moment packte sie ihren Sohn am Arm. »Das ist doch Mario!«, rief sie, als sie ihren Freund sah, der in der geöffneten Tür des Linienbusses stand. Er hielt einen Strauß roter Rosen in der Hand und winkte mit beiden Armen zu ihr hinauf. Dabei ließ er sich weder von den hupenden Autos hinter sich noch von den Passanten stören, die kopfschüttelnd auf dem Gehweg vorbei gingen.

»Marianne!«, rief er mit gellender Stimme, als seine Freundin am Fenster auftauchte. Seine Stimme war so laut, dass sie sogar durch die geschlossenen Fenster zu hören war. Wenn möglich wedelte er noch wilder mit den Blumen durch die Luft. Ein paar der Rosen nahmen ihm das übel und verloren ihre Blütenblätter. Doch der Kinderarzt bemerkte es noch nicht einmal. »Bitte komm runter, Marianne!«

»Los, Mama, worauf wartest du noch?«, grinste Tobias und stieß seine Mutter in die Seite. »Verliebt anstarren kannst du ihn auch aus der Nähe.«

Wie aus einer Trance erwacht, zuckte Marianne zusammen.

»Ja, natürlich, klar, ich muss los.« Geistesabwesend küsste sie ihren Sohn und machte sich auf den Weg nach unten, wo sie schon sehnsüchtig erwartet wurde.

»Marianne, endlich! Da bist du ja«, begrüßte Mario seine Traumfrau, als sie zu ihm auf die Straße trat. »Ich dachte schon, dass der Bus gleich abgeschleppt wird, wenn du nicht gleich kommst.« Er legte den Kopf schief und lächelte sie verlegen an.

»Die Gefahr besteht allerdings«, erwiderte die Konditorin ironisch, und nur der Hauch eines kühlen Lächelns spielte um ihre Lippen. Allein ihre raue Stimme verriet ihren inneren Aufruhr und am liebsten hätte sie sich sofort in Marios Arme gestürzt. Doch ihre Vernunft verbot ihr solche ungestümen Liebesbekundungen und gemahnte sie zur Vorsicht. »Warum bist du mit einem Bus hier?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

Diese Reaktion war nicht gerade das, was Mario sich erhofft hatte und er unterdrückte ein gequältes Seufzen. Zum einen hatte er für diese Aktion all ein Überzeugungskünste und eine Stange Geld einsetzen müssen. Zum anderen sehnte er sich so sehr danach, Marianne endlich wieder in die Arme zu schließen, ihre weichen Lippen wieder auf den seinen zu spüren, den zarten Duft ihrer Haut zu riechen, dass er fast verrückt wurde. Fühlte sie denn nicht genau wie er? Ihr Zögern enttäuschte ihn, und einen Moment lang dachte er daran, sich zurückzuziehen. Doch diese Frau war zu wertvoll, als dass er so einfach aufgeben und sie gehen lassen konnte. Instinktiv wusste er, dass Marianne jeden Kampf wert war.

»Besondere Menschen erfordern besondere Maßnahmen«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Deshalb habe ich einen Bus organsiert. Ich muss unbedingt mit dir reden, Marie.«

Wie er so dastand und sie mit treuherzigem Blick flehend ansah, wurde Marianne flau im Magen. Nicht mehr lange, und ihr Widerstand würde zusammenbrechen. Schnell sah sie weg.

»Und ich muss unbedingt zur Arbeit. Ich kann Tatjana unmöglich allein lassen.«

»Dann lass uns auf der Fahrt dorthin reden. Der Busfahrer und ich bringen dich hin«, machte Mario einen Vorschlag, und als Marianne nach kurzem Zögern zustimmte, wusste er, dass er gewonnen hatte.

Es war, als hätte ein Windstoß eine dunkle Wolke aus ihrem Gesicht fortgewischt. Plötzlich war die kritische Falte zwischen ihren Augen verschwunden und die Liebe blitzte verräterisch in ihrem Blick auf. In diesem Moment gab es kein Halten mehr. Mario schloss Marianne in seine Arme und küsste sie, als gäbe es kein Morgen mehr.

*

In der ehemaligen Bäckerei Bärwald hatte sich eine lange Schlange gebildet. Während sich Tatjana bemühte, alle Wünsche zu erfüllen, warteten die Kunden mehr oder weniger geduldig darauf, dass sie endlich an die Reihe kamen.

»Entschuldigung, haben Sie auch laktosefreies Gebäck?«, fragte eine Kundin, als sie vor der jungen Chefin stand.

Solche Fragen und Sonderwünsche waren im Normalfall kein Problem. Doch an diesem Tag war jedes Extra zu viel. Nur mit Mühe gelang es Tatjana, ein Seufzen zu unterdrücken. Dabei ließ sie ihren nachdenklichen Blick über die Auswahl in der antiken Vitrine wandern.

»Die Blätterteig-Kirsch-Taschen können Sie problemlos essen. Und der Birnen-Streusel-Kuchen kommt auch ganz ohne Milchprodukte aus. Außerdem…«

»He da, geht das nicht ein bisschen schneller? Meine Mittagspause ist gleich vorbei«, fiel ihr einer der Wartenden ins Wort.

»Bis wir endlich dran sind, können wir wahrscheinlich eh gleich in den Feierabend gehen!«, mutmaßte ein anderer, und ein paar der Kunden brachen in Gelächter aus.

»Ich finde das gar nicht lustig. Früher war der Service hier besser«, stimmte eine Kundin nicht in die allgemeine Heiterkeit ein. »Wenn das so weitergeht, suche ich mir eine andere Bäckerei. Was hab ich von der Renovierung, wenn ich keine Ware mehr bekomme?« Als sie von allen Seiten lautstarke Zustimmung erntete, lächelte sie Tatjana selbstgefällig an.

Genau solche Worte waren es, vor denen sich die aufstrebende Bäckerin so sehr fürchtete. Sie hatte so hart für ihren Erfolg gearbeitet, sehr viel Geld und Arbeit investiert, ihre Ausbildung zur Bäckerin und Konditorin abgeschlossen, um das Geschäft selbst führen zu können und zuletzt den großen Umbau gewagt. Die positive Besprechung in der Zeitschrift war eine wundervolle Bestätigung dafür gewesen, dass sich all ihre Mühen gelohnt hatten. Wenn sie aber die hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte, dann wäre alles umsonst gewesen.

»Hallo, hören Sie schlecht, junge Frau?«, riss sie eine ungeduldige Stimme aus ihren Gedanken.

Erschrocken zuckte Tatjana zusammen.

»Es tut mir leid. Was kann ich Ihnen einpacken?«, fragte sie, als sie zu ihrem großen Schrecken und trotz ihrer Sehbehinderung auch noch einen blau gefärbten Haarschopf entdeckte, der in der Bäckerei auftauchte.

Wie um sich hinter dem Tresen zu verstecken, senkte Tatjana den Kopf. Mechanisch füllte sie Tüte um Tüte, kassierte, gab Wechselgeld heraus und fragte den nächsten Kunden nach seinen Wünschen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, so wenig wollte der Strom abreißen. Dabei warteten in der Backstube schon die nächsten Bleche, die aus dem Ofen geholt werden und andere, die hineingeschoben werden wollten.

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, bat Tatjana hektisch, als sie das schrille Klingeln in ihrem Rücken hörte.

»Moment mal, Sie können mich doch jetzt nicht einfach so stehen lassen«, beschwerte sich der Mann, der als nächster an der Reihe war.

»Wenn Ihr Nachbar hier gern verbrannte Brötchen haben will, bitte sehr«, gab Tatjana schnippisch zurück und eilte in die Backstube, um die Brezen aus dem Ofen zu retten.

Als sie mit erhitzten Wangen und einem schweren Korb voll mit verschiedenstem Gebäck zurückkehrte, war der Kunde verschwunden. Dafür stand die junge Frau mit den blaugefärbten Haaren grinsend vor dem Tresen.

»Was willst du denn schon wieder hier?«, stöhnte Tatjana und machte Anstalten, den Korb ins Regal hinter sich zu hieven.

»Och, ich seh mich nur mal um…«, erwiderte Marla und sah Tatjana genau wie die anderen Kunden dabei zu, wie sie sich mit dem Korb abmühte.

Erst als er gefährlich in Schieflage kam und ihr um ein Haar aus der Hand gerutscht wäre, eilte Marla der überforderten Bäckerin zu Hilfe.

»Sieht ganz danach aus, als ob Sie mich doch brauchen können«, stellte sie zufrieden grinsend fest, als der Korb endlich sicher an Ort und Stelle stand.

»Das war eine Notsituation«, presste Tatjana durch die Lippen. »Aber danke für die Hilfe.« Damit wollte sie sich an die nächste Kundin wenden, die schon ungeduldig von einem Bein auf das andere trat.

Doch Marla wollte nicht locker lassen.

»Ich mach Ihnen ein Angebot. Ich helfe Ihnen jetzt aus der Patsche«, mit dem Kopf nickte sie in Richtung der langen Schlange vor der Vitrine, »dafür bekomme ich den Job als Bäckerin.«

So viel Dreistigkeit verschlug Tatjana die Sprache.

»Wie bitte?«, schnappte sie überrascht nach Luft.

Marla lachte belustigt und eine Spur siegessicher auf.

»Sie haben schon richtig gehört. Ich hab Ihnen ein Angebot gemacht.«

»Das klingt eher nach Erpressung!«, stellte die Bäckerin unwillig fest und Marla bemerkte, dass sie ihre Strategie ändern musste, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte.

Sie setzte ein Kleinmädchengesicht auf und ihr Mund verzog sich zu einer Schnute.

»Ich will doch nur eine Chance haben. Mehr nicht.«

In diesem Augenblick hatten die Kunden hinter Marla genug von der Diskussion.

»Also entweder geben Sie dem Gör die Stelle oder wir gehen auf den Schlag und kommen nie mehr wieder«, erhob sich einer der Wartenden zum Sprecher der ganzen Gruppe.

Empört starrte Tatjana über die Vitrine. Sie war feinfühlig genug, um die widersprüchlichen Emotionen aufzufangen, die ihr von ihren Kunden entgegen schlug.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich derart unter Druck setzen lasse«, schimpfte sie aufgebracht. »Außerdem kommt sowieso gleich meine Mitarbeiterin Marian…«

Sie hielt inne und lauschte. Tatsächlich klingelte in diesem Moment das Telefon, das im Durchgang zur Backstube an der Wand hing. Am liebsten wäre Tatjana in diesem Augenblick in Tränen ausgebrochen. Doch es sah ihr nicht ähnlich, sich eine Blöße zu geben. So wandte sie sich schnell ab, um das Telefonat zu führen. Es dauerte nicht lange und wenn möglich, war ihr Gesicht noch hoffnungsloser, als sie mit einer Schürze in der Hand zurückkam.

»Das war Marianne. Sie kommt heute nicht mehr«, teilte sie Marla mit Grabesstimme mit und warf ihr die Schürze zu. »Dann zeig mal, was du kannst!«, forderte sie das Mädchen mit den blauen Haaren und dem Piercing im Nasenflügel auf.

Marlas Gesicht strahlte auf.

»Ich hab die Stelle?«, fragte sie ungläubig, während sie sich in Windeseile die Kellnerschürze umband. »Ist das Ihr Ernst?«

»Mein bitterer Ernst«, erklärte Tatjana unheilverkündend. »Die nächsten Brötchen sind gleich fertig. Geh bitte nach hinten und hol sie aus dem Ofen. Und dann hilfst du hier beim Verkauf. Die Preisliste klebt auf der Kasse.«

Mehr gab es nicht zu sagen, und nachdem Marla in der Backstube verschwunden war, setzte Tatjana Bohde ein freundliches Lächeln auf und wandte sich an den nächsten Kunden.

*

Seit Danny Norden die Nachricht von Lennis Herzstillstand ereilt hatte, saß er wie auf Kohlen. Doch er wäre kein Vollprofi gewesen, wenn seine Patienten etwas von seiner Sorge und Ungeduld bemerkt hätten. Sorgfältig wie immer führte er seine Behandlungen durch.

»Frau Peters war die letzte für heute?«, erkundigte er sich endlich gegen Abend bei Wendy und warf einen prüfenden Blick ins Wartezimmer.

»Andreas Wagner wäre noch dran gewesen. Aber der hat vorhin abgesagt«, las die langjährige Assistentin aus dem Kalender vor, ehe sie den Kopf hob und Danny ein freundliches Lächeln schickte. »Du kannst jetzt in die Klinik fahren.«

Das ließ sich der junge Arzt nicht zwei Mal sagen.

»Hab ich Ihnen eigentlich schon mal gesagt, dass Sie ein Engel sind?«, fragte er, während er hastig den Kittel gegen eine warme Jacke tauschte.

»Nicht, dass ich wüsste. Allerdings stelle ich mir Engel auch ein wenig anders vor.« Mit einer guten Portion Selbstironie blickte sie kritisch auf ihre rundliche Leibesmitte hinab.

Danny bemerkte es und lachte.

»Keine Angst, Sie sind genau richtig, wie Sie sind.«

»Das versuche ich auch jedes Mal, mir einzureden. Besonders, wenn du wieder irgendwelche leckeren Sachen aus der Bäckerei mitbringst.«

»Oder Sie und Janine uns mit ihren Kochkünsten verwöhnen«, dachte Danny an die legendären Mittagessen, die die beiden Assistentinnen immer wieder in der Praxis veranstalteten.

Zu gern wäre der junge Arzt einfach am Tresen stehen geblieben und hätte mit der langjährigen Assistentin gescherzt. Doch da war die nagende Sorge um Lenni, und so machte er sich schweren Herzens auf den Weg in die Klinik, wo seine Eltern schon am Bett der Haushälterin wachten.

»Wie geht es ihr?«, fragte Danny, nachdem er Fee und Daniel begrüßt hatte.

Er stand am Bett der Haushälterin und musterte die schlafende Lenni besorgt. Ihr sonst so energisches Gesicht war schlaff und viel faltiger als gewohnt. Der Kopf war leicht zur Seite geneigt und ihr Mund stand ein wenig offen. Sie atmete schwer.

»Besser. Die Kollegen konnten sie inzwischen wieder extubieren, sie atmet selbständig«, erklärte Fee, ohne den besorgten Blick von der geliebten Haushälterin zu wenden.

Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett und hielt Lennis Hand. Ihr Mann stand daneben. Tiefe Falten zeichneten seine Stirn.

»Du hattest recht«, räumte er zutiefst bedrückt in Dannys Richtung ein. »Die Operation kam zu früh. Ich hätte dieses Risiko niemals eingehen dürfen.«

Selten zuvor hatte der junge Arzt seinen Vater so voller Selbstzweifel erlebt, und spontan legte er ihm die Hand auf die Schulter.

»Das kann doch kein Mensch sagen«, widersprach er Daniels Ansicht energisch. »Weißt du, was passiert wäre, wenn ihr nicht operiert hättet?«

»Nein.« Dr. Norden schüttelte den Kopf.

»Siehst du! Das weiß niemand. Es hätte genauso enden können oder aber noch schlimmer«, fuhr Danny inständig fort. »Was habt ihr denn nun vor? Wie soll es weitergehen?« Optimistisch, wie der junge Arzt war, richteten sich seine Gedanken schon wieder auf die Zukunft.

Daniel Norden wiegte nachdenklich den Kopf.

»Das Wichtigste ist, dass jetzt keine akute Lebensgefahr mehr besteht. Jetzt muss sich Lenni erst mal von all diesen Ereignissen erholen. Wenn sie so weit wieder hergestellt ist, bekommt sie einen Herzschrittmacher…«

»Natürlich nur, wenn sie einverstanden ist«, warf Fee mit trauriger Miene ein. »Allerdings bin ich mir da gar nicht so sicher nach allem, was sie zu Felix gesagt hat.« Ihr Blick hing unverwandt an Lennis Gesicht, und ihre Hände streichelten zärtlich über die weiche Haut des Arms.

»Jetzt wirf nicht gleich die Flinte ins Korn«, verlangte Danny von seiner Mutter. »Ist doch klar, dass Lenni schlecht drauf war. Aber wer weiß, wenn sie einen Herzschrittmacher bekommt und es ihr besser geht, spricht ja auch nichts dagegen, es nochmal mit einem neuen Kniegelenk zu versuchen, oder?«, wandte er sich fragend an seinen Vater.

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Daniel wahrheitsgemäß. Der Optimismus, den sein Sohn verbreitete, wirkte ansteckend und seine Miene war schon nicht mehr so düster wie noch ein paar Minuten zuvor. »Entscheidend ist aber wirklich der Wille des Patienten. Wenn Lenni keinen Sinn mehr in ihrem Leben sieht, wird es schwierig.«

»Dann ist es eben unsere Aufgabe, ihr diesen Sinn wiederzugeben«, erklärte Danny enthusiastisch, als er bemerkte, dass Lennis Augenlider zu flattern begannen.

Nach und nach erwachte sie aus ihrem tiefen Schlaf, und es dauerte eine Weile, bis sie die Menschen erkannte, die an ihrem Krankenlager wachten. Leise stöhnend legte sie die Hand auf’s Herz und besorgt beugte sich Felicitas tiefer über sie.

»Lennilein, Sie Liebe, wie geht es Ihnen?«, fragte die Ärztin mit sanfter Stimme. »Haben Sie Schmerzen?«

Die gepeinigte Haushälterin antwortete nicht sofort, sondern lauschte sichtlich angestrengt in ihr Inneres.

»Ich weiß nicht…«, erwiderte sie endlich. Vom Tubus war ihr Hals rau, und dementsprechend heiser war ihre Stimme. Ihr hilfloser Blick wanderte von einem zum anderen und blieb schließlich an Daniel Norden hängen. »Was ist mit mir passiert?«

Diese Frage hatte der erfahrene Arzt am meisten gefürchtet. Die Wahrheit konnte entmutigend sein.

»Sie hatten einen Herzstillstand«, erwiderte er zögernd. »Wir mussten Sie reanimieren. Aber keine Sorge. Inzwischen ist Ihr Zustand wieder stabil, und in ein paar Wochen wird alles wieder gut sein«, brachte er seine tiefste Hoffnung zum Ausdruck, die Lenni jedoch mit zwei schlichten Sätzen schlagartig zunichte machte.

»Ich bin doch eh zu nichts mehr nütze. Warum haben Sie mich nicht einfach sterben lassen?«

*

An diesem Abend traf sich die Familie nicht wie sonst im Hause Norden, sondern im Café ›Schöne Aussichten‹. Zum einen wollten Daniel und Fee ihre Schwiegertochter in spe unterstützen, die trotz ihrer neuen Helferin erst weit nach sieben Uhr mit den Aufräumarbeiten in Bäckerei und Backstube fertig war.

»Außerdem finde ich, dass dieser Name ein gutes Omen ist«, erklärte Fee und dankte Dési, die ihr ein Glas Wein servierte. »Wenn wir im Augenblick etwas brauchen können, dann sind das schöne Aussichten.«

Statt eines Abendbrots hatte Tatjana Teller mit dem restlichen Gebäck aufgestellt, das vom Tag übrig geblieben war. Bevor über Lennis Gesundheitszustand und die zu ergreifenden Maßnahmen diskutiert wurde, griffen alle hungrig nach Pizzataschen und mexikanischen Schnitten, nach Quiche Lorraine und Olivenbrot. Dési und Anneka spielten die Mundschenke und versorgten ihre Familie mit Getränken.

»Da wächst ja fähiges Personal heran«, lobte Danny seine beiden jüngeren Schwestern und prostete seinem Vater zu, der sich, ebenso wie sein Sohn, für ein alkoholfreies Bier entschieden hatte. »Tatjana kann es sicher kaum erwarten, bis ihr beiden mit der Schule fertig seid. Dann könnt ihr gemeinsam ein Familienunternehmen gründen und weltweit Filialen eröffnen.«

»Ehrlich gesagt habe ich andere Pläne, als in die Gastronomie einzusteigen«, gestand Anneka und schickte der jungen Bäckerin, die ihr inzwischen wie eine ältere Schwester ans Herz gewachsen war, einen entschuldigenden Blick.

»Aber eine Filiale irgendwo am Meer wäre doch gar nicht so schlecht«, erwiderte Dési, die sich noch lebhaft an ihre Zeit im Orient erinnerte. Seither hatte sie die Abenteuerlust gepackt, und sie träumte von Reisen in die große, weite Welt.

Zu diesen Plänen lachte Tatjana nur.

»Bevor ich an Expansion denke, muss ich diesen Laden erst mal in den Griff bekommen«, gestand sie und trank einen Schluck Rotwein.

Erst nach und nach fiel die Anspannung des Tages von ihr ab, und ihre Gesichtszüge verloren die Strenge.

»Wer war denn die junge Frau, die vorhin gegangen ist, als wir gekommen sind?«, erkundigte sich Fee interessiert.

Tatjana verdrehte die Augen gen Himmel.

»Das war meine neue Bäckerin, Marla Brandt«, gestand sie zähneknirschend. »Nachdem sie Danny um ein Haar mit dem Fahrrad über den Haufen gefahren hat und ihm danach auch noch frech gekommen ist, wollte ich sie eigentlich nicht einstellen. Aber heute hatte ich endgültig keine Wahl mehr und musste in den sauren Apfel beißen.«

»Auch keine schlechte Art, mit dem Kundenansturm fertig zu werden«, scherzte Danny belustigt. »Ein paar freche Sprüche, und der Laden ist mit einem Schlag leer. Mal abgesehen davon, dass sie mit diesen blauen Haaren und dem Nasenpiercing furchterregend aussieht.«

»Das dachte ich am Anfang auch«, musste Tatjana unwillig einräumen. »Aber ich muss gestehen, dass sie mich positiv überrascht hat. Sie war freundlich, zuvorkommend und besitzt offenbar eine schnelle Auffassungsgabe.«

»Dann warte einfach mal ab, was passiert«, machte Fee den einzig vernünftigen Vorschlag. »Was anderes bleibt dir im Moment ohnehin nicht übrig, wenn du nicht vor die Hunde gehen willst.« Besorgt betrachtete sie Tatjanas blasses Gesicht, das in letzter Zeit noch schmäler als ohnehin schon geworden war.

»Genau wie Lenni!« Es war Felix, der die Sprache auf das Thema brachte, das ihm am meisten unter den Nägeln brannte. Sofort wurden die Gesichter um ihn herum ernst. »Was machen wir denn jetzt mit ihr?« Er warf einen fragenden Blick in die Runde.

»Sie will immer noch in ein Pflegeheim umziehen«, erklärte Daniel Norden bekümmert.

»Lenni kommt in kein Heim!«, widersprach Anneka energisch. »Wenn sie Pflege braucht, dann kümmern wir uns zu Hause um sie. Schließlich gehört sie zur Familie.«

»So denken wir alle.« Fee ließ den dunklen Rotwein im Glas kreisen. »Die einzige, die in ein Heim will, ist Lenni selbst. Sie ist furchtbar entmutigt und traurig.«

»Wenn ich nur wüsste, wie wir sie davon überzeugen können, dass sie nicht unnütz ist, auch wenn sie nicht mehr arbeiten kann«, seufzte Daniel ratlos.

»Du weißt doch, wie stur sie ist. Wenn sie sich das mit dem Heim in den Kopf gesetzt hat, wird sie sich nicht mehr so leicht davon abbringen lassen.«

»Das kommt ganz darauf an, ob wir eine Idee haben, womit sie sich beschäftigen könnte«, gab Anneka zu bedenken. Sie sah ihren Vater prüfend an. »Was glaubst du? Wird sie je wieder richtig laufen können?«

Nachdenklich wiegte Daniel den Kopf.

»Mit einem neuen Kniegelenk ist das sehr wahrscheinlich. Das weitaus größere Problem sehe ich allerdings darin, dass sie gar nicht mehr gesund werden will. Dass ihr die Motivation fehlt, die wichtig ist, um wieder auf die Beine zu kommen.«

Schweigend lauschte Felix Norden den Überlegungen seiner Familie. Dabei dachte auch er unablässig darüber nach, wie er seiner liebsten Lenni neuen Auftrieb geben könnte.

»Wenn sie doch nur nicht immer alles selbst machen wollte«, stieß er in Erinnerung an den Unfall verzweifelt hervor, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. »O Mann, warum bin ich nicht früher drauf gekommen?«, fragte er sich selbst und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Das Problem ist gleichzeitig die Lösung! Eigentlich ist es ganz einfach!« Während er sprach, war er so hastig aufgesprungen, dass sein Stuhl polternd umfiel.

Alle Anwesenden zuckten erschrocken zusammen.

»Wie bitte?«, fragte Fee, als ihr Sohn schon auf dem Weg zur Tür war.

Doch Felix drehte sich nicht mehr um. Plötzlich hatte er es eilig.

»Keine Zeit mehr!«, rief er so gut gelaunt wie lange nicht. »Ich muss ausprobieren, ob meine Vermutung richtig ist.«

Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Einen Moment lang herrschte verdutztes Schweigen an den Tischen, das sich erst löste, als Danny sein Glas hob, um mit seiner Familie anzustoßen.

»Auf Felix! Möge sein Name ein gutes Omen und das Glück ihm hold sein!«, gab er einen Toast aus auf seinen Bruder, der schon immer für eine Überraschung gut gewesen war.

»Auf Felix!«, schlossen sich Daniel und Fee, Anneka und Dési, Janni und nicht zuletzt Tatjana diesem Vertrauen an.

Die Gläser klangen aneinander, und hoffnungsvoll leuchteten die Gesichter im Schein der Kerzen, die Tatjana auf den Tischen in ihren Café ›Schöne Aussichten‹ angezündet hatte.

Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman

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