Читать книгу Dr. Norden Bestseller Box 13 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Ganz bei der Sache war Helmut Sommer nicht, als er von der Baustelle kommend zu seinem Wagen ging. Es klappte mal wieder nichts, die Termine waren überschritten, der Bauherr hatte ihm zornige Vorhaltungen gemacht.

Helmut Sommer war ein junger Architekt und froh, diesen Auftrag bekommen zu haben. Er hatte verbindlich zugesagt, daß das Haus am nächsten Ersten bezugsfertig sein würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet vom Installateur im Stich gelassen zu werden.

Ein Unglück kommt selten allein, auch für ihn sollte das gelten. Da kam ein Junge auf einem Rennrad dahergebraust, und er konnte gerade noch zur Seite springen. Aber er stürzte, und seine Hand suchte ausgerechnet da Halt, wo Scherben lagen. Er blutete fürchterlich, aber der Junge raste weiter, ohne sich nach ihm umzuschauen. Gerade zehn Jahre mochte er sein, sein hellblondes Haar flatterte im Wind. Im Unterbewußtsein nahm Helmut alles wahr. Der Junge trug einen blauen Anorak und Jeans, auf dem Gepäckträger lag eine orangefarbene Schultasche.

Dann erst sah er, wie stark seine Hand blutete. Es war die rechte Hand. Mit der linken griff er in die Hosentasche und zog das Taschentuch hervor und wickelte es fest um die Wunde.

»Depp«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Nun wird sich Andrea wieder aufregen.«

Er redete noch mit sich selbst, als er zum Wagen ging. So darf ich nicht heimkommen, dachte er, sonst dreht sie ganz durch. Und dann erinnerte er sich, daß ein paar Straßen weiter die Praxis von Dr. Norden war.

Die Wunde begann schon höllisch zu schmerzen. Nur mühsam konnte er den Autoschlüssel herumdrehen. Er war ein ausgemachter Rechtshänder. Mit der linken Hand konnte er gar nichts anfangen. Und außerdem mußte er immerzu an seine Frau Andrea denken, die ihr erstes Kind erwartete und sich in diesem Zustand über jede Kleinigkeit aufregte.

Sein Taschentuch war blutdurchtränkt, als er in Dr. Nordens Praxis taumelte.

Die Arzthelferin Loni war allerhand gewohnt und fiel nicht gleich in Ohnmacht, aber bei der Blutspur, die Helmut Sommer hinterließ, wurde es ihr doch fast schwindlig.

»Schnell, ganz schnell, Herr Doktor!« konnte sie gerade noch in die Sprechanlage hauchen. Und darauf kam Dr. Norden auch schon aus seinem Sprechzimmer herausgestürzt. Da mußte Frau Mill mit ihrer chronischen Gelenkentzündung halt warten, denn viel konnte man dagegen doch nicht mehr tun.

Und Dr. Norden fragte auch nicht mehr lange, denn er sah, daß es dem Patienten schon ganz schwummerig war.

Er zog eine Injektion auf und beobachtete ein paar Minuten die Wirkung. Dann begann er, die Glassplitter aus der Wunde zu entfernen.

Helmut Sommer spürte keinen Schmerz mehr, aber er war sehr benommen durch die Betäubungsspritze. Und unter dieser Wirkung begann er zu reden.

Er erzählte, wie das passiert war. Und Dr. Norden horchte auf, als er den Jungen genau schilderte.

»Andrea wird sich schrecklich aufregen. Sie erwartet nämlich ein Baby. Der Gynäkologe hat gesagt, daß sie an einer Schwangerschaftspsychose leidet. Sie denkt nur dauernd daran, daß Sonjas Kind tot geboren wurde. Sonja ist die Schwester von meiner Frau, müssen Sie wissen. Ich muß fit sein, wenn ich heimkomme. Sie regt sich schon auf, wenn ich nicht pünktlich bin.«

Dr. Norden wußte genug über werdende Mütter, aber er wußte auch, daß dieser Patient sich in einem kritischen Zustand befand.

»Darf ich Ihren Namen erfahren?« fragte er freundlich, um wenigstens festzustellen, wieweit er noch ansprechbar war.

»Helmut Sommer, dreißig Jahre alt, Architekt. Ich habe eine Baustelle in der Nähe und damit genug Sorgen. Und nun muß mir das passieren.«

»Das Haus vom Direktor Rogner etwa?« fragte Daniel Norden beiläufig.

»Ganz recht. Sie kennen ihn?«

»Ja, recht gut.«

»Er hat sich aufgeregt, weil es ein paar Tage länger dauern wird, aber meine Frau ist mir jetzt wichtiger«, sagte Helmut Sommer. »Blut kann sie schon gar nicht sehen.«

»Sie wird nichts sehen. Die Wunde ist geklammert. Ich lege Ihnen einen Verband an und bringe Sie dann heim. Selbst fahren dürfen Sie jetzt nicht. Die Spritze wirkt noch nach.«

»Sie sind aber sehr nett«, sagte Helmut Sommer.

»Ich habe die Verantwortung«, erwiderte Dr. Norden. »Loni, rufen Sie bitte meine Frau an, daß ich später komme.«

*

»Kann man mit Herrn Rogner nicht vernünftig reden?« fragte Dr. Norden, als sie unterwegs waren. »Auf ein paar Tage dürfte es doch nicht ankommen.«

»Aber er muß sein Haus räumen. Das hatte er nur gemietet. Ich verstehe ihn ja«, sagte Helmut Sommer. »Es wäre auch alles fertig, wenn der Bichler nicht krank geworden wäre.«

»Er ist aber sehr krank«, sagte Dr. Norden. »Auch ein Patient von mir. Doch jetzt denken wir mal lieber an Ihre Frau. Im wievielten Monat ist sie denn?«

»Im siebenten, und der soll besonders kritisch sein. Ich habe schreckliche Angst um sie, Herr Doktor. Sie ist so sensibel, und Sonja trägt auch nicht zu ihrem Wohlbefinden bei. Ich verstehe ja, daß eine Frau ängstlich ist, wenn sie mal ein Kind verloren hat.«

Zum Glück war es noch verhältnismäßig gut ausgegangen. Dr. Norden ahnte, wer der Übeltäter war, nämlich ausgerechnet Achim Rogner. Aber müßte Helmut Sommer den nicht eigentlich kennen?

Doch er konnte seinen Verdacht nicht so einfach äußern. Allerdings kam ihm eine Idee. Er konnte einen Umweg machen, vorbei an Rogners Haus.

»Sie könnten Herrn Rogner gleich sagen, was Ihnen für ein Mißgeschick passiert ist«, schlug er vor. »Wir können da mal kurz halten.«

»Sie sind zu nett, Herr Doktor«, sagte Helmut Sommer. »Ich kann Ihre Zeit doch nicht so lange in Anspruch nehmen.«

»Die paar Minuten machen nichts aus.« Daniel Norden hatte mit Achim Rogner auch noch ein Hühnchen zu rupfen, denn er hatte, auch mal wieder auf dem Fußweg fahrend, um ein Haar seinen kleinen Sohn Danny angefahren, als Fee mit ihm spazierenging.

Als sie vor dem Haus hielten, sah Helmut Sommer auch schon das Fahrrad, und er sah auch den Jungen mit dem langen hellblonden Haar und dem blauen Anorak.

»Da legst di nieder«, entfuhr es ihm. »Das ist doch das Bürscherl.« Und schon war er ausgestiegen und mit ein paar Schritten bei dem Missetäter. Dr. Norden wurde gleich gewahr, daß er den Jungen noch nicht kannte und ihn in keine Beziehung zu den Rogners brachte. Aber gerade das war gut, denn nun hatte Helmut Sommer keine Hemmungen.

Mit der gesunden Hand hatte er ihn am Arm gepackt, recht fest, so daß Achim ihm nicht entkommen konnte.

»Da hab’ ich dich ja erwischt, du Lauser«, sagte er

energisch. »Dir macht es wohl gar nichts aus, Leute über den Haufen zu fahren und einfach weiterzuradeln. Schau dir mal an, wie ich zugerichtet bin. Und jetzt sagst du mir deinen Namen.«

»Sag ich nicht«, erwiderte der Junge frech.

»Dann nehme ich dich halt mit zur Polizei.«

»Haben Sie denn Zeugen?« fragte Achim noch aggressiver.

»Ja, Herr Sommer hat einen Zeugen«, warf Dr. Norden da schnell ein. »Wir zwei kennen uns ja schon. Der Junge heißt Achim Rogner«, wandte er sich an den Architekten, und dabei blinzelte er ihm zu.

»Großer Gott!« entfuhr es dem, doch da kam Frau

Rogner schon aus dem Haus. Eine nette, rundliche Frau.

»Was hast du schon wieder angestellt, Achim?« stöhnte sie, aber dann erkannte sie Helmut Sommer. »Du liebe Güte, auch das noch. Na, diesmal kannst du was vom Papa erleben. Das ist nämlich unser Architekt.«

Nun wurde Achim doch bedeutend kleiner. Ja, er schrumpfte richtig zusammen.

Bebend vor Erregung entschuldigte sich Frau Rogner bei Herrn Sommer. Dann stellte sich Daniel vor.

»Leider haben wir auch schon mal Bekanntschaft mit Ihrem Sohn gemacht«, sagte er ruhig. »Aber anscheinend kann er die Raserei nicht lassen, obwohl wir nur von einer Anzeige abgesehen haben, weil er uns versprochen hat, in Zukunft besser aufzupassen.«

»Jetzt kommt das Rad weg«, sagte Frau Rogner. »Ich war gleich dagegen, daß er wieder eins bekommt, nachdem er schon mal so böse gestürzt ist. Mein Mann ist leider nicht zu Hause, aber er wird mit Ihnen sprechen, Herr Sommer. Versichert sind wir ja«, fügte sie verlegen hinzu. »Es tut mir schrecklich leid. Willst du dich nicht wenigstens entschuldigen, Achim?«

»Wenn die Versicherung sowieso zahlt«, bemerkte der Junge aufsässig. »Der soll bloß zuschauen, daß er das Haus fertig kriegt, sonst wird Papa narrisch.«

»Das wird sich nun wohl noch mehr verzögern«, sagte Dr. Norden ruhig. »Die Verletzung ist ziemlich schlimm. Aber deinen Vater wird es sicherlich nicht freuen, daß du daran schuld bist. Kommen Sie, Herr Sommer, Sie brauchen jetzt Ruhe.«

»Sie haben den Jungen nicht gekannt?« fragte Dr. Norden, als sie weiterfuhren.

»Nur die beiden Töchter«, erwiderte Helmut Sommer, »aber die sind recht nett. Sie haben geahnt, daß es der Rogner-Bub war?«

»Nach der Beschreibung, die Sie gegeben haben.

Als meine Frau mal mit unseren Kindern spazierenging, hat er fast unseren Danny überfahren. Dabei ist er aber über den Bordstein gefallen, und meine Frau hat ihn gepackt. Da hat er keine Lippe riskiert. Es kamen allerdings auch andere Leute des Weges, die ihn kannten. Frau Rogner scheint ihre Sorgen mit ihm zu haben.«

»Ich muß Ihnen sehr dankbar sein. Nun wird vielleicht Herr Rogner doch mit sich reden lassen. Vielleicht ist es Glück im Unglück.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Daniel Norden mit einem Schmunzeln.

Dann aber mußte er erleben, wie schrecklich sich Andrea Sommer aufregte. Schluchzend fiel sie ihrem Mann um den Hals. Völlig aufgelöst war sie, und im siebenten Monat der Schwangerschaft konnte das recht bedenklich werden, wenn sie ohnehin labil war.

»Nur keine Aufregung«, mischte sich Dr. Norden ein. »Es kommt alles wieder in Ordnung.«

Erst in diesem Moment kam Helmut Sommer dazu, Andrea mit Dr. Norden bekannt zu machen. Sie wurde etwas ruhiger.

»Ich bin Ihnen ja so dankbar, Herr Doktor«, sagte sie. »Es ist wahnsinnig lieb von Ihnen, daß Sie meinen Mann heimgebracht haben. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie ich mich jeden Tag ängstige, wenn er auf den Baustellen ist.«

»Sie müssen jetzt aber an sich und Ihr Baby denken, Frau Sommer«, sagte der Arzt.

»Ich habe dem Doktor auch gesagt, daß Dr. Kobelka nicht gerade beruhigend auf dich einwirkt, Andrea«, erklärte Helmut Sommer. »Ich mache mir genau solche Sorgen um dich wie du um mich. Ich möchte einen Arzt haben, der sich wirklich um dich kümmert und dich nicht mit läppischen Erklärungen abspeist.«

»Sprechen Sie mit Ihrer Frau darüber bitte in aller Ruhe«, sagte Dr. Norden. »Sind schon Ultraschalluntersuchungen bei Ihnen vorgenommen worden, Frau Sommer?«

Andrea sah ihn verwirrt an. Merkte er, daß sie davon noch nicht einmal wußte?

»Man kann nämlich schon vor der Geburt feststellen, wie groß und schwer das Baby etwa sein wird«, erklärte er freundlich, »und man kann auch feststellen, welche Lage es hat und ob möglicherweise mit Komplikationen gerechnet werden muß. Deshalb kann man vorbeugen und zur rechten Zeit eingreifen. In der Leitner-Klinik wird das jedenfalls so gehandhabt. Aber die Entscheidung müssen Sie selber treffen, ob Sie nicht den Arzt wechseln wollen.«

»Kennen Sie denn Dr. Kobelka?« fragte Andrea.

»Wie man sich so kennt. Ich muß jetzt weiter. Sprechen Sie mal in aller Ruhe mit Ihrem Mann. Sie schauen bitte übermorgen bei mir vorbei, Herr Sommer.«

»Ich bin froh, daß ich an Sie geraten bin, Herr Doktor. Sie haben mir ja in mehrfacher Hinsicht geholfen.«

*

»Wieso in mehrfacher Hinsicht?« fragte Andrea, und nun blieb ihrem Mann nichts anderes übrig, als ihr die ganze Geschichte zu schildern.

»So stellt man sich halt einen richtigen Arzt vor«, sagte er. »Nicht so einen, der sich gerade zwei Minuten Zeit nimmt und nur fragt: ›Na, wie geht es denn, Frau Sommer? Angstzustände haben Sie, aber das ist ja begreiflich nach der Geschichte mit Ihrer Schwester. Das nennt man Schwangerschaftspsychose. Davon müssen Sie sich halt befreien. Warum sollen ausgerechnet Sie Pech haben!‹«

»So sagt er es nun auch wieder nicht«, meinte Andrea. »Ich mag nicht zu einem jungen Arzt gehen, das weißt du.«

»Gut, das weiß ich. Ich zwinge dich auch nicht. Gar so jung ist Dr. Leitner auch nicht mehr, und seine Klinik hat einen guten Ruf. Einen besseren jedenfalls als das Entbindungsheim. Sie ist ganz modern eingerichtet, und das finde ich wichtig. Sonjas Kind würde auch leben, wenn es nicht erst eine halbe Stunde zu einer anderen Klinik hätte gebracht werden müssen.«

»Ja, vielleicht würde es noch leben«, sagte Andrea leise. »Aber ich kann nichts dafür, daß ich solche Angst habe, Helmut. Ich kann wirklich nichts dafür. Du siehst ja, was passieren kann.«

»Ich lebe, mein Liebes. Und Herr Rogner wird mich nicht mehr tyrannisieren können. Dann beschuldige ich seinen Augapfel, diesen unverschämten kleinen Burschen. Ich bin wirklich nicht intolerant, aber die Haut ist einem schließlich näher als das Hemd.«

Wenig später läutete das Telefon. Es war Herr Rogner. Seine Stimme klang sehr gemäßigt, um nicht zu sagen kleinlaut. Er hätte von seiner Frau erfahren, was geschehen sei, und man könnte darüber doch wohl in aller Ruhe sprechen und sich wohl auch einigen.

»Sie können gern zu mir kommen«, sagte Helmut Sommer. »Dr. Norden hat mir für die nächsten Tage Ruhe verordnet.«

Andrea staunte. »Du kannst aber energisch sein«, sagte sie.

»Man braucht ja nicht alles zu schlucken«, erwiderte Helmut Sommer. »Dr. Norden ist nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein guter Psychologe. Er weiß, wie er helfen kann. Diese Sache hat etwas sehr Positives für mich, Andrea.«

»Die schlimme Hand finde ich nicht positiv«, sagte sie.

»Dr. Norden hat sie bestens behandelt, aber was noch wichtiger ist, Andrea, er versteht es, das Übel bei der Wurzel zu packen. Ein solcher Arzt hat uns gefehlt. Mir geht so langsam ein Licht auf.«

»Worüber?« fragte sie beklommen.

»Du bist zuviel mit Sonja zusammen. Sie heult dir dauernd etwas vor. Du denkst ständig daran, daß ihr Kind nicht am Leben geblieben ist.«

»Sie tut mir doch leid, Helmut«, flüsterte Andrea.

»Mir tut sie auch leid, aber wenn sie dir nicht ewig in den Ohren liegen würde, könntest du dich auf unser Kind freuen. Ich freue mich jedenfalls darauf, und ich hätte nicht gedacht, daß die Schwangerschaft zu einer Leidenszeit für uns beide werden würde.«

»Für uns beide?« fragte sie bestürzt.

»Meinst du, ich leide nicht darunter, daß du dauernd deprimiert bist? Ich schaffe einfach nichts mehr, weil ich nur darauf bedacht bin, soviel wie nur möglich bei dir zu sein. Nie empfängst du mich mit dem Lächeln, das ich an dir liebe. Kein Abend vergeht, an dem du nicht über mögliche Komplikationen redest. Ja, ich möchte, daß du zu Dr. Leitner gehst, Andrea, und vielleicht bringst du deine Schwester dann auch mal dazu, sich genau zu informieren, welchem Umstand es zuzuschreiben ist, daß ihr Baby nicht am Leben blieb.«

»Warum bist du so böse, Helmut?« fragte Andrea.

»Ich bin nicht böse. Ich will nicht mehr zuschauen, wie du leidest und dich nervös machst. Wir werden dadurch um etwas sehr Schönes gebracht, Andrea, nämlich um die Vorfreude auf unser Kind, das wir haben wollen.«

»Du hattest doch Sonja aber immer gern«, sagte sie leise.

»Ich habe sie auch jetzt noch gern, wenn sie dir und auch mir das Leben nicht mehr schwermachen würde. Es ist drei Jahre her, daß dies geschah, und es hat uns alle mitgenommen, obgleich wir da noch nicht verheiratet waren. Sonja ist fünfundzwanzig und Bernd ein Pfundskerl. Wenn es so weitergeht, packt er seine Sachen.«

»Und du auch?« fragte sie aufschluchzend.

Er nahm sie in die Arme. »Nein, mein Liebling, ich nicht. Wir werden unser Kind haben, wenn du dich jetzt nicht mehr beeinflussen läßt und zu Dr. Leitner gehst. Aber vielleicht sprichst du lieber erst mal mit Dr. Norden, der mir ja sehr geholfen hat. Ich habe sowieso nie verstanden, daß du auch zu Dr. Kobelka gegangen bist, nachdem Sonja so üble Erfahrungen gemacht hat.«

»Aber er hat sich dann doch so nett um sie gekümmert.«

»Was heißt denn gekümmert? Ein schlechtes Gewissen wird er gehabt haben. Da kann man nett sein, genauso wie Herr Rogner. Ich bin gespannt, ob er jetzt noch auf die genaue Terminerfüllung pochen wird. Heute nachmittag wird er ja kommen. Und jetzt regst du dich ab und läßt dir alles durch den Kopf gehen.«

So energisch hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Andrea kam ins Grübeln. Eigentlich wollte sie aufbegehren, aber sie fand nicht die richtigen Worte. Sie liebte ihren Mann, und Dr. Norden war ihr keineswegs unsympathisch gewesen. Und außerdem war Helmut ihr wichtiger als sie selbst.

Sie behandelte ihn wie einen Schwerkranken, und obgleich ihm das auch nicht recht war, ließ er es sich instinktiv gefallen, weil er fühlte, daß sie von sich selbst abgelenkt war. Er dachte ganz intensiv nach. Dr. Norden hatte ihm wirklich weitergeholfen.

*

»Das ist nun schon das fünfte Mal, daß ich über Kobelka Negatives erfahre«, sagte Dr. Norden zu seiner Frau Fee. »Man kann es doch nicht einfach hinnehmen.«

»Setz dich nicht wieder in die Nesseln, Daniel«, meinte Fee mahnend.

»Da ist ein netter Mann und eine reizende kleine Frau«, sagte Daniel, »und wenn sie jetzt nicht den Mut hat, den Arzt zu wechseln, sehe ich schwarz.«

»Man könnte es auch so auslegen, daß du für Schorsch Reklame machen willst«, meinte Fee.

»Er braucht keine Reklame. Er ist dauernd überbelegt. Zehn Betten mehr könnte er stets belegen. Aber Kobelka scheint es piepegal zu sein, ob die Babys am Leben bleiben. Mir kommt das sehr merkwürdig vor.«

»Aber das Entbindungsheim hat doch keinen schlechten Ruf«, sagte Fee nachdenklich.

»Und drei Belegärzte«, warf Daniel ein. »Man müßte doch mal nachhaken, wie zuverlässig die sind.«

Fee warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das bedeutet also, daß ich nachhaken soll«, sagte sie.

»Nicht so direkt, Schätzchen. Aber vielleicht könntest du dich ein bißchen umhören.«

»Mal sehen, was sich machen läßt. Alle werdenden Mütter, die ich kenne, gehen zu Schorsch.«

Sie überlegte angestrengt. »Vielleicht sollte ich mit Frau Baumgart mal direkt sprechen. Ich kann verstehen, daß sie um ihre Existenz kämpft. Dr. Baumgart war ein guter Arzt. Es ist tragisch genug, daß er so früh starb. Es wäre unfair, ihr noch Schwierigkeiten aufzuhalsen.«

»Das will ich nicht, Fee. Aber es geht jetzt um Kobelka. Nein, nicht um ihn, sondern um seine Patientinnen. Ich möchte mir nicht den Vorwurf machen, daß ich Augen und Ohren verschlossen habe.«

»Es könnten unglückselige Zufälle sein«, sagte Fee nachdenklich.

»Das bestreite ich nicht.«

»Es könnte auch Verleumdung sein, was man so redet.«

»Auch das ist möglich. Du kennst mich doch, Fee. Ich denke nicht daran, einem Kollegen den Strick um den Hals zu legen, wenn ich nicht schlüssige Beweise habe. Ich kenne auch die Schwester von Frau Sommer nicht. Ich weiß nur, daß er, zumindest allem Anschein nach, nichts getan hat, um diese kleine Frau Sommer seelisch aufzurichten. Sie ist im siebenten Monat.«

»Jeder Arzt nimmt sich nicht so viel Zeit für seine Patienten wie du, Daniel«, sagte Fee. »Und manche Frauen machen auch wirklich Theater, wenn sie ein Kind erwarten.«

»Weil sie sich Geltung verschaffen wollen, Fee, aber ich glaube sagen zu können, daß Frau Sommer nicht zu dieser Kategorie gehört. Sie liebt ihren Mann, und er ist sehr besorgt um sie. Vielleicht macht er sich sogar auch ein bißchen zuviel Sorgen. Auf jeden Fall läßt es mich nicht kalt, wenn eine werdende junge Mutter unter Zwangsvorstellungen leidet.«

*

Fee wußte das nur zu gut, und sie wußte auch, wie er sich damals über Achim Rogner aufgeregt hatte, obgleich er nicht dabeigewesen war. Danny hatte es ihm natürlich aufgeregt berichtet, und Daniel hatte gemeint, daß diesem Rüpel doch ein richtiger Denkzettel gebührt hätte. Fee dagegen hatte gesagt, daß er es sicher nicht wieder tun würde, aber Achim hatte nichts dazugelernt.

Ob er an diesem Tag etwas dazulernte, blieb noch offen. Allerdings bekam er von seinem Vater eine Abreibung, die sich gewaschen hatte. So wütend war Erwin Rogner noch nie gewesen. Freilich spielte es auch eine Rolle, daß der Betroffene ausgerechnet Helmut Sommer war. Ihm jetzt Zugeständnisse machen zu müssen, paßte dem Direktor Rogner nicht in den Kram.

»Nun bekommt Tini das große Zimmer, damit du es weißt«, herrschte er seinen Sohn an. »Und das Fahrrad kommt in den Keller, bis du Anstand gelernt hast.«

»Da ist aber kein Fahrradweg, Papa«, heulte Achim los.

»Da ist überhaupt noch kein Weg, und außerdem ist es die linke Seite gewesen, auf der du gefahren bist. Es zeugt doch von bodenloser Dummheit, wenn du das nicht mal überblickst. Jetzt setzt du dich erst mal auf den Hosenboden, damit du wenigstens nächstes Jahr den Sprung auf das Gymnasium schaffst. Mama hatte ganz recht gehabt. Ich hätte dir das Fahrrad nicht kaufen sollen. Im Straßenverkehr muß man eben die Augen offen haben und auch den nötigen Verstand.«

Frau Rogner atmete insgeheim auf. Endlich einmal hatte der Herr des Hauses ein Machtwort gesprochen, und sie wagte nun auch, ihre Meinung einmal laut zu äußern.

»Du kannst Herrn Sommer gegenüber ruhig etwas entgegenkommender sein«, sagte sie. »So eilig ist es mit dem Umzug wirklich nicht. Wir haben noch Termin bis zum Jahresende.«

»Wenn ich das laut gesagt hätte, wäre das Haus dann auch noch nicht fertig«, konterte er.

»Herr Sommer kann nichts dafür, daß der Bichler krank geworden ist. Sonst hat alles geklappt.«

Erwin Rogner sagte nichts mehr. Er war grantig. Er sah insgeheim auch ein, daß er zu nachgiebig gewesen war, was Achim anbetraf. Mit den Mädchen hatte er doch keine Scherereien. Sie waren gut geraten, Tini ebenso wie Ulla. Und wie oft hatte er an ihnen ausgelassen, wenn Achim etwas angestellt hatte. Erwin Rogner hatte an diesem Tag jedenfalls etwas dazugelernt, und als er zu den Sommers kam, war er mehr als entgegenkommend.

»Ich wollte ja keine große Affäre daraus machen«, sagte Helmut Sommer. »Ich wußte auch gar nicht, daß es Ihr Sohn ist. Aber unwillkürlich denkt man ja auch daran, was einem Kind passieren könnte, wenn es nicht aufpaßt.«

Das war allerdings sehr diplomatisch ausgedrückt.

Rogner tupfte sich die Schweißtropfen von der Stirn.

»Sie haben aber die Schmerzen«, sagte er. »Wie können wir uns einigen, Herr Sommer? Es wäre ja keinem damit gedient, wenn es an die große Glocke gehängt werden würde.«

»Sie müßten mir etwas mehr Zeit geben, Herr Rogner«, sagte Helmut Sommer, »so vierzehn Tage. Einen Ersatz für Herrn Bichler habe ich schon in Aussicht.«

»Ich wollte aber Bichler haben. Er ist ein guter Mann«, sagte Rogner.

»Aber er ist sehr krank.«

»Tatsächlich? Er ist doch noch nicht so alt.«

Als ob Alter etwas mit Krankheit zu tun hätte, dachte Helmut Sommer. Doch anscheinend war Krankheit für Herrn Rogner unbekannt.

»Hoffentlich ist er gut versichert«, fuhr Rogner fort. »Nicht, daß Sie meinen, daß ich als Direktor einer Versicherungsgesellschaft jetzt Reklame machen möchte. In unserem Fall wäre es mir auch bedeutend lieber, wir würden uns unter der Hand einigen, Herr Sommer. Was meinen Sohn anbetrifft, regle ich lieber alles persönlich. Na ja, in dem Alter stellen Buben schon manches an. Er hat seine Abreibung bekommen, und ich werde nicht mehr so nachsichtig sein. Übrigens soll meine Tochter Tini nun doch das größere Zimmer bekommen. Geht es noch zu machen, daß da der hellere Teppichboden hineingelegt wird?«

»Doch, das ist leicht zu ändern«, erwiderte Helmut Sommer grinsend, weil Achim nun doch anscheinend nicht mehr der King war. Für Lausbubenstreiche hatte er schon Verständnis, aber für diese Frechheit, die der Junge an den Tag gelegt hatte, war es nicht angebracht.

»Mit dem Radfahren ist es auch vorbei«, sagte Rogner. »Er wird Manieren lernen müssen. Die Arztrechnung aber bitte an mich persönlich.«

»Ich bin versichert, auf dem Bau passiert immer mal was«, sagte Helmut Sommer. »Sie lassen mir ein wenig Zeit, und inzwischen ist meine Hand wieder verheilt.«

»Aber im Weihnachtsmonat möchte ich nicht gerade umziehen«, wandte Rogner ein.

»Bis dahin ist noch Zeit. Anfang November ist bestimmt alles fertig.«

»Man bekommt so schwer zuverlässige Leute. Es tut mir wirklich leid, daß Herr Bichler krank ist.«

»Aber es ist nicht zu ändern. Sein Sohn wird einspringen.«

»Sein Sohn? Der ist doch Ingenieur.«

»Er versteht soviel wie sein Vater. Ich habe schon mit ihm telefoniert. In diesem Fall wird er die Installationen fertigstellen.«

»Wegen Tini«, brummte Rogner.

Ach, dahin läuft der Hase, dachte Helmut Sommer. »Der junge Bichler ist aber ein sehr netter Mensch«, sagte er.

»Na ja, aber als Vater hat man doch gewisse Vorstellungen. Das wird Ihnen auch mal so gehen, wenn Sie Töchter haben, Herr Sommer.«

»Ich kann auch einen anderen Installateur nehmen, aber dann dauert es noch länger.«

»Nein, nein, das lassen Sie nur. Als Vater hat man ja sowieso nicht viel zu sagen, wenn die Mädchen mal neunzehn sind. Jetzt sind sie ja schon mit achtzehn mündig.«

»Sie haben nette Töchter, Herr Rogner. Jetzt können Sie sich mehr um den Sohn kümmern.« Das konnte er sich doch nicht verkneifen, und Rogner schien verstanden zu haben.

»Den werde ich mir noch mal vornehmen. Also, wir sind uns einig? Anfang November können wir einziehen?«

»Bestimmt. Und es bleibt dabei, daß der helle Teppichboden in das große Zimmer kommt?«

»Ja, dabei bleibt es.«

Helmut Sommer atmete auf. Das war geschafft. Und nun wußte er auch, warum der junge Bichler selbst einspringen wollte, Tinis wegen!

Er dachte zurück. Andrea war knapp achtzehn gewesen, als er sie kennenlernte. Für ihn hatte es gleich festgestanden, daß sie die richtige Frau für ihn sein würde. Vielleicht war es bei Rainer Bichler und Tini Rogner auch so.

Wenn bloß mit dem Baby alles gutgeht, dachte er nun schon wieder besorgt.

Und dann sprach er mit Andrea über Dr. Leitner. Sie war beruhigt, daß er mit Herrn Rogner keine Schwierigkeiten mehr hatte und deshalb zu jedem Zugeständnis bereit. Überhaupt war sie an diesem Abend ruhiger als sonst. Er fragte auch nicht dauernd, wie es ihr gehe. Ob das der Grund war?

Wie gewohnt rief Sonja gegen neun Uhr an. Helmut bekam schon wieder das große Kribbeln, aber Andrea sagte sehr ruhig und bestimmt: »Es geht mir wirklich gut, Sonja. Wir wollen jetzt einen Film ansehen.«

Das überraschte Helmut doch, denn der Fernseher war nicht eingeschaltet. Aber da Andrea Lügen und Ausflüchte haßte, schaltete sie ihn zur Beruhigung ihres Gewissens ein. Es war eine Unterhaltungssendung mit viel Tamtam, das sie beide nicht mochten, aber sie schauten es sich doch eine Weile an, bevor sie dann zu Bett gingen.

»Was macht deine Hand, Helmut?« fragte Andrea.

»Geht bestens«, erwiderte er, doch er dachte, wozu das alles gut gewesen sein mochte.

Andrea schlief in dieser Nacht verhältnismäßig ruhig.

*

Dr. Norden war sehr erstaunt, als Helmut Sommer schon am nächsten Morgen anrief und ihn fragte, ob seine Frau zu ihm kommen könne.

Ob es nicht besser sei, wenn sie gleich zu Dr. Leitner fahren würden, fragte er, aber Helmut erwiderte, daß sie lieber erst mit ihm sprechen möchte.

Dann wäre es am besten, wenn sie gegen halb zwölf Uhr kommen würde, meinte Dr. Norden.

Im Hause Rogner hatte der Tag wie jeder andere begonnen. Achim fand seinen Vater so friedfertig, daß er meinte, es sei bereits wieder alles vergessen. Ohne zu fragen, stieg er in den Keller, um sein Rad zu holen. Er fand es abgeschlossen und zusätzlich noch mit einer Kette an einem Rohr befestigt.

Achim gab noch nicht auf. »Kann ich mein Rad haben, Papa?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Erwin Rogner. »Du läufst.«

»Es ist aber schon so spät«, maulte der Junge.

»Wenn du dich gleich auf den Weg machst, kommst du noch rechtzeitig«, erklärte sein Vater streng.

»Du könntest ihn ja mitnehmen«, schlug Lucy Rogner versöhnlich vor.

»Was ist denn eigentlich passiert?« fragte Tini.

»Achim ist mal wieder durch die Gegend gerockert«, sagte die zwei Jahre jüngere Ulla.

Das Wort »rockern« konnte Erwin Rogner nicht vertragen. Er knurrte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Eigentlich ist es mir schlecht«, versuchte es Achim nun auf andere Weise.

»Komm mir nicht mit der Tour«, sagte sein Vater wütend, »sonst lernst du mich mal richtig kennen.«

Lucy Rogner bewies diplomatisches Geschick, mit männlichen Familienmitgliedern fertig zu werden.

»Dann rufe ich Dr. Norden. Er hat einen guten Eindruck gemacht.«

Aber das wollte Achim doch nicht riskieren. Vor Dr. Norden hatte er einen höllischen Respekt, seit dieser ihn damals ordentlich ins Gebet genommen hatte.

»So schlimm ist es nicht«, gab er klein bei.

Erwin Rogner wollte in der Frühe seine Ruhe haben und Zeitung lesen. Aber an diesem Morgen wurde er von vielerlei Gedanken bewegt.

»Der alte Bichler ist anscheinend sehr krank«, bemerkte er.

»So alt ist er doch nicht«, warf Lucy ein.

Tini blickte auf den Teller. »Er ist in der Klinik«, sagte sie leise.

Irritiert blickte Lucy ihren Mann an, weil der sich nicht dazu äußerte.

»Der junge Bichler wird die Installationen machen«, erklärte er beiläufig.

»Tini geht mit ihm«, trumpfte Achim auf, damit auch seine Schwester eine Abreibung bekommen sollte. Aber die blieb aus.

»Tini ist neunzehn«, sagte Erwin Rogner. »Sie ist mündig und verdient ihr eigenes Geld. Und mit ihr haben wir nie Scherereien gehabt.«

Tinis erblaßtes Gesicht rötete sich. Sie warf dem Vater einen dankbaren Blick zu.

»Du kannst ihm ja gut zureden, damit es ein bißchen schneller geht«, sagte er. »Mir ist diese Geschichte mit Herrn Sommer sehr peinlich. Schließlich erwartet seine Frau ein Baby und kann Aufregungen nicht vertragen.«

Tini nickte nur beklommen, dann stand sie auf. »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie.

»Sie trifft sich jeden Morgen mit dem Bichler«, trumpfte Achim auf.

»Halt endlich mal deinen Mund!« herrschte ihn sein Vater an. »Du scheinst ja einen feinen Umgang zu haben.«

Die drei weiblichen Familienmitglieder waren sprachlos. So was hatten sie noch nicht erlebt, und Achim spürte nun doch, daß es seinem Vater ernst war.

»Was meinst du, was uns blühen würde, wenn es einen anderen als Herrn Sommer getroffen hätte, Bürschchen? Und es hätte noch bedeutend schlimmer ausgehen können. Los, nimm deine Schultasche, wir fahren jetzt!«

Tini war schon gegangen. Sie traf sich tatsächlich jeden Morgen mit Rainer Bichler. Er nahm sie stets in seinem Wagen mit zu ihrem Büro.

Er arbeitete ganz in der Nähe in einem Ingenieurbüro. Sie hatten sich kennengelernt, als er noch keinen Wagen hatte und ebenso wie sie jeden Morgen mit der S-Bahn fuhr.

Schnell drückte er ihr einen Kuß auf die Wange.

»Wie geht es deinem Vater, Rainer?« fragte Tini.

»Ein bißchen besser. Aber es sah recht böse aus, und er wird noch lange nicht arbeiten können.«

»Papa hat gesagt, daß du die Installationen bei uns machst«, sagte sie, »er war gar nicht gereizt.«

»Was du nicht sagst. Wahrscheinlich werde ich den Betrieb übernehmen müssen, Tini. Es muß ja weitergehen. Vater wird sonst überhaupt nicht mehr gesund.«

»Warum auch nicht«, meinte sie.

»Dir würde es nichts ausmachen?«

»Ich wüßte nicht weshalb.«

»Ich meine nur, daß es dann doch Schwierigkeiten gibt, wenn wir heiraten wollen.«

»Papa hat gesagt, daß ich mündig bin und mein eigenes Geld verdiene«, erwiderte sie mit einem flüchtigen Lächeln.

»Bei dem Herrn Direktor scheint sich eine Sinneswandlung vollzogen zu haben, oder er ist nur darauf bedacht, daß das Haus schnell fertig wird.«

»Papa hat sich wegen Achim schrecklich geärgert. So hart ist er noch nie mit ihm umgesprungen.«

»Es wird Zeit. Er treibt sich mit einer Clique herum, die nicht der richtige Umgang ist.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Tini erschrocken. »Warum hast du bisher nichts davon erwähnt?«

»Ich bin keine Klatschbase. Es ist auch nicht meine Angelegenheit. Außerdem brauchst du dich nicht wegen Papas Liebling in die Nesseln zu setzen.«

»Aber Achim ist doch mein Bruder«, sagte sie. »Was ist das für eine Clique?«

»Solche Rüpel, die nichts anderes im Sinn haben, als ältere Leute zu schikanieren, mit Rollbrettern vor ihren Füßen herumzufahren und überall mitgehen lassen, was nur greifbar ist.«

»Um Gottes willen!« rief Tini aus. »So etwas würde Achim doch nicht tun!«

»Schlechte Beispiele verderben gute Sitten«, sagte Rainer. »Sie sind jetzt in einem dummen Alter, aber gerade da ist es nicht angebracht, von einem Extrem ins andere zu fallen bei der Erziehung. Dann werden diese Burschen erst recht aufsässig.«

»Papa ist richtig sauer«, sagte Tini. »Ich hätte nie gedacht, daß er mal so mit Achim umspringen würde.«

Und als Achim von seinem Vater bei der Schule abgesetzt wurde, mußte er nochmals Ermahnungen einstecken, aber noch schlimmer traf es ihn, als seine Klassenkameraden ihn deswegen hänselten, weil er mit dem Auto gebracht worden war.

»Ich darf nicht radfahren, weil mir was passiert ist«, rechtfertigte er sich. Und er gab allen anderen Schuld daran. Herrn Sommer, Dr. Norden, nur nicht sich selbst.

»Dann borgst du dir halt ein Rad!« sagte Sepp, der als Anführer der Clique galt.

»Borgen? Keiner verborgt sein Rad«, maulte Achim.

»Doch nicht richtig borgen«, meinte Sepp grinsend. »Was meinst du, wie viele Räder nicht angeschlossen sind. Wir wollen doch heute das Rennen veranstalten. Also, schau zu, daß du ein Rad bekommst, sonst bist du ausgeschlossen. Feiglinge können wir nicht brauchen.«

Als Feigling wollte Achim nun gewiß nicht gelten, und gegen seinen Vater hegte er an diesem Tag einen tiefen Groll.

*

Pünktlich halb zwölf Uhr kam Andrea mit ihrem Mann in die Praxis. Dr. Norden hatte Loni schon Bescheid gesagt, und so wurde sie gleich in den Untersuchungsraum geführt. Helmut wollte schnell zur Baustelle fahren und sie dann wieder abholen.

An diesem Vormittag war es verhältnismäßig ruhig zugegangen nach den vorangegangenen stürmischen Tagen. Dr. Norden mußte noch eine Patientin abfertigen, dann konnte er sich Andrea widmen.

Er erfuhr von ihr die Vorgeschichte ihrer Ängste. Ihre Schwester Sonja war auch zweiundzwanzig gewesen, als sie ihr Baby erwartete.

»Eine normale Schwangerschaft?« fragte Dr. Norden.

»Sie hatte keine besonderen Beschwerden«, erklärte Andrea, »erst drei Wochen vor dem Termin setzten die ein. Dr. Kobelka hielt es für richtig, daß sie ins Entbindungsheim ging. Da lag sie dann und fühlte sich immer schlechter. Der Geburtstermin rückte heran, aber es kamen keine Wehen. Sie wurden künstlich eingeleitet, hielten eine Nacht an und setzten dann wieder aus. Zu einem Kaiserschnitt entschloß sich Dr. Kobelka nicht.«

»Warum nicht?« fragte Dr. Norden.

»Ich weiß es nicht. Ich habe darüber gar nicht viel erfahren. Das Kind wurde mit der Saugglocke geholt, nachdem die Wehen wieder in Gang gesetzt waren. Mehr weiß ich wirklich nicht. Nur, daß es eigentlich ein kräftiges Kind war, allerdings ein bißchen blaß. Mit Sonja konnte man darüber nicht sprechen. Sie leidet immer noch, und natürlich ist sie nun sehr besorgt um mich.«

»Meinen Sie nicht, daß sie etwas zu besorgt sein könnte?«

»Ich kann es ihr nicht übelnehmen. Für mich wäre es auch schrecklich, wenn ich mein Kind verlieren würde. Wir freuen uns so sehr darauf.«

»Die Freude ist geteilt, wenn Sie in ständigen Ängsten leben und sich Gedanken machen. Sie sind nie richtig entspannt. Warum sind Sie auch zu Dr. Kobelka gegangen?«

»Er hat sich dann so nett um Sonja gekümmert. Meine Eltern kennen ihn von früher. Da ist man irgendwie verpflichtet. Es hätte dann ja auch so ausgesehen, als hätten wir ihm die Schuld zugeschrieben. Das mag man doch nicht. Mein Mann hat mir zugeredet, daß ich mich doch von Dr. Leitner untersuchen lasse. Aber eigentlich bin ich schon im Entbindungsheim angemeldet. Sie verstehen schon, daß alles ein bißchen peinlich ist.«

»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Frau Sommer«, sagte Dr. Norden.

»Ja, ich möchte mich gründlich untersuchen lassen. Man liest ja so viel über die neuesten Methoden, ohne sich richtig etwas darunter vorstellen zu können. Versäumen möchte ich nichts. Könnten Sie vielleicht mit Dr. Leitner vorher sprechen?«

»Er nimmt es nicht übel, daß Sie vorher bei einem anderen Arzt waren«, erwiderte Dr. Norden lächelnd. »Ich glaube nicht, daß organisch bei Ihnen etwas nicht in Ordnung ist, aber eine Kontrolle wäre schon angebracht. Je ruhiger Sie der Geburt entgegensehen, desto besser ist es für Sie und für das Baby. Ich rufe Dr. Leitner gern an und mache einen Termin für Sie mit ihm aus.«

»Ja, vielen Dank«, sagte Andrea errötend.

Dann kam ein Anruf, der ihrem Gespräch ein schnelles Ende setzte. Dr. Norden wurde zu einem Unfall gerufen.

»Ich gebe Ihnen dann telefonisch Bescheid, Frau Sommer«, sagte er. »Sie verstehen bitte, daß ich mich beeilen muß.«

»Es wird doch nichts mit Helmut sein?« fragte sie sogleich ängstlich.

Aber dieser Sorge wurde sie schnell enthoben, da ihr Mann schon im Vorzimmer wartete.

Dr. Norden fuhr eilends zu der Unfallstelle, die ganz in der Nähe war, an der Kreuzung Wald- und Flurstraße, und was er dort vorfand, versetzte ihn in Erschrecken.

Es waren zwei Buben, die mit ihren Fahrrädern von einem Personenwagen überfahren worden waren. Das Martinshorn des Notarztwagens war auch schon zu vernehmen, aber Leute, die ihn kannten, hatten gleich auch ihn angerufen.

Während der Fahrer des Autos seine Unschuld beteuerte, sah Dr. Norden, daß es sich bei einem der Buben um Achim Rogner handelte. Er war verletzt. Für den andern, das sollte sich später herausstellen, kam jede Hilfe zu spät. Es war Sepp Schindelbeck, dessen Mutter auch eine Patientin von Dr. Norden war.

Also hat Rogner dem Jungen doch wieder erlaubt, mit dem Rad zu fahren, dachte Dr. Norden bestürzt, denn den Rädern schenkte er keine Beachtung, und so konnte er nicht feststellen, daß Achim nicht mit seinem Rad unterwegs gewesen war.

»Wie die Verrückten sind sie gefahren«, verteidigte sich der Autofahrer.

»Hin und her ist es schon seit einer Stunde gegangen«, sagte eine Frau. »Aber die Rüpel lassen sich ja nichts sagen.«

Dr. Norden hörte nicht zu. Er tat für Achim, was augenblicklich möglich war, während sein Kollege, der mit dem Notarztwagen gekommen war, verzweifelte Wiederbelebungsversuche bei Sepp machte, jedoch ohne Erfolg.

Das war nun das traurige Ende eines Radrennens, für das sich Achim tatsächlich ein Rad »geliehen« hatte. Davon wußte Dr. Norden noch nichts, aber er konnte sich vorstellen, was die Rogners nun durchmachen würden.

Achim wurde auf schnellstem Wege ins Kreiskrankenhaus gefahren. In der Behnisch-Klinik war derzeit kein Platz, das wußte Daniel von seinem Freund Dieter Behnisch, der ihm vorsorglich schon Bescheid gesagt hatte, ihn selbst in Notfällen nicht in Anspruch zu nehmen. Zerreißen konnten sie sich in der Privatklinik nicht. Es ging nicht an, daß man Patienten auf den Gang schob. Immer mehr hatte sich der Trend entwickelt, daß die Patienten kleinere und möglichst Privatkliniken bevorzugten, wenn es sich irgend ermöglichen ließ. Dr. Behnisch war dazu überaus beliebt. Nun, für Achim mochte es gut sein, in ein Krankenhaus zu kommen, in dem alle Fachärzte unter einem Dach waren, denn auch er war in einem lebensgefährlichen Zustand.

Daniel Norden hatte die traurige Pflicht übernommen, Achims Eltern zu benachrichtigen. Es war besser so, als wenn plötzlich ein Polizist vor der Tür stand. Frau Schindelbeck war da aus härterem Holz geschnitzt. Sie hatte mit Mann und Kindern schon so viel Scherereien gehabt, daß sie nur schwer zu erschüttern war. Dr. Norden hatte sich immer wundern müssen, wie diese geplagte Frau mit dem ihr auferlegten Schicksal fertig wurde. Eine fleißige, ordentliche Frau, die wohl noch niemals richtig froh hatte werden können in ihrem bescheidenen Leben.

Ihr Mann war Gelegenheitsarbeiter, aber Gewohnheitstrinker, ihre älteste Tochter war leichtfertig, die nur heimkam, wenn ihr ein Mann mal wieder alles Geld abgenommen hatte. Und die beiden Söhne, Gustl und Sepp, hatten nichts wie Unsinn im Kopf.

Für Sepp war dies nun zu Ende. Es blieb zu hoffen, daß Frau Schindelbeck nun wenigstens an dem kleinen Karlchen ein bißchen Freude haben würde, der ein Nachkömmling war, und den sie zuerst gar nicht hatte haben wollen. Mit Frau Schindelbeck wollte Daniel sprechen, wenn er die Rogners benachrichtigt hatte.

Mit gemischten Gefühlen fuhr er zu ihnen, aber er traf nur Frau Rogner an, die schon verzweifelt auf Achim wartete. Ulla war gerade aus der Schule gekommen und hatte gemeint, daß er nun aus purem Trotz herumstreunen würde.

Nun war Dr. Norden gekommen. Verstört blickte ihn Frau Rogner an.

»Kommen Sie wegen Herrn Sommer?« fragte sie bestürzt. »Ist seine Hand schlimmer geworden?«

»Nein, ich muß Ihnen leider eine andere schlechte Nachricht bringen, Frau Rogner. Achim ist mit dem Rad verunglückt«, erwiderte er.

»Das ist doch unmöglich!« rief sie aus. »Das Rad steht im Keller. Mein Mann hat es sogar angekettet.«

»Dann muß er sich eins geliehen haben«, sagte der Arzt. »Ich wurde zur Unfallstelle gerufen. Achim ist ins Kreiskrankenhaus gebracht worden.«

Frau Rogner schlug die Hände vor das Gesicht. »Es ist doch nicht schlimm«, stammelte sie. »Bitte, sagen Sie, daß es nicht schlimm ist.«

»Ich habe geahnt, daß es mal so kommen würde«, warf Ulla ein.

Dr. Norden sah sie an. »Bitte, regen Sie Ihre Mutter nicht auch noch auf, Fräulein Rogner. Es ist ziemlich schlimm.«

»Und mein Mann ist heute auswärts«, flüsterte Frau Rogner unter Tränen. »Warum muß uns der Bub nur so viele Sorgen machen?«

»Wir bestellen ein Taxi und fahren zu Achim, Mama«, sagte Ulla. »Er ist doch wie ’ne Katze. Er hat sieben Leben.«

Das war rauh gesagt, doch gut gemeint. Daniel Norden hoffte nur, daß es auch so sein würde. Daß Sepp tot war, sagte er nicht.

Ulla hatte schon den Telefonhörer in der Hand, um ein Taxi zu bestellen. Er verabschiedete sich mit ein paar aufmunternden Worten, die ihm aber nur mühsam über die Lippen kamen. Dann fuhr er zu Frau Schindelbeck.

Sie wußte schon Bescheid, das sah er ihrem verhärmten Gesicht an. Sie war gerade vierzig Jahre alt, aber unzählige Sorgenfalten durchzogen bereits ihr Gesicht. Schmächtig war sie und schon gebeugt.

»Ich mein’, vielleicht ist es besser so, als wenn er ganz verkommen wär’«, murmelte sie. »Ich hab’ nichts machen können, Herr Doktor. Woher soll’s denn auch kommen? Ich habe mir damals eingebildet, nur der Gustav müßte es sein, wo doch meine Eltern so dagegen waren und immer schimpften. Ich hab’s nicht anders gewollt, nun muß ich es tragen. Aber so wird es nicht weitergehen. Ich nehme das Karlchen und gehe weg. Ich mag nimmer. Der Kleine soll das nicht auch alles mitkriegen. Wenn ich nur wüßte, wohin ich gehen könnt’, wer mich noch nehmen würde…«

Hilfeflehend sah sie ihn an mit ihren trüben Augen, die schon lange keine Träne mehr kannten. Leergeweint waren sie in all dem Kummer, den sie auf ihren schmalen Schultern zu tragen hatte.

»Ich wüßte schon etwas, Frau Schindelbeck«, sagte Dr. Norden. »Auf der Insel der Hoffnung könnte man Sie brauchen, und Karlchen würde da auch in einer anderen Umgebung aufwachsen. Aber packen müßten Sie es halt.«

»Ich pack’ es, wenn der Sepp unter der Erde ist«, sagte sie. »Sonst gehe ich auch vor die Hunde, und dann hat Karlchen niemanden mehr. Herr Doktor, wenn Sie das noch für mich tun würden, mein Lebzeit würde ich Ihnen danken dafür.« Ihre Stimme zitterte. »Wenn der Gustav mich vorher nicht totschlägt«, fügte sie dann leise hinzu.

»Schlägt er Sie, Frau Schindelbeck?« fragte der Arzt erschüttert.

»Mei, man mag nicht darüber reden«, erwiderte sie. »Der Kleine soll halt nicht auch vor die Hunde gehen.«

Schindelbeck – irgendwie mochte der Name auch seine Bedeutung haben. Jedenfalls war mit ihr Schindluder getrieben worden. Das dachte Daniel Norden, als er heimwärts fuhr. Aber eine Chance mußte man dieser Frau doch noch geben, die sich für nichts und wieder nichts abgerackert hatte.

Fee Norden hatte dafür Verständnis, aber wofür hatte sie denn kein Verständnis? Sie verstand auch, daß Daniel an diesem Tag das Essen nicht schmeckte, obgleich Leni die Kalbsrouladen besonders gut geraten waren. Ihr tat der Fahrer des Autos leid, denn er hatte unter dem Schock nun genug zu leiden.

Es war ein Vertreter, der auch eine Familie zu versorgen hatte, der um seinen Führerschein fürchtete, der doch so wichtig war für seinen Beruf.

Zum Glück für ihn gab es Zeugen, die bereit waren zu schwören, daß er nicht schuldig war.

Aber wie konnte man vergessen, wenn einem so etwas widerfahren war? Dr. Daniel Norden hatte nicht vergessen, daß ihm einmal ein Junge bei starkem Regen blindlings in den Wagen gelaufen war, obgleich dabei nicht viel passiert war. Aber er fuhr immer ganz besonders vorsichtig, wenn es so stark regnete. An diesem Tag aber hatte es einen Toten und einen Schwerverletzten gegeben.

Für die Rogners kam hinzu, daß die Eltern des Jungen, dessen Fahrrad sich Achim angeeignet hatte, nur daran dachten, daß ihnen das Fahrrad ersetzt werden würde. Achim hatte ausgerechnet eines erwischt, das dem Sohn eines Mannes gehörte, der von der Versicherung, deren Direktor Erwin Rogner war, bei einem Schadensfall einmal nicht entschädigt worden war.

Dies alles sollte sich aber erst später herausstellen.

Als Erwin Rogner an diesem Abend heimkam, brach für ihn eine Welt zusammen. An das neue Haus dachte er nicht mehr.

*

So sehr betroffen war auch Daniel Norden von den Ereignissen dieses Tages, daß er fast vergessen hatte, mit Dr. Leitner über Frau Sommer zu sprechen.

Es war wieder Fee, die ihn daran erinnerte, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang. Fee wollte ihren Mann nur auf andere Gedanken bringen.

»Es wird jetzt so viel über den Biorhythmus geschrieben«, sagte sie ganz nebenbei. »Damit wird auch Geschäft gemacht.«

»Aber von Nachteil ist es nicht, wenn sich die Menschen damit beschäftigen«, sagte er.

»Ich muß gestehen, daß ich mich damit auch noch nicht beschäftigt habe«, meinte Fee.

»Du bist halt ein ausgeglichener Mensch, Liebling, aber es ist nicht wegzureden, daß jeder Mensch einem bestimmten Rhythmus unterliegt.«

»Soviel habe ich schon gelesen, daß der Körperrhythmus dreiundzwanzig Tage währt, der Seelenrhythmus achtundzwanzig Tage und der Geistesrhythmus dreiunddreißig Tage. Und Krisentage entstehen, wenn der Biorhythmus wechselt. Aber meinst du nicht, daß manch einer närrisch wird, wenn er sich dauernd damit beschäftigt?«

»Das ist genau wie mit den Horoskopen, Liebes«, erwiderte Daniel nachsichtig. »Bei beidem kann manches heraufbeschworen, anderes damit entschuldigt werden, daß es eben gar nicht anders sein kann. Für sich selbst nutzen können es nur Menschen, die intelligent genug sind, sich unter Kontrolle zu behalten. Ich bin kein Feind solcher Berechnungen, das weißt du, aber welcher Mensch weiß schon auf die Minute genau seine Geburtsstunde, und davon hängt doch auch so vieles ab, wenn man schon Computer füttern will. Es ist freilich verführerisch, wenn viel versprochen wird. Besser ist es, wenn man sich selbst kennenlernt oder es wenigstens versucht. Daß wir einem bestimmten Lebensrhythmus unterworfen sind, wissen wir, Fee. Ich bin nur glücklich, daß er bei uns übereinstimmend verläuft.«

Mit dieser Bemerkung zauberte er ein Lächeln um ihre Lippen. Und als er eine Hand unter ihren Nacken schob, sagte sie: »Jetzt ist uns beiden nach Schmusen zumute.«

»Genau, mein Schatz, aber erst muß ich mit Schorsch wegen Frau Sommer telefonieren. Mit deren Biorhythmus muß er sich nämlich ganz intensiv beschäftigen.«

*

Helmut Sommer hatte es am Abend von Rainer Bichler erfahren, daß Achim schwer verunglückt war. Sie hatten sich auf der Baustelle getroffen. Mit einem Gesellen wollte Rainer am Wochenende die Elektroinstallationen in dem Neubau durchführen.

»Das Haus interessiert ihn nun nicht mehr«, sagte Rainer zu Helmut, mit dem er sich schon seit längerer Zeit duzte.

»Steht es so schlecht um den Jungen?« fragte Helmut.

»Ziemlich. Jetzt kann man noch gar nichts sagen, aber wenn er durchkommt, wird ihm schon einiges bleiben. Ich muß mich um Tini kümmern, Helmut. Die Eltern sind in der Klinik. Sie nimmt sich alles viel mehr zu Herzen als Ulla. Aber das kommt davon, wenn man Kindern zuviel Freiheit läßt. Richte dich danach.«

»Wenn unseres nur erst mal da wäre«, meinte Helmut seufzend.

Sie gingen nebeneinander zu ihren Wagen.

»Weißt du, als ich noch ein Schuljunge war, habe ich Vater manchmal auch nicht verstehen wollen, weil er oft so streng war«, sagte Rainer. »Aber jetzt bin ich froh darüber. Meine Eltern wollten immer wissen, wo ich bin und was ich mache, und spielen durfte ich erst, wenn ich meine Sachen in Ordnung hatte. Helfen mußten wir Mutti auch.«

»Ich auch, und das geht einem in Fleisch und Blut über. Es ist halt nicht so gut, wenn erst zwei Mädchen da sind, von denen man es als selbstverständlich voraussetzt, daß sie helfen, und dann erst nach ein paar Jahren der Sohn kommt, auf den man als Vater insgeheim wohl doch wartet. Da wird man oft zu nachsichtig.«

»Aber so ein Unglück bringt eine ganze Familie aus dem Gleichgewicht«, sagte Rainer. »Ich weiß doch, wie es bei uns ist, seit Vater krank ist, alles negativ. Ich bin ganz froh, wenn ich am Wochenende arbeiten kann und Vater merkt, daß es weitergeht. Tini und mir hilft es außerdem. Na ja, und dann geht man auch ein bißchen in sich. Eine richtige Abreibung habe ich diesem Lauser schon gegönnt, aber so schlimm hätte es nicht gleich kommen brauchen.«

Mit einem festen Händedruck verabschiedeten sie sich.

*

Helmut wurde von Andrea erwartet. »Na, gar so gewissenhaft scheint Dr. Norden doch nicht zu sein, wie du meinst«, empfing sie ihn gleich. »Er hat mich noch nicht angerufen wegen des Termins bei Dr. Leitner. Ich bleibe doch besser bei Kobelka.«

Vorsichtig brachte ihr Helmut bei, was Dr. Norden

hatte durchstehen müssen, und da sagte sie nichts

mehr.

Aber schon am nächsten Morgen rief Dr. Norden sie an und sagte ihr, daß sie gegen drei Uhr von Dr. Leitner erwartet würde. Er entschuldigte sich, weil er sie nicht gleich gestern angerufen hatte.

»Ich weiß schon, was passiert ist«, sagte Andrea. »Helmut hat es mir erzählt. Hoffentlich bleibt der Junge am Leben.«

*

Erwin Rogner hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und zerbrach sich den Kopf, was er falsch gemacht haben könnte.

Schlimm war es freilich auch, daß sein Junge noch als Dieb hingestellt wurde.

Er saß am Tisch vor seinem unberührten Essen und starrte vor sich hin.

»Wie konnte er das nur tun, Lucy?« stöhnte er.

»Darum geht es jetzt nicht, Erwin«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Unser Junge soll leben, etwas anderes kann ich nicht denken. Und du brauchst dir auch keine Vorwürfe zu machen, daß du das Rad angeschlossen hast. Dann wäre es halt mit seinem eigenen passiert. Vielleicht wäre er damit noch schneller gewesen«, fügte sie leise hinzu.

»Aber daß er solchen Umgang hatte… Ich verstehe das nicht. Ausgerechnet die übelsten Kadetten hat er sich ausgesucht. Wär er doch nur schon heuer aufs Gymnasium gekommen.«

»Da sind auch nicht alle Engel«, meinte Lucy Rogner. »Man hört so allerhand. Unser Achim ist schlimm genug gestraft, Erwin, und wir mit ihm. Jetzt rede nur nicht mehr über Tini, daß dir die Freundschaft mit Rainer nicht recht ist. Er ist ein anständiger Bursch’ und hat ein Herz. Sie haben auch Sorgen um den Vater. Den halben Magen haben sie ihm herausoperieren müssen, und nun wird Rainer wohl den Betrieb übernehmen müssen.«

»Warum auch nicht?« murmelte Erwin Rogner. »Ich rede Tini nicht drein, Lucy. Ich bin froh, daß ich mit den Mädchen keinen Ärger habe. Ulla könnte ja ihre Zunge ein bissel in Zaum halten, aber…«

»Sie ist in Ordnung, Erwin«, unterbrach ihn Lucy. »Sie setzt sich durch. Nun iß doch endlich was. Es nützt doch nichts, wenn du nur nachdenkst.«

»Und wenn der Bub nun nie mehr ganz gesund wird, Lucy?«

»Dann müssen wir auch damit fertig werden.«

»Um was alles hab’ ich mich immer aufgeregt. Um jede Lappalie. Jetzt kommt es uns dick ein.«

»Er wird am Leben bleiben, Erwin. Ich glaube fest daran«, sagte Lucy.

»Hast du gewußt, daß er mit dem Schindelbeck zusammen war? Mit diesem Schlawiner?«

»Nein, ich habe es nicht gewußt. Er hat auch nie jemanden mit heimgebracht. Ich konnte doch nicht dauernd hinter ihm her sein.«

»Ich mache dir ja auch keine Vorwürfe, Lucy. Mir mache ich sie. Alles hat er bekommen, was er sich gewünscht hat. Freilich habe ich es mir anders vorgestellt mit ihm, aber ich habe es ihn doch nicht spüren lassen. Auch nicht, wenn er schlechte Noten geschrieben hat. Ich hab’ immer gedacht, das ist mein Sohn, auf den ich mich so gefreut habe. Sei mir nicht böse, meine Liebe, wenn ich ihn so wichtig genommen habe wie nichts sonst. Du bist so tapfer, Lucy, das hätte ich nie geglaubt.«

»Wir können jetzt nur beten, Erwin«, sagte sie leise. »Reib dich nicht auf. Mach dir nicht so viele Vorwürfe. Wir werden schon noch erfahren, warum er das Rad genommen hat. Den Leuten kommt es doch nur darauf an, daß sie es ersetzt bekommen.«

»Sie wollen uns an den Kragen, Lucy, das ist schlimm für mich, vielleicht auch für meine Stellung. Ich habe ja nicht nur an den Buben zu denken, auch an euch.«

»Darum mach dir jetzt keine Gedanken. Wir halten zusammen.« Sie strich ihm über das ergraute Haar. »Wir haben dreiundzwanzig Jahre zusammengehalten«, sagte sie. »Schau, Erwin, Frau Schindelbeck ist auch eine anständige Frau. Sie hat es nicht so gut getroffen wie ich. Fleißig und ehrlich war sie immer, aber an ihrer Familie hat sie keine Freude gehabt.«

»Aber daß sich unser Achim mit dem Jungen zusammengetan hat, will mir nicht in den Schädel hinein, Lucy. Warum nur, warum?«

»Der war halt so ein Kraftmeier, und allesamt waren sie in einem dummen Alter. Aber die, die weggelaufen sind, als es passiert war, sind auch nicht viel besser. Von denen hat keiner was getan, um Hilfe zu holen. Nur gut, daß Dr. Norden gleich zur Stelle war. Der Chefarzt im Krankenhaus hat auch gesagt, daß wir es in erster Linie ihm zu verdanken haben, wenn Achim am Leben bleibt.«

*

Das war Daniel von Dr. Reichert, dem Chefarzt, auch schon gesagt worden, als er sich bei ihm nach Achims Befinden erkundigte, was ihm nicht nur Pflicht war, sondern ein Anliegen. Schließlich handelte es sich um ein Kind, mochte es auch schon allerhand angerichtet haben.

So viele junge Menschen waren schon deshalb vollends unter die Räder gekommen, weil man kleine Schandtaten in Bausch und Bogen verurteilt hatte. Wie groß war die Verführung, manchmal war es auch der Wunsch, nicht abseits zu stehen. Man konnte einen jungen Menschen erst dann richtig beurteilen, wenn man die Gründe erforscht hatte, die ihn auf Abwege getrieben hatten. Dr. Norden hatte es schon oft erlebt, daß aus einem Nichtsnutz ein arbeitsamer und verantwortungsbewußter Mensch geworden war, wenn er zur rechten Zeit die richtige Hilfe bekam.

Er hatte es sich nie leichtgemacht, wenn es um Kinder ging. Bei den erwachsenen Patienten konnte man es eher beurteilen, wie sie selbst zum Leben und zur Umwelt standen. Aber bei Kindern?

Achim Rogner hatte Nöte nie kennengelernt. Seine Eltern führten eine harmonische Ehe, seine Schwestern waren gescheite Mädchen.

Ihm war das Lernen nicht so leichtgefallen wie ihnen, aber sein Vater hatte das vorausgesetzt. Dieses Bild hatte sich Dr. Norden schon von der Kindheit Achims gemacht.

Mehr noch hatte er dann von Frau Rogner erfahren. Achims Schulfreunde waren allesamt aufs Gymnasium gegangen, sie hatten es geschafft, er nicht. Warum nicht? mochte er sich überlegt haben. Und so hatte er dann versucht, sich auf andere Weise zu beweisen. So wie es Sepp getan hatte, vor dem alle Furcht hatten.

»Weißt du, was ich mir denke, Fee?« fragte Daniel.

»Und?« fragte sie zurück.

»Ich denke über Achim nach. Was in dem Jungen vor sich gegangen sein mag.«

»Ich habe ebenfalls darüber nachgedacht«, sagte Fee. »Schließlich werden unsere Söhne auch heranwachsen und vielleicht in schlechte Gesellschaft geraten.«

»Sie werden hoffentlich immer wissen, daß wir zu jeder Zeit für sie da sind«, sagte Daniel. »Sie können mit uns über alles reden. Und wir werden niemals ein Kind bevorzugen.«

»Wissen wir das so genau, Daniel? Wir wollen es doch lieber ganz realistisch betrachten. Wie kann es denn geschehen, daß Kinder aus völlig normalen, harmonischen Familien Terroristen werden?«

»Das wird mir immer unbegreiflich bleiben, Fee. Aber uns…«

Fee schaute ihn nachdenklich an. »Du wolltest sagen, daß uns das nicht passieren kann? Woher wollen wir das wissen? Wir können für unsere Kinder nur das Beste wollen und das Bestmögliche tun, aber eines Tages sind sie erwachsen, und wir haben keinen Einfluß mehr auf sie. Ich möchte es nicht denken, aber ich muß es denken in dieser Zeit.

Und was wissen wir schon, was in zehn, zwanzig Jahren sein wird, wie dann die Welt ausschauen wird? Ich habe auch über Achim nachgedacht. Er hatte alles – einen Vater, der ihm jeden Wunsch erfüllte, eine fürsorgliche Mutter, ein schönes Heim, jeden Tag gutes Essen. Und dann kam er mit Jungs zusammen, die all dies nicht hatten, und denen fühlte er sich unterlegen. Von dem Standpunkt muß man es doch auch betrachten, Daniel. Da war Sepp, das Kind eines Trinkers, der es zu nichts gebracht hat. Aber Sepp konnte andere tyrannisieren. Er gab den Ton an. Frau Schindelbeck hatte im Grunde Angst vor ihm, manche Mütter haben Angst vor ihren Kindern. Die arme Frau hatte doch auch keinen Menschen, mit dem sie reden konnte. Sie wurde gemieden. Sie war nur dazu gut, Arbeiten für andere zu verrichten. Mehr war sie nicht wert, nicht in den Augen unserer Wohlstandsgesellschaft. Wo und wann hat sie schon mal ein freundliches Wort gehört?«

»Auf der Insel wird sie es hören, Fee«, sagte Daniel.

»Wenn es nicht schon zu spät ist.«

»Es ist nie zu spät, mein Liebes. Es wird auch für Achim nicht zu spät sein.«

»Wenn er wieder gesund wird. Aber wenn er nun gelähmt bleibt, oder wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert? Vielleicht zerbricht die ganze Familie daran, eine intakte Familie.«

»Eine scheinbar intakte Familie, Fee«, sagte Daniel nachdenklich. »Ob Herr Rogner wohl jemals so offen mit seiner Frau gesprochen hat, wie wir beide miteinander reden können? Ich möchte es bezweifeln. Er wollte vorwärtskommen. Sein Besitzstreben ist nur ein Faktor.«

»Aber er hat erst ein eigenes Haus gebaut, als er genügend Geld hatte und keine Belastungen auf seine Familie zurückfallen konnten.«

»Okay, er ist solide und strebsam. Er hat sich in diese Position hinaufgearbeitet und gut für seine Familie gesorgt. Es wäre schlimm, wenn seine Familie an einem Schicksalsschlag zerbrechen würde. Freilich wird es ihm unter die Haut gehen, daß nun auch noch geklatscht wird.«

»Man wird sich beruhigen. Es gibt interessantere Dinge. Wann fährt Frau Schindelbeck zur Insel?«

»Gleich nach der Beerdigung. Ich werde schon dafür sorgen, daß sie und Karlchen gut hingebracht werden.«

*

Helmut Sommer hatte seine Frau zur Leitner-Klinik gebracht, während Fee sich anschickte, das Entbindungsheim zu besuchen. Sie hatte sich schon ausgedacht, wie sie es anfangen sollte, mit Frau Baumgart ins Gespräch zu kommen. Man kannte sich ja persönlich, wenn auch nur flüchtig. Freilich war in den Kollegenkreisen der näheren Umgebung auch bekannt, daß Dr. Norden, Dr. Behnisch und Dr. Leitner Freunde waren, und manchen war das ein Dorn im Auge, da ihrer Zusammenarbeit allerseits höchstes Lob gespendet wurde.

Idealeres konnte es auch nicht geben, als Ärzte, die Freunde waren und niemals in Konkurrenz traten.

Das Entbindungsheim Dr. Baumgart lebte von Belegärzten. Außer Dr. Kobelka waren es noch drei, die sich die vierzig Betten teilten.

Das Haus war ein alter Bau und schon manches Mal beanstandet worden. Frau Baumgart hatte nicht das Geld, Umbauarbeiten vornehmen zu lassen. Die Ärzte investierten nichts.

Die Lage selbst war erstklassig, und aus der Ferne täuschte man sich über den Zustand des Hauses. Erst wenn man es betrat, wurde es offensichtlich, daß es modernen Ansprüchen nicht mehr genügte.

Schon auf den ersten Blick stellte Fee fest, daß die Türen zu schmal waren, um die Patientinnen gleich im Bett in die Zimmer zu fahren. Die Gänge waren düster, die Holzböden knarrten unter jedem Schritt, die Treppe war gewunden und ausgetreten.

Fee hatte sich telefonisch angemeldet und wurde von Frau Baumgart auch freundlich empfangen. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Wahrscheinlich hatte sie sich während eines Jahrzehnts nicht viel verändert. Fee wußte, daß sie Mitte Vierzig sein mußte.

Sie war eine sympathische Frau, schlicht und dazu unvorteilhaft gekleidet, mit strenger Frisur.

»Sie kommen doch nicht etwa als Interessentin für die Klinik, Frau Dr. Norden?« fragte sie zögernd.

Fee war erst einmal überrascht. »Wollen Sie verkaufen?« fragte sie zurück.

»Ich muß.« Eine kleine Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet.

»Das wußte ich nicht«, sagte Fee.

»Es sollte auch noch geheim bleiben, aber nun redet man schon darüber.«

»Ich kümmere mich nicht um das übliche Gerede«, erklärte Fee. »Ich wollte nur fragen, inwieweit die Möglichkeit besteht, Patientinnen bei Ihnen unterzubringen, wenn die Leitner-Klinik belegt ist.«

Frau Baumgart sah sie erstaunt an. Fee wurde unsicher unter diesem Blick. Sie fühlte sich durchschaut.

»Wir schließen Ende des Jahres«, erklärte Frau Baumgart ruhig. »Es wird nun doch bald offiziell sein. Ich bekomme eine sehr anständige Abfindung und bin dann allen Ärger los. Die Kinder sind erwachsen, und ich kann anderswo noch eine Stellung finden. Ganz ohne Arbeit würde es mir langweilig.«

»Was geschieht mit dem Haus?« fragte Fee Norden.

Frau Baumgart zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. So ist es ja nicht tragbar.« Sie lächelte verlegen. »Es ist für mich nicht viel übriggeblieben, Frau Doktor. Es reicht gerade, daß ich die Kinder über die Runden bringen konnte. Manch einer mag gemeint haben, daß ich das Geld nur so scheffele, aber von den Ärzten war jeder auf seinen Vorteil bedacht.«

»Was macht denn Dr. Kobelka?« wagte Fee nun einen Vorstoß.

»Kobelka? Er ist doch ein kranker Mann. Nun ja, es hat sich auch schon herumgesprochen, daß da manches passiert ist. Ich will mich dazu nicht mehr äußern. Für mich sind all die Aufregungen vorbei. Nach dem Tod meines Mannes dachte ich, daß ich es ihm schuldig bin, die Klinik zu erhalten. Ich glaube nicht, daß er damit einverstanden gewesen wäre. Aber da ich nun so offen war, würden Sie auch mir offen sagen, weshalb Sie wirklich gekommen sind?«

»Sie brauchen mir keine Antwort zu geben, Frau Baumgart. Uns hätte interessiert, warum Sonja Friedels Baby gestorben ist.«

»An Sauerstoffmangel, das ist kein Geheimnis. Es wäre nicht gut gewesen, wenn es am Leben geblieben wäre, wenn ich mich so ausdrücken darf. So ist es mir jedenfalls erklärt worden.«

»Es wird keine Schwierigkeiten geben, wenn Frau Sommer sich für eine andere Klinik entscheidet?« fragte Fee.

»Mir kann das nur recht sein. Außerdem befindet sich Dr. Kobelka seit zwei Tagen selbst in der Klinik, und ich glaube nicht, daß er seine Praxis nochmals aufnehmen wird.«

»Danke für diese Auskunft«, sagte Fee. »Ich werde es nicht weitersagen.«

»Du lieber Gott, es läßt sich doch nicht verheimlichen, daß er ein Nervenleiden hat. Er bekam vorgestern während einer Geburt einen Nervenzusammenbruch. Wir konnten die Patientin noch in die Leitner-Klinik bringen lassen. Wußten Sie das nicht?«

»Nein, das ist mir ganz neu«, erwiderte Fee überrascht.

»Und ich dachte, Sie kämen deswegen«, sagte Frau Baumgart. »Es ist doch bekannt, daß Sie mit Dr. Leitner befreundet sind.«

»Aber wie Sie feststellen können, wird die Schweigepflicht auch unter befreundeten Kollegen gewahrt.«

»Und ich habe geschwatzt«, sagte Frau Baumgart mit einem verzeihungsheischenden Lächeln.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Sommers wegen. Ihr muß geholfen werden.«

Frau Baumgart begleitete sie die knarrende Treppe hinab. Nun war Fee die Atmosphäre dieses Hauses nahezu unheimlich. Ein sterbendes Haus, dachte sie, und doch werden hier noch Kinder geboren. Sie hörte ein leises Quäken, die ersten Laute eines Neugeborenen.

»Manchen hat es recht gut gefallen bei uns«, sagte Frau Baumgart mit einem wehmütigen Lächeln. »Aber dem Fortschritt muß Rechnung getragen werden. Das habe ich eingesehen. Möchten Sie mal in unser Babyzimmer schauen, Frau Doktor?«

»Ja, gern«, erwiderte Fee.

Es war ein großer hellgetünchter Raum. Die weißen Bettchen, acht an der Zahl, standen nicht aneinandergepreßt, wie es in manchem modernem Krankenhaus der Fall war.

»Ich glaube nicht, daß wissentlich etwas versäumt wurde«, sagte Frau Baumgart.

»Das glaube ich auch nicht.«

»Menschliches Versagen mag vielerlei Gründe haben«, fuhr Frau Baumgart fort. »Auch Ärzte sind Menschen, und wenn einer von ihnen krank ist, wehrt er sich genauso verzweifelt wie jeder andere gegen die Erkenntnis, daß alles zu Ende sein könnte. Dr. Kobelka war ein guter Arzt. Mein Mann hat ihn sehr geschätzt.«

Sie sprach schon in der Vergangenheitsform, und Fee kroch ein Frösteln über den Rücken, doch sie konnte nicht ahnen, daß Dr. Kobelka in dieser Stunde gestorben war. Später dachte sie darüber nach, ob es Frau Baumgart vorausgesehen hatte.

*

»So, nun blicken Sie einmal auf den Bildschirm, Frau Sommer«, sagte Dr. Leitner zu Andrea.

Lange und intensiv hatte sie ihn angeschaut. Einen vertrauenerweckenden Eindruck hatte er auf sie gemacht. Eine so faszinierende Ausstrahlung wie Dr. Norden hatte er nicht, aber seine Augen waren gütig, seine Stimme warm und beruhigend.

Sie blickte auf den Monitor, sah, wie sich da etwas bewegte, nicht gar so deutlich zu erkennen, wie sie voller Spannung erhofft hatte, aber doch zu definieren. Es war natürlich auch faszinierend zu wissen, daß sich dies in ihrem Körper abspielte.

»Ein lebhaftes Baby«, sagte Dr. Leitner mit einem ermunternden Lächeln. »Genau die richtige Lage. Es wird etwa sechs Pfund wiegen, wenn es zur Welt kommt.«

»Ist alles in Ordnung?« fragte Andrea beklommen.

»Wirklich bestens.«

»Kann man feststellen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«

»Wollen Sie sich nicht überraschen lassen?« fragte er. »Oder haben Sie sich auf einen Sohn versteift?«

»Nein, nur gesund soll es sein, und leben soll es«, erwiderte Andrea.

»Dann freuen Sie sich mal richtig auf den Tag, an dem Sie Ihr Baby im Arm halten können. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

»Wie kommt man gegen die Angst an?« fragte Andrea.

»Zum Beispiel durch autogenes Training. Wir führen das mit unseren werdenden Müttern durch und auch mit denen, die gerne Mutter werden wollen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß werdende Mütter unter gewissen Zwangsvorstellungen leiden. Aber man kann etwas dagegen tun.«

»Könnten Sie mir auch verraten, welche Zwangsvorstellungen andere werdende Mütter haben?«

»An erster Stelle steht die Eifersucht«, erwiderte Dr. Leitner. »Der Körper verändert sich. Man kommt sich nicht mehr so begehrenswert vor. Viele Frauen unterliegen der irrigen Meinung, daß ihr Mann anderen Frauen nachschauen könnte, die sexy sind, beschwingt daherschreiten und sich abends nicht nur nach Ruhe sehnen.«

»Und sonst?« hakte Andrea nach. »Ich bin nicht eifersüchtig.«

»Sie sind anderen Einflüssen ausgesetzt worden«, erwiderte Dr. Leitner. »Mein Freund, Dr. Norden, hat mit mir darüber gesprochen, Frau Sommer. Sie wünschten das.«

»Ja, ich habe ihn darum gebeten.«

»Ihre Schwester hat ihr erstes Kind verloren und leidet allem Anschein nach seit dieser Zeit unter Depressionen. Jetzt könnten Sie dazu beitragen, ihr zu helfen, anstatt sich beeinflussen zu lassen.«

Mit weit offenen Augen sah ihn Andrea an. »Aber es wird erst recht schlimm für sie sein, wenn ich ein gesundes Kind haben werde«, sagte sie.

»Warum sollte Ihre Schwester nicht auch ein gesundes Kind haben können?« fragte Dr. Leitner.

»Ja, warum eigentlich nicht?« meinte Andrea. »Sie ist doch noch so jung. Aber es ist schlimm, wenn man die neun Monate einigermaßen gut überstanden hat und die Wiege dann leer bleibt.«

»Ja, ich verstehe das. Aber es ist kein Einzelfall, Frau Sommer. Es geschieht leider immer wieder. Alles können wir nicht verhindern. Bedauerlicherweise gibt es auch Kollegen, die sich nicht genügend Zeit für jene Frauen nehmen, die während der Schwangerschaft seelische Unterstützung brauchen. Haben Sie schon etwas von Perinatologie gehört?«

»Nein. Was bedeutet das?«

»Ganz nüchtern ausgedrückt, eben die Verpflichtung des Gynäkologen, der werdenden Mutter jedwede Unterstützung zu geben, um sie für den Tag der Geburt vorbildlich vorzubereiten. Man muß sich dafür Zeit nehmen. Wir können manches dazu beitragen, um Psychosen zu verhindern oder zumindest einzudämmen.«

»Man kann doch nicht jeden Tag zum Arzt rennen, wenn man solche Angstzustände kriegt«, sagte Andrea.

»Warum nicht?«

»Aber so viel Zeit hat doch kein Arzt. Er muß ja denken, daß man einen Tick hat, wenn man mit jeder Kleinigkeit daherkommt.«

»Ein vernünftiger Arzt wird nicht so denken, Frau Sommer. Er wird versuchen, solche Komplexe abzubauen. Ich will nicht sagen, daß dies in jedem Fall möglich ist. Wir sprechen jetzt über Sie. Sie sind eine junge, gesunde Frau, glücklich verheiratet und in knapp zwei Monaten Mutter eines gesunden Kindes.«

»Sind Sie davon wirklich überzeugt?« fragte sie skeptisch.

»Nach dem derzeitigen Stand der Untersuchungen schon«, erwiderte er. »Aber in jedem Fall ist es so, daß man sich auf die Tagesform einstellen muß. Es gibt Frauen, die sich überhaupt keine Gedanken machen und ihre Mutterschaft als naturgegeben hinnehmen. Da gibt es ganz selten Komplikationen. Es gibt aber auch andere Frauen, und da muß ich Sie einbeziehen, die sehr beeinflußbar sind. Sie möchten doch, daß wir ganz offen miteinander sprechen?«

»Ja«, bestätigte sie. »Ich sitze nicht nur zwischen zwei Stühlen, Herr Doktor, es sind drei, meine Schwester, Dr. Kobelka und Sie.«

In diesem Augenblick schrillte das Telefon. Dr. Leitner nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Ja, ich habe verstanden«, sagte er. »Danke für die Information, Daniel. Frau Sommer ist gerade bei mir.«

Langsam legte er den Hörer auf. »Ist wieder etwas mit meinem Mann?« fragte Andrea besorgt.

»Aber nein, Sie dürfen nicht gleich immer in Panik geraten, Frau Sommer. Ich habe gerade die Nachricht bekommen, daß Dr. Kobelka gestorben ist.«

»Dr. Kobelka? Er ist gestorben?« fragte sie überrascht.

»Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, daß er vorgestern zusammengebrochen ist, während einer Geburt. Die Patientin wurde zu mir gebracht. Mutter und Kind sind wohlauf. Sie brauchen sich auch keine Gedanken mehr zu machen, daß Dr. Kobelka verletzt sein könnte, weil Sie mich zu Rate gezogen haben.«

»War er schon länger krank?« fragte Andrea interessiert.

»Das weiß ich nicht. Jetzt legen Sie sich mal ganz entspannt zurück, Frau Sommer. Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie wünschen sich Ihr Kind. Sie freuen sich darauf. Das werden Sie auch Ihrer Schwester sagen. Sie müssen ihr Mut machen, wenn sie ein Kind haben möchte. Sie sind die Stärkere. Sie können ihr raten, wie man die Ängste überwindet. Sie können ihr helfen. Sie haben gesehen, wie Ihr Kind sich bewegt. Es fühlt sich sehr wohl in der Geborgenheit, die Sie ihm geben. Es freut sich, wenn Sie sich freuen. Es ist traurig, wenn Sie traurig sind. Es ist ein Teil von Ihnen.«

Geradezu beschwörend sagte er es. Andrea hatte die Augen geschlossen. Sie hörte nur seine Stimme, sie nahm die Worte in sich auf und begriff sie.

»In einigen Wochen beginnt der Abnabelungsprozeß«, fuhr Dr. Leitner fort. »Manchmal ist es nicht damit abgetan, daß die Nabelschnur durchtrennt wird. Mit dem Tag der Geburt beginnt das Kind ein eigenständiges Leben. Es braucht Pflege und vor allem Liebe, aber die Liebe darf nicht so weit gehen, daß ein dauerndes Abhängigkeitsverhältnis entsteht. Man muß seinem Kind auch die Möglichkeit geben, seine Persönlichkeit zu entwickeln.«

»Und wenn es sich anders entwickelt, als man es sich vorstellt?«

»Ein Kind, das Liebe und Verständnis findet, das keinen Konflikten ausgesetzt wird, entwickelt sich normal«, antwortete Dr. Leitner.

»Aber wie kann es dann geschehen, daß Kinder aus der Art schlagen, wie man so sagt?«

»Allwissend sind wir nicht«, gab der Arzt zu. »Vielleicht geschieht manches, was wir nicht begreifen können. Uns allen sind Grenzen gesetzt. Wir haben einen bestimmten Lebensrhythmus. Biorhythmus wird er genannt.«

»Ich habe darüber gelesen. Glauben Sie daran?«

»Es mag manchmal sehr nach Reklame klingen, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, daß wir einem solchen Rhythmus unterworfen sind. Es gibt manche Beweise dafür, besonders im Leben einer Frau. Sie will ich jetzt gar nicht anregen, darüber nachzudenken. Wir wissen, daß sich Ihr Baby gut entwickelt, und wir werden auch den ungefähren Geburtstermin berechnen. Ich will jetzt nicht wissen, welchen Dr. Kobelka errechnet hat. Ich würde sagen, daß Sie am zehnten Dezember hier erscheinen, wenn Sie gewillt sind, Ihr Kind hier zur Welt zu bringen.«

»Ich werde pünktlich zur Stelle sein«, erwiderte Andrea freudig. »Es ist genau der Tag, den ich auch ausgerechnet habe. Dr. Kobelka meinte, daß es erst der zwanzigste Dezember sein würde.«

»Jeder Frauenarzt sollte auch auf die Stimme der Mutter hören«, meinte Dr. Leitner lächelnd. »Aber ich möchte doch sagen, daß Sie sich zwischenzeitlich vorstellen, Frau Sommer.«

»Immer, wenn ich meine Zustände kriege«, erwiderte sie, »bis Sie mich Gott weiß wohin wünschen.«

»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Es könnte nur sein, daß ich gerade im Kreißsaal bin oder im OP, dann bitte ich um Verständnis, wenn Sie warten müssen.«

Andrea lächelte. »Dann werde ich beim Warten vielleicht zu der Überzeugung kommen, daß ich ganz umsonst hergekommen bin. Sie haben dann hoffentlich auch Verständnis, wenn ich inzwischen das Weite gesucht habe.«

»So gefallen Sie mir«, sagte er. »Und nun zwingen Sie sich mal nicht zum Essen, wenn Ihnen etwas nicht schmeckt. Das Baby holt sich schon, was es braucht. Sie haben Ihr Gewicht prächtig gehalten. Wenn Sie richtigen Appetit verspüren, können Sie auch mal etwas mehr essen als sonst. Die Figur wird nicht darunter leiden.«

Andrea lächelte wieder. »Man braucht mir ja nicht gleich anzusehen, daß ich gerade erst Mutter geworden bin, wenn ich einen Kinderwagen vor mir her schiebe. Dr. Kobelka hat gesagt, daß sich die meisten Frauen gehenlassen.«

»Was Dr. Kobelka gesagt hat, wollen wir vergessen. Über seinen Zustand war er sich anscheinend auch nicht mehr ganz klar.«

Was er wirklich dachte, sprach er nicht aus, aber es gefiel ihm, als sich Andrea aufrichtete und sagte: »Ich freue mich, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Wir sind Dr. Norden sehr dankbar.«

*

Wir hatte sie gesagt. Sie sprach auch für ihren Mann, und er war ganz gewiß genauso dankbar wie sie, als sie dann lächelnd auf ihn zukam, ihn umarmte und mit schwingender Stimme sagte: »Es ist alles in bester Ordnung, Helmut. Wir können uns freuen.«

Er freute sich mit ihr, doch diese Freude wurde gedämpft, als Sonja am frühen Nachmittag kam, als er wieder in sein Büro fahren mußte. Sie trafen sich an der Gartentür.

Sonja war schlank und hatte zuviel Make-up aufgelegt.

»Bitte, Sonja, tu mir den Gefallen und rede Andrea nicht wieder unbegründete Sorgen ein«, sagte er vielleicht ein bißchen zu barsch, weil er in Eile war. »Sie soll nicht Trübsal blasen, sondern weiterhin so fröhlich sein, wie sie gerade war.«

»Ich rede ihr doch nichts ein«, erwiderte Sonja pikiert. »Willst du mich für ihre Stimmungen verantwortlich machen?«

»Aber nein, ich will nur sagen, daß es ihr guttut, wenn man ihr nur nette Dinge erzählt. Tschüs, ich muß mich beeilen.«

Helmut wäre lieber geblieben, aber das war nicht möglich. Er konnte seinen Beruf nicht vernachlässigen. Er hatte ein paar gute Aufträge bekommen, und das war bei der gespannten Wirtschaftslage eine große Beruhigung für ihn. Schließlich mußten sie sich noch nach der Decke strecken.

Er konnte nur hoffen, daß sich Andrea nicht wieder irritieren ließ, denn Sonja hatte alles andere als einen optimistischen Eindruck gemacht.

Ihm tat Bernd schon sehr leid, denn er war ein lebenslustiger Mensch. Das leergebliebene Kinderzimmer, das er mit viel Liebe eigenhändig eingerichtet hatte, war ohnehin schon zum Alptraum für ihn geworden.

Andrea und Sonja hatten von jeher ein sehr herzliches Verhältnis zueinander gehabt. Ihre Eltern lebten in Mittenwald, und so waren sie glücklich gewesen, daß sie durch ihre Heirat beide nach München verschlagen wurden.

Helmut dachte allerdings manchmal, daß es besser gewesen wäre, wenn sie weiter entfernt voneinander wohnen würden.

Andrea dachte nicht so. Sie freute sich auch über Sonjas Besuch, obgleich Sonja gleich wieder voller Besorgnis fragte, ob ihr auch wirklich wohl sei.

»Du siehst ein bißchen blaß aus«, stellte Sonja fest.

»Ach, das täuscht, ich habe gerade eine halbe Stunde geschlafen«, sagte Andrea.

»Muß denn Helmut noch mal weg? Es ist doch schon ziemlich spät«, sagte Sonja nun mit einem anzüglichen Unterton.

»Er hat noch eine Besprechung. Er muß sich nach den Auftraggebern richten. Wir sind froh, daß es zügig weitergeht«, erwiderte Andrea.

»Es fehlte gerade noch, daß ihr auch finanzielle Sorgen hättet«, meinte Sonja. »Du müßtest mir das sagen. Wir könnten euch schon unter die Arme greifen.«

»Das ist wirklich nicht nötig, Sonja. Vielen Dank, aber wir kommen sehr gut zurecht. Hin und wieder gibt es halt mal Schwierigkeiten, aber Helmut ist sehr tüchtig. Es spricht sich herum. Wir können recht optimistisch in die Zukunft blicken.«

»Wenn nur das Baby erst da wäre«, sagte Sonja seufzend.

»Es ist alles in bester Ordnung. Ich war bei Dr. Leitner. Er hat eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen. Etwa sechs Pfund wird unser Baby wiegen.«

»Du glaubst an diesen Schmarrn? Wieso Dr. Leitner? Wirst du Dr. Kobelka untreu? Das wäre sehr peinlich für mich und die Eltern.«

»Setz dich erst mal hin, Sonja«, bat Andrea. »Du mußt dich nicht gleich aufregen. Dr. Kobelka ist heute gestorben.«

»Gestorben?« fragte Sonja fassungslos. »Wieso das?«

»Er war krank. Aber ich wäre doch zu Dr. Leitner in die Klinik gegangen. Es ist einfach alles anders. Man gewinnt mehr Vertrauen. Ich habe gesehen, wie sich mein Baby bewegt.«

»Du spinnst ja«, platzte Sonja heraus. »Du hast dir was einreden lassen.«

»Nein«, erwiderte Andrea ruhig, »ich konnte es auf dem Bildschirm sehen. Und Dr. Leitner hat mir auch erklärt, wie man sich vor diesen Angstpsychosen schützen kann, oder wie man ihrer Herr wird. Du solltest auch einmal zu ihm gehen.«

»Ich denke gar nicht daran. Ich lasse mir nicht solchen Quatsch einreden. Erst wird einem Mut gemacht, und dann kommt das dicke Ende nach. Kobelka hat auch immer gesagt, daß ich mir keine Sorgen machen brauche, und dann bin ich ohne Kind heimgegangen.« Sie schluchzte auf.

Heftiges Mitleid erfaßte Andrea wieder. »Sonja, Kobelka ist tot, aber man sollte doch überlegen, ob er nicht etwas falsch gemacht hat mit seinen veralteten Methoden.«

»Hat das dieser Dr. Leitner gesagt? Vielleicht aus Futterneid? Will er vielleicht Dr. Kobelkas Berufsehre jetzt noch in den Dreck ziehen, wo er tot ist? Du läßt dich leicht beschwatzen.«

Andrea richtete sich auf. »Nein, ich lasse mich nicht beschwatzen, jetzt nicht mehr, Sonja«, erwiderte sie ruhig. »Immer wieder hast du mir erzählt, was alles passieren kann und wie schnell jede Aufregung schaden könnte. Ich bin schon in Panik geraten, wenn das Telefon geläutet hat. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr freuen, weil du mir dauernd geschildert hast, wie es bei dir war. Ich habe noch sieben Wochen, und die möchte ich unbeschwert verbringen. Und du solltest dich endlich einmal von den pessimistischen Gedanken befreien, anstatt dich immer mehr in diese Depressionen hineinzusteigern. Du machst dir das Leben schwer und Bernd auch.«

Sonja sprang auf. »So hat man dich also beeinflußt. Aufgehetzt hat man dich gegen Dr. Kobelka und auch gegen mich«, rief sie erregt. »Aber ich werde deine Kreise nicht mehr stören. Das wolltest du mir wohl auch zu verstehen geben.«

»Sonja, ich bitte dich, sei nicht so aggressiv. Laß uns mal vernünftig reden. Du kannst doch noch mehrere Kinder haben.«

»Nein«, fiel ihr Sonja ins Wort, »nein und abermals nein. Das mache ich nicht noch einmal mit. Neun Monate plagt man sich herum für nichts und wieder nichts.«

»Können wir nicht ruhig darüber sprechen?« machte Andrea einen weiteren Versuch. »Geh doch auch mal zu Dr. Leitner. Sprich mit ihm. Laß dich untersuchen. Man kann doch so viel tun und auch selbst dazu beitragen, daß es nicht zu Komplikationen kommt.«

»So, was denn noch, was ich nicht getan hätte? Ich habe nicht geraucht, nicht getrunken, und es verlief ja anscheinend auch alles normal. Da hat man dich mit Weisheiten gefüttert, und plötzlich wirst du übermütig.«

»Ich werde nicht übermütig. Ich bin nur ruhiger geworden, und diese Ruhe lasse ich mir nicht mehr nehmen, durch kein Gerede.«

»Ich gehe ja schon«, sagte Sonja aufgebracht. »Ja, ich gehe. Ich werde dir nicht mehr auf die Nerven fallen. Ihr habt euch alle gegen mich verbündet. Bernd steckt mit euch unter einer Decke. Ich lasse mich scheiden, damit du es weißt.«

Andrea erschrak. »Du weißt nicht, was du redest, Sonja«, sagte sie, nun doch wieder in Erregung geratend.

»Oh, ich weiß es. Ich habe es satt, mir Vorhaltungen machen zu lassen. Es wird schon der Tag kommen, an dem du mich verstehen wirst.«

Nein, dachte Andrea, und es wurde ihr dabei schwarz vor Augen. Mein Kind lebt, ich spüre es, und es wird am Leben bleiben. Ich glaube daran.

»Ich habe dich immer zu verstehen versucht, Sonja«, sagte sie, »jetzt kann ich es nicht mehr. Ich habe mit Ärzten gesprochen, zu denen ich Vertrauen habe. Zerstöre es nicht, sonst bist du schuld, wenn ich diese Wochen nicht mehr durchstehe.«

»Diese Schuld lasse ich mir nicht zuschieben«, entgegnete Sonja. »Alles Gute, Andrea. Ich werde mich nicht mehr melden.«

Und sie ging. Andrea starrte auf die Tür, hinter der sie verschwunden war, ihre Schwester Sonja, der sie sich immer und zu jeder Zeit verbunden gefühlt hatte, deren Schmerz sie teilte und auf deren Verständnis sie vertraute.

Sie ist krank, dachte sie, sie ist wirklich krank, sonst könnte sie nicht so reden.

Andreas Herz schlug wie ein Hammer, als die Haustür zufiel. Sie hatte gedacht, daß Sonja sich besinnen und doch zurückkommen würde. Aber sie kam nicht zurück. Mit aufheulendem Motor fuhr ihr Wagen davon.

Andrea ging zum Fenster und starrte hinaus. Gönnt sie mir das Kind nicht? ging es ihr durch den Sinn. Will sie, daß ich es auch verliere? Aber so kann sie doch nicht denken. Sie ist doch meine Schwester. Wir haben uns immer gut verstanden. Sie preßte ihre Hände auf den gewölbten Leib.

»Ich will mich nicht aufregen«, sagte sie, »mein Kind soll es nicht spüren.«

Sie dachte an alles, was Dr. Leitner ihr gesagt hatte, und sie wurde ruhiger. Eine wunderbare Erleichterung kam über sie, da sie diese aufkeimende Angst bewältigen konnte.

Dann konnte sie auch wieder ruhiger denken. Ja, sie mußte nicht nur an sich und das Kind denken, sondern auch an Sonja. Sie konnte nicht einfach darüber hinweggehen, daß sie erstmals im Zorn auseinandergegangen waren. Sicher brauchte Sonja Hilfe, aber wie konnte man ihr helfen?

Mir ist doch auch geholfen worden, dachte Andrea weiter. Ich spüre es. Ich stehe nicht mehr auf diesem schwankenden Boden, der mir jeden Augenblick unter den Füßen weggleiten könnte. Warum sollte Sonja nicht auch geholfen werden?

Entschlossen griff sie nach dem Telefonhörer und wählte Dr. Nordens Nummer.

Sie hatte nicht darauf geachtet, daß es schon sechs Uhr war. Loni war bereits gegangen, und er wollte sich gerade auf den Weg zu einigen Hausbesuchen machen.

»Wann könnte ich noch einmal zu Ihnen kommen, Herr Doktor?« fragte Andrea. »Es geht nicht um mich, sondern um meine Schwester. Ich brauche Ihren Rat.«

»Kommen Sie doch gleich morgen früh«, erwiderte er. »Ab acht Uhr bin ich in der Praxis.«

»Ja, dann komme ich ganz früh«, erwiderte Andrea. »Vielen Dank. Es ist so tröstlich, wenn man nicht abgewiesen oder hingehalten wird.«

*

Wie mag es wohl den Menschen zumute sein, die einen Arzt anrufen, weil sie Hilfe brauchen, und denen dann gesagt wird, daß für die nächsten Wochen kein Termin mehr frei ist? dachte Daniel Norden, während er durch die schon abendlichen Straßen fuhr. Überlegen sich die Kollegen eigentlich, was sie damit anrichten können?

Er dachte an Lenni, die neulich so schlimme Zahnschmerzen bekommen hatte, daß sie es kaum noch aushielt. Dr. Köhler war noch nicht von seinem Urlaub zurück. Alle Zahnärzte im Umkreis hatte Lenni angerufen, weil sie mit ihren eigenen Angelegenheiten Fee nicht belästigen wollte. Immer hatte sie die gleiche Antwort bekommen. »Wir sind auf Wochen hinaus ausgebucht.«

Dann hatte sich Fee eingemischt, und plötzlich ging es, als sie den Namen Norden nannte. Sie hatte sich hinterher schrecklich aufgeregt, was selten genug passierte. Und hätte Lenni nicht schnell geholfen werden müssen, wäre sie mit ihr in die Zahnklinik gefahren.

Fee hatte kein Verständnis dafür, daß in einem Notfall nicht ein Patient auch mal bevorzugt behandelt wurde, dessen Namen man nicht kannte.

Daniel hätte sich so etwas nie erlaubt, aber die Zahnärzte, wenigstens sehr viele, nahmen das Privileg für sich in Anspruch, nur auf Voranmeldung zur Verfügung zu stehen und rechtfertigten sich damit, daß sie Zeit brauchten für die einzelnen Patienten.

Daniel nahm sich auch Zeit, auch für diejenigen, die zum ersten Mal zu ihm kamen, auch dann, wenn er von noch Unbekannten spätabends ins Haus gerufen wurde. Und diesmal war es eben jener Zahnarzt gewesen, der Lenni dann doch behandelt hatte. Sein Sohn war die Treppe hinuntergestürzt.

Dr. Fromm empfing Daniel aufgeregt. »Sie waren tatsächlich der einzige Arzt in der Nähe, der zu erreichen war«, sagte er. »Die anderen scheinen ihre Praxis sehr pünktlich zu schließen.«

»Tun Sie das nicht auch?« fragte Daniel. Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen, und damit brachte er Dr. Fromm doch in Verlegenheit.

Sein kleiner Sohn hatte sich aber so erheblich verletzt, daß eine längere Debatte nicht angebracht war.

Daniel verstand es, mit Kindern umzugehen. Die Tränen versiegten. Die jammernde Mutter wurde beruhigt. Die zwei Platzwunden wurden geklammert.

»Es war wirklich sehr nett von Ihnen, daß Sie gleich gekommen sind«, sagte Dr. Fromm.

»Das war selbstverständlich.« Daniel sagte es sehr betont.

Vielleicht denkt er nun doch mal nach, dachte Daniel, als er zum nächsten Patienten fuhr. Er hatte an diesem Abend noch ein beträchtliches Pensum zu erledigen. Fee mußte ziemlich lange auf ihren Mann warten.

Sonja auch auf den ihren, und sie wurde immer nervöser. Als er dann endlich kam, überfiel sie ihn mit Vorwürfen. Bernd war auch nicht gerade guter Laune.

»Wenn das so weitergeht, verschwinde ich wieder«, sagte er gereizt. »Man möchte schließlich auch mal seine Ruhe haben.«

»Du bist auch aufgehetzt worden gegen mich«, ereiferte sich Sonja. »Ihr habt euch gegen mich verschworen.«

»Nun bleib mal auf dem Teppich, Sonja«, sagte Bernd ungehalten. »Deine unberechtigten Vorwürfe nehme ich nicht widerspruchslos hin. Ich habe viel Geduld mit dir gehabt, aber diese Hysterie geht mir auf die Nerven. Es wäre wohl das beste, du würdest mal ein paar Wochen Urlaub machen, Tapetenwechsel, damit du dir darüber klar wirst, daß unser Leben so nicht weitergehen kann. Ich habe wahrhaft lange genug den Mund gehalten. Ich habe Verständnis für deinen Kummer gehabt, aber man kann es auch übertreiben. Ich habe genug geschäftliche Sorgen, und…«

»Wieso geschäftliche Sorgen?« fiel sie ihm ins Wort.

»Pietsch ist pleite. Wir werden keinen Pfennig von ihm zu sehen bekommen. Achtzigtausend Mark aufs Verlustkonto, so schnell kann ich das nicht verkraften.«

»Wieso ist Pietsch pleite?« fragte sie fassungslos. »Ich habe doch heute seine Frau in einem neuen Mercedes gesehen und schick angezogen.«

»Sie haben Gütertrennung, liebe Sonja. Man kann manches von solchen Burschen lernen. Auch mit Millionenschulden läßt es sich, wie man sieht, sehr gut leben. Pietsch ist ein Betrüger, um es noch deutlicher zu sagen.«

»Aber dann muß er doch vor Gericht gestellt werden«, sagte Sonja.

»Wenn man ihn hat, meine liebe Sonja, aber er hat sich abgesetzt.«

»Und seine Frau fährt herum und gibt an.«

»Sie sagt, daß sie sich ohnehin scheiden lassen wollte. Aber wahrscheinlich wird es so kommen, daß auch sie in den nächsten Tagen verschwindet, und daß man sich dann in der Schweiz oder irgendwo ein schönes Leben macht mit den ergaunerten Millionen. Man nennt das Wirtschaftskriminalität, Sonja, aber in den Augen mancher ist das nur ein Kavaliersdelikt. An die Geschädigten denkt keiner.«

»Und wie wird sich das auf unser Leben auswirken?« fragte sie.

»Wir müssen halt kürzertreten«, erwiderte Bernd. »Aber du wirst hoffentlich verstehen, daß ich für deine Launen kein Verständnis aufbringen kann. Ich muß rechnen. Ich habe wahrhaftig keine Zeit, mich zu amüsieren, wie du es anscheinend angenommen hast.«

»Bitte, sei nicht böse, Bernd«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, daß ich so gereizt war. Aber ich habe mich schon mit Andrea gestritten, und das hat mich aufgeregt.«

»Du hast dich mit Andrea gestritten?« fragte er konsterniert. »Sie soll sich doch erst recht nicht aufregen. Mit deiner übermäßigen Besorgnis hast du es ihr doch wahrhaftig nicht leichtgemacht, die Monate zu überstehen.«

»So siehst du das also auch«, flüsterte sie.

»Ja, es muß einmal gesagt werden, Sonja.«

»Dr. Kobelka ist gestorben«, erklärte sie zusammenhanglos.

Bernd stutzte. »Das wird gut für ihn sein«, murmelte er.

»Wie kannst du so etwas sagen?«

»Nun, immerhin hat er allerhand verbockt. Es waren zwei Verfahren gegen ihn eingeleitet.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Ich wollte es dir nicht sagen, aber ich habe mit Helmut vorhin darüber gesprochen und von ihm erfahren, daß Andrea zu einem anderen Arzt gegangen ist. Hast du das etwa mißbilligt? Ist deswegen der Streit entstanden? Ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals mit ihr gestritten hättest.«

»Sie ist so verändert. Sie nimmt die Schwangerschaft plötzlich auf die leichte Schulter.«

»Sie hat sich befreit von diesem entsetzlichen Trauma, das am Ende auch unsere Ehe überschattet, Sonja.

Würdest du dich doch endlich auch davon befreien. Geh auch mal zu Dr. Leitner. Er ist ein sehr vernünftiger Arzt.«

»Ich halte nichts von diesen modernen Methoden«, sagte Sonja. »Ich habe neulich erst wieder gelesen, daß es dem Baby schaden kann, wenn man Fruchtwasser abzieht.«

»Du liest immer nur das Negative. Ein verantwortungsbewußter Arzt tut nichts, was der Frau oder dem Kind schaden könnte, aber diese von dir kritisierten modernen Methoden können für Mutter und Kind lebensrettend sein. Dr. Kobelka ist tot, und man soll Toten nichts nachsagen, aber seine Methode, mit werdenden Müttern umzugehen, war bestimmt nicht die richtige.«

»Vielleicht war er schon eine Weile krank«, räumte Sonja nach einem längeren Schweigen ein.

»Sicher war er das, aber ich meine, daß zumindest ein Arzt erkennen muß, wann es Zeit ist für ihn, aufzuhören. Wie soll ein Arzt, der depressiv ist, Optimismus verbreiten, der doch gerade für werdende Mütter so wichtig ist.«

»Er hat sehr viel Verständnis für meine Ängste gezeigt«, sagte Sonja.

»Er hat sie geradezu genährt, und Andrea hat darunter auch zu leiden gehabt. Und nun werden wir mal versuchen, dies alles zu vergessen, Sonja. Wir machen einen dicken Strich und fangen noch mal von vorn an. Einverstanden?«

Er ließ sich so schnell nicht unterkriegen und war erleichtert, alles ausgesprochen zu haben, was ihn bedrückt hatte.

Sie streckte eine Hand nach ihm aus. »Du schickst mich nicht fort, Bernd?« fragte sie leise.

»Ich wollte dich nicht fortschicken. Ich dachte nur, daß es gut sein würde, wenn du mal Tapetenwechsel hast.«

»Aber ohne dich bin ich doch erst recht unglücklich. Ich mache dir das Leben nicht mehr schwer. Wir werden schon zurechtkommen. Dann kaufen wir eben keinen neuen Wagen, und ich könnte dir im Geschäft helfen. Dann können wir ja auch die zweite Schreibkraft einsparen.«

Er wollte schon widersprechen, denn gar so schlimm sah es nun auch wieder nicht aus, aber ihm kam der Gedanke, daß es vielleicht ganz gut für Sonja wäre, sich mehr um das Geschäft zu sorgen als um sich selbst.

»Das ist lieb von dir«, sagte er, und dann nahm er sie zärtlich in die Arme.

*

Helmut Sommer erwähnte sein Gespräch mit Bernd nicht, da Andrea ihm gleich erzählt hatte, daß sie sich mit Sonja in die Haare geraten war. Er war darüber so erstaunt, daß er einige Zeit brauchte, um es zu verdauen.

»Ich werde morgen früh zu Dr. Norden fahren und mit ihm über Sonja sprechen«, sagte Andrea.

»Mit Familienangelegenheiten braucht man ihn doch nicht zu belästigen«, meinte er darauf.

»Sonja ist krank, zu dieser Überzeugung bin ich gekommen. Sie steigert sich derartig in ihre Komplexe hinein, daß es wirklich nicht mehr normal ist. Man kann nicht vernünftig mit ihr reden.«

Solche Worte waren ungewohnt, Helmut staunte immer mehr.

»Es freut mich, wenn du dich nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen läßt«, sagte er. »So gefällt es mir viel besser.«

»Wie geht es eigentlich dem kleinen Rogner?« fragte Andrea, und auch damit bewies sie, daß sie sich nicht mehr ausschließlich auf sich und ihren Zustand konzentrierte.

»Immer noch nicht viel besser«, erwiderte er. »Herr Rogner ist niedergeschmettert. Aber du sollst dich damit nicht beschweren, Andrea. Ich bin froh, wenn es dir gutgeht.«

»Ich muß meine Entspannungsübungen machen. Jetzt lasse ich mich nicht mehr beirren, Helmut, auch von Sonja nicht.«

»Recht hast du, Liebes. Darf ich mich dann in meine Klause zurückziehen und noch eine Stunde arbeiten?«

»Laß dich nicht aufhalten. Ich schaue mir nachher das Fernsehspiel an.«

»Hoffentlich ist es was Heiteres.«

»Eine Familiengeschichte. Wenn es mir nicht gefällt, schalte ich aus.«

Ihm wollte es noch nicht in den Kopf, wie gelassen sie war. Hatte dieser Dr. Leitner etwa suggestive Kraft, so etwas zu bewirken? Aber die Hauptsache war schließlich, daß Andrea eine positive Einstellung gewonnen hatte. Hoffentlich war das von Dauer.

*

Bei den Rogners herrschte keine zuversichtliche Stimmung. Achim war noch immer bewußtlos. Den ganzen Nachmittag hatte Lucy an seinem Bett gesessen. Am Abend war dann auch Erwin gekommen. Sie fühlten sich hilflos, weil sie nichts tun konnten, als zu warten.

Ulla hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Tini sagte schließlich schüchtern, daß sie doch eigentlich im Neubau ein bißchen saubermachen könne.

»Du hast den ganzen Tag gearbeitet«, sagte Lucy. »Ruh dich lieber aus.«

»Rainer hat auch den ganzen Tag gearbeitet, und nun verlegt er noch die Leitungen«, erwiderte Tini. »Ich kann den Schmutz gleich wegputzen. Morgen sollen die Teppichböden verlegt werden.« Eine kleine Pause folgte. »Meinst du nicht, Papa, daß wir Achim das Zimmer im Erdgeschoß geben sollten? Dann braucht er nicht dauernd Treppen zu steigen.«

Aus trüben Augen blickte sie Erwin an. »Ich kann nichts mehr denken«, murmelte er. »Mir ist alles egal.«

»Das darfst du nicht sagen, Papa«, sagte Tini leise. »Schau, bei Herrn Bichler sah es auch so böse aus, aber nun geht es aufwärts. Man darf doch die Hoffnung nicht verlieren.«

»Über jede Kleinigkeit habe ich mich aufgeregt«, brummte Erwin Rogner, »über so läppische Dinge. Ja, geh nur zu deinem Rainer, Tini. Sag ihm, daß ich seinem Vater baldige Besserung wünsche, und daß es mir leid tut, daß er nun seine Freizeit dranhängt.«

»Es macht Rainer nichts aus, Papa. Er meint auch, daß es doch schön wäre, wenn Achim dann gleich in das neue Haus kommen würde. Er hat mich auch auf den Gedanken mit dem Zimmer im Erdgeschoß gebracht.«

»Er sagt nicht, daß Achim ein Fahrraddieb ist und

daß es ihm recht geschehen ist, wie es die andern sagen?«

»Hör doch nicht auf dieses dumme Gerede«, warf nun Lucy ein. »Der Junge hat eine Dummheit gemacht und muß dafür bezahlen. Die Bauers haben das teuerste Rad bekommen und sollten jetzt lieber den Mund halten.«

»Außerdem ist der Bauer-Bub im rechtlichen Sinne mitschuldig, da er sein Rad nicht abgeschlossen hat«, sagte Tini. »Das hat Rainer auch gesagt.«

»Soll ich deswegen vielleicht noch Wirbel machen?« fragte Erwin Rogner. »Mir will es nicht in den Schädel, daß mein Sohn so was getan hat.«

»Und für mich spielt das keine Rolle, solange ich um ihn bangen muß«, sagte Lucy. »Jetzt geh’ nur, Tini, aber bleib nicht zu lange aus.«

»Dafür sorgt Rainer schon«, erwiderte Tini.

Sie gab ihren Eltern liebevolle Küsse, bevor sie ging.

»Jetzt sagst du aber nichts mehr gegen den Rainer«, forderte Lucy. »Wir wollen froh sein, daß er so anständig ist.«

»Ich habe meinen Ducker bekommen, Lucy. Wenn Achim nur wieder auf die Beine kommt.«

»Wir müssen es jetzt nehmen, wie es kommt, mein Guter«, sagte Lucy. »Wir sind nicht die einzigen, die solches Schicksal zu tragen haben. Uns bleibt ja noch die Hoffnung. Sepp wird morgen begraben.«

»Sepp«, stöhnte er, aber bevor er weiterreden konnte, sagte sie:

»Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.«

*

In den oberen Räumen hatte Rainer die Arbeit, die sein Vater begonnen hatte, schon vollendet. Alle Steckdosen und Schalter waren montiert, als Tini kam.

Sie flog ihm in die Arme, umklammerte ihn bebend.

»Es wird alles wieder gut, Kleines«, sagte er tröstend. »Wer bleibt denn schon von Schicksalsschlägen verschont?« Über ihr Haar streichelnd, fuhr er fort: »Das wäre also dein Zimmer, Tini. Ich habe mir gedacht, daß es Ulla bekommen könnte, wenn wir sowieso bald heiraten.«

»Daran können wir jetzt doch nicht denken«, sagte sie leise.

»Warum denn nicht? Ich möchte gern noch vor Weihnachten heiraten. Ich habe zum ersten Januar gekündigt. Dann übernehme ich das Geschäft. Eine Wohnung für uns ist da.«

»Erst müssen doch dein Vater und Achim wieder gesund werden, Rainer.«

»Wir brauchen doch keine große Hochzeitsfeier, Tini. Mir genügt es, wenn du meine Frau bist. Für mich wäre alles viel leichter, wenn du bei mir wärst.«

»Dir fällt es nicht leicht, den Betrieb zu übernehmen«, sagte sie nachdenklich.

»Nein, ich habe mir alles anders vorgestellt, das gebe ich zu. Aber nun ergibt es sich so, und vielleicht ist das sogar gut für mich und für uns. Ich wollte eigentlich ins Ausland gehen, mich umschauen in der Welt. Freilich nicht ohne dich. Aber wir hätten dann doch kein richtiges Zuhause gehabt. Oder hätte es dir gefallen?«

»Mitgekommen wäre ich schon«, erwiderte Tini. »Ich will dort sein, wo du bist, Rainer. Aber hier brauchen sie uns doch, deine Eltern und meine Eltern.«

»Das meine ich auch, Tini, und meine Eltern wären sehr froh, wenn du als meine Frau in unser Haus einziehen würdest. Vater wird erst mal eine Kur auf der Insel der Hoffnung machen, und dann werden sie noch ein paar Monate im Allgäu bleiben bei den Großeltern. Vater muß auch damit fertig werden, daß er nicht mehr so schaffen kann wie früher. Meinst du nicht, daß deine Eltern dafür Verständnis haben werden, daß ich dich brauche, Tini? Ich brauche dich wirklich, genauso wie Vater jetzt die Mutter braucht.«

»Ich lasse dich nicht im Stich, Rainer«, beteuerte Tini. »Wir werden es schon schaffen. Aber wenn Achim nun nie mehr gesund wird?«

»Dann werden wir auch das gemeinsam tragen, Tini.«

Sie lehnte sich an ihn. »Ja, dann ist es wohl besser, wenn wir dieses Zimmer gleich für Ulla einrichten. Aber laß mir noch ein paar Tage Zeit, bevor ich mit meinen Eltern spreche. Papa ist nicht ganz da. Für das Haus interessiert er sich überhaupt nicht mehr. Alles, was ihm so wichtig war, ist nebensächlich geworden.«

»Es gibt eben Wichtigeres. Mir geht es auch nicht anders, Tini.«

Als Tini heimkam, war ihre Mutter noch in der Küche. »Ich habe Papa einen Tee gemacht«, sagte sie beinahe verlegen. »Er muß mal wieder richtig schlafen.«

»Du auch, Muttchen«, sagte Tini.

»Möchtest du auch einen Tee, Tini?«

»Gern.« Sie setzte sich. »Der duftet gut«, sagte sie.

»Dr. Norden hat ihn gebracht. Wie geht es Rainers Vater?«

»Er wird bald zur Kur auf die Insel der Hoffnung fahren«, erzählte Tini. »Und dann wollen sie ein paar Monate ins Allgäu gehen. Rainer übernimmt zum ersten Januar den Betrieb. Er möchte, daß wir heiraten.«

Nun war das wenigstens heraus. Tini hätte es bedrückt, wenn sie es nicht wenigstens der Mutter gesagt hätte.

»Schon bald?« fragte Lucy.

»Noch vor Weihnachten. Rainer meint, daß Ulla mein Zimmer bekommen könnte. Ich wollte es eigentlich nicht gleich heute sagen, Muttchen.«

»Aber du würdest einverstanden sein«, sagte Lucy leise.

»Ja, wir brauchen keine große Hochzeit.«

»Wir haben davon geträumt, Tini.«

»Es kommt manches anders, als man es sich vorstellt. Aber ich liebe Rainer. Ich bin glücklich, daß er mich auch liebt. Das ist doch am wichtigsten.«

»Ja, Tini, das ist am wichtigsten. Papa wird euch auch nichts mehr in den Weg legen. Ich möchte doch nur, daß ich meine Kinder behalte.« Sie schluchzte trocken auf, und Tini nahm sie schnell in die Arme.

»Uns verlierst du nicht, Muttchen«, sagte sie innig. »Du bekommst einen lieben Schwiegersohn. Ihm ist es nicht gleichgültig, was aus den Eltern wird. Eigentlich wollte Rainer ins Ausland gehen.«

»Und du wärst mitgegangen, Tini?«

Tini nickte. »Aber darüber brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen. Rainer wird den Betrieb übernehmen. Wir bleiben uns nahe, Muttchen.«

Ihr junges Gesicht war ganz ernst. Fest umschlossen ihre schmalen Finger die kalten, zitternden Hände ihrer Mutter.

»Leg dich jetzt auch nieder«, sagte sie besorgt. »Es hilft nichts, wenn du dasitzt und dir den Kopf zergrübelst. Morgen ist vielleicht schon alles besser.«

*

Am Morgen des kommenden Tages, um acht Uhr, war Andrea schon bei Dr. Norden. Sie war sogar drei Minuten vor ihm dagewesen, und Loni, die noch pünktlicher war, hatte sie schon ins Sprechzimmer geführt.

Andrea konnte ihr Herz ausschütten, sie fand geneigte und geduldige Ohren bei Dr. Norden.

Sie erzählte von Sonja, von dieser Auseinandersetzung, die ihr nahegegangen war, wenngleich sie sich davon nicht mehr so stark beeinflussen ließ, wie es früher der Fall gewesen wäre.

»Ich habe früher nicht darüber nachgedacht, daß man sich selbst zerstören kann«, sagte Andrea nachdenklich, »aber bei meiner Schwester scheint es der Fall zu sein.«

»Manchmal ist es nicht gut, wenn man zuviel Nachsicht zeigt«, sagte Dr. Norden.

»Ja, das habe ich an mir selbst erfahren«, gab Andrea zu. »Es ist besser, wenn man zurechtgestupst wird. Aber Sonja ist schon seit drei Jahren jede Rücksichtnahme gewohnt. Sie hatte sich doch so sehr auf ihr Baby gefreut.«

»Ich verstehe das«, meinte Dr. Norden. Er wollte Andrea nicht sagen, daß es niemals ein gesundes Kind geworden wäre, wie er nun von Fee wußte. Er konnte auch Dr. Kobelka nichts mehr nachtragen. Zumindest in diesem Fall war ihm keine Schuld beizumessen, und sein Schweigen hatte ihm wohl auch selbst zu schaffen gemacht.

Andrea konnte er nur den Rat geben, Sonja nicht zu grollen und zu versuchen, ihr gut zuzureden. Er konnte ja nicht zu Sonja gehen und dies selbst tun.

»Sie meinen, daß ich energisch sein müßte?« fragte Andrea.

»Zumindest sollten Sie standhaft bleiben und vielleicht mit Ihrem Schwager sprechen, daß er sich auch nicht mehr zu nachgiebig zeigt. Zwingen kann man keinen Menschen, Frau Sommer. Sie können Ihre Schwester nicht im Schlepptau zu Dr. Leitner bringen. Immerhin freut es mich, daß Sie sich gefangen haben.«

»Es wurde wohl höchste Zeit«, sagte Andrea errötend. »Ich glaube, bei meinem Mann war auch die Grenze der Geduld erreicht. Aber vielleicht ist sie bei Bernd schon überschritten.«

»Packen Sie den Stier bei den Hörnern, Frau Sommer. Sprechen Sie auch mit Ihrem Schwager. Wie es scheint, ist lange genug um den heißen Brei herumgeredet worden.«

»Ja, Herr Doktor«, sagte Andrea. »Wir haben Ihnen sehr viel zu verdanken.«

*

Das dachte auch Frau Schindelbeck, als sie an dem bescheidenen Grab ihres Sohnes stand. Nur Karlchen war bei ihr. Ihr Mann war wieder mal betrunken nach Hause gekommen. Gustl, der ältere Sohn, hatte gesagt, daß ihn keine zehn Pferde auf den Friedhof bringen könnten, und die Tochter hatte sie schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen.

Sie hielt Karlchens Hand. »Jetzt fahren wir fort, Karlchen«, flüsterte sie, als der Kleine unruhig von einem Bein auf das andere trat.

»Und der Sepp kommt nimmer, Mutti?« fragte Karlchen.

»Nein, er kommt nimmer«, erwiderte sie unsagbar müde.

Und dann gingen sie vom Friedhof. Draußen wartete der Mietwagen, den Dr. Norden bestellt hatte, der sie auch zur Insel der Hoffnung bringen sollte. Ein alter Koffer, der mit Bindfaden verschnürt war, lag schon darin. Viel hatte sie nicht mitzunehmen. Nur zurück wollte sie nicht mehr.

Gustav wird seinen Rausch ausschlafen und dann die Wut kriegen, wenn wir nicht mehr da sind, dachte sie. Er wird zerschlagen, was noch zu zerschlagen ist. Aber in ihr hatte er sowieso schon alles zerstört. Sie dachte nur noch an den Kleinen, der neben ihr saß und ihre Hand nicht losließ.

»Es ist bestimmt schön dort, wo wir hinfahren«, sagte Karlchen.

»Ja, es ist schön, mein Kleiner«, murmelte sie, obgleich sie sich gar nicht vorstellen konnte, daß ein Paradies sie erwartete, von dem sie nie zu träumen gewagt hätte.

*

»Frau Schindelbeck und Karlchen sind gut angekommen«, empfing Fee Norden ihren Mann. »Anne war sehr gerührt. Diese armen Menschen müssen sich ja im Himmel wähnen.«

»Und der Schindelbeck kann meinetwegen zur Hölle fahren«, sagte Daniel grimmig. »Stockbetrunken ist er in die Praxis gekommen und hat mich beschimpft. Ich bin mal wieder an allem schuld, weil er niemanden mehr hat, an dem er seine Wut auslassen kann.«

»Was hast du unternommen?« fragte Fee.

»Er kommt in eine Entziehungsanstalt. Der Mann ist gemeingefährlich. Da gibt es kein Pardon mehr. Er gehört in Sicherheitsverwahrung. Hoffentlich hat diese arme Frau nun noch ein paar ruhige Jahre.«

»Paps und Anne werden schon dafür sorgen«, sagte Fee. »Hast du eigentlich schon gehört, wie es dem Vertreter geht?«

»Das bringt Herr Rogner über seine Versicherung in Ordnung. Einige Tausender und ein neues Auto sind

für ihn wohl ein Trostpflaster, und die Welt ist wieder in Ordnung. Man müßte das auch manchmal können,

Fee.«

»Dann wärst du nicht Daniel Norden, der Mann, den ich liebe«, erwiderte sie voller Zärtlichkeit.

»Und du nicht meine Fee«, meinte er, sie ganz fest in die Arme nehmend.

Wie schön war es zu wissen, daß sie ganz übereinstimmten, daß es nichts gab, was Zweifel erzeugen konnte, daß sie immer und über alles miteinander sprechen konnten.

Ganz besonders glücklich waren sie, wenn sie so armen Menschen wie Frau Schindelbeck helfen konnten.

Sie und ihr Karlchen mußten sich wirklich wie im Himmel fühlen auf der Insel, in den zwei schönen, gemütlichen Zimmern. Karlchen konnte es gar nicht glauben, daß er ein richtiges Bett für sich allein bekam, und was für ein Bett. Und dann das Essen. So was hatte er noch nie vorgesetzt bekommen. Bisher hatte das, was sie verdient hatten, gerade dafür gereicht, daß sie nicht zu hungern brauchten.

Was Karlchen aber am allerwenigsten begreifen konnte, war, daß alle so nett zu ihnen waren, und er fragte seine Mutter beklommen, ob das morgen auch noch so wäre.

Frau Schindelbeck stand ganz reglos mit gefalteten Händen da, zum ersten Mal seit vielen Jahren sich geborgen fühlend, frei von Angst.

»Meinst du wirklich, daß sie morgen auch noch so nett zu uns sind und nicht schimpfen, Mutti?« fragte Karlchen.

Sie strich ihm über das Haar. »Das können wir jetzt glauben, mein Kleiner«, sagte sie leise. »Werde du ein guter Mensch, damit ich nicht umsonst gelebt habe.«

»Ich ärgere dich nicht, Mutti. Nicht wie der Sepp. Du sollst nimmer weinen«, sagte Karlchen. »Aber der Sepp kommt ja nicht mehr.«

Und es bleibt nichts, dachte sie, nicht mal ein bißchen gute Erinnerung. Und da stand das Warum mit einem riesengroßen Fragezeichen. Warum mußte es so kommen, wo sie doch nur das Gute gewollt und gewünscht hatte.

So müde war sie, so unsagbar müde, daß sie dann gleich einschlief. Doch am nächsten Morgen erwachte sie erquickt. Die Sonne schien, die Vögel sangen, und Karlchen schlief noch selig und süß.

Niemand schrie sie an. Sie konnte die Stille genießen. Ein Schimmer von Freude kam in ihre Augen.

»Herrgott, ich danke dir, daß ich das noch erleben darf.«

*

Auch Lucy Rogner schickte ein Dankgebet zum Himmel. Achim hatte die Augen aufgeschlagen. Ob er etwas wahrnahm, konnte man nicht sagen, aber das erste Wort, das er über die Lippen brachte, war »Mami«. Leise und flehend klang es.

Sie streichelte seine Wangen und seine Hände, sie küßte seine Nasenspitze, die aus dem Verband hervorlugte.

»Ich bin ja bei dir, Achim«, sagte sie, bemüht, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Deine Mami ist bei dir.«

Er sank wieder in den Schlaf zurück, ruhiger nun, gleichmäßiger atmend.

Der Chefarzt kam. »Das Schlimmste ist nun wohl geschafft, Frau Rogner«, sagte er, als er Puls und Blutdruck kontrolliert hatte. »Ist zum Glück ein zähes Bürschchen.«

Er sagte nichts davon, daß sie in der Nacht noch fürchten mußten, daß er es nicht durchstehen würde. Nun waren sie froh, daß sie die Eltern nicht geholt hatten. Es waren ihnen drei schlimme Stunden erspart geblieben, in denen mit Herzmassagen, Infusionen und allen zur Verfügung stehenden Mitteln versucht worden war, das Leben des Kindes zu erhalten.

Lucy Rogner sah Dr. Reichert aus feuchten Augen an. »Wird er leben, Herr Doktor?« fragte sie besorgt.

»Jetzt können wir hoffen«, erwiderte er.

»Und was wird bleiben?« fragte sie mit erstickter Stimme. »Ich möchte es wissen. Ich muß vorbereitet sein, damit ich ihm helfen kann. Es braucht doch seine Zeit, bis man sich hineinfindet. Bitte, sagen Sie mir die ganze Wahrheit.«

»Viele Narben werden bleiben«, erwiderte er. »Vielleicht auch ein steifes Bein. Aber glücklicherweise keine Querschnittlähmung, wie wir zuerst fürchten mußten. Es wird aber Monate dauern, bis er wieder laufen kann, Frau Rogner.«

Sie senkte den Kopf. »Wenn er nur lebt«, murmelte sie, »alles andere werden wir überstehen.«

Sie war sehr tapfer. Dr. Reichert wünschte sich, daß alle Mütter so wären. Sie saß Stunden um Stunden am Bett, ohne eine Schwester in Anspruch zu nehmen. Keine Klage kam über ihre Lippen. Sie äußerte keinen Wunsch. Sie sagte nie, was so viele sagten: »Das ertrage ich nicht. Ich kann hier nicht dauernd sein.«

Mittags kam Dr. Norden. Kollege Reichert hatte schon mehrfach mit ihm telefoniert. Nun wollte Dr. Norden auch einmal persönlich mit ihm sprechen.

Zehn, vielleicht auch fünfzehn Jahre älter mochte Dr. Reichert sein als er. Sie waren sich auf den ersten Blick sympathisch.

»Ich freue mich, daß wir uns mal persönlich kennenlernen, Herr Kollege«, sagte Dr. Reichert. »Gehört habe ich schon viel von Ihnen und auch von der Insel der Hoffnung. Wenn ich mal Zeit habe, werde ich mich auch dort erholen.«

»Sie werden jederzeit willkommen sein«, erwiderte Daniel. »Aber was hört man denn so über mich, wenn ich neugierig sein darf?«

»Nur Gutes. Sie haben die Patienten, die sich jeder Arzt wünscht, aber die haben ja auch einen Arzt, wie ihn sich jeder Kranke wünscht. Ich habe Sie schon oft beneidet, das soll nicht ungesagt bleiben.«

Da konnte Daniel auch nur staunen. Das sagte ein Chefarzt, der gewiß keinen Grund hatte, sich einzuschmeicheln.

»Schauen Sie, lieber Norden«, fuhr Dr. Reichert fort, »da geht man Tag für Tag, jahrein, jahraus, von Zimmer zu Zimmer, und ganz selten nur lernt man einen Patienten richtig kennen. Die, die man kennenlernt, weil sie monatelang hier liegen, sind meist Todeskandidaten. Und was sonst ein Klinikchef alles zu verdauen hat, wissen Sie ja.

Als ich jung war, hatte ich nicht die Möglichkeit, eine eigene Praxis zu gründen. Da war ich heilfroh, daß ich die Assistenzstelle bekam, und dann hat man sich so heraufgedient. Lieber Gott, was bin ich redselig. Dabei ist Ihre Zeit kostbar.«

Ob er auch niemanden hat, mit dem er reden kann? fragte sich Daniel. Hier lebt wohl auch jeder für sich

allein. Es war bekannt, welches Gerangel es in den großen Krankenhäusern oft gab. Ja, er war froh, daß er dem nicht ausgesetzt war. Dr. Reichert gehörte sicher nicht zu jenen, die sich kaltblütig über alles hinwegsetzen konnten. Das verriet auch sein Interesse an der Familie Rogner und die Tatsache, daß er selbst sich ausschließlich um Achim bemüht hatte, obgleich die weitere Betreuung doch meist dem Stationsarzt überlassen blieb.

Daniel erfuhr auch, wie kritisch Achims Zustand in dieser Nacht gewesen war.

»Hoffentlich wiederholt sich das nicht wieder«, sagte Dr. Reichert. »Ja, und dann bleibt natürlich die Überlegung, wie es der Junge verkraften wird, auf lange Zeit hinaus behindert zu sein. Er scheint ja ein rechter Treibauf gewesen zu sein.«

Das war nicht wegzureden. Aber Dr. Reichert setzte voraus, daß Dr. Norden die weitere ärztliche Betreuung des Jungen übernehmen würde, wenn er dann, wann, blieb offen, nach Hause entlassen werden konnte.

»Ich weiß nicht, ob er mich mag«, sagte Daniel. »Ich habe ihm mal gewaltig den Kopf gewaschen. Er war tatsächlich unüberlegt und leichtsinnig.«

»Aber Sie haben ihm zum Überleben verholfen.«

Lucy Rogners Miene hellte sich auf, als Dr. Norden das Krankenzimmer betrat.

»Sie kommen eigens wegen Achim her?« fragte sie staunend.

»Ich muß mich doch mal überzeugen, ob er auch gut versorgt wird«, antwortete Daniel mit einem Augenzwinkern zu Dr. Reichert.

»Bestens«, erwiderte sie. »Da gibt es nichts zu klagen. Ich darf sogar bei Achim bleiben, solange ich will.«

»Das ist wohl das wenigste, was wir tun können«, meinte Dr. Reichert. »Aber nun dürfen Sie sich auch ruhig mal Ruhepausen gönnen, Frau Rogner. Gehen Sie mal ein bißchen an die frische Luft. Es ist ein schöner Tag.«

Ja, es war ein schöner Tag, ein Herbst, wie schon lange nicht mehr. Die Entschädigung für einen verregneten Sommer. Einen malerischen Anblick bot der Park, der in Sonnenlicht getaucht war, die Vielzahl herbstlicher Farben goldschimmernd leuchten lassend. Kein Herbststurm brauste, der die Blätter weggerissen hätte, die nun dahinwelkten. Mild war die Luft, die Lucy Rogner umfing, als sie an Dr. Nordens Seite hinausging.

»Nun ist das Haus plötzlich nicht mehr wichtig«, sagte sie gedankenverloren. »Ich habe mich so sehr auf Weihnachten gefreut, mich am Ziel aller Wünsche wähnend.«

»Vielleicht wird Achim Weihnachten doch zu Hause sein«, sagte Dr. Norden.

»Tini wird vorher heiraten«, sagte sie. »Sie hätte es so verdient, eine schöne Hochzeit zu feiern. Aber wir wollen zufrieden sein, daß sie in Rainer Bichler einen guten Mann bekommt.«

»Sie wird auch ohne großes Fest glücklich sein«, sagte Dr. Norden.

»Wir hätten nicht gedacht, daß wir sie mal so schnell verlieren würden«, flüsterte Frau Rogner.

»Sie verlieren Tini doch nicht«, warf Daniel tröstend ein.

»Hoffentlich denkt mein Mann auch so«, sagte sie. »Aber für Rainer wird so der Anfang leichter sein, wenn er den Betrieb übernimmt. Die Bichlers haben ja auch ihre Sorgen.«

Dr. Norden wußte das, denn es war noch lange nicht entschieden, ob die Operation Herrn Bichlers Leben für längere Zeit verlängern würde. Gute fünf Jahre mußte man abwarten, ob sich nicht doch Metastasen gebildet hatten. Selbst der beste Arzt konnte keine Prognosen stellen. Den Patienten, die tatsächlich als geheilt gelten konnten, standen andere gegenüber, denen selbst der eigene Lebenswille nicht geholfen hatte.

Aber Achim Rogner war zehn Jahre jung und würde immer daran erinnert werden, daß kindlicher Leichtsinn ihn zu Schaden gebracht hatte. Wie würde er das Leben bewältigen, das noch vor ihm lag? Und würde dies nicht doch auch das Leben seiner Eltern völlig verändern?

Am Ziel ihrer Wünsche hatte sich Lucy Rogner gewähnt, wenn sie ihr eigenes Haus beziehen konnte. Vorher war ihr Leben in ruhigen, geordneten Bahnen verlaufen, und nun, gerade zu diesem Zeitpunkt, wurde sie einer Bewährungsprobe unterzogen. Ob sie die Kraft hatte, diese zu bestehen?

*

Andrea Sommer betrat das Büro ihres Schwagers, und da glaubte sie ihren Augen nicht trauen zu können. Sonja saß am Schreibtisch, vertieft in die Post.

»Sonja!« rief Andrea aus.

Die hob ihren Kopf. »Was verschafft uns die Ehre?« fragte sie mit einem spöttischen Unterton, da sie sofort dachte, daß Andrea mit ihrer Anwesenheit nicht gerechnet hatte. Also hatte sie Bernd sprechen wollen, und Sonja konnte sich auch gleich denken, warum.

»Was machst du hier?« fragte Andrea.

»Ich bin seit heute Schreibkraft meines Mannes«, erwiderte Sonja. »Und was willst du?«

Andrea wurde verlegen, aber sie war zu einer Notlüge nicht bereit. »Ich wollte mit Bernd sprechen«, erwiderte sie.

»Über mich«, sagte Sonja. »Wahrscheinlich darüber, daß der kranken Sonja geholfen werden müsse.«

»Bitte, spotte nicht«, sagte Andrea. »Ich habe mir ernsthafte Sorgen um dich gemacht.«

»Ist ja gut, Andrea«, lenkte Sonja ein. »Du brauchst dir keine Sorgen mehr um mich zu machen. Wir haben andere.«

»Wieso?« fragte Andrea.

»Pietsch ist pleite. Für uns bedeutet das einen Verlust von achtzigtausend Mark. Gestern habe ich dir noch großmütig unsere Hilfe angeboten, damit ist es Essig. Immerhin hat es den Vorteil, daß ich mich nicht mehr so wichtig nehmen und auch dir nicht mehr auf die Nerven fallen werde. Ich hätte schon früher auf den Gedanken kommen können, daß Bernd mich im Geschäft brauchen könnte. Vielleicht hätte er auch auf diesen Gedanken kommen können. Also, ich bin hier und arbeite. Und was hast du mir zu sagen?«

»Eigentlich nichts mehr, außer, daß du vielleicht doch mal zu Dr. Leitner gehen solltest.«

»Zu gegebener Zeit«, erwiderte Sonja. »Jetzt habe ich keine. Es ist unglaublich, was hier alles verschlampt worden ist. Na, die Müller war auch mehr krank als im Büro.« Sie errötete leicht. »Es kann ja sein, daß sie genauso hysterisch war wie ich. Sie hatte auch eine Fehlgeburt. Schau mich nicht so verdattert an.«

»Ich kann es nicht glauben, daß du dich über Nacht so verändert hast.«

»Ich konnte es gestern auch nicht glauben, wie schnell du dich verändert hast.«

»Bitte, sei mir nicht mehr böse, Sonja. Wir haben uns doch nie gestritten.«

»Ich bin nicht mehr böse. Ich war töricht. Du hast mir die Meinung gesagt, Bernd auch. Und nun werden wir beide besser zurechtkommen.« Sie war aufgestanden, ging auf Andrea zu und nahm sie in den Arm. »Wenn dein Baby da ist, bekomme ich sicher auch wieder Mut, es noch einmal zu wagen. Aber erst, wenn dieser ganze Schlamassel hier in Ordnung gebracht ist. Bernd wollte mich wegschicken. Das hätte ich nicht verkraftet.«

»Ist alles in Ordnung?« fragte Andrea. »Können wir euch irgendwie helfen?«

»Nein, wir kommen schon zurecht. Bernd hat ja nicht mal mehr gewußt, wie viele Außenstände er hat. Jetzt ist alles in bester Ordnung. Ich werde nicht mehr nach

dem Nerzmantel schielen, und unseren Wagen werden wir diesmal ein Jahr länger fahren. Meinen Wagen verkaufe ich. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich fahre morgens mit Bernd ins Büro und abends zurück.

Heute ist er in Augsburg. Wenn er den Auftrag einbringt, sind wir schon wieder einen Schritt weiter. Sei mir nicht böse, Andrea, aber ich habe noch viel Post zu erledigen.«

So schnell konnte sich alles ändern. Andrea konnte es noch gar nicht glauben. Da wollte sie sich doch erst mal eine Erfrischung gönnen.

*

Sie bummelte den Theatiner-Boulevard hinunter, ohne die verführerischen Schaufensterauslagen zu betrachten. Nur vor dem Pelzgeschäft blieb sie stehen, denn dort stand der Nerzmantel, von dem Sonja ihr vorgeschwärmt und den sie ihr letzte Woche erst gezeigt hatte. Er würde jedenfalls nicht von Sonja getragen werden. Andrea lächelte. Dann betrat sie das Café, und wen sah sie dort sitzen, tête-à-tête mit einem jungen Mann? Monika Pietsch! Nach Pleite sah sie nicht aus in dem schicken rehbraunen Wildlederkostüm.

Andrea schnaufte ein paarmal. Dann ging sie fast demonstrativ auf den Nebentisch zu und setzte sich.

Monika blickte auf, wurde blaß. »Hallo, Monika«, sagte Andrea. »Nett, dich zu sehen.«

»Wie geht es dir?« fragte Monika.

»Blendend.«

»Wir wollten gerade gehen«, sagte Monika, und da stand ihr Begleiter schnell auf. Monika trat näher an Andreas Tisch heran. »Denk nichts Falsches«, flüsterte sie.

»Dir scheint die Pleite jedenfalls nichts auszumachen«, sagte Andrea kühl.

»Ich lasse mich scheiden, falls es sich noch nicht herumgesprochen haben sollte. Bob ist in der Schweiz.«

»Dann grüß ihn mal schön, wenn du ihn triffst, und erinnere ihn daran, daß er bei Bernd hoch in der Kreide steht«, sagte Andrea anzüglich.

»Er wird alles in Ordnung bringen«, sagte Monika. »Der Fiskus, du weißt ja.«

»Laß dich nicht aufhalten«, sagte Andrea. »Dein Freund wartet. Was wird eigentlich mit dem Grundstück, das ihr gekauft habt? Helmut sollte doch den Bebauungsplan einreichen.«

Monika setzte sich, winkte ihrem Begleiter ab. »Paß mal auf, Andrea«, sagte sie leise. »Hängt das doch nicht an die große Glocke. Irgendwie werden wir uns einigen. Ich verstehe nichts von Bobs Geschäften. Er wollte erst mal alles in Ruhe überdenken. Er ist ja nicht durch eigene Schuld in Schwierigkeiten gekommen. Mit manchem war nicht zu rechnen.«

»Auch nicht damit, daß wir uns hier treffen würden«, bemerkte Andrea ironisch. »Mit mir schon gar nicht. Ich habe ja meinen Bau so selten verlassen.«

»Reg dich jetzt nicht auf. Denk an dein Baby.«

»Wie fürsorglich. Ich denke daran. Aber ich denke auch daran, daß Bernd deinem Mann vertraut hat. Ich habe dir schon mal gesagt, daß du dich nicht aufhalten lassen sollst.«

»Du siehst das zu einseitig, Andrea. Das Grundstück gehört mir. Wir können uns arrangieren.«

»Wir? Versuch es doch mal mit Helmut. Ich verstehe wahrscheinlich noch weniger von Geschäften als du. Vor allem von Geschäften solcher Art.«

Nun zog es Monika Pietsch doch vor zu gehen. Andrea wunderte sich, wie gelassen sie noch blieb. Sie trank ihren Orangensaft, nahm dann ein Taxi und fuhr nach Hause. Dort wartete schon Helmut, besorgt und sichtlich erregt.

»Wo warst du denn so lange?« fragte er. »Du wolltest doch nur zu Dr. Norden gehen.«

»Ich war noch bei Sonja.«

»Sie ist aber nicht zu Hause. Ich habe angerufen.«

»Sie ist im Büro. Sie hilft Bernd.«

»Waaas?« fragte Helmut konsterniert.

»Ich war auch sehr erstaunt und wollte mich erst mal ein bißchen verschnaufen. Und wen, meinst du, traf ich?«

»Wie soll ich das erraten?«

»Monika Pietsch. Schick wie immer und in Begleitung. Ihr Mann sitzt indessen in der Schweiz.«

»Wenn es gewiß ist.«

»Sie hat es gesagt. Und sie hat noch mehr gesagt. Das Grundstück gehöre ihr, und wir könnten uns arrangieren.«

»Daß ich nicht lache. Das Grundstück gehört immer noch der Bank.«

»Und die Pläne hast du umsonst gemacht?«

»Die habe ich noch gar nicht angefangen. Ich büße nichts ein, Andrea.«

»Aber Bernd achtzigtausend Mark.«

»Liebes, ich habe ihn gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Es tut mir leid, doch es ist nicht zu ändern.«

»Jedenfalls hat es das eine Gute für sich, daß Sonja nicht mehr zu Hause hockt und Däumchen dreht. Vielleicht ist Bernd das sogar das Geld wert.«

»So kann man es auch betrachten. Ich kann nur noch staunen, Andrea.«

»Ich auch, über Sonja, über mich, über diese Schlawiner, die sich hemmungslos bereichern. Am meisten aber über mich selbst, Liebster. Du hättest es gleich mit dem Holzhammer versuchen sollen.«

»Der hätte wohl nichts genutzt. Ich glaube schon, daß Dr. Leitner das Wunder bewirkt hat und dein guter Wille dazu. Ich bin glücklich, Andrea.«

Nun konnten sich sich richtig freuen, trotz der Ereignisse, die sie noch vor ein paar Tagen maßlos aufgeregt hätten.

*

Die Tage gingen dahin, und die Herbststürme blieben nicht aus. So heftig tobten sie, daß auch die letzten bunten Blätter von den Bäumen geweht wurden.

Der schnelle Wetterwechsel brachte Dr. Norden noch mehr Arbeit. Von der Insel aber kamen gute Nachrichten. Sie hatten auch die besseren klimatischen Bedingungen. Frau Schindelbeck hatte sich inzwischen bereits als eine vorzügliche Hilfe in Küche und Haus erwiesen. Sie lebte auf, und Karlchen fühlte sich wie ein kleiner König. Er hatte sich schnell mit Mario, dem

Adoptivsohn von Johannes und Anne Cornelius, angefreundet, von dem er sehr viel lernen konnte, denn Mario war ein ganz gewitzter Junge, dem man nicht mehr anmerkte, daß er als Vierjähriger, ohne ein Wort deutsch sprechen zu können, auf die Insel der Hoffnung gekommen war. Seine Eltern waren italienische Gastarbeiter gewesen, die bei einem Bootsunglück ertrunken waren.

Mit seinen schwarzen Haaren und dunklen Augen konnte Mario zwar seine Herkunft nicht verleugnen, aber er wußte gar nichts mehr davon. Er hatte in Johannes und Anne Cornelius heißgeliebte Eltern gefunden. Er war integriert in eine Gemeinschaft, die ihm liebevoll entgegengekommen war. Er hatte vergessen, was einmal geschehen war. Es wurde nicht einmal davon geredet, daß ihn Daniel Norden aus den Fluten des Chiemsees gerettet hatte. An nichts wurde er erinnert, was sein junges Leben belasten konnte. Mario war ein glückliches Kind, und er vermochte auch anderen Glück zu geben.

Für Karlchen war er zu einem Vorbild geworden, dem er nacheifern wollte, und das war für diesen armen kleinen Jungen sehr gut. Er hatte nie ein Vorbild gehabt, denn seine besorgte Mutter hatte nicht mal Zeit gehabt, sich wenigstens um ihn zu kümmern.

Manchmal dachte Frau Schindelbeck freilich, ob nicht auch ihre anderen Kinder anständige Menschen geworden wären, wenn sie in solcher Umgebung hätten aufwachsen können. Gewalt erzeugt Gegengewalt, und bei ihnen hatte der gewalttätige Vater den Ton bestimmt. Er hatte schmerzhaft zugeschlagen, wenn sich jemand gegen ihn auflehnte. Die Spuren solcher Schläge verheilten bei Frau Schindelbeck langsam. Dr. Cornelius war entsetzt gewesen, als er sie untersucht hatte. Er hatte sich gefragt, wie sie das hatte erdulden und überstehen können. Sie hatte nur die Antwort darauf gewußt, daß sie es selber nicht wüßte. Nun brauchte sie sich nicht mehr zu ducken. Nun hörte sie oft Worte des Dankes, und am Abend jeden Tages freute sie sich auf den nächsten.

*

»Es ist doch seltsam«, sagte Fee Norden, »wäre dieses Unglück nicht geschehen, würden Frau Schindelbeck und Karlchen jetzt noch unter den gleichen schlimmen Bedingungen leben.«

»Wie wahr, liebste Fee«, sagte ihr Mann. »Es muß meist etwas Schreckliches geschehen, damit wir aufgerüttelt werden.«

»Um alles kannst du dich aber wahrhaftig nicht kümmern«, meinte Fee, damit er ihre Worte ja nicht als Vorwurf verstehen sollte.

»Dann müßte der Tag wohl hundert Stunden haben«, sagte er seufzend. »Aber ist es nicht schlimm, daß nicht auch andere sich um den Nächsten kümmern?«

»Wer handelt sich schon gern Schwierigkeiten ein? Du weißt ja, wie Schindelbeck dir gekommen ist. Hat man ihn jetzt in eine Anstalt gebracht?«

»Ja, in eine geschlossene.«

»Und was ist mit den anderen Kindern?«

»Elli ist sowieso schon versumpft, und Gustl ist in ein Heim gekommen, aber ob ihm noch zu helfen ist, bleibt die Frage. Es ist bitter, Fee, aber sie sind getreten worden und haben gelernt, zurückzutreten.«

»Sie haben eine ehrliche, anständige Mutter«, sagte Fee nachdenklich.

»Was nützt das, wenn sie gegen den Mann nicht ankam? Kinder begreifen das nicht. Sie haben die Mutter als die Schwächere betrachtet, bestimmt dazu, zu kuschen. Man kann lange darüber nachdenken, Fee, aber irgendwie mag in jedem Menschen doch die Veranlagung zum Guten oder zum Bösen sein. Meistens überwiegen die schlechten Erbanlagen. Es ist wie mit dem Unkraut. Es siedelt sich überall an und ist schwer zu beseitigen. Es gibt gewisse Gehirnzellen, die den Menschen falsch steuern können. Aber wann werden wir in der Lage sein, dagegen etwas zu tun?«

Wenn sie ins Philosophieren kamen, saßen sie lange beisammen, aber für beide waren es Stunden, die bedeutungsvoll waren und auch beglückend, weil sie nicht aneinander vorbeiredeten, sondern sich etwas zu sagen hatten. Sie kamen immer wieder zu neuen Erkenntnissen, die sie bereicherten.

»Du lieber Himmel«, sagte Fee, als es schon Mitternacht war, »eigentlich wolltest du dir doch das Fußballspiel ansehen, Daniel.«

»Mit dir zu sprechen ist mir wichtiger, Liebes, außerdem nimmt auch dieser Sport langsam Formen an, die mir nicht gefallen. Es bereitet keine Freude mehr.«

»Weil dein Lieblingsverein verlieren wird?« fragte sie schelmisch.

»Es wird alles zu ernst genommen, was eigentlich nebensächlich ist.«

»Aber wie schnell ist doch vergessen, was gerade gestern noch wichtig erschien«, sagte Fee nachdenklich. »Aber jetzt fangen wir nicht auch noch von Rogners an, sonst kommen wir gar nicht mehr ins Bett.«

*

Erwin und Lucy Rogner lagen schon seit einer Stunde in ihren Betten, aber sie schliefen noch immer nicht.

Lucy war es gewohnt, alles mit ihrem Mann zu besprechen, was sie bewegte. In allen wichtigen Entscheidungen hatte sie sich immer nach ihm gerichtet. Allein hätte sie nie eine getroffen. So hatte sie nun auch davon gesprochen, daß Tini und Rainer heiraten wollten.

»Müssen sie uns das jetzt antun?« fragte Erwin müde.

»Was heißt antun?« erwiderte Lucy ruhig. Ja, sie bemühte sich, ganz ruhig zu sein. »Sie lieben sich. Rainer muß sich umstellen. Tini kann ihm dabei helfen. Leicht ist es doch nicht für ihn.«

»Der Betrieb ist gut fundamentiert«, sagte Erwin.

»Um so besser. Dann brauchen wir uns um Tini nicht so sorgen.«

»Ich habe gemeint, daß sie dir eine Hilfe sein würde, wenn Achim wieder heimkommt. Ulla muß ja sehen, daß sie einen guten Abschluß bekommt. Es ist alles ziemlich viel auf einmal, Lucy.«

»Tini ist doch nicht aus der Welt. Wir können einfach nicht erwarten, daß sie sich nach uns richtet, weil das mit Achim passiert ist.«

»Ich denke an dich, an die Last, die auf dir ruhen wird. Ich kann meinen Beruf nicht an den Nagel hängen. Ich begreife noch immer nicht, daß Achim uns das angetan hat.«

»So darfst du nicht reden. Er wird selbst am meisten darunter leiden«, sagte sie.

»Du könntest mir Vorwürfe machen«, meinte er.

»Ich mache sie dir nicht, und du darfst Achim keine machen. Er braucht unsere Hilfe.«

Er nahm ihre Hand. »Du hast recht, Lucy. Ich werde nichts dagegen sagen, wenn Tini wirklich schon vor Weihnachten heiraten will. Wir werden ihr diesen Tag so schön gestalten, wie es nur möglich ist, auch wenn Achim nicht dabeisein kann.«

Auch sie konnten miteinander reden, wie schon lange nicht mehr. Viele Monate hatte sich alles nur um das Haus gedreht, und da hatte Lucy nur ganz bescheidene Wünsche zu äußern gewagt.

»Um das Haus brauchst du dich jetzt nicht mehr zu kümmern«, sagte sie. »Das tut Rainer. Sie wollten eigentlich nur, daß Tini nicht mehr eingeplant wird.«

»Neunzehn ist sie und will uns schon verlassen«, murmelte er.

»Viel älter war ich auch nicht, als wir geheiratet haben. Wir haben es nur vergessen. Wir vergessen so viel, wenn es um die eigenen Kinder geht und denken auch nicht mehr daran, was unsere Eltern empfunden haben. Begeistert waren sie auch nicht gerade, als wir unseren Willen durchsetzten.«

»Gut, daß du mich daran erinnerst, Lucy«, sagte er. »Aber bereut haben wir es doch beide nicht, oder?«

»Nein, ich habe es nie bereut«, erwiderte sie. »Wünschen wir Tini, daß sie in dreiundzwanzig Jahren auch so denkt.«

*

Andrea lachte mitten in der Nacht, mitten im Schlaf. Helmut schoß sogleich in die Höhe. Er hatte nicht mitbekommen, daß diese Laute ein Lachen waren.

»Was ist denn, Liebling?« fragte er verwirrt.

Andrea rekelte sich. »Was soll denn sein? Ich habe eben herrlich geträumt.«

»Was hast du geträumt?«

»Von Sonja. Sie saß inmitten eines großen vierblättrigen Kleeblatts, und auf jedem Blatt stand eine Wiege. Hübsch sah das aus.«

»Mach mich nicht schwach. Manchmal gehen Träume in Erfüllung, und Vierlinge würde sie nicht bewältigen.«

»Das kann man vorher nie sagen«, murmelte Andrea schlaftrunken. »Jedenfalls sah es hübsch aus.« Sie drehte sich zur Seite und schlief weiter, und Helmut schlief auch wieder ein.

Als er am Morgen erwachte, zog schon Kaffeeduft durch das Haus. Er ging in die Küche.

»Du bist aber schon früh munter«, sagte er gähnend.

»Ich habe wundervoll geschlafen«, erwiderte sie.

»Und von Vierlingen geträumt.«

»Was? Ich kann mich nicht erinnern.«

»Du hast es mir doch erzählt.«

»Das hast du geträumt.«

»Na gut, vielleicht habe ich geträumt, daß Sonja auf einer Wiese saß, inmitten eines vierblättrigen Kleeblatts, und auf jedem stand eine Wiege.« Er nahm sie in den Arm. »So hast du es mir jedenfalls erzählt.«

»Du liebe Güte, das soll ich erzählt haben? Mit Vierlingen würde Sonja doch wohl nicht fertig werden.«

»Das habe ich heute nacht auch gesagt, aber man kann es vorher nie sagen.«

Andrea lachte so hell wie im Traum. »Das werden wir Sonja aber nicht erzählen, sonst wird sie es nie riskieren, doch noch ein Baby haben zu wollen. Wir wissen wenigstens, daß wir nur eins bekommen.«

»Es könnten ja auch vier nacheinander kommen«, räumte Helmut übermütig ein.

Sie waren in froher, gelöster Stimmung. Und wie es Andrea schmeckte. Sie futterte richtig drauflos.

»Dr. Leitner hat gemeint, daß ich ruhig noch ein bißchen zunehmen kann«, sagte sie. Ihre Augen strahlten. »Weihnachten haben wir unser Baby, Helmut. Ich freue mich so.«

Sie hatte nie so weit vorausgedacht. Nie bis zum errechneten Termin. Nun war es so, als wäre eine Mauer gefallen. Gewiß sagte sie wie immer, als er ging: »Paß gut auf dich auf, mein Schatz«, aber in ihrer Stimme war nicht mehr die Beklemmung.

»Ich fahre heute bei Dr. Norden vorbei, damit er meine Hand anschaut«, sagte er. »Es kann ein paar Minuten später werden, bis ich daheim bin.«

»Sag ihm schöne Grüße, und sage ihm auch, daß mit Sonja alles in Ordnung ist. Er ist wahnsinnig nett. Ich bin froh, daß wir an ihn geraten sind.«

Und wie war ihm zumute gewesen, als er überlegt hatte, zu welchem Arzt er gehen sollte, mit der blutenden Hand, mit der Sorge, wie Andrea sich aufregen würde, mit all der Sorge, wie es beruflich weitergehen sollte, wenn Herr Bichler ausfiel.

Nun ging auch das weiter, und er wußte, wie gut er mit Rainer zusammenarbeiten konnte. Sie hatten schon darüber gesprochen. Sie verstanden sich prima. Helmut hoffte nur, daß mit Tini alles in Ordnung gehen würde.

Dann dachte er plötzlich an seine Schwiegereltern. Ob sie schon von Dr. Kobelkas Tod erfahren hatten, da sie ihn ja viele Jahre kannten?

Er hatte es gedacht, und daheim klingelte das Telefon. Andrea schrak auch dabei nicht zusammen wie früher. Auch dann nicht, als die aufgeregte Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr drang, die gerade erst erfahren hatte, daß Dr. Kobelka gestorben war.

»Und was nun, Andrea?« fragte sie.

»Ich war schon bei einem anderen Arzt, Mutti, und ich gehe in eine ganz moderne Klinik. Das Entbindungsheim schließt ohnehin zum Jahresbeginn.«

Dann mußte sie unzählige Fragen über sich ergehen lassen. Ob es wirklich stimme, daß Kobelka ein paar Verfahren am Halse gehabt, und ob er vielleicht doch bei Sonjas Baby etwas versäumt hatte, oder ob die Zustände im Entbindungsheim nicht tragbar gewesen wären. Und was nicht alles.

»Darüber brauchen wir uns doch nicht den Kopf zu zerbrechen, Mutti«, sagte Andrea schon leicht ungeduldig.

»Ich mache mir doch Sorgen um euch. Man sieht sich ja so selten. Jetzt werde ich Sonja anrufen.«

»Du erreichst sie im Büro.«

»Wieso im Büro?«

»Weil sie für Bernd arbeitet.«

»Wieso denn arbeitet?«

»Damit sie Beschäftigung hat. Sonja kann dir alles selbst erzählen. Wie geht es Vati?«

»Ach, der geht spazieren, und nachher sitzt er wieder über seinen Briefmarken.«

»Vielleicht solltest du mal öfter mit ihm spazierengehen«, schlug Andrea vor. »Im Haushalt wirst du ja nicht so viel zu tun haben.«

Die Antwort wußte sie schon vorher. Ihre Mutter wurde mit der Arbeit nie fertig.

Seufzend legte sie den Hörer auf. Für sie war es schon besser, daß die Eltern ziemlich weit vom Schuß waren. Sie hatten beide ihre Eigenheiten. Sie hatten ziemlich spät geheiratet und waren auch nicht mehr jung gewesen, als die Kinder kamen. Sie hatten es auch nicht gern gesehen, daß beide Töchter nach München geheiratet hatten, ja, es hatte da schon ziemlich Spannungen gegeben, aber das war vorbei.

Andrea machte es sich in ihrem Sessel am Fenster gemütlich und nahm dann die Zeitung zur Hand. Ein

langer Artikel stand darin über das Entbindungsheim, und daß es vor allem deshalb geschlossen wurde, weil es den Anforderungen nicht mehr entsprach. Staatliche Zuschüsse würden aus diesem Grunde nicht mehr gegeben, doch über die Höhe der Abfindung, die Frau Baumgart bekam, stand nichts darin.

Andrea dachte daran, daß man mal gemunkelt hatte, Dr. Kobelka und Frau Baumgart würden heiraten. Aber das hatte sie sich wohl doch überlegt.

Wenn Helmut sich nun nicht die Hand verletzt hätte und Dr. Kobelka nicht gestorben wäre, ging es Andrea durch den Sinn, doch sie schob diesen Gedanken gleich beiseite. Wenn und aber brauchten sie nicht mehr zu beschäftigen. Es hatte sich alles so gefügt.

Sie legte die Hände auf ihren gewölbten Leib. Sie spürte voller Glück, wie sich das Kind bewegte. Jetzt erst empfand sie so richtig dieses Glück. Sie genoß es. Sie ging in das Kinderzimmer, das Helmut eingerichtet hatte, vor dem sie immer mit angstvollem Herzklopfen haltmachte. Sie betrat es unbeschwert, mit einem sehnsüchtigen Lächeln, und voller Zärtlichkeit betrachtete sie die Wiege und all die kleinen Sächelchen, die für ihr Kind bereitlagen.

Sonja hatte damals gesagt, daß sie alles von ihr haben könne, aber das hatte sie nicht gewollt. Da saß schon die Angst so tief, daß sie meinte, es könne ein schlechtes Omen sein.

Sie hatte in sich hineingelauscht, sie hatte auf andere gehört. Was alles war ihr eingeredet worden, was hatte sie sich selbst eingeredet.

Ob sich das auf das Kind übertragen hatte? Andrea betrachtete sich im Spiegel. Nun rede dir nicht schon wieder was ein, sagte sie laut, und dann nahm sie das Buch zur Hand, das Dr. Leitner ihr gegeben hatte.

*

Helmut Sommer schaute zu, wie Dr. Norden ihm den Verband abschnitt. Er spürte einen kurzen, jähen Schmerz, dann war auch die Wundabdeckung herunter. Es sah immer noch schlimm aus.

»Jetzt kann ich ja sagen, daß Sie sehr viel Glück gehabt haben«, erklärte Dr. Norden. »Es hätten um ein Haar ein paar Sehnen durchgeschnitten sein können und dann…«

»Sprechen Sie nicht weiter. Ich will es gar nicht wissen«, sagte Helmut. »Ich bin heilfroh, daß alles so abgegangen ist. Ich brauche meine Hand zum Zeichnen. Ich brauche sie bald.«

»Jetzt bekommen Sie nur noch einen leichten Verband, und dann machen Sie schon mal Fingerübungen. Aber vorsichtig, daß die Wunden nicht wieder aufreißen.«

Er zeigte es ihm und dabei sagte Helmut: »Von meiner Frau soll ich schöne Grüße bestellen. Bei Sonja renkt es sich auch ein. Sie arbeitet jetzt bei ihrem Mann im Büro.«

»Arbeit ist immer eine gute Ablenkung und verbunden mit Liebe auch eine gute Medizin.«

»Meine Frau wollte damals auch noch ein paar Monate arbeiten, aber ich wollte es nicht«, sagte Helmut.

»Es wäre besser gewesen«, meinte Dr. Norden.

»Sie heißen es gut?«

»Warum denn nicht? Eine sitzende Tätigkeit ist freilich nicht ideal, aber man kann ja durch gymnastische Übungen ausgleichen.«

»Bei uns haben sich halt so viele eingemischt. Erst Sonja, dann meine Schwiegermutter, die jeden Tag angerufen hat, was ihr dann zum Glück doch zu kostspielig wurde. Na, und ich muß zugeben, daß ich auch

ängstlich war. Ich werde das Kind wohl auch bekommen.«

»Das geht manchen Männern so. Von ihnen sagt man, daß sie sich auch ins Wochenbett legen.«

Helmut lachte. »Dazu habe ich glücklicherweise keine Zeit.« Er machte eine Pause. »Wie geht es Achim?« fragte er dann gepreßt. »Ich wage schon gar nicht mehr, die Rogners zu fragen.«

»Es geht etwas besser, aber es wird noch dauern.«

»Wie lange wohl noch?«

»Sechs, sieben Wochen, vielleicht auch länger. Mit ein bißchen Glück ist er Weihnachten daheim.«

»Tini und Rainer Bichler wollen heiraten.«

»Ja, ich weiß«, sagte Dr. Norden.

»Sie wissen es?«

»Frau Rogner hat es mir erzählt.«

»Sind sie einverstanden? Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor, daß ich Sie mit so privaten Fragen belästige, aber ich bin mit Rainer befreundet, und ihn mag ich auch nicht fragen.«

»Wozu dann die Hemmungen? Er spricht sicher gern mit einem Freund darüber. Er wird wohl auch einen Trauzeugen brauchen. Ungesagte Worte können Schranken aufrichten, die man gar nicht haben will.«

Helmut sah ihn fragend an. »Eigentlich sind Sie doch noch ziemlich jung. Woher nehmen Sie all die Weisheit?«

»Aus der Erfahrung. Ich möchte gerne noch jung bleiben«, sagte Dr. Norden lächelnd, »aber was meinen Sie, was man in einer Arztpraxis Tag für Tag zu hören bekommt.«

»Alle Ärzte sind aber nicht wie Sie. Ich glaube nicht, daß es viele gibt, die sich anhören, was die Patienten auf dem Herzen haben.«

»Es gibt schon noch einige, Herr Sommer. Aber man kann diesen Patienten mehr helfen, wenn man sie anhört, als wenn man ihnen teure Medikamente verordnet, die sie möglicherweise gar nicht vertragen. Da muß man nämlich vorsichtig sein, denn man weiß auch als Arzt nicht, wie sie darauf ansprechen. Aber mit guten, aufmunternden Worten, mit einigen Minuten, die man ihnen widmet und einfach nur zuhört, kann man keinen Schaden anrichten.«

»Die Apotheker wollen aber auch leben.«

»Sicher, sicher. Wir brauchen sie. Aber es ist wenig sinnvoll, Rezepte zu schreiben. Erst recht nicht dann, wenn der Patient sagt, was er verschrieben haben will. Da hat er mal was gelesen und meint, daß es ihm auch helfen müsse.«

»Und es gibt Ärzte, die solche Rezepte schreiben.«

»Ja, die gibt es leider. Es gibt auch Ärzte, die sich nicht genügend mit Patientinnen beschäftigen, bevor sie Östrogene oder Antibabypillen verschreiben, und dann kommt das dicke Ende nach. Im wahrsten Sinne des Wortes dick.«

»Dann ist meine Frau Zeisel vielleicht von Antibabypillen so dick geworden«, sagte Helmut.

»Schnell?« fragte Daniel.

»Zusehends, und sie ißt kaum noch.«

»Dann schicken Sie sie mal zu einem gewissenhaften Frauenarzt.«

»Sie meinen Dr. Leitner.«

»Er verordnet nichts, was nicht erprobt ist, und nicht, bevor er die Patientin gründlichst untersucht hat.«

»Und mit ihr redet er genauso, wie Sie mit mir reden. Andrea ist völlig umgekrempelt. Wir schulden Ihnen viel Dank, Herr Doktor.«

»Für mich wird es eine große Freude sein, wenn ich von der Geburt Ihres Kindes erfahre.«

»Wir werden uns sicher vorher noch öfter sehen, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß es so was sein muß«, sagte Helmut, auf seine Hand deutend.

Bis die ganz verheilt sein würde, brauchte er sicher auch noch eine ganze Zeit, aber die nächste neue Patientin, die Dr. Norden aufsuchte, war Frau Zeisel, Helmuts Sekretärin, eine noch junge Frau, aber rund wie eine Kugel und dementsprechend mit Komplexen beladen.

Es war nicht das erste Mal, daß Dr. Norden mit einem solchen Fall konfrontiert wurde, aber sie war besonders schlimm dran, denn noch vor einem Jahr war sie ein hübsches, schlankes Mädchen gewesen, wie eine Fotografie aussagte, die sie gleich mitgebracht hatte.

Sie war verlobt und glücklich, aber mit der Heirat hatten sie noch warten wollen, und mit dem Kinderkriegen auch. Also hatte sie die Pille genommen.

Im Anfang sei alles in Ordnung gewesen, erzählte sie, aber dann hatte sie eine Schultergelenkentzündung bekommen, die sehr schmerzhaft gewesen sei und mit Spritzen behandelt wurde.

»Cortison?« fragte Dr. Norden.

»Ja, ich glaube, so was war es. Ich kann mir die Namen so schlecht merken. Dann ging ich auf wie eine Dampfnudel, und die Verlobung ging auseinander.« Ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. »So bin ich halt Fräulein Zeisel geblieben, wenn ich auch freundlicherweise Frau tituliert werde, denn jetzt sehe ich ja wie eine Matrone aus.«

»Na, so schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte Dr. Norden tröstend. »Von heute auf morgen läßt sich da zwar nichts ändern, aber mit einer gezielten Therapie und einiger Geduld kommt es schon wieder in Ordnung. Zuerst muß das Gewebe mal entwässert werden. Ich sage Ihnen gleich vorweg, daß Sie meine Anweisungen genau befolgen müssen, sonst ist es sinnlos, wenn wir damit anfangen.«

»Ich mache alles, was Sie sagen, nur dürfen Sie nicht verlangen, daß ich weniger esse. Ich esse nämlich schon fast überhaupt nichts. Das glaubt mir bloß keiner.«

»Ich glaube es Ihnen schon.« Freundlich redete er auf sie ein, während er die Karte ausfüllte mit den genauen Angaben, wie die Medikamente zu nehmen waren.

Sie bot wirklich einen jammervollen Anblick, und er konnte verstehen, wie sehr sie seelisch darunter litt. Das war eine zusätzliche Belastung, denn die psychische Verfassung machte gerade in solchen Fällen sehr viel aus.

So riet der Arzt ihr denn auch, optimistischer in die Zukunft zu blicken, und tröstend sagte er, daß sie einem Mann, der so wenig Verständnis gezeigt hätte, nicht nachtrauern müsse.

Das war leicht gesagt. Eine neue Liebe hätte ihr darüber wohl hinweghelfen können, aber darauf war zur Zeit kaum zu hoffen. Nun wollte man abwarten, wie die Behandlung anschlug. In vierzehn Tagen sollte sie wiederkommen.

Frau Zeisel ging mit Zweifel und Hoffnung gleichermaßen, aber doch froh, daß sie sich einmal richtig aussprechen konnte. Dr. Norden hoffte, daß sie die Geduld nicht verlieren würde, wie so mancher, wenn ein Erfolg nicht sofort sichtbar wurde. Zaubern konnte man nicht. Wundermittel, die mit Schlagzeilen angepriesen wurden, erwiesen sich meist als Betrug. Diesbezüglich packte Dr. Norden manchmal die Wut, aber es fanden sich doch immer wieder Gutgläubige, man konnte auch sagen Dumme, die sich damit locken ließen und oft viel Geld für etwas zahlten, was nur wenige Pfennige wert war.

*

Andrea Sommer war geholfen worden. Sie verfiel nicht wieder in Depressionen. Sie wurde von Tag zu Tag hübscher, was Helmut mit Wohlgefallen feststellte. Sie befolgte strikt, was Dr. Leitner empfohlen hatte.

Sonja betrachtete ihre Schwester staunend und dann sogar voller Bewunderung, wenn sie zusammentrafen. So oft wie früher war das nicht der Fall, denn im Büro gab es so viel zu tun, daß Sonja abends richtig müde war. Auch das war gut. Sie schlief nicht mehr so unruhig, sie brauchte auch keine Beruhigungstabletten mehr. Allerdings konnte sie sich noch nicht aufraffen, Dr. Leitner mal aufzusuchen. Wozu auch, denn ihr war die Arbeit wichtig.

Von Pietsch hörten sie nichts mehr. Es wurde nur bekannt, daß seine Schuldenlast noch weit größer war als angenommen. Auch Monika Pietsch war von der Bildfläche verschwunden, und es konnte gar nicht die Rede davon sein, daß ihr Mann sich bemühte, seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Bernd Friedel war bei weitem nicht der am meisten Geschädigte, aber er konnte sich schneller fangen als mancher andere. Um eine bittere Erfahrung reicher, war er nun um so vorsichtiger geworden. Lieber kleinere Aufträge von seriösen Kunden, als die verlockenden von faulen, war nun seine Devise.

Er war glücklich, daß sich Sonja nun als wahrer Lebenskamerad erwies, ihre Liebe unter Beweis stellend. Gerade in dieser kritischen Situation waren sie inniger verbunden denn je, und dabei hatte es so ausgesehen, als würde ihre Ehe zerbrechen.

Er konnte voller Freude und Hoffnung nun manches Mal feststellen, daß sie wieder in Kinderwagen schaute, daß sie nicht mehr mit Widerwillen jede werdende Mutter betrachtete.

Auch um sie brauchte sich Andrea nicht mehr zu sorgen. In ihr hatte sich ein Wunder vollzogen. Während andere werdende Mütter in den letzten Monaten oft recht schwerfällig und betulich wurden, konnte man bei ihr das Gegenteil feststellen.

So heiter ging es bei ihnen zu, daß ihr Mann insgeheim Bedenken hegte, es könnte ihnen zu gutgehen, doch er hütete sich, solche Gedanken laut werden zu lassen.

Schnell vergingen die Tage. Rogners Haus war fertig, termingerecht und ohne die geringste Beanstandung. Freuen konnte sich Erwin Rogner dennoch nicht, obgleich Achims Zustand sich gebessert hatte, obwohl Tini Zuversicht verbreitete.

Lucy brauchte nichts zu tun. Tini und Rainer hatten sogar die Vorhänge schon angebracht. Nun brauchten nur noch die Möbel transportiert zu werden. Auch darum kümmerten sich Tini und Rainer, denn mit Ulla war nicht viel anzufangen. Zu allem Übel hatte sie auch noch ihren ersten Liebeskummer. Der Grund war Achim. Die Eltern ihres Freundes Peter hielten die Freundschaft ihres Sohnes mit der Schwester eines Fahrraddiebes für untragbar, und Peter hatte sich gefügt, weil man ihm sonst das Taschengeld entzogen hätte.

Auch das gab es, und es war verständlich, daß Ulla maßlos enttäuscht war. Nur Tini hatte davon erfahren, und sie war erbost.

»Die Eltern dürfen das nicht erfahren«, erklärte sie bestimmt. »Es ist doch alles schlimm genug, aber Sippenhaftung ist wohl das letzte. Da hast du wirklich nichts verloren, Ulla. Zeig ihm doch die kalte Schulter.«

Aber Ulla traf diesen Peter jeden Tag in der Schule, und für eine Siebzehnjährige war es nicht so einfach, diese Enttäuschung hinzunehmen.

Achim war sich noch immer nicht bewußt, welche Rückwirkungen auf die ganze Familie sein Leichtsinn hatte.

»Seid ihr böse, Mutti?« fragte er immer wieder, und stets erhielt er die gleiche Antwort: »Nein, wir sind nicht böse, Achim. Du sollst jetzt wieder gesund werden.«

An dem Tag, als die Möbel in das neue Haus gebracht wurden, saß Lucy wieder am Bett des Jungen.

»Heute ziehen wir um, Achim«, erzählte sie ihm. »Du bekommst das schöne große Zimmer im Parterre. Da brauchst du keine Treppe zu steigen.«

»Ich möchte lieber ganz woanders wohnen«, sagte er. »Sie werden mich alle schief ansehen. Ich möchte nicht mehr in dieselbe Schule gehen.«

Jetzt machte er sich schon seine Gedanken. Und Lucy wußte nicht, was sie erwidern sollte.

»Mußt du nicht dabeisein, Mutti?« fragte Achim.

»Das macht Tini, und Vati ist auch dabei.«

»Hat Tini freibekommen?« fragte er.

»Sie hat gekündigt. Sie wird jetzt bald heiraten, Achim.«

»Den Rainer?« staunte er. »Erlaubt Vati das?«

»Wir freuen uns, daß sie einen tüchtigen Mann bekommt, Achim.«

»Aber sie heiratet doch erst, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich fände es gemein von ihr, wenn sie nicht so lange warten würde.«

»Gemein?« echote Lucy gepreßt. »Tini kann nichts dafür, daß das passiert ist.«

»Ich kann auch nichts dafür. Sepp hat mich überredet. Ich wollte gar nicht mitmachen.«

»Du hättest nein sagen können. Aber darüber wollen wir nicht reden, Achim. Wir sind froh, daß du am Leben bleibst.«

»Und was ist denn mit Sepp?« fragte er. »Dem passiert nie was.«

»Er ist tot«, sagte sie leise. »Ihm war nicht mehr zu helfen.«

Einmal mußte er es doch erfahren. Lucy war so unendlich müde, und im Augenblick fürchtete sie, daß es Achim an jeder Einsicht fehlen würde.

»Er ist tot?« fragte der Junge.

»Und längst begraben«, fügte Lucy geistesabwesend hinzu.

»Ich wollte das Rad wieder hinstellen, Mutti«, sagte Achim leise. »Bis zum Schulschluß wären wir längst wieder dagewesen.«

»Ich glaube dir, daß du es zurückgeben wolltest.«

»Und nun ist es kaputt.«

»Wußtest du überhaupt, wem es gehört, Achim?«

»Freilich, dem Kurti Bauer. Er hat es nie angeschlossen. Er hat ja drauf gehofft, daß es ihm mal geklaut wird, damit er ein neues kriegt. Es war doch eine alte Karre.«

»Er hat ein neues bekommen«, sagte Lucy.

»Das ist ungerecht«, sagte Achim.

»War es denn richtig, daß du seines genommen hast?«

»Ich wollte es zurückgeben«, wiederholte Achim trotzig.

Ob er es jemals einsehen wird, was er angerichtet hat? dachte Lucy bestürzt.

»Bekomme ich mein Rad nun wieder, Mutti?« fragte er.

»Du wirst noch lange nicht radfahren können«, sagte sie, »und daran ist niemand von uns schuld.«

»Ich will nicht dauernd im Bett liegen«, sagte er bockig.

»Das wirst du noch einige Zeit müssen, Achim. Wer nicht hören will, muß fühlen.«

Hatte sie das wirklich gesagt? Hatte sie das sagen können?

Seine Lippen verzogen sich schmollend. »Du bist doch böse«, murmelte er. »Ich habe Schmerzen.«

»Und ich kann mich nicht für dich ins Bett legen und die Schmerzen auf mich nehmen, die du deinem Leichtsinn zuzuschreiben hast.«

Bin ich das noch? fragte sie sich. Wie kann ich denn nur so mit ihm reden? Sie schaute ihn an. Er hatte seine Augen zusammengekniffen.

»Von wem hat Kurti denn das neue Rad?« fragte er.

»Von uns, damit dir niemand nachsagen kann, daß du es gestohlen hast. So reden nämlich die Leute, Achim. Denk mal darüber nach. Du hast jetzt Zeit dafür.«

»Sepp hat mich doch überredet, Mutti. Er hat gesagt, daß es keiner merkt. Er wollte nicht glauben, daß ich schneller fahren kann als er.«

Lucy senkte den Kopf. Sepp war schneller, und das war sein Tod, dachte sie. Aber woher hatte dieser Junge eigentlich ein Rad? Auch das ging ihr durch den Sinn, da sie endlich wieder klar denken konnte. Sie wußte inzwischen, in welchen bescheidenen Verhältnissen die Schindelbecks gelebt hatten.

»Mit wessen Rad ist eigentlich Sepp gefahren?« fragte sie.

»Ach, der hat immer wieder welche geschenkt bekommen. Manche Eltern schmeißen die älteren Fahrräder einfach weg und kaufen ihren Kindern neue. Du brauchst bloß mal gucken, wenn die Sperrmüllabfuhr kommt. Was da alles auf der Straße steht. Da sind manchmal ganz tolle Sachen dabei, auch Fahrräder. Sepp und Gustl haben sich dann immer welche zusammengebaut. Findest du das nicht toll, Mutti?«

Sie haben ihre Fähigkeiten schlecht genutzt, dachte Lucy deprimiert. Und was auch geschehen ist, Achim bewundert diesen Sepp noch immer.

Was konnten sie dagegen tun? Moral predigen? Ihm immer wieder vorhalten, daß vermieden hätte werden können, was geschehen war?

Sie stand auf. »Ich werde jetzt heimfahren, Achim«, sagte sie. »Tini kann nicht alles allein machen.«

»Ich möchte auch nach Hause«, brummelte er.

»Du wirst heimkommen, wenn es der Arzt erlaubt.«

»Es ist so langweilig hier«, begehrte er auf.

»Ich habe dir Bücher mitgebracht. Du kannst lesen.«

»Ich mag aber nicht lesen. Ich möchte mal wieder fernsehen.«

»Das geht jetzt eben nicht, und außerdem ist unser Fernseher kaputt.«

»Kauft ihr keinen neuen?« fragte Achim.

»Nein, wir kaufen keinen. Dazu haben wir kein Geld.«

Er riß die Augen ganz weit auf. »Warum nicht?« fragte er. »Wir sind nicht so arm wie Sepps Eltern, und wir sind doch versichert.«

Oft genug hatte er das gehört. Immer hatte Erwin es gesagt, wenn mal was passiert war. Man konnte es Achim nicht zum Vorwurf machen, denn es war ihm sozusagen eingeimpft worden.

»Man ist nicht gegen alles versichert, mein Junge«, sagte sie leise. »Wir wollen, daß du gesund wirst. Das ist uns wichtiger als alles andere.«

Vielleicht war das falsch gewesen, was sie da gesagt hatte. Lucy Rogner quälte sich mit diesem Gedanken. Aber sie war so leergebrannt von all den Überlegungen, die sie Tag und Nacht beschäftigt hatten,

daß sie schon gar nicht mehr wußte, was sie sagen sollte. Was konnten sie denn noch tun, damit Achim auf

den richtigen Weg kam? Sie hatten ihm alles erlaubt. Zuviel? Diese Frage ließ sie nicht mehr los, und

sie wußte, daß sich Erwin damit auch auseinandersetzte.

Warum gerieten eigentlich so viele Kinder aus gutsituierten Familien auf die schiefe Bahn? Man hörte und las es immer wieder. Früher hatte sie immer gedacht, daß es bei ihnen so was nicht geben könnte.

Gebeugt, mit schleppenden Schritten, ging sie zum Taxistand, und als sie dann vor dem Neubau hielten und der Taxifahrer sagte: »Dufte, so was wünsche ich mir auch«, kamen ihr die Tränen.

Glück hat es uns nicht gebracht, dachte sie, als sie dann das Haus betrat.

Alles stand an seinem Platz, wie es geplant war. Immer und immer wieder hatte sie es sich vorgestellt.

Tini ordnete noch Blumen in eine Vase. »Du kommst ja schon, Mutti«, sagte sie erstaunt.

Lucy streckte die Arme nach ihr aus, und als sie auch von Tinis Armen umfangen wurde, rannen ihr die Tränen über die verhärmten Wangen.

»Ich habe mir diesen Tag ganz anders vorgestellt«, flüsterte sie.

»Freu dich doch wenigstens ein bißchen, Mutti. Achim kommt ja wieder«, sagte Tini. »Schau dir endlich mal deine Traumküche an.«

»Wo ist Vati?« fragte Lucy.

»Nun reg’ dich nicht gleich wieder auf. Er hat sich bloß den Daumen geklemmt. Rainer hat ihn zu Dr. Norden gefahren. Es ist nicht schlimm.«

»Und wo ist Ulla?«

»Sie räumt ihr Zimmer ein.« Sie drehte sich um. »Ulla, komm runter, Mutti ist da!« rief sie.

»Ja, ich komme schon. Ich bin gleich fertig!« rief Ulla zurück. Und dann kam sie, mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Mein Zimmer ist toll, Mutti«, sagte sie. »Mit Achims können wir uns ja Zeit lassen.«

»Ja, damit können wir uns Zeit lassen«, sagte Lucy bedrückt.

»Wir haben schon überlegt, ob wir ihm den alten Fernseher hineinstellen«, sagte Tini. »Rainer macht dann noch einen zweiten Anschluß.«

»Das kommt nicht in Frage. Ich habe ihm gesagt, daß wir keinen Fernseher mehr bekommen«, erwiderte Lucy. »Er hat überhaupt nichts anderes im Kopf als diese verfluchten Krimis und Western. Damit ist Schluß.« Und dann sank sie auf den Küchenstuhl und schluchzte jammervoll.

»Mutti, reg dich doch nicht auf«, sagte Ulla erschrocken.

»Laß sie«, warf Tini ein. »Es war alles zuviel für sie.« Sanft strich sie über das verwirrte Haar ihrer Mutter, über ihren Rücken. Tini hatte es begriffen, daß sie noch lange brauchen würde, um über all dies hinwegzukommen.

Ulla hatte ihren Liebeskummer bereits überwunden in der Freude über ihr hübsches Zimmer. Wenn man so jung war, kam man schneller über Enttäuschungen hinweg, und sicher hatte auch dieser nette blonde Junge dazu beigetragen, der sie von der Schule heimbegleitet hatte.

Tini war nicht mehr so unbeschwert wie Ulla. Sie hatte auch viel nachgedacht. Sie setzte sich neben ihre Mutter und legte einen Arm um sie.

»Weißt du, was Herr Sommer gesagt hat, Mutti? Aus jedem Unglück wächst ein Glück. Du warst doch so tapfer. Wir haben dich sehr bewundert.«

»Dann laßt mich jetzt doch mal weinen«, sagte Lucy, aber ihre Stimme klang schon wieder zuversichtlicher. Die Tränen spülten vieles fort, aber nicht alles. Lucy Rogner wußte, daß ihr Leben nicht mehr im gewohnten Gleichmaß verlaufen würde. Manches mußte sie anders anpacken. Und Erwin Rogner wußte das auch.

Er nahm seine Frau in die Arme, als er kam. »Wir glaubten uns am Ziel unserer Wünsche, Lucy«, sagte er leise, »aber es scheint so, als wären wir am Anfang, und nun wollen wir nichts mehr falsch machen.«

»Wer bewahrt uns denn davor?« fragte sie.

»Unser Wille. Versuchen können wir es doch.«

»Versuchen wir es, Erwin«, sagte sie.

*

Dem Ziel ihrer Wünsche waren nun Helmut und Andrea schon ganz nahe gerückt. Sie zählten die Tage und die Stunden bis zur Geburt ihres Kindes. Andrea ging es blendend. Nicht das geringste Anzeichen gab es, daß der errechnete Termin auch eingehalten würde.

»Dr. Leitner hat sich geirrt«, sagte Helmut beklommen.

»Oder wir haben uns geirrt«, erklärte Andrea gleichmütig. »Wozu sich aufregen? Mir geht es doch gut.«

»Mir nicht«, brummte er.

»Bekommst du das Baby oder ich?« fragte sie lachend.

»Wie kannst du nur so ruhig sein, Liebling?«

»Ich weiß mich in guten Händen.«

»Auch Dr. Leitner kann sich irren.«

»Willst du mich nervös machen?« fragte Andrea.

»Ich werde nervös, ich bin es schon«, stöhnte Helmut.

»Gut, daß Sonja nicht solche Anzeichen zeigt. Ich möchte nicht acht Tage in der Klinik liegen und warten.«

»Aber auf die letzte Minute brauchst du nicht zu gehen.«

»Ich gehe, wenn die Wehen kommen und damit basta. Und ich spüre noch nichts. Jetzt fehlt nur noch, daß die Eltern anrufen und es auch nicht mehr erwarten können.«

Andrea hatte es kaum ausgesprochen, als auch schon das Telefon läutete. Andrea stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, als die aufgeregte Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr tönte.

»Ja, ich bin immer noch zu Hause, Mutti… Nein, es tut sich noch nichts. Warum sollte ich denn jetzt schon in die Klinik fahren? Ich fühle mich bestens… Nein, daran denke ich nicht, Mutti, und fang jetzt bitte nicht wieder damit an. Ich bin nicht Sonja, sondern Andrea.« Und dann knallte sie den Hörer auf. Sie war zornig. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie, »immer wieder muß man von Sonjas Baby anfangen. Wenn das aufmunternd sein soll…«

»Reg dich nicht auf, mein Liebes«, sagte Helmut. »Es ist doch nicht so gemeint.«

»Reg dich nicht auf, reg dich nicht auf – wie oft habe ich das gehört. Es ist ja nicht so gemeint. Aber aufmunternd ist es auch nicht. So, damit ihr endlich Ruhe gebt, gehe ich in die Klinik. Aber dort laßt ihr mich in Ruhe. Ich will niemanden sehen, damit ihr es wißt. Ich will nichts hören. Ich will mich nur weiterhin freuen.«

Helmut war völlig konsterniert, als sie tatsächlich nach ihrem Mantel griff.

»Ich werde nichts mehr sagen, Schatzilein«, murmelte er. »Komm, leg dich nieder.«

»Ich denke nicht daran. Dr. Leitner wird mich schon verstehen. Ihr macht mich verrückt.«

Wie betäubt half ihr Helmut in den Mantel. »Ich hole den Wagen aus der Garage«, sagte er kleinlaut. »Es stürmt fürchterlich, Liebes. Es schneit.«

»Das ist mir wurscht«, sagte Andrea. »Ich kann auch zu Fuß gehen, wenn der Wagen nicht anspringt.«

»Sei doch vernünftig, Andrea«, sagte Helmut flehend.

»Ich bin vernünftig«, erwiderte sie. »Ihr dreht durch.«

Der Motor sprang an. Helmut fuhr ganz vorsichtig.

Andrea sagte: »Wenn du weiter so langsam fährst, kommt unser Kind wahrscheinlich im Auto zur Welt. Dann sind wir nämlich erst morgen in der Klinik. Und morgen ist der Termin.«

Es war elf Uhr abends, und Helmut fuhr ein bißchen schneller. Eine Viertelstunde später waren sie in der Klinik, bedeckt mit Schneeflocken, die in der Wärme, die sie nun umgab, schmolzen.

»Ich werde Dr. Leitner rufen«, sagte die Stationsschwester.

»Tun Sie das«, sagte Andrea. »Er soll meinen Mann beruhigen. Er kriegt nämlich das Kind.«

Die Schwester lächelte. »Das kennen wir«, meinte sie, und Helmut Sommer plumpste in einen Sessel.

Dort blieb er auch sitzen, als Dr. Leitner herbeieilte.

»Meine Frau ist so komisch«, murmelte er. Dann schlief er in dem Sessel ein, denn er hatte einen harten Arbeitstag hinter sich.

*

Um diese Zeit lagen sie sonst längst im Bett. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhaltsam vorwärts, ohne daß Helmut davon etwas merkte. Aber nur eine Stunde war vergangen, als er wachgerüttelt wurde.

»Was ist denn, Liebling?« fragte er schlaftrunken.

»Ich bin nicht Ihr Liebling«, sagte Dr. Leitner schmunzelnd. »Augen und Ohren auf, Herr Sommer, Sie haben einen Sohn!«

»Wollen Sie mich verschaukeln?« fragte Helmut.

»Das würde mir nicht einfallen. Ich kann nur sagen, daß Ihr Sohn eine wundervolle Mutter hat.«

»Das Baby – es ist schon da?« fragte Helmut verwirrt. »Aber wieso denn?«

»Weil es überaus pünktlich ist, lieber Herr Sommer. Nun kommen Sie erst einmal zu sich.«

»Ich träume«, sagte Helmut heiser.

»Sie träumen nicht. Sie können Ihren Sohn sogar gleich sehen. Er will nämlich auch seine Ruhe haben.«

»Und Andrea?« fragte Helmut benommen.

»Sie möchte jetzt auch ganz gern schlafen. Erst das Baby oder erst Ihre Frau?«

»Erst meine Frau«, erwiderte Helmut. Und dann kniete er an ihrem Bett und hielt ihre Hände.

»Ich kann es noch nicht glauben«, flüsterte er.

»Dann schau ihn dir doch an. Er ist so süß und war so rücksichtsvoll. Genau sechs Pfund wiegt er, wie es Dr. Leitner angekündigt hat.«

»Überpünktlich ist er auch«, murmelte Helmut.

»Wie du«, sagte Andrea lächelnd. »Er wird werden wie du, so lieb und zuverlässig.«

»Übertreib doch nicht, Liebling. Ich habe auch meine Mucken.« Er bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen. »Ich bin so froh, daß alles gutgegangen ist. Wieso war dir gar nichts anzumerken? Ich verstehe das nicht. Du mußt doch vorher etwas gespürt haben.«

»Ich habe nichts gespürt. Nur so ein bißchen Ziehen und Stechen. Aber was ich mir in all den Monaten vorher eingebildet habe, war viel schlimmer. Beim nächsten Kind lasse ich mich nicht mehr auf die Palme bringen, damit ihr das gleich wißt.«

Kaum war das eine da, sprach sie vom nächsten, und ihre Augen leuchteten dabei wie Sterne.

Dann durfte Helmut den Sohn bewundern, den

hübsch geformten Kopf, die kleinen Hände, die lebhaft herumfuchtelten.

»So viel Haar hat er schon«, staunte Helmut, der erst da begriff, daß solch ein kleines Menschlein ein lebendiges Wunder war. Sein Sohn, den seine geliebte Andrea ihm geschenkt hatte. Vergessen war alle Angst.

Dann aber mußte er doch daran denken, daß auch Sonjas Baby lebte, als es zur Welt kam und am nächsten Tag… Nein, er wollte nicht daran denken. In seinen Augen stand aber doch eine bange Frage, als Dr. Leitner sagte: »Es gibt wirklich nichts auszusetzen.«

»Und gar nichts zu befürchten?« fragte er zweifelnd.

»Ein Prachtkerlchen«, meinte Dr. Leitner lächelnd. »Genau untersucht und als makellos befunden. Sie können ruhig schlafen, Herr Sommer. Wie soll er denn überhaupt heißen?«

»Andreas natürlich. Meine Frau meint zwar, daß der Vorname nicht mit dem Buchstaben schließen soll, mit dem der Nachname anfängt, aber wir werden ihn sowieso Andy nennen. Kann er auch nicht verwechselt werden?«

»Ganz bestimmt nicht. Derzeit wäre es schon aus dem Grunde ausgeschlossen, weil wir nur Mädchen haben. Er ist Hahn im Korb. Vielleicht bleibt ihm das mal. Er wird bestimmt ein hübscher Junge.«

»Hauptsache, er ist gesund und geht einen geraden Weg.«

Das mochte wohl auch Erwin Rogner gedacht haben, als er endlich den ersehnten Sohn bekam. Nach dieser ersten großen Freude kamen Helmut schon ernste Gedanken, daß Vater zu sein weitaus schwerer war, als Vater zu werden. Und nicht alles würden sie verhindern können, vielleicht auch nicht alles richtig machen. Das Kind war ein Teil von ihnen, aber es würde heranwachsen und seine eigene Persönlichkeit entwickeln, vielerlei Einflüssen ausgesetzt werden. Auch darüber mußten sich Eltern im klaren sein.

*

Am nächsten Tag benachrichtigte Helmut Sonja und Bernd, dann seine Schwiegereltern. Überrascht waren sie alle, auch ein bißchen gekränkt, daß sie nicht sofort informiert worden waren.

Helmut meinte, daß sie sich eher erschrocken hätten, wenn mitten in der Nacht das Telefon geklingelt hätte, und in die Klinik hätten sie doch nicht kommen können.

Sonja machte sich gleich auf den Weg. Bernd wollte seiner Schwägerin einen Besuch abstatten. Ihm war ein wenig bange, daß Sonja nun wieder in Depressionen verfallen könnte, doch solche Befürchtungen waren überflüssig. Sie zeigte ihrer Schwester ein frohes Gesicht und betrachtete den Kleinen voller Entzücken.

Andrea atmete auf. Sie hat es überwunden, dachte sie.

»Erzähl doch mal, warum es so schnell gegangen ist«, bat Sonja.

»Ich war halt gut vorbereitet«, erwiderte Andrea.

»Überhaupt keine Komplikationen?«

»Keine. Ehrlich gesagt, war ich selbst überrascht, daß alles so schnell ging.«

Von sich, von damals sprach Sonja nicht mehr. Andrea mußte aber doch daran denken, daß bei ihr alles ganz anders gewesen war. Das lange Warten mußte eine schlimme seelische Belastung gewesen sein. Im Nachhinein Dr. Kobelka dafür verantwortlich zu machen, brachte auch nichts mehr ein. Es blieb nur zu hoffen, daß Sonja nun wieder eine positive Einstellung gewinnen würde.

Bernd bekam Herzklopfen, als Sonja das Büro betrat. »Süß ist er, so rosig und pumperlgesund. Und Andrea geht es blendend«, rief sie aus. »Das haben wir nun auch geschafft. Sie hat es geschafft, muß ich wohl sagen«, fügte sie hinzu. »Eine rühmliche Rolle habe ich dabei nicht gespielt, Bernd.«

Er nahm sie ganz schnell in die Arme und gab ihr einen innigen Kuß. Er mochte nicht viel sagen, aber sie gab sich nicht nur Gedanken hin.

»Am schlimmsten für mich wäre es gewesen, wenn ich auch noch deine Liebe verloren hätte, Bernd. Ich habe immer nur an mich gedacht, nicht daran, wie sehr ihr auch darunter leiden könntet. Jetzt werde ich die Eltern anrufen, damit sie nicht wieder an Vergangenes rühren, wenn sie Andrea besuchen.«

Aber die waren nicht mehr zu erreichen. Sie waren auch schon auf dem Weg nach München und sich darüber einig, daß dieses glückliche Ereignis nicht überschattet werden sollte von den Gedanken, die auch ihnen das Leben schwergemacht hatten.

Ganz groß war auch die Freude bei den Nordens und ebenso groß die Erleichterung, daß die Geburt so schnell und leicht vonstatten gegangen war.

An diesem Tag sollte Dr. Norden aber auch eine weitere Freude erleben, denn Frau Zeisel zeigte sich in einem glückstrahlenden Gesicht. Mollig war sie zwar immer noch, aber angenehm mollig, und wie er von ihr erfuhr, hatte das auch schon der technische Zeichner im Architektenbüro Sommer festgestellt.

»Wenn ich mein Normalgewicht erreicht habe, wird geheiratet«, erklärte sie. »Er war ja immer schon sehr nett zu mir, aber ich mußte erst mit meinen Komplexen fertig werden. Zehn Kilo muß ich noch abnehmen, dann passe ich wieder in meine alten Kleider.«

»Fünf Kilo würden vorerst auch genügen«, meinte Dr. Norden lächelnd.

»Zehn Kilo«, sagte sie energisch. »Wenn man eine Wohnung einrichten will, braucht man Geld. Da kann man nicht soviel für neue Kleider ausgeben. Und in einem halben Jahr werde ich es geschafft haben. Jetzt sehe ich ja schon, wie meine Massen dahinschmelzen. Es wird doch nicht wieder so schlimm werden, wenn ich ein Baby bekomme?« fragte sie dann aber beklommen.

»Da verteilen sich die Rundungen ganz anders«, sagte Dr. Norden schmunzelnd. »Eine Schwangerschaft ist ein natürlicher Vorgang. Aber für Ihre Betreuung in solchem Fall ist dann der Gynäkologe zuständig.«

»Ich werde natürlich auch zu Dr. Leitner gehen. Es ist ja kaum zu glauben, welches Wunder er bei Frau Sommer vollbracht hat. Und der Kleine ist wonnig. Da kommt man schon auf den Geschmack, und man weiß auch, warum man zunimmt.«

Sie nahm es mit Humor, und auch das war eine große Hilfe. Die Voraussetzung für jede Genesung war die positive Einstellung des Patienten. Immer wieder hatte Dr. Norden diese Erfahrung gemacht. Nun fragte er sich nur, ob auch ein Kind schon eine positive Einstellung gewinnen konnte. Freilich dachte er dabei zunächst an Achim Rogner.

*

Karlchen genoß indessen unbeschwert das herrliche Leben auf der Insel der Hoffnung. Für ihn war jeder Tag Sonntag. Immer gab es gutes Essen, nie wurde er beschimpft oder gar geschlagen, und er hatte eine Mutter, die sogar wieder lachen konnte.

So unermüdlich war sie bei der Arbeit, daß Anne Cornelius manchmal bremsen mußte. Dank hatten sie gewiß von vielen geerntet, aber Frau Schindelbecks Leben bestand nur noch aus Dankbarkeit. Gearbeitet hatte sie zeitlebens, Dank hatte sie nie geerntet, auch Liebe nicht. Den Glauben, den sie längst verloren hatte, gewann sie nun wieder.

Doch nicht für sie allein war aus dem schrecklichen Unglück das große Glück erwachsen. Auch Tini und Rainer Bichler sollte es beschert werden.

Martin Bichler hatte auf der Insel der Hoffnung Kräfte gesammelt, um an der Hochzeit seines einzigen Sohnes teilnehmen zu können. Er hatte nicht daran glauben wollen, daß Rainer seine Tini, an die er sein ganzes Herz gehängt hatte, zum Traualtar führen könnte. Er hatte auch nicht daran geglaubt, daß Rainer das Geschäft übernehmen würde.

Er hatte sich mit Sorgen und Kummer geplagt, die sich als überflüssig erwiesen. Und so war er während der Wochen auf der Insel der Hoffnung zu der Erkenntnis gekommen, daß es müßig sei, sich immer nur Sorgen um die Zukunft zu machen. Jeden Tag mußte man genießen, der einem geschenkt wurde.

Auch sein Leben war Mühe und Arbeit gewesen, aber er hatte eine gute, liebevolle Frau, einen Sohn, auf den er stolz sein konnte. Er hatte etwas geschaffen, was Rainer nun fortführen würde, und er, davon war Martin Bichler überzeugt, hatte auch die richtige Frau gefunden.

Warum sollte er sich nun in den Gedanken verbohren, was in fünf Jahren sein würde? Sollte er etwa jeden Tag daran denken, daß er dann erst Gewißheit bekommen würde, ob die Operation wirklich den Erfolg hatte, den die Ärzte erhofften? Du lieber Gott, es konnte auch anders kommen, und wieviel konnte er bis dahin versäumen.

Martin Bichler war ein einfacher Mann. Er hatte nicht studiert wie sein Sohn. Dazu war ihm nicht die Möglichkeit gegeben worden, aber er war stolz, daß er seinem Jungen die Möglichkeit geben konnte und Rainer sie genutzt hatte. Er konnte mit Stolz und Genugtuung auf die vergangenen Jahre zurückblicken und darauf, was ihm geschenkt worden war.

Nun würde junges Glück in dem Haus wohnen, das er erbaut hatte. Eine schöne Wohnung wartete auf Tini, und Schwiegereltern, die sie von Herzen willkommen hießen.

Und Achim konnte an der Hochzeit teilnehmen, wenn er auch im Rollstuhl in die Kirche gefahren werden mußte. Inzwischen hatte er begriffen, daß nur er schuld hatte an dem Unglück. Er konnte niemanden dafür verantwortlich machen, auch Sepp nicht. Er hätte nein sagen können. Dr. Reichert und auch sein Vater hatten es ihm endlich beibringen können. Sein trotziges Aufbegehren war verstummt. Er begann seine Fehler einzusehen, als sie nicht mehr verschwiegen wurden. Auch Erwin Rogner hatte den Mut gefunden, das auszusprechen, was er dachte.

Eine Woche vor der Hochzeit war er länger als sonst bei Achim geblieben, da Lucy noch manches vorbereiten wollte.

»Jetzt habt ihr Tini viel lieber als mich«, hatte Achim gesagt. »Euch macht es gar nichts aus, daß ich im Krankenhaus liegen muß, wenn ihr Hochzeit feiert.«

»Es macht uns sehr viel aus, Achim«, hatte Erwin Rogner erwidert. »Aber jetzt denk mal nach, mein Junge. Du bist immer vorgezogen worden. Du hast sehr viel bekommen, was Tini und Ulla versagt worden ist. Wenn du etwas angestellt hast, habe ich meine schlechte Laune an ihnen ausgelassen. Wenn sie mal einen Dreier schrieben, wurde ich schon wütend. Für dich habe ich immer eine Entschuldigung gehabt, wenn du sogar einen Fünfer geschrieben hast. Stimmt es, oder stimmt es nicht?«

»Ja, das stimmt schon«, gab Achim zu. »Sie sind ja auch von der vierten Klasse aus ins Gymnasium gekommen. Ich bin eben nicht so gescheit wie sie. Und jetzt werde ich es überhaupt nicht mehr schaffen.«

»Das wollen wir erst einmal sehen. Du mußt den guten Willen haben, Junge.«

»Ich möchte wieder zu Hause sein«, sagte Achim. »Und ich möchte dabeisein, wenn Tini heiratet.«

Dr. Reichert hatte es erlaubt, denn Achims Genesung hatte während der letzten Tage große Fortschritte gemacht. Bis er wieder laufen konnte, würden noch Wochen vergehen, aber sitzen konnte er, und er hatte sich auch schon mit seinen Schulbüchern beschäftigt. Ulla lernte jeden Tag mit ihm eine Stunde. Sie wurde nicht ungeduldig. Sie hatte ihm auch das weiße Hemd angezogen und die Samtschleife gebunden. Und sie war es, die seinen Rollstuhl schob, als das Brautpaar zum Altar schritt. Erst nach ihnen folgten die Eltern, Erwin und Lucy Rogner, Martin und Käthe Bichler.

Ihnen folgten Helmut und Andrea Sommer. Helmut Sommer und Erwin Rogner waren die Trauzeugen. Für Andrea war es der erste Auftritt als junge Mutter in der Öffentlichkeit. Der kleine Andy wurde indessen von Sonja und Bernd betreut. Für sie war dieser Tag mindestens so schön wie eine Hochzeitsfeier, vielleicht sogar eine Art Generalprobe. Sonja, das Baby im Arm wiegend, erklärte nämlich ihrem Mann, daß sie sich für Dienstag der kommenden Woche bei Dr. Leitner angemeldet hätte.

Er schwieg dazu lieber noch, aber er freute sich an dem hübschen Anblick, den seine Frau mit dem Kind im Arm bot, und er hegte die Hoffnung, daß auch das Kinderzimmer in ihrem Haus nicht immer leerstehen würde.

Auch Rainer hatte solch eines bereits eingeplant in der Wohnung, die das schönste Hochzeitsgeschenk für seine Tini werden sollte. Erst nach dem Festmahl im Elternhaus sollte sie diese zum ersten Mal sehen.

Ganz froh war sie aber schon, als Achim seine Arme um ihren Hals schlang und sagte: »Ich wünsche euch ganz viel Glück, Tini. Es war schön in der Kirche. Bitte, seid nicht mehr böse mit mir. Ich möchte euch keinen Kummer mehr machen.«

Es tat schon weh, in sein vernarbtes Gesicht zu blicken, aber er lebte. Er konnte daheim sein. In seinem schönen hellen Zimmer stand ein Vogelbauer mit einem blauen Wellensittich, der ihm Gesellschaft leisten sollte, denn immer konnte Lucy nicht bei ihm sitzen.

*

Weihnachten stand vor der Tür. Endlich konnten sie sich wieder freuen, tiefer und inniger als je zuvor. Daß des Lebens ungemischte Freude keinem Irdischen zuteil wurde, hatten sie erfahren.

»Weißt du, Lucy«, sagte Erwin Rogner, »wir haben zu wenig an uns gedacht, genau gesagt, ich zu wenig an dich. Für die Kinder wollten wir ein eigenes Haus haben. So lange hat es gedauert, bis unsere Älteste nun schon ihr eigenes Heim hat, und es wird wohl auch der Tag kommen, an dem wir allein hier sitzen in dem großen Haus. Wird es uns dann noch gefallen?«

Lucy ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Dann werden vielleicht die Enkel kommen, Erwin. Vielleicht, sage ich. Zu weit will ich die Gedanken nicht mehr in die Zukunft schweifen lassen. Die Tür wird offenstehen, wenn sie kommen wollen. Was können wir denn mehr hoffen? Umsonst ist es nicht gebaut worden. Wir haben uns einen Wunsch erfüllt. Es gibt keine Hindernisse, über die nicht auch ein Rollstuhl fahren kann. Die Bäume, die wir pflanzen, gehören uns.«

»Und unsere Tini hat auch ein Heim, aus dem sie nicht vertrieben werden kann.«

»Sie wird niemals ein Kündigungsschreiben bekommen«, sagte Lucy.

»Sie wird mit ihren Schwiegereltern unter einem Dach leben«, seufzte er.

»Es sind liebe, gute Menschen. Sie mögen Tini, und unsere Tini ist nicht streitsüchtig.«

»So habe ich das auch nicht gemeint, Lucy. Rainer hat das große Los gezogen.«

»Tini aber auch«, meinte Lucy lächelnd. »Nun war es doch eine schöne Hochzeit, und es war gut, daß Achim dabeisein konnte, sonst hätte er sich ausgeschlossen und bestraft gefühlt. Daraus können Aggressionen entstehen, hat Dr. Norden gesagt.«

»Du hast mit ihm darüber gesprochen?«

»Das mußte ich. Ich will nichts mehr falsch machen.«

»Ich auch nicht, meine Liebe«, sagte er leise, »aber wird es am Ende Achim helfen können?«

»Dr. Norden wird uns mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

Erwin Rogner hegte Bedenken, daß Achim Dr. Norden akzeptieren würde. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu jenem Tag zurück, als Helmut Sommer durch Achims Leichtsinn verletzt wurde. Damit hatte alles angefangen und weite Kreise gezogen. Ein Ereignis zog das andere nach sich, seltsam sich aneinanderfügend, Böses und Gutes.

Er ging zu Achim ins Zimmer. Lucy hatte ihn schon zu Bett gebracht. Er unterhielt sich mit dem Wellensittich.

»Er kann ganz deutlich reden«, sagte er. »Man kann ihm sicher noch viele Worte beibringen.« Nachdenklich sah er seinen Vater an. »Ich habe auch schon viel gelernt, Vati. Es ist so gut, daß ich wieder zu Hause sein darf, und es ist ein so wunderschönes Zimmer. Das habe ich gar nicht verdient.«

»Tini und Rainer haben sich damit besondere Mühe gegeben, Achim.«

»Und ich habe ihnen gar nichts geschenkt. Aber

ich könnte ja etwas basteln, etwas ganz Schönes,

worüber sie sich auch freuen. Hilfst du mir ein bißchen dabei, wenn ich nicht zurechtkomme?«

»Zunächst wollen wir mal sehen, was Dr. Norden erlaubt.«

Achim errötete. »Er wird wohl öfter kommen«, sagte er. »Ist er nicht mehr böse auf mich?«

»Er hat dir geholfen und wird dir weiter helfen, und es ist nicht böse gemeint, wenn man vorgehalten bekommt, was man falsch gemacht hat. Nur aus Fehlern kann man lernen.«

»Nur, wenn man die Fehler einsieht«, sagte Achim ganz ernsthaft. »Ich weiß das jetzt, Vati. Ich weiß, daß ich euch großen Kummer bereitet habe.«

»Nun wird alles gut werden, mein Junge«, sagte Erwin Rogner weich.

»Nur mit der Oberschule wird es wohl nichts werden, aber ich könnte dann vielleicht bei Rainer arbeiten. Das würde mich schon interessieren.«

»Bis dahin wird noch viel Wasser die Würm hinunterfließen, Achim. Aber wenn man guten Willens ist, kann man viel erreichen, auch wenn man nicht das Gymnasium besucht hat.«

»Tini und Rainer können nun nicht mal eine Hochzeitsreise machen«, wechselte Achim das Thema. »Das macht man doch eigentlich.«

»Sie werden hier gebraucht, und das ist ihnen wichtiger. Sie sind ganz bestimmt glücklich, auch ohne Hochzeitsreise.«

Und wie glücklich sie waren, diese beiden jungen Menschen, die das Ziel ihrer geheimsten Wünsche

so schnell erreicht hatten, und das doch nur, weil es sich aus widrigen Umständen so ergab.

Eine Traumwohnung machte Rainer seiner Tini zum Geschenk. Mit viel Liebe war sie eingerichtet worden, so daß ihr das Herz überfloß.

Und unten saßen Martin und Käthi Bichler Hand in Hand.

»Es wird mir schon noch vergönnt sein, daß da droben Kinderchen herumtrappeln«, sagte er.

»Oder herumtoben, daß die Wände wackeln«, sagte sie lächelnd.

»Es wird Musik in meinen Ohren sein, oder meinst du, daß wir ihnen doch besser die untere Wohnung gegeben hätten?«

»I bewahre, die wäre ja auch zu klein. Für uns reicht sie, aber lange werden sie uns nicht darauf warten lassen, uns zu Großeltern zu machen.«

»Es ist alles ein bißchen anders gekommen, als wir dachten, aber wir können doch recht zufrieden sein. Ich habe nicht gedacht, daß der Erwin mit der Heirat einverstanden sein würde.«

»Der Mensch denkt und Gott lenkt«, sagte sie, und dabei wünschte sie mit heißem Herzen, daß sie ihren Mann noch lange behalten dürfe.

*

Andrea und Helmut, Sonja und Bernd saßen bei einer Flasche Sekt. Andy schlief zufrieden in seiner Wiege, denn Sonja hatte ihn bestens versorgt. Sie hatte einen träumerischen Ausdruck in ihren Augen.

»Wenn es das Schicksal will, haben wir nächste Weihnachten auch solch einen süßen Spatz in der Wiege liegen«, sagte sie.

Bernd nahm ihre Hand und drückte sie an seine Wange. Niemand sagte etwas.

Andrea und Helmut tauschten einen langen Blick, aus dem man lesen konnte, was sie beide dachten. Auch ihr ist geholfen worden. Sie hat überwunden, was sie quälte.

»Ja, dann wollen wir mal sagen: Gelobt sei die Stunde, die mich zu Dr. Norden führte«, sagte Helmut mit einem Lächeln.

»Er hat uns allen geholfen«, schloß sich Andrea an.

»Zeig mal deine Hand her, Helmut«, sagte Bernd. »Sieht man noch was?«

»Zwei kleine Narben, aber die können ruhig bleiben«, erwiderte Helmut. »Sozusagen als Mahnmal, wenn wir wieder mal in eine blöde Situation geraten.«

»Und wenn man es richtig überlegt, müßten wir Achim sogar dankbar sein«, sagte Andrea.

»Das braucht man nicht laut zu sagen. Er wird am meisten zu knabbern haben«, meinte Helmut.

»Aber es ist doch fast unbegreiflich, was sich daraus alles ergeben hat«, sagte Bernd.

»Für uns am Ende nur Gutes«, meinte Sonja nachdenklich, »und vor allem Zuversicht, die man ja braucht.« Sie stand auf und hob ihr Glas. »Man darf das Schiff nicht an einen einzigen Anker und das Leben nicht an eine einzige Hoffnung binden. Darauf den letzten Schluck, meine Lieben, und dann fahren wir heim. Es war ein schöner Tag.«

Vielleicht war es Sonja, der am meisten geholfen worden war, denn was sie gerade gesagt hatte, zeugte davon, daß sie bereit war, ihr Leben zu meistern, was immer noch zu bewältigen sein würde. Sie war gereift, über sich hinausgewachsen, denn vorerst blieb ihr nur die Hoffnung, daß ihr sehnlichster Wunsch Erfüllung finden würde.

*

Aber auch der sollte sich erfüllen. Sie hatte nicht nur das Glück, am Gedeihen des kleinen Andy teilnehmen zu können, sie konnte die Wochen und Monate des Erwartens mit Tini teilen. Dr. Leitner konnte zwei werdende Mütter betreuen, die sich gegenseitig über Tiefpunkte hinweghalfen, die wohl unausbleiblich waren, bis das kritische Stadium überwunden war. Die Natur hatte ihre eigenen Gesetze. Selbst der beste Arzt konnte da nicht eingreifen.

Aber dann kam der Mai, der ein wahrer Wonnemonat wurde. Mit leichten, schwingenden Kleidern und ebenso schwingenden Schritten kamen und gingen Sonja und Tini in die Leitner-Klinik. Mehr als die Hälfte der Schwangerschaft hatten sie schon hinter sich gebracht, und sie spürten das werdende Leben unter ihrem Herzen.

Achims Genesung hatte beträchtliche Fortschritte gemacht. Er konnte an Krücken gehen, und wenn es auch manchmal schmerzte, verlor er nicht die Geduld.

»Ich will leben wie die anderen auch«, hatte er zu Dr. Norden gesagt.

»Das ist die richtige Einstellung, Achim«, erwiderte Daniel. »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.«

»Blöd war ich, einfach blöd«, sagte der Junge.

»Du bist klüger geworden.«

»Ich werde aufpassen, daß Tinis Kinder nicht solchen Blödsinn machen«, sagte Achim. »Wenn man aus Erfahrung sprechen kann, wirkt es schon.«

»Wie gescheit du geworden bist«, sagte Daniel Norden und strich ihm durch das Haar. »Und wir sind richtige Freunde geworden.«

Achim errötete bis unter die Haarspitzen. »Dankeschön«, sagte er. »Ich habe für Ihre Kinder was gebastelt. Ich muß mich doch auch dafür noch entschuldigen, daß ich…«

»Ist schon in Ordnung, Achim«, unterbrach ihn der Arzt.

»Sepp ist tot. Er kann nichts mehr gutmachen«, sagte der Junge leise.

»Aber dafür geht es seiner Mutter und Karlchen jetzt sehr gut.«

»Sepp hat immer gesagt, daß Mütter überhaupt nichts zu sagen haben, aber das stimmt gar nicht. Mütter meinen es gut. Sie sind nur traurig, wenn die Kinder nicht auf sie hören.«

»So ist es, Achim. Es tut ihnen sehr weh. Denk immer daran.«

»Ich ärgere unsere Mutti nicht mehr, und wenn Tini erst eine Mutti ist, will ich nicht mehr mit Krücken gehen.«

»Du wirst es schaffen, Achim«, sagte Dr. Norden.

Und Achim schaffte es. Güte, Geduld und Verstehen hatten ihm geholfen.

Sonja und Tini brachten ihr Kind am selben Tag zur Welt. Tini meinte, daß es ein Freundschaftsdienst gewesen sei, weil ihr Sohn sich noch ein paar Tage hätte Zeit lassen können. Aber für Sonja war es die schönste Stunde ihres Lebens, als ihr Dr. Leitner eine Tochter in den Arm legen konnte, denn Bernd hatte sich ein Mädchen gewünscht, eigentlich hatten alle gemeint, daß es auch ein Junge werden würde, weil sie schöner war denn je.

Sie lag mit Tini in einem Zimmer. Sie durften ihre Kinder bei sich haben, solange kein Besuch kam. Und so hatten sie verabredet, daß nur nachmittags zwischen drei und fünf Uhr die Angehörigen kommen durften und erst abends die Ehemänner.

Niemand versagte ihnen das Verständnis. Die Männer hatten ohnehin genug zu tun. Auch Martin Bichler half nun wieder mit, ohne noch daran zu denken, daß ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung machen könnte.

Der kleine Andy machte seine ersten selbständigen Schritte, und Andrea erwies sich als eine keineswegs ängstliche Mutter, wenn er mal auf die Nase purzelte.

»Steh auf, Andy«, sagte sie dann. »Man muß alles lernen. Je früher, desto besser.«

Achim hatte mühsam lernen müssen, wieder allein zu gehen, ohne Hilfe. Aber auch er hatte es geschafft. An dem Tag, als Tini und Rainer geheiratet hatten, fand eine Doppeltaufe statt, und Achim ging zwischen seinen Eltern zum Taufbecken. Tini hielt ihren Sohn Martin-Erwin im Arm, und Sonja ihre Tochter Daniela. Beide Babys waren ganz friedfertig.

»Sie werden bestimmt mal gute Freunde«, sagte Achim.

Während sie noch in Andacht versunken waren, mußte Helmut seinem Sohn nachlaufen, der sich bereits selbständig machte und gar nicht mehr stillsitzen wollte. Die Zeit war vorbei, daß man ihn im Arm halten konnte. Aber sie waren eine fröhliche, glückliche Familie geworden.

Dr. Norden Bestseller Box 13 – Arztroman

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